30 Women

Fußnoten

Nomathembas Vater war nicht der Einzige, der das Geheimnis der Schildkröten entdeckt hatte. Ein paar Monate, nachdem sie mir die Geschichte erzählte, las ich »Das Café am Rande der Welt« von John P. Strelecky – auch er erzählt von der Kunst der Schildkröten, sich die richtigen Wellen auszusuchen.

 

 

 

Für Omi – und all die anderen starken und mutigen Frauen in meinem Leben.

Ich bin ein Teil von euch.

Ihr seid ein so großer Teil von mir.

 

 

 

30 Women ist ein Buch über meine persönliche Reise, meine Erlebnisse und Erfahrungen. Damit all die verschiedenen Jahre und Momente auf 224 Seiten passen, wurden einige der Geschehnisse im Buch umstrukturiert oder gekürzt. Ich möchte meine Geschichten so ehrlich und authentisch wie möglich erzählen, darum sind die Ortsnennungen real, engste Freunde werden bei ihren Klarnamen genannt. Mit Rücksicht auf die Privatsphäre aller anderen Personen in diesem Buch habe ich deren Namen und manchmal auch Charakterzüge verändert. Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen sind demnach rein zufällig und unbeabsichtigt.

Prolog

»Was macht uns glücklich?«, frage ich in die virtuelle Runde.

 

Mehr als 200 Frauen antworten mir.

Und die Antwort, die bei fast allen entweder offen getippt oder doch eher zwischen den Zeilen durchscheint – ist Liebe.

Und dabei vor allem die Liebe, die wir für andere – oder aber, die andere für uns – fühlen. Die wir dann gemeinsam füreinander haben oder teilen können. Von einem anderen Menschen geliebt zu werden, von jenem, den auch wir genau so zurücklieben können, ist für so viele Frauen noch immer das allerschönste und vielleicht auch das größte Ziel.

 

Es geht noch immer … um den Einen.

Ja, vielleicht auch hin und wieder um den einen Job oder den einen Traum, aber doch meistens – den einen Mann.

 

Und während ich mich durch die Antworten blättere, wird mir bewusst, dass wir offenbar noch immer die Illusion beschützen, dass irgendwann der Eine, der richtige Mann, uns und unser Leben in die Hand nehmen und vollkommen verändern würde, sodass alles um uns herum nicht nur endlich Sinn, sondern uns auch glücklich macht.

 

Aber was, wenn ich daran nicht glaube?

Was, wenn es nicht der eine Mann ist, der uns am Ende zu der Frau macht, die wir eigentlich immer sein wollten, was, wenn all die Frauen um uns herum über all die Jahre hinweg die viel größere Inspiration sind, die uns zu der Einen werden lassen, die uns selbst glücklich macht?

 

Ich erzähle in diesem Buch von 30 Frauen, die mein Leben beeinflusst haben.

Ich beginne bei einer, die nie nur Prinzessin sein wollte, die mein erstes Vorbild wurde, als ich gerade einmal fünf Jahre alt war. Ich treffe jene, die mir Chancen gaben, andere, mit denen ich falsche Wege einschlug, und ich finde – am Ende vielleicht sogar die Eine, die mich glücklich machen wird.

Nämlich die, die ich sein, zu der ich werden will.

#1 Die, die nie nur Prinzessin sein wollte

Ein Schloss, ein Sonnenuntergang, sprechende Tiere mit schlauen oder waghalsigen Ratschlägen, ein Abenteuer, mal Tränen, auf jeden Fall ein Happy End, definitiv mit Hochzeit.

Es ist der Stoff, aus dem die Märchen und Disney-Verfilmungen gemacht sind, die wir wieder und wieder anschauen, in denen wir mitfiebern, mitsingen, mitleben, die einen Film lang, wieder und wieder, unsere ganze Welt sind.

Es sind die Geschichten unserer jüngsten Vorbilder, es sind die Frauen, die wir unbedingt werden wollen, wenn wir fünf Jahre alt sind – Schneewittchen, Rapunzel, Cinderella, Elsa …

 

Aber was wäre, wenn wir sie heute wiedertreffen könnten, wenn wir ihnen zehn oder fünfzehn Jahre später ein paar Fragen zu ihren Geschichten stellen würden? Wenn wir Arielle zu einem Spaziergang oder Dornröschen auf einen Kaffee treffen und tatsächlich noch mal darüber reden könnten, ob der Typ, der dich ungefragt küsst, während du ohnmächtig bist, wirklich der Eine ist?

 

Schneewittchen

Cinderella

Jasmin

Rapunzel

Arielle

Ich gebe es zu – ich wollte immer Arielle sein. Über Jahre hing ein riesiges Poster von ihr in meinem Kinderzimmer. Während meine Freundinnen von Cinderella fasziniert waren oder Dornröschen liebten (auch so eine Sache: Du bist ohnmächtig, irgendein Typ küsst dich und löst damit einen ziemlich düsteren Familienfluch auf, nett von ihm und so, aber dafür musst du ihn heiraten? Was?), wollte ich wie Arielle sein. Alles, außer einfach nur Prinzessin. Ich wollte ihren Mut, ich wollte ihre loyalen Freunde (ich hatte ihre roten, langen Haare), ich wollte ihr Abenteuer, ich wollte mich genauso Hals über Kopf verlieben, und ich wollte genau wie sie später mal ganz allein entscheiden, wer ich sein möchte. Wo ich leben möchte.

 

Arielle liebte ihre Familie, sie liebte die Unterwasserwelt, es ging nie darum, einfach abzuhauen, aber sie wusste genau, dass sie eigentlich woanders hingehörte, sie spürte es, und sie traute sich, nach diesem neuen, unbekannten Ort zu suchen.

Ich wusste damals, als ich im Pool schwimmend »Under The Sea« gesungen habe, noch nicht, wo ich mal hingehören würde, dass ich irgendwann tatsächlich aufbrechen, reisen und schließlich auf einem anderen Kontinent leben würde – aber ich wusste immer, dass ich es kaum erwarten konnte, danach zu suchen, nach dem Unbekannten, nach all dem, was ich noch nicht gesehen hatte, aber noch kennenlernen wollte …

#2 Die, von der ich Stärke lernte

Ich nehme die letzten zwei Stufen mit einem Schritt, knalle den Rucksack auf den Stuhl, der gleich links neben der offenen Tür steht. Ich muss nicht mal hinsehen, die Bewegung funktioniert automatisch, Muskelgedächtnis nennt man das. Es gibt Tage, da landet er ungeachtet auf dem Kissen, ich frage dann zuerst, was es zu essen gibt, verziehe das Gesicht, falls es Linseneintopf ist (oder noch schlimmer: Gulasch), oder reagiere strahlend, wenn Pasta auf dem Speiseplan steht. Während ich den Parmesan über der Tomatensoße verteile und den ersten Bissen auf meiner Gabel aufrolle und mir in den Mund schiebe, ist mir die Welt egal. Nichts macht so glücklich wie Spaghetti all’arrabbiata, nachdem du dich durch die letzten zwei Stunden Mathe gequält hast.

Heute schmeiße ich meine Sachen fast schon von mir, zwei Bücher rutschen aus der Innentasche und fallen polternd zu Boden, ich stehe daneben und weiß nicht, was ich mit dem Rest von mir machen soll.

»Na, Kind, wie war dein Tag?«, fragt sie mit ruhiger, beschwingter Stimme, auf die ich anspringe wie ein Schießhund, der sonst kein Ziel hat. »Wie er war? Ätzend …«

Und wie ätzend er wirklich war, erzähle ich dann zwanzig Minuten lang in einem ausführlichen Monolog, führe aus, was mich so wütend macht, steigere mich in meine Emotionen hinein und finde in meiner Oma eine geduldige Zuhörerin. Es ist meine Art, den Stress loszulassen, mit Frustration umzugehen, ausgelöst durch Streit mit Freunden, mit meinen Eltern oder einfach mit Lehrern. Ich werfe mit Worten um mich, bis sie mir ausgehen – und meine Oma hört zu, nickt manchmal, zuckt manchmal mit den Schultern.

Häufig machte mich genau das nur noch wütender. Ich fand es stoisch, ich unterstellte ihr mangelnde Anteilnahme an den kleinen oder großen Themen, die mich gerade beschäftigten. Heute weiß ich, dass sie einfach nur das Kissen war, in das ich brüllte, das ich brauchte, wenn mir die Welt für einen Moment zu viel war, wenn ich sie nicht verstand, wenn sie mich nicht verstand.

Meine Oma dämpfte einfach die Wut oder den Knall für den Moment, in dem alles zu groß war, und füllte mir ganz nebenbei mein Mittagessen auf. »Na, na – das wird schon wieder«, sagte sie dann und fragte im gleichen Atemzug, ob ich noch mehr Soße haben wollte.

Natürlich wurde es wieder, aber das willst du nicht hören, wenn du gerade mittendrin steckst, wenn du dich ungerecht behandelt oder von einem Streit verunsichert fühlst, wenn du dich in eine Ecke gedrängt fühlst, wenn du hilflos bist – oder aufgebracht, weil du das Gefühl hast, dich nicht wehren zu können, wenn sich alles groß und schwer oder einfach nur überfordernd oder ermüdend anfühlt.

Da »werden« die Dinge nicht irgendwann wieder – sie sind. Deine Emotionen flüstern dir nicht zu, dass sie dich jetzt kurz aufwühlen und dann in fünf Minuten schon wieder viel leichter sind. Nein, in diesem Moment nehmen sie dich ein. Und zwar vollkommen.

Sicher, mit der Zeit lernen wir, unsere Gefühle nicht mehr einfach nur ausbrechen zu lassen, sondern begegnen ihnen mit Achtsamkeit; wir lernen, dass wir uns mit ihnen manchmal im Moment verlieren, dass wir nicht klar sehen können, wenn wir so viel fühlen, dass jede einzelne Zelle vibriert. Aber um ehrlich zu sein: Das passiert nicht nur, wenn du zwölf bist, sondern auch noch mit 24.

Was früher das Mittagessen mit meiner Oma war, sind heute Voice Notes an meine Freundinnen. Wenn ich aus der U-Bahn steige, nehme ich nicht selten den längeren Weg nach Hause, gehe lieber noch ein bisschen entlang der Eimsbütteler Häuserfassaden spazieren und erzähle von meinem Tag, von Gefühlen, von mir. In diesen Sprachnachrichten bin ich zu hundert Prozent ich selbst: Alle Emotionen, die guten, die aufgewühlten, manchmal auch die negativen, haben hier Platz, werden nicht bewertet, nur ausgesprochen. Das hier ist ein sicherer, virtueller Ort, an dem ich für zehn Minuten auch all die Gefühle zulassen, rauslassen kann, die vielleicht morgen schon nicht mehr wichtig sind – aber eben genau in diesem Moment.

Und genau das ist manchmal alles, was ich brauche, um mit Situationen umzugehen, die in fünf Jahren bestimmt nicht mehr wichtig sind, aber eben jetzt gerade. Ich habe von meiner Oma gelernt, dass es okay ist, emotional zu sein, dass es besser ist, über Emotionen zu sprechen, sie herauszulassen, loszulassen, ehrlich zu sich selbst zu sein, als Ballast anzusammeln.

Es ist okay, manchmal mit Worten um sich zu werfen (und dabei trotzdem aufzupassen, dass sie niemanden absichtlich treffen), bis sie weniger schwer wiegen, bis wir uns wieder leichter fühlen oder die negative Energie aufgebraucht ist, damit wir wieder klar sehen, zu uns selbst finden, durchatmen können. Auch um dann, wenn sich die Gefühle gelegt haben, mal selbst dieser Ort für einen anderen Menschen, für die eigenen Freunde zu sein. Anderen zuhören, sich selbst aus dem Mittelpunkt nehmen, einfach da sein und manchmal schon allein damit – Mut machen.

***

Überhaupt ist Mut etwas, das meiner Oma auch heute, mit 82 Jahren, noch immer wichtig ist. Obwohl sie zum Beispiel kein Englisch spricht, reist sie noch immer gern, steigt ins Flugzeug oder in den Bus und sieht sich die Welt an: »Wenn ich etwas nicht verstehe oder mich verlaufe, dann frage ich andere nach Hilfe. Du findest immer jemanden, der Bescheid weiß, wenn du nur offen auf die Menschen zugehst. So einfach ist das.«

Einfach – meine Oma versteht es schon seit jeher, die Dinge, die andere kompliziert diskutieren, zu entwirren, auf einen simplen Punkt zu bringen. Das fängt bei der Frage nach dem richtigen Kofferband an und hört bei Themen wie Gleichberechtigung oder Feminismus noch lange nicht auf.

Ich erinnere mich noch genau daran, ich war vielleicht acht Jahre alt, wie ich an einem Nachmittag im Sommer allein auf einer Bank vor unserem Haus saß. Ich hatte die Knie an meinen Oberkörper gezogen und starrte auf meine Schuhspitzen, mein Fahrrad lag achtlos neben mir, meine Freunde, mit denen ich in dieselbe Grundschule ging, waren gerade losgezogen, mich hatten sie absichtlich hier zurückgelassen. Zehn Minuten wartete ich, dass sie ihre Meinung änderten, dann schob ich das Rad zurück auf den Hof.

»Wolltest du dich nicht mit Fabi und Tobias treffen?«, fragt meine Oma.

»Nee«, sage ich, schüttle den Kopf und versuche, nicht zu weinen. Es klappt nicht. Als ich gerade: »Heute darf ich nicht mit«, sagen will, versagt meine Stimme, der Kloß im Hals wird zu groß.

»Und warum nicht?«

»Weil sie heute ein Baumhaus bauen wollen. Und ich ein Mädchen bin.«

Ich verschränke wütend die Arme und wische mir die Tränen aus dem Gesicht.

»Na hör mal, du hast denen doch hoffentlich gesagt, dass Mädchen genauso Baumhäuser bauen können – und dürfen!«

Ich zucke mit den Schultern, bis eben ist mir der Gedanke noch gar nicht gekommen.

»Hier.« Meine Oma greift nach meinen Händen. »Du hast zwei starke Arme, du hast zwei schnelle Beine, du hast einen klugen Kopf, was braucht man noch, um ein Baumhaus zu bauen, was Jungs haben – aber Mädchen nicht?«

Mir fällt nichts ein.

»Ganz genau! Jetzt setzt du dich aufs Fahrrad und fährst den Jungs hinterher. Alles, was Jungs dürfen, dürfen Mädchen auch. Punkt.«

»Fabi sagt, Mädchen haben keine Kraft, sind nur im Weg und können eh keine großen Äste anheben.«

»Dann trägst du eben kleinere, oder ihr tragt den Ast zu zweit. Niemand ist im Weg, wenn man als Team arbeitet.«

»Ich kann aber auch nicht so gut klettern wie die anderen«, gebe ich zu und schaue meine Oma unsicher an.

»Na, dann lernst du es. Dann fragst du Tobias, ob er es dir zeigen kann, und machst es einfach genau so nach.«

Ich kann darauf nur noch »Okay« antworten, setze mich aufs Fahrrad, halte den Jungs genau die gleiche Ansprache, die ich gerade gehört habe, und als wir zu dritt um sechs Uhr abends wieder zurück an der weißen Bank ankommen, steht das Baumhaus fast.

»Morgen wieder hier, ja?«, fragt Tobias, und ich nicke, bevor ich unser Hoftor aufziehe. »Sorry übrigens wegen heute Morgen. Das war echt mutig, dass du trotzdem noch gekommen bist und so.«

Auf einmal war es ganz einfach.

***

Das ist noch heute so. Auch jetzt, während ich schon lange nicht mehr Fahrrad fahre und keine Baumhäuser mehr baue, sondern über die Kontinente reise und dort nach meinen Träumen greife, rufe ich meine Oma an, wenn die Dinge wieder einfach sein sollen, wenn ich jemanden brauche, der aus hundert Fragen nur eine einzige macht oder auf »Ich kann das nicht …« immer zuverlässig mit »›Kann ich nicht‹ gibt es nicht. Es gibt nur ›Kann ich noch nicht‹« antwortet.

Für meine Oma gibt es drei Dinge, die eine Frau braucht, um selbstständig zu sein um sich gleichberechtigt zu fühlen. Drei Dinge, die wir uns selbst erarbeiten können und für die wir Verantwortung übernehmen müssen: ein guter Schulabschluss, ein Führerschein, eine sichere Verhütung.

»Du musst für dich selbst denken und selbst entscheiden können, immer. Wer du sein willst, wo du sein willst und ob du bleiben willst. Du entscheidest, welchen Beruf du ergreifst, wohin du reist oder wann du eine Familie gründen willst. Du allein! Das heißt aber nicht, dass du immer gleich alles allein können oder wissen oder schaffen musst. Du musst nur wissen, wo oder wen du fragen kannst.«

Es ist das Mantra, mit dem ich durch mein eigenes Leben gehe. Das sich eingeprägt hat. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst, solange du die Dinge, die du selbst kontrollieren kannst, in die Hand nimmst. Es gibt nichts, was du nicht kannst, nur weil du eine Frau bist. Und alles das, was dir gerade noch unerreichbar scheint, kannst du erreichen, wenn du nur einen Schritt vor den anderen setzt, wenn du dazulernst, während du deinen Weg gehst.

#3 Die, mit der ich eine Bank und meine Geheimnisse teilte

Es war ein Montag, als Sarah meine Sitznachbarin wurde. In den ersten zwei Stunden hatten wir Sportunterricht gehabt. Völkerball, genauer gesagt: Neunzig Minuten liefen neun Mädchen kreischend vor acht Jungen davon, zwei bis drei weitere Mädchen gaben ihr Bestes, den Rest der fliehenden Gruppe auf dem Spielfeld zu verteidigen. Wenn sie abgeworfen waren, gab es für den fliehenden Rest keine Verteidigung mehr. Wer es nicht in den Schutz der Gruppe schaffte oder eine Außenposition erwischte, wurde abgeworfen, eine nach der anderen. Die Idee, uns breit auf dem Spielfeld zu verteilen, hatten wir trotz der Zurufe des Sportlehrers nie beherzt umgesetzt (»Verteilt euch, ihr seid doch keine Herde Zebras!«) – viel zu gefährlich, vollkommen allein von Gordon Schröder abgeworfen zu werden, der noch dazu Spaß dabei empfand, den Ball auf nackte Waden oder Oberarme zu prellen! Grundschule in einer deutschen Kleinstadt ist auch nicht so anders als das Leben im südafrikanischen Busch.

 

Ich hasste den Sportunterricht, ich hasste die immer gleichen Ballspiele, ich hasste den Gruppensport, der bei uns in der Klasse nur bedeutete, dass die immer gleichen schnellen Läuferinnen sich gegenseitig wählten und dann den Rest von uns zähneknirschend aufteilten. Wenn man dann auch noch das Unglück hatte, ein Tor nicht gemacht oder verteidigt zu haben, war man für den Rest des Tages der Verlierer, auch in allen weiteren Stunden. Gruppenstärkung, Bonding? Gab es nur für Gewinner.

 

In der Grundschule waren die erfolgreichen Ballsportler die coolste Gruppe, die bad boys: Auf dem Gymnasium waren sie die Ersten, die sich in der Raucherecke trafen, sie waren laut, sie waren fies, sie waren nicht selten überheblich, weil sie in irgendwelchen Regionalligen ihr Mobbing zum Hobby gemacht hatten und jetzt neben der Schule eine Karriere im Fuß- oder Handball anstrebten, und vielleicht waren sie genau deshalb bei allen, zu denen sie nicht fies waren, wahnsinnig beliebt.

 

Mit allen anderen, die keine sportlichen Erfolge vorweisen konnten und eher in Fächern wie Englisch, Deutsch oder Biologie gute Noten erzielten, sprachen sie lediglich, wenn es darum ging, Hausaufgaben abzuschreiben. Natürlich ist das eine heftige Verallgemeinerung, natürlich ist das Problem nicht der Sport oder generell jeder Junge, der Energie in ihn steckt, sondern der Druck der Gruppe, die Dynamik, die sich auf dem Schulhof verfestigt, die oberflächliche Arroganz von unsicheren Jungs, die oftmals von noch unsichereren Vätern erzogen werden und deren einzige Ausdrucksmittel viele Jahre lang Erfolg am Ball und lautes Lachen auf Kosten anderer sind. Wer zu nah an ihre Schwächen herankommt, sie vielleicht sogar darauf anspricht, wird zur Zielscheibe. Ich war das mehr als ein Mal.

 

Aber zurück zur neuen Sitzordnung. Unsere Lehrerin Frau Schultz hatte genug vom Lärm ihrer Klasse, der ihr schon um 09:30 Uhr, am ersten von fünf Schultagen der Woche, entgegenschlug. Sie beschloss, Ruhe in die wimmelnde Gruppe zu bringen, indem sie beste Freundinnen und eingeschworene Cliquen weit auseinandersetzte und nebenbei die fleißigen, stillen Persönlichkeiten mit den eher lauten Rüpeln kombinierte. Zum einen, um neue Verbündete zu schaffen, zum anderen in der Hoffnung, dass ein Schüler, der gern und aufmerksam lernte, seine Sitznachbarin inspirieren konnte.

Ich landete neben Sarah. Ein ziemlich gutes Los. Mit Sarah hatte ich seit dem Kindergarten jeden ihrer Geburtstage gefeiert und sie auch sonst schon öfter getroffen, wenn unsere befreundeten Mütter sich zum Kaffee verabredeten.

Sarah war still, ich war es ganz und gar nicht (zugegeben, vielleicht der Grund, warum Frau Schultz mich neben sie setzte, offenbar sollte auch ich Inspiration finden), aber ich fühlte mich immer wohl in ihrer Nähe. Wenn Sarah ihre Schüchternheit überwunden hatte, war sie nicht nur schlau, sondern auch witzig und schlagfertig. In den ersten zwei Stunden grinsten wir uns nur ab und zu an, ab der zweiten Mittagspause waren wir beste Freundinnen. Und für eine Weile passte kein Blatt zwischen uns. Ich wollte vor der Schule am liebsten schon besonders früh im Klassenraum sein, um noch eine halbe Stunde mit Sarah zu quatschen, die immer als Erste an unserer Bank saß, weil sie schon früh von ihrer Mutter auf dem Weg zur Arbeit abgesetzt wurde, ich begann, mir die gleichen Bücher wie sie zu wünschen (Harry Potter, logisch) und die gleichen Bands zu hören. Als ich ein Freundebuch geschenkt bekam, war sie die Erste, die ich darin eintragen ließ. Neben Sarah blühte ich auf, auch weil ich mich von anderen Freundschaften entfernte, in denen ich eher die Rolle eines Minions einnahm.

Während Belinda die Queen B unserer Klasse war, hatte ich zu ihrem engsten Gefolge gehört. Das bedeutete: Ich buhlte ständig mit zwei anderen Mädels um ihre Aufmerksamkeit. Gute Tage waren die, an denen sie mich für den Nachmittag zu sich einlud (ihre Eltern hatten einen Pool im Garten, Jackpot!) – dann fühlte ich mich wertvoll und genoss es, Belinda und ihre Freundschaft für mich zu haben; schlechte Tage waren die, an denen Sanni, meine schärfste Konkurrentin, ausgewählt und ich von Belinda für unbestimmte Zeit ignoriert wurde, bis sie sich irgendwann, immer aus dem Nichts, doch wieder für mich interessierte. Ich hatte sie gern, ich wollte unbedingt ihre Freundin sein, also nahm ich es hin und versuchte – drei Schuljahre lang –, ihr die beste Freundin zu sein, die sie sich wünschen könnte.

Verrückt eigentlich, wie Konkurrenz unter Frauen oftmals schon in der Schulzeit angelegt wird. Während Belinda es genoss, im Mittelpunkt zu stehen (und Belindas Mutter es genoss, dass Belinda im Mittelpunkt stand), waren mindestens zwei, manchmal drei Freundinnen dazu bestimmt, diesen Mittelpunkt zu beleuchten und zu schmücken. Und damit wir nicht irgendwann den Ansporn verloren, wurden wir regelmäßig entweder belohnt oder bestraft, und wir wussten nie wirklich, wofür genau. Wir wussten nur: Es war lediglich für eine beste Freundin neben Belinda Platz. Und noch heute glauben viele Frauen, sie wären darauf programmiert worden (und irgendwie fühlt es sich ja auch so an), dass an der Spitze einer Firma, eines Jobs, wenn es irgendwie um Erfolg geht, nur Platz für eine von uns ist.

Mean Girls funktionierte nicht nur mit Lindsay Lohan in Illinois (großartiger Film, falls ihr ihn wirklich noch nie gesehen habt), sondern auch schon im Jahr 2001 in Langenapel, auf einem Dorf mit 212 Einwohnern.

Jetzt, wo ich die meiste Zeit mit Sarah und ihren Freundinnen verbrachte, begann Belinda eine immer kleinere Rolle zu spielen, und immer öfter vergaß ich es, mich in der großen Pause mit an ihren Tisch zu setzen. Neben Sarah konnte ich ich selbst sein, hatte auf einmal keine Angst mehr, das Falsche zu sagen oder zu tun. Ich fühlte mich nicht länger wie ein Anhängsel, sondern wie eine gleichwertige Freundin, und ich kostete es aus, nicht nur am Rand zu stehen, sondern den Mittelpunkt ebenfalls für mich zu beanspruchen. Auf einmal war ich diejenige, zu deren Tisch alle anderen in den Pausen pilgerten, ich gab den Ton an, ich war diejenige, der alle zuhörten, wenn ich von meinem Wochenende erzählte. Ich fühlte mich endlich gesehen, wahrgenommen, ich war aus Belindas Schatten herausgetreten und auf einmal beliebt. Und ich genoss es. So sehr, dass ich gar nicht mehr wahrnahm, wie sehr sich die Freundschaft zwischen Sarah und mir zu verändern begann. Sarah wurde stiller, wartete morgens nicht mehr an der Tür zum Klassenraum auf mich, und außerhalb der Schule hatten wir uns schon ein paar Wochen lang nicht mehr verabredet. Aber da wir den ganzen Tag nebeneinander saßen und sie im Unterricht und in Gruppenarbeiten somit meine gesetzte Partnerin war, fiel es mir nicht auf: Für mich waren wir wie Schwestern, unzertrennlich und durch unsere gemeinsame Bank miteinander verbunden. Dass Sarah neben mir saß, dass ich mich auf sie verlassen konnte, dass sie für mich da war und mich gernhatte, war für mich vollkommen selbstverständlich.

 

»Lina, komm doch einmal zu mir«, sagte Frau Schultz an einem Nachmittag, als ich gerade dabei war, meine Tasche zu packen. Ich hatte getrödelt und war eine der Letzten im Klassenraum. »Was hältst du davon, wenn du ab morgen neben Jennifer sitzt?« Ich starrte meine Lehrerin geschockt an. Neben Jenny? Warum neben Jenny? Es schien nur eine Erklärung zu geben: »Aber Sarah und ich quatschen gar nicht laut im Unterricht!«, verteidigte ich uns. »Nun, darum geht es auch gar nicht.« »Ich möchte neben Sarah sitzen bleiben, unbedingt!«

Frau Schultz sah mich vorsichtig an. »Sarah möchte aber nicht mehr neben dir sitzen. Das hat sie mir heute Mittag gesagt.«

 

Ich weiß noch genau, wie schnell mein Herz klopfte, als ich zur Bushaltestelle rannte. In zehn Minuten fuhr ihr Bus, meiner in fünf – wenn ich noch mit ihr sprechen wollte, musste ich schnell sein.

 

»Warum hast du Frau Schultz gesagt, dass du nicht mehr neben mir sitzen willst?« Ich zog sie am Ärmel zur Seite, außer Atem, aufgebracht. Was war in der Mittagspause und der letzten Stunde passiert, dass sie auf einmal nicht mehr meine Freundin sein wollte? Und warum rannte sie damit zu unserer Lehrerin?

Sarah entzog mir ihren Arm und drehte sich weg. Sie hasste Konfrontation, ich suchte sie.

»Weil ich eben nicht mehr neben dir sitzen möchte.«

»Warum das denn?«

»Weil du gemein bist.«

Erst jetzt sah sie mir in die Augen: »Weil du fiese Dinge zu mir sagst, weil du dich vor den anderen über mich lustig machst und weil du mich für die Hausaufgaben ausnutzt. Und das machen Freundinnen nicht.«

Ich antwortete ihr nicht, ich schämte mich zu sehr. Ich rannte weg, stieg in meinen Bus, brach auf dem Nachhauseweg in Tränen aus und verkroch mich in meinem Zimmer. Ich wusste, dass Sarah recht hatte. Ich schrieb beinahe täglich ihre Hausaufgaben ab, sie war die Ordentliche in unserer Freundschaft, mir machte die Schule Spaß, aber an den Nachmittagen hatte ich kein Interesse daran, fleißig war ich nur, wenn es wirklich darauf ankam. Aber da war noch etwas Schlimmeres: Ich hatte Sarah, ohne es zu wollen, zu meinem Minion gemacht. Ich musste nicht lange darüber nachdenken, ich wusste genau, was sie meinte – denn so, wie ich Sarah behandelte, hatte auch Belinda mich behandelt. Wenn ich einen Witz machen wollte (und mein bissiger Humor war schon im Alter von zwölf Jahren etwas, wofür ich gefeiert wurde), war sie mein Opfer, es war für mich selbstverständlich, dass sie meine gemeinen Kommentare nicht ernst nehmen würde, sie war immerhin meine beste Freundin. Es war ja klar, dass ich es nicht wirklich so meinte.

 

Ich begriff, dass ich nicht so viel anders war als die Völkerball-Gang: Ich zielte auf Sarah, damit die anderen mich abklatschen und mit mir feiern würden.

Erst wenn die Pause vorbei und das Publikum gegangen war, schätzte ich sie wieder, wenn wir zu zweit an einem Arbeitsblatt saßen, zuerst abgaben und die volle Punktzahl erzielten. Sie machte den Job für unsere Freundschaft, ich genoss ihren Wert. Ich hatte mich so sehr daran gewöhnt, das Beste aus beiden Welten zu haben, dass mir nicht bewusst gewesen war, wie unfair ich meine beste Freundin behandelt hatte. Und erst jetzt verstand ich, was mir mehr bedeutete, was ich viel mehr vermissen würde. Ich war gerade erst zwölf Jahre alt, aber ich verstand, dass ich meine eigenen Werte, das, was mir wirklich wichtig war, vollkommen aus den Augen verloren hatte.