Impressum
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Originalausgabe Mai 2019
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Lektorat: Katrin Rodeit, http://www.julia-rodeit.de/
Melanie Lahmer, https://www.siegerland-krimis.de/
Korrektorat: Claudia Heinen, www.sks-heinen.de
E-Book und Satz: Grit Bomhauer, https://www.grit-bomhauer.com/
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Personen und Handlung sind frei erfunden, etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Menschen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Markennamen und Warenzeichen, die im Buch verwendet werden, sind Eigentum ihrer rechtmäßigen Eigentümer.
»Solange die Vergangenheit wie ein Stein auf deinem Weg liegt, wirst du nie gehen können, ohne zu stolpern.«
Hamburg 1876: Als der Mann, den Auguste liebt, ihre Schwester heiratet, flüchtet sie nach Queensland. Hier will sie ein neues Leben als Forscherin beginnen. Während der Expedition wird die mutige Frau Zeugin einer entsetzlichen Tat. Als sie einschreitet, verliert sie beinahe ihr Leben. Aborigines retten sie, doch kann sie Menschen einer fremden Kultur wirklich vertrauen?
Mehr als 100 Jahre später begibt sich die junge Deutsche Franziska auf die Suche nach Augustes Geschichte. Dabei stößt sie auf ein furchtbares Ereignis, das auch ihr Leben für immer verändern wird. Wird ein Walkabout ihr helfen, Augustes dramatisches Geheimnis zu lüften?
Christiane Lind hat sich immer schon Geschichten ausgedacht, die sie ihren Freundinnen erzählte, aber selten zu Papier brachte. Erst zur Jahrtausendwende erinnerte sie sich daran und ist seitdem dem Schreibvirus verfallen.
In ihren Romanen begibt sich Christiane am liebsten auf die Spur von Familien und deren Geheimnissen. Sie lebt in Kassel mit unzähligen und ungezählten Büchern, einem Ehemann und drei Katern. Die Samtpfoten erwarten von ihr, dass eine Katze in ihren Geschichten vorkommt.
Deutschland 1876
Die seltsamsten Tiere gibt es auf diesem Kontinent. Ein kleiner grauer Bär schläft den ganzen Tag in Eukalyptusbäumen.« Georg Ohlendorf nickte bedeutungsvoll. »Die Mütter tragen ihre Jungen erst im Beutel, dann auf dem Rücken. Das sieht gar possierlich aus.«
Vor Aufregung zog Auguste die Unterlippe zwischen ihre Zähne und beugte sich nach vorne. Das brachte ihr einen strafenden Blick der Mutter ein. Eine hanseatische Dame benimmt sich nicht so, sagte der unausgesprochene Vorwurf überdeutlich. Contenance, Kind!
Brav senkte Auguste den Kopf und setzte sich auf, bis ihr Rücken die unbequeme Lehne des Stuhls berührte. Wie alles im Speisezimmer war er von ihrer Mutter nach Schönheit und nicht nach Bequemlichkeit auserwählt worden. Repräsentativ sollte der Raum wirken, um den Erfolg der Kaufmannsfamilie Ohlendorf nach außen zu zeigen.
Um ihre Anspannung zu lösen, schnitt Auguste sich ein kleines Stück Fleisch ab, so winzig, dass es ihrer Mutter gewiss gefiel, und schob es sich in den Mund. Allerdings schmeckte sie kaum etwas von dem Braten, den die Köchin mit Mühe und Kunstfertigkeit zubereitet hatte. Zu wichtig erschien ihr jedes Wort, das ihr Onkel Georg von sich gab.
»Es ist ein wahrhaft wundersames Erlebnis, all diese außergewöhnlichen Tiere und Pflanzen zu sehen.« Obwohl Georg zum Dozieren neigte und sein Tonfall monoton klang wie der eines Predigers, fand Auguste seine Geschichten so spannend, dass sie sich erneut vorbeugte, damit ihr nichts entging. »Ich habe ein Känguru gesehen, groß wie ein ausgewachsener Mann.«
Vor wenigen Tagen war ihr Onkel aus Australien zurückgekehrt. Von einer Forschungsreise, wie er es nannte; von einer Zeitverschwendung, wie Augustes Vater meinte. Dennoch hatte es sich Julius Ohlendorf nicht nehmen lassen, ein opulentes Abendessen für seinen Bruder auszurichten. Allerdings nur im Kreise der Familie, denn vor den anderen Kaufleuten war es Augustes Vater peinlich, einen abenteuerlustigen jüngeren Bruder zu haben, der durch die Welt reiste, ohne Waren und Handelsgüter mitzubringen.
Auch Wilhelmine Ohlendorf, Augustes Mutter, fürchtete, dass Georg sich schädlich auf die Heiratsaussichten ihrer beiden Töchter auswirken könnte. Aber es gehörte sich nun einmal, als Familie ein geschlossenes Bild nach außen abzugeben. Daher hatte auch sie zugestimmt, den Australienreisenden einzuladen, allerdings nur zu einem kleinen Dinner, wie sie es nannte.
Als Einzige in der Familie hatte Auguste dem Treffen mit ihrem Onkel entgegengefiebert und unendlich viele Fragen gesammelt, die sie ihm stellen wollte. Australien, der fremdartige Kontinent am anderen Ende der Welt, faszinierte sie, seitdem sie Ludwig Leichhardts Reisebericht »Tagebuch einer Landreise in Australien von Moreton-Bay nach Port Essington während der Jahre 1844 und 1845« gelesen hatte. Als Onkel Georg vor zwei Jahren mit Forschungsreisen dorthin begonnen hatte, hätte sie ihn am liebsten begleitet. Aber für eine Frau war das kaum möglich, vor allem, wenn sie ehrbar heiraten wollte.
»Zwei von den Biestern konnten wir erschießen und nach Hamburg mitbringen«, erzählte Onkel Georg weiter.
»Lohnt sich der Aufwand, mein lieber Bruder?« In der sonoren Stimme ihres Vaters hörte Auguste deutlich die Spitze. Für den hanseatischen Kaufmann waren die Expeditionen seines jüngeren Bruders ein Spleen. »Diese lange Reiserei für ein paar tote Tiere.«
Ohnehin von kräftiger Statur hatte ihr Vater in den letzten Jahren noch zugelegt, während seine Haare sich zurückgezogen hatten. Kaum zu glauben, dass der sehnige Onkel Georg und er Brüder waren. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, waren die eisblauen Augen unter dunklen Brauen. Während ihr Vater langsam und in gesetzten Worten sprach, redete Onkel Georg unglaublich schnell, was er mit ausgreifenden Gesten unterstrich.
Augustes Onkel schien von einer inneren Unruhe getrieben zu sein, er blieb immer in Bewegung. Selbst jetzt am Esstisch wackelte er mit einem Bein oder trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. Beides brachte ihm einen strafenden Blick von Wilhelmine ein, den Georg jedoch nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte. Nun schaute er seinen Bruder an, dessen Lippen sich verächtlich kräuselten.
»Du kannst meine Arbeit nicht mit deiner Zahlenhuberei vergleichen.« Onkel Georgs Messer kratzte auf dem Teller, als er den Braten schnitt. »Jemand wie du kann nicht verstehen, was es bedeutet, ungeahnte Entdeckungen zu machen.«
Wie oft hatte Auguste sich diesen Streit anhören müssen. Ihr Vater und ihr Onkel deuchten wie Feuer und Wasser. Sie hielten es nie lange miteinander aus. Nur dank ihrer hanseatischen Höflichkeit gelang es ihnen, die Gegensätze unter der Tünche guten Benehmens und kleiner Spitzen zu verbergen. Dennoch spürte die sensible Auguste die Spannung, die sich zwischen ihnen aufbaute wie eine Sturmflut vor dem Hamburger Hafen. Jedes Mal fürchtete sie, dass es zum endgültigen Bruch unter den Brüdern käme und sie ihren Onkel nie wiedersehen würde.
»Onkel Georg, stimmt es, dass in Hamburg ein Museum für Völkerkunde entstehen soll?«, fragte sie daher, um die beiden Streithähne auf einen anderen Weg zu führen.
Ihre Mutter sandte Auguste ein dankbares Lächeln. Sophie, ihre jüngere Schwester, verdrehte nur die Augen.
»Ferdinand Pullwermann hat mir zugesagt, meine nächste Expedition zu unterstützen.« Georg begleitete seine Worte mit einem triumphierenden Blick zu seinem Bruder, denn Pullwermann war einer der mächtigsten Hamburger Kaufleute. »Wir sollen Pflanzen und Tiere für sein Museum sammeln.«
»Das ist nur eine Marotte von Pullwermann.« Julius machte eine abwehrende Geste mit der Hand, bevor er sich ein weiteres Bratenstück auf den Teller legte. »Sein Kontorhaus steht voll mit dem Kram.«
»Alles dort ist verstaubt und alt«, warf Sophie mit ihrer zarten Stimme ein. »Das mag sich niemand ansehen.«
Ihr Vater lächelte seine jüngere Tochter an. Obwohl Auguste wusste, dass ihre Eltern ihre hübsche Schwester bevorzugten, wurde ihr jedes Mal das Herz schwer, wenn die wunderbare Sophie ein anerkennendes Nicken erhielt. In allem, was eine Frau auszeichnete, hatte Sophie ihre ältere Schwester übertroffen. Sie tanzte graziler, zeichnete voller Anmut und parlierte über Mode, Hamburg und das sommerliche Leben auf ihrem Gut vor den Mauern der Stadt. Auguste hingegen wirkte ungelenk beim Tanz, scheiterte bereits an dem einfachsten Landschaftsbild und redete über Bücher, Reisen in die Ferne und den Wunsch zu studieren. Kein Wunder, dass sich bisher noch kein Mann für sie interessierte, während die Junggesellen der besten Hamburger Familien es kaum erwarten konnten, Sophie ihre Aufwartung zu machen. Aber das scherte Auguste nicht, da sie keinen dieser Schnösel heiraten wollte. Ihr Herz gehörte einem anderen.
»Herr Pullwermann plant den Kauf eines Gebäudes für seine Sammlung.« Onkel Georg ließ sich nicht beirren. Allerdings bemerkte Auguste, wie fest seine Finger Messer und Gabel umklammert hielten. »Ich wäre stolz, wenn meine Exponate dort ausgestellt würden.«
»Warum musst du ans Ende der Welt reisen?« Wilhelmine legte die Fingerspitzen aneinander. »Hat unsere Heimat dir nichts zu bieten?«
Auguste zuckte zusammen. Hinter der zarten Fassade ihrer Mutter verbarg sich ein Kern aus Stein. Wilhelmine war schmal und zwei Köpfe kleiner als ihr Ehemann. Ihre großen tiefblauen Augen und die weißblonden Haare verliehen ihr das Aussehen einer exquisiten Porzellanpuppe. Wilhelmine wirkte so zerbrechlich, dass man kaum glauben konnte, mit welch eiserner Hand sie ihre Familie regierte.
Sophie hatte das zierliche Äußere der Mutter geerbt und die Größe des Vaters. Allerdings waren Sophies Haare von einem dunkleren Blond, was in der Sonne, die es in Hamburg viel zu selten gab, golden leuchtete.
Augustes Haare hingegen besaßen das gleiche helle Braun wie die ihres Vaters. Im Sonnenlicht schimmerten sie rötlich. Von ihrem Vater hatte sie auch die stämmige Statur geerbt und musste darauf achten, nicht zu rundlich zu werden.
»Deutsche Forscher haben von Anfang an den unbekannten Kontinent erkundet.« Onkel Georg begann wieder zu dozieren. »Johannes Reinhold Forster und sein Sohn Georg waren Teil von James Cooks zweiter Entdeckungsreise.«
»Das wissen wir, Georg.« Inzwischen klang der Tonfall ihres Vaters gereizt. »Du hast oft genug davon gesprochen. Sophie, erzähl deinem Onkel, was Herr Genssler über deine Bilder gesagt hat.«
Während die wundervolle Sophie die Lobpreisungen ihres Zeichenlehrers zum Besten gab, begannen Augustes Gedanken zu wandern. In ihrem Tagtraum sah sie sich als mutige Entdeckerin und Erforscherin des Kontinents am anderen Ende der Welt. Oder nein, besser noch, sie sah sich in Hamburg, zurückgekehrt von einer Forschungsreise. Als ihr Schiff in den Hafen einlief, ging ein Raunen durch die gewaltige Menschenmenge, die sich eingefunden hatte, um die Rückkehr der Frau zu feiern, die das Outback durchquert hatte.
»Felix Burchhardt macht sich überaus gut im Kontor.«
Auguste horchte auf, als sie den Namen ihres Schwarms hörte. Auch wenn sie bisher erst wenige Worte mit Herrn Burchhardt gewechselt hatte, war Auguste gewiss, dass Felix der Richtige für sie war. Bisher konnten sie ihre Zuneigung füreinander nur in verstohlenen Gesten zeigen. Jedes Mal, wenn sie, leider stets begleitet von Sophie, ihren Vater unter einem Vorwand besuchte, spähte sie ins Kontor und hoffte, dort Felix’ Wust dunkler Haare zu sehen. Als spürte er ihren Blick, schaute er jedes Mal auf und lächelte sie an. Der Schalk blitzte in seinen auffallend hellen Augen. Bisher hatte Auguste nur »Guten Tag« und »Gefällt Ihnen die Arbeit?« und »Auf Wiedersehen« und ähnliche Belanglosigkeiten zu ihm gesagt, aber sie fühlte aus tiefstem Herzen, dass sie füreinander bestimmt waren.
Ihr Herz pochte laut, wenn er lächelte und das Grübchen auf der rechten Wange erschien. So sehr brannten ihre Wangen, wenn er etwas zu ihr sagte oder sich für sie interessierte. Allerdings wagte Auguste nicht, allzu viel mit ihm zu sprechen, schließlich war ihr Felix bei ihrem Vater angestellt.
Sophie hingegen handelte viel kecker. Auguste hatte ihre Schwester dabei ertappt, wie sie mit Felix tuschelte, der helle und der dunkle Schopf so nah beieinander. Was ihr Geliebter mit der oberflächlichen Sophie zu reden hatte, konnte Auguste nicht verstehen. Sicher wollte Felix nur höflich zur Tochter seines Dienstherrn sein.
Sie war sich nicht sicher, ob ihr strenger Vater den jungen Mann für gut genug für seine älteste Tochter befand. Niemandem hatte sie bisher von ihrer Liebe erzählt. Nicht einmal Sophie, obwohl es der kleinen Schwester nahezu immer gelang, Auguste ihre Geheimnisse zu entlocken.
Felix und ihre Liebe zu ihm gehörten nur ihr. Auguste hoffte, dass sie bei ihrem nächsten Besuch den Mut fände, Felix nach seiner Arbeit zu fragen und ihm von ihrer Leidenschaft für Reisen zu erzählen. Wenn sie ihm nur zeigen könnte, was für ein interessanter Mensch sie war, hielte er gewiss bei ihrem Vater um ihre Hand an. In ihrer sauberen Schrift hatte sie wohl tausendmal ihren neuen Namen nach der Hochzeit in ein altes Heft geschrieben, das sonst ihren ungelenken Zeichnungen vorbehalten war.
Auguste Burchhardt. Auguste Burchhardt. Auguste Burchhardt.
Gut sah es aus. Es fühlte sich richtig an. Warum nur lebte sie in einer Welt, in der es Frauen verwehrt war, den ersten Schritt zu machen? Auguste blieb nur zu lächeln und die wenigen Worte zu wiederholen, die sie ausgetauscht hatten. Wenn Felix bloß mutiger wäre! Bisher tanzten sie umeinander herum, beide zu schüchtern, um weitere Schritte zu unternehmen.
»Wenn ich einen Sohn hätte, sollte er sein wie Felix Burchhardt«, führte ihr Vater weiter aus, was Auguste dazu brachte, vor Spannung die Luft anzuhalten. »Ehrlich, arbeitsam und klug – hanseatische Tugenden.«
Der Blick, den er seinem jüngeren Bruder zuwarf, machte nur zu deutlich, dass er auch dies als Spitze gegen Georg gemeint hatte. Doch der Onkel starrte nur auf seinen Teller, als wären Kartoffeln, Braten und Soße das Faszinierendste, was er seit den Kängurus zu sehen bekommen hatte.
»Auguste und Sophie werden sicher junge Herren finden, die deinem wunderbaren Gehilfen ebenbürtig sind.« Wilhelmine lächelte süßlich und nickte Auguste zu, die das mit einem finsteren Blick quittierte. »Schließlich wird Auguste bald dreiundzwanzig Jahre alt.«
Warum musste ihre Mutter so etwas sagen? Als gäbe es für Auguste einen anderen Mann als Felix. Auf gar keinen Fall wollte Auguste, dass ihre Mutter sich weiter mit dieser Frage beschäftigte und sich darin verbiss wie ein Terrier in eine Ratte. Sie musste etwas finden, um Wilhelmine abzulenken.
»Bleibst du in Hamburg oder brichst du bald wieder zu einer Reise auf?«, fragte sie ihren Onkel, damit niemand auf die Idee käme, sie nach einem Liebsten zu fragen. Herablassend und spöttisch, wie es Familienmitglieder nun einmal an sich hatten. »Willst du wieder nach Australien?«
»Möchtest du mich etwa begleiten?« Georg lächelte gönnerhaft. »Eine Expedition erfordert viel Mut. Hast du genug?«
»Georg!« Wilhelmine erhob die Stimme. Ihre Gabel landete klirrend auf dem Teller. »Setz ihr keine Flausen in den Kopf.«
Deutschland 1876
Aufstehen. Das Frühstück wartet.« Helene, die Zofe, trat in Augustes Zimmer und latschte zum Fenster, um die schweren Vorhänge zu öffnen. Das blasse Licht eines trüben Junitages strömte ins Zimmer und malte geheimnisvolle Zeichen auf ihre Frisierkommode. »Die Köchin wird verärgert sein, wenn das Essen kalt wird.«
Auguste streckte sich. Nur zu gerne bliebe sie noch in dem bequemen Himmelbett liegen, aber ihre Mutter wäre verärgert, wenn Auguste nicht pünktlich zum Frühstück erschiene. Auch wenn die Eltern ihr und Sophie Freiheiten ließen, was Auguste sehr zu schätzen wusste, gab es klare Regeln, an die man sich besser hielt. Das gemeinsame Frühstück gehörte dazu.
Ein letztes Mal kuschelte sie sich in die weichen Kissen, bevor sie die Decke mit Schwung zur Seite warf, was Helene mit einem Kopfschütteln beantwortete.
»Sag nichts. Ich weiß, das gehört sich nicht für eine Dame.« Auguste setzte sich auf, stellte die bloßen Füße auf den weichen Teppich und gähnte ausgiebig. Auch das fand Helenes Missbilligung.
Bevor die Zofe etwas bemerken konnte, eilte Auguste in ihr Badezimmer. Nach der Morgentoilette wartete Helene bereits mit dem Kleid, das Auguste heute tragen sollte. Schnell das schwere Nachthemd ausziehen, Unterwäsche überstreifen und das Korsett mithilfe der Zofe gebunden. Während sie sich den vertrauten Abläufen überließ, schweiften Augustes Gedanken ab zu dem gestrigen Abend.
Nach dem Essen hatte Sophie darauf bestanden, mit den Eltern allein zu sprechen, was Augustes Neugier geweckt hatte. Was mochte ihre Schwester so Wichtiges zu sagen haben, dass sie die Ältere nicht dabeihaben wollte. Einen Augenblick lang fühlte sich Auguste versucht, an der Tür zum Salon zu lauschen. Aber sie hatte davon Abstand genommen, aus Sorge, dass jemand von der Dienerschaft sie dabei ertappte. Immerhin hatte sie so lange vor der Tür getrödelt, dass sie hören konnte, wie der Vater die Stimme erhob. Unerhört! Obwohl das ihre Neugier nur noch weiter angefacht hatte, war sie ins Bett gegangen.
Sie musste Sophie nach dem Frühstück abpassen, um herauszufinden, womit diese den Vater verärgert hatte.
Das Klappern der schweren Haustür zog Augustes Aufmerksamkeit auf sich. Nach dem Frühstück war sie in die Bibliothek geschlendert, um ein wenig zu lesen, während Sophie Zeichenunterricht erhielt. Allerdings konnte Auguste sich nur schwer auf ihren Roman mit dem vielsagenden Titel »Glänzende Aussichten« konzentrieren. Das lag am Stil von Mathilde Raven, aber auch daran, dass sie es kaum abwarten konnte, dass der Zeichenlehrer endlich den Unterricht beendete und sie ihre Schwester nach dem Streit ausfragen konnte. War Herr Genssler nun endlich aufgebrochen?
Achtlos legte sie das Buch zur Seite und stand auf. Mit gerafftem Rock eilte sie zur Tür, vorbei an den dunklen Regalen aus Eichenholz, in denen ihre geliebten Romane standen, vorbei an dem hübschen Sofa und dem zierlichen Tischchen, auf dem Zeitschriften zur Erbauung lagen.
»Sophie?«, fragte Auguste, kaum dass sie die Tür zur Bibliothek geöffnet hatte und hindurchgeschlüpft war. Der anfänglichen Überraschung folgte tiefes Entsetzen, denn vor ihr stand nicht ihre Schwester, sondern Felix Burchhardt. Überaus elegant in seinem dunklen Anzug.
Er ist wahrhaftig ein Bild von einem Mann, dachte Auguste. Ein wenig schlaksig vielleicht, unfertig wie ein Fohlen, dem man jedoch schon ansehen konnte, was für ein edles Vollblut es einmal werden würde. Nur zu gerne würde sie mit ihren Fingern durch die dunkelblonden Haare fahren. In ihren Tagträumen malte sie sich aus, wie sie die geschwungenen Lippen küsste.
»Guten Tag, Fräulein Auguste.« Er neigte den Kopf. Sein fester Blick aus auffallend grauen Augen suchte ihren. Eine Farbe wie der Himmel Hamburgs an einem der vielen Regentage. »Ich freue mich sehr, Sie zu sehen.«
»Fel… Herr Burchhardt. Was für eine Überraschung. Wie überaus unvermutet. Ich habe nicht erwartet, Sie heute zu treffen.«
Vor Scham wäre Auguste am liebsten im Boden versunken. In ihrer Fantasie gebärdete sie sich viel eloquenter, gab Bonmots von sich, die seine Bewunderung erweckten. Aber leider war es ihr nicht möglich, diese Sprachfertigkeit in die Wirklichkeit zu übertragen.
»Die Herrschaften erwarten Sie.« Obwohl Johann ein gut geschulter Diener war, bemühte er sich nicht, seine Missbilligung zu verbergen. »Bitte folgen Sie mir.«
»Auf Wiedersehen, Fräulein Ohlendorf.« Felix’ Lächeln versprach so viel, dass Auguste ihm einfach folgen musste.
Allerdings wagte sie es nicht, ihm in den Salon zu folgen, sondern wartete erneut vor der Tür. Auguste trippelte von einem Fuß auf den anderen und war wieder versucht, an der Tür zu lauschen. Es konnte nur einen Grund geben, weshalb Felix ihren Vater hier im Haus der Familie aufsuchte. Sie biss sich auf die Innenseite der Wange, bis es schmerzte, um sich davon abzuhalten, in den Salon zu stürmen. Warum nur verging die Zeit so unendlich langsam?
»Was stehst du hier vor der Tür wie eine Dienstmagd?« Wie so oft hatte Sophie sich auf leisen Sohlen herangeschlichen. »Dann geh halt hinein.«
»Felix Burchhardt ist gekommen, um mit Vater zu sprechen«, flüsterte Auguste, als könnten ihr Vater und der Mann, den sie liebte, sie durch die schwere Eichentür hören. »Es muss wohl etwas Wichtiges sein.«
»Ich weiß es.« Sophie grinste wie eine Katze, die den Sahnetopf gefunden hatte. »Aber ich verrate es dir nicht.«
»Woher willst du es wissen?«
Sophies Lächeln wurde breiter, was Auguste zur Weißglut trieb.
»Was hattest du gestern mit den Eltern zu bereden?«
»Du wirst es früh genug erfahren.«
Weiterhin lächelnd setzte Sophie sich auf das zierliche Sofa, das für Gäste bestimmt war. Da Auguste ihre Schwester kannte, fragte sie nicht weiter.
Nach einer Zeit, die Auguste unendlich vorkam, öffnete sich die Tür zum Salon. Als Erstes kamen ihre Eltern heraus, der Vater mit einem mürrischen Blick, die Mutter hingegen mit geröteten Wangen und einem vielsagenden Lächeln auf den Lippen. Was das nur zu bedeuten hatte? Felix Burchhardt folgte ihnen mit Abstand. Als er Auguste sah, nickte er ihr aufmunternd zu. Das Grübchen erschien auf seiner Wange. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich dermaßen glücklich gefühlt.
»Auguste, Sophie. Gut, dass ihr da seid.« Die ohnehin hohe Stimme ihrer Mutter überschlug sich, als könnte sie vor Aufregung nicht an sich halten. »Wir haben euch etwas Wichtiges mitzuteilen.«
Noch immer blieb die Miene ihres Vaters unbewegt, er schien das Glück seiner Frau nicht zu teilen, was Auguste verwunderte. Aber der Gedanke hielt sie nicht lange auf. Gab es doch nur eines, was sie beschäftigte: Hatte ihr Felix bei ihren Eltern um ihre Hand angehalten? War er wirklich derart forsch, dass er das gewagt hatte, ohne mit ihr zu sprechen? Wie konnte er sich ihrer Gefühle nur sicher sein?
Ach, warum stellte sie sich diese Fragen? Es wäre schöner gewesen, wenn er erst sie und dann ihre Eltern gefragt hätte. Wichtig war doch nur, dass er diesen Schritt gewagt hatte. Vor Aufregung machte Auguste kleine Geräusche, was ihr einen fragenden Blick der Mutter und ein Kichern ihrer unverständigen Schwester einbrachte. Das alles erschien ihr bedeutungslos. Sie lächelte Felix an, versuchte, ihm durch ihre Augen zu sagen, was ihr Mund nicht aussprechen durfte.
»Es wird Veränderungen geben«, sagte ihr Vater. »Veränderungen, die mich überrollten.«
Bitte, lass mich nicht länger warten, flehte Auguste stumm. Ich ertrage es nicht, noch eine Minute auszuharren.
»Herr Burchhardt hat mich um die Hand meiner Tochter gebeten«, brachte ihr Vater schmallippig heraus. »Da ich weiß, dass sie einverstanden ist, will ich ihrem Glück nicht im Wege stehen.«
»Ja«, jubelte Auguste. »Ja.«
Doch was geschah hier? Mit einem siegessicheren Lächeln trat Sophie neben Felix und legte ihm wie selbstverständlich die Hand auf den Unterarm. Er wandte ihr sein Gesicht mit dem markanten Kinn zu und flüsterte etwas, das Auguste nicht verstehen konnte. Zu sehr rauschte ihr das Blut in den Ohren. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag, die Peinlichkeit ihres Aufjauchzens drohte sie zu überwältigen. Schnell, nur schnell musste ihr etwas einfallen, um den Fauxpas zu mildern.
»Ja«, rief sie erneut, mit gepresster Stimme. »Was für eine wunderbare Nachricht. Ich freue mich für euch.«
Es kostete sie alle Kraft, ihrer Schwester einen Kuss auf die Wange zu geben und ihr zu gratulieren und ihrem baldigen Schwager die Hand zu schütteln, die er ihr entgegenstreckte. In die Augen wollte sie beiden nicht schauen.
»Entschuldigt mich. Den ganzen Morgen plagt mich ein schlimmer Kopfschmerz.« Nur noch wenige Worte, dann bräche sie in Tränen aus. »Ich ziehe mich zurück.«
Täuschte sie sich oder sandte ihre Schwester ihr einen Blick, in dem Triumph und Mitleid um die Vorherrschaft kämpften?
Blind vor Tränen eilte Auguste die große Treppe zu ihrem Zimmer hinauf und warf sich dort aufs Bett. Getrieben von ohnmächtiger Wut trommelte sie auf das Kissen ein, doch es half nichts, der Schmerz wollte nicht vergehen. Wieder und wieder sah sie die entsetzlich peinliche Szene vor sich, hörte ihr jubilierendes Ja. Eine Dummheit, die sie den Rest ihres Lebens verfolgen würde.
Endlich hatte sie keine Tränen mehr, sondern nur noch Zorn und Traurigkeit. Ihr Blick fiel auf das Märchenbuch, das auf ihrem Nachttischchen lag. Ein bitteres Schnauben entkam ihrer Kehle, als sie daran dachte, wie viel Wahrheit in den alten Geschichten lag.
Aber die Jüngste war die Allerschönste. Wie oft hatte Auguste das in Märchen gelesen und jedes Mal voller Ärger gedacht, wie ungerecht das Leben die Schönheit verteilt hatte. Sophie hatte alles, was sie sich wünschte: goldene Locken, ein herzförmiges Gesicht, riesige Augen in der Farbe des Sommerhimmels. Als Kind war sie niedlich gewesen, als junges Mädchen zog sie die Blicke aller Burschen auf sich, sodass Auguste sich nahezu unsichtbar fühlte. Doch all das hatte ihr nichts ausgemacht, weil es nur einen Mann gab, der ihr wichtig war. Felix!
Doch leider war ihr Felix – wie jeder Märchenprinz – auf die äußere Schönheit hereingefallen und hatte die Jüngste ihr vorgezogen. Wie hatte Auguste so blind sein können, nicht zu bemerken, dass seine Blicke stets länger auf Sophie als auf ihr verweilten?
Liebe machte blind und dumm. Nie wieder würde sie sich verlieben, das schwor sich Auguste an diesem Nachmittag.
Dann eilten ihre Gedanken zu einer praktischeren Frage: Wie sollte sie es ertragen, den Mann, den sie liebte, als Ehemann ihrer Schwester zu sehen? Mit Grauen malte sich Auguste endlose Abendessen mit der Familie aus, bei denen sie Felix gegenübersitzen musste.
Fieberhaft begann sie, nach einer Lösung zu suchen.
Die Hochzeit wollte sie keinesfalls miterleben. Nicht für alles Geld der Welt wollte sie das triumphierende Lächeln auf dem Gesicht ihrer jüngsten Schwester sehen, wenn der Mann, den Auguste liebte, Sophie zum Altar führte. Weg, sie wollte nur weg, so schnell und so weit wie möglich. Alles würde sie tun, um dieser Schmach und dem Schmerz zu entgehen.
Australien, heute
Nein. Tu das nicht. Wenn du das machst, verrätst du alles, was du in den vergangenen zwei Jahren aufgebaut hast. Obwohl ihre innere Stimme sie wiederholt warnte, glitt Franziskas Hand in Rileys Jacke, die er – typisch für ihn – auf einen Küchenstuhl geworfen hatte. Als ihre Finger die kühle glatte Oberfläche des Smartphones berührten, hielt sie inne, um zu lauschen.
»My love for you never ends.« Kräftig und falsch ertönte sein Gesang. Er war also immer noch im Bad. Hastig zog sie das Telefon heraus, das ihren zitternden Fingern zu entgleiten drohte. Ihr Herzschlag raste und dröhnte in ihren Ohren, so laut, dass er beinahe Rileys schiefe Interpretation übertönt hätte. In ihrem Magen keimte ein flaues Gefühl und sie musste sich setzen.
Mit fliegenden Fingern strich sie über die dunkle Oberfläche, bis das Bild erschien, das sie aufforderte, eine PIN-Nummer einzugeben. 0909 tippte sie ein, ihren Geburtstag. Nichts geschah.
Er wird doch seinen PIN-Code nicht geändert haben! Falls ja, habe ich recht, ihm zu misstrauen.
Doch schon poppten die Messenger-Nachrichten vor ihr auf, die sie gesucht hatte. Eilig scrollte sie herunter, entdeckte nur die üblichen Anfragen, ob man gemeinsam lernen oder abends etwas unternehmen wollte. Die meisten Absender kannte sie, nur zwei Namen sagten ihr nichts. Daher öffnete sie die Nachrichten – auch nur Unikram. Ihr Herzschlag beruhigte sich, nachdem sie das Telefon in die Jackentasche zurückgesteckt hatte.
Ich muss endlich damit aufhören. Sollte Riley je mitbekommen, dass ich seine Nachrichten lese, wird er sich von mir trennen. Er ist nicht Julian. Nur weil ich einmal betrogen wurde, muss ich nicht jedem Mann misstrauen, vor allem nicht Riley. Das hat er nicht verdient.
Das schlechte Gewissen schlug über ihr zusammen wie eine Woge am Byron Bay. Schon oft hatte sie sich vorgenommen, nicht mehr in seinen Sachen zu wühlen. Leider hielten diese Vorsätze nie lange genug an. Es war wie eine Sucht. Sobald sie sich allein in der Nähe seines Smartphones befand, musste sie die Nachrichten lesen und musste sie nach Indizien suchen, dass er sie betrog. Die Erleichterung, wenn sie keine Spuren fand, hielt nur kurze Zeit an.
Riley ist zu klug, als dass er sich durch eine Messenger-Nachricht verrät.
Er braucht gar keine Mails, weil er sie sowieso an der Uni sieht.
Außerdem ist er altmodisch und wird sie eher anrufen, als ihr eine Nachricht zu schreiben.
Aber möglicherweise ist sie nicht klug genug …
Um diese These zu überprüfen, musste sie einfach sein elektronisches Postfach nach verräterischen Hinweisen durchsuchen. Nur um sich anschließend mies zu fühlen. So wie jetzt. Franziska war angeekelt von sich selbst, litt unter dem schlechten Gewissen und verspürte den Drang, davonzulaufen, bevor Riley aus der Dusche kam.
Alles hatte vor einem halben Jahr begonnen, als sie an sein Smartphone gegangen war, das er wieder einmal vergessen hatte. Noch jetzt schnürte die Erinnerung ihr die Kehle zu. Warum nur hatte sie ihn nicht direkt darauf angesprochen, sondern geschwiegen? Stattdessen suchte sie seitdem nach Beweisen, um ihn mit seiner Untreue zu konfrontieren.
Um sich abzulenken, griff sie nach der Zeitung, die Riley mitgebracht hatte. Das war eine seiner Marotten: Anstatt Nachrichten auf dem Smartphone oder dem Tablet zu lesen, hielt er altmodisch an The Courier-Mail in Papierform fest. Und das, obwohl ihn die reißerische Aufmachung der Brisbaner Tageszeitung immer wieder ärgerte.
Franziska hatte die Brisbane Times abonniert, eine Onlinezeitung, durch die sie schnell das Wichtigste über die Stadt, das Land und die Welt erfuhr.
Ihr Blick blieb an der Ankündigung einer Ausstellung im historischen Museum hängen. »Deutsche Einwanderer in Brisbane und Umgebung« begann in zwei Wochen. Flüchtig las sie den Artikel, der den Beitrag der Menschen mit deutschen Wurzeln würdigte, die im 19. Jahrhundert nach Queensland eingewandert waren.
In Brisbane gab es eine große deutsche Gemeinde, die jedes Jahr ein Oktoberfest feierte. Riley hatte ihr vorgeschlagen, dass sie das einmal anschauen sollten, aber Franziska hatte vehement abgelehnt. Sie hätte nie das Münchener Oktoberfest besucht, warum also sollte sie sich für den Brisbaner Ableger interessieren?
Mensch, die Ausstellung s meine Urgroßtante Ella bestimmt interessiert. Während unserer Suche nach ihren Vorfahren hat sie immer wieder gesagt, wie spannend wohl Ambers Geschichte sein mochte. Ist das ein Wink des Schicksals? Soll ich mich tiefer mit der Familiengeschichte beschäftigen?
Aber ohne Ella macht das keinen Spaß. Oder will ich mich nur vor einem großen Projekt drücken, für das mir zum Schluss der lange Atem fehlt? Noch einen Misserfolg kann ich aktuell wirklich nicht brauchen.
Vor zwei Jahren hatte sie gemeinsam mit ihrer Urgroßtante die Geschichte der Frauen von Amber’s Joy recherchiert, der Pferdefarm bei Marburg, rund 60 Kilometer von Brisbane entfernt. Kurz danach war Ella gestorben und hatte Franziska die Farm und ihr Haus in Brisbane vermacht. Ella hatte sich gewünscht, dass Franziska ein Buch über die Geschichte von Victoria und Catherine Wagner schrieb, aber bisher fehlten Franziska dafür Zeit und Mut. Die Ausstellung bot einen Anlass, sich endlich wieder mit den Frauen von Amber’s Joy zu beschäftigen. Oder sie suchte nur Ablenkung von ihrem erfolglosen Studium.
Bevor Franziska zu einer Entscheidung kam, trat Riley in die Küche. Barfuß, mit nacktem Oberkörper und einer eng anliegenden Jeans ließ er ihr Herz höherschlagen. Er rieb sich den Dreitagebart, hellbraun wie seine Haare, allerdings nicht so von der Sonne ausgeblichen. Riley sah aus wie ein Surfer: schlank, aber dennoch muskulös und sonnengebräunt. Das Grübchen in seinem Kinn milderte die Kanten seines Gesichts und ließ ihn sanfter wirken.
»Alles okay, Darl?« Riley frottierte sich mit einem Handtuch die Haare. »Du siehst müde aus.«
»Nenn mich nicht Darl.« Obwohl sie nun schon zwei Jahre hier lebte, konnte Franziska sich nicht an die australische Angewohnheit gewöhnen, viele Worte unglaublich schräg abzukürzen. Warum bestand eine Nation, die sich für laid back, für entspannt und gelassen hielt, darauf, den Afternoon zu einem Arvo zu verkürzen und das Breakfast zu einem Brekkie, was Franziska immer an Katzenfutter erinnerte? Als müssten die Australier beim Reden Zeit sparen.
Am meisten jedoch hasste sie es, wenn Riley sie mit Darl anstatt Darling ansprach. Darl klang knapp, verkürzt, lieblos und schlicht und ergreifend doof.
»Sorry, Babe.« Seine blauen Augen blitzten spöttisch auf, als er sich zu ihr herunterbeugte, um ihr einen Kuss zu geben. »Mir ist es egal, wie du mich nennst. Hauptsache, du liebst mich.«
Sie drehte den Kopf zur Seite, weil sie Babe noch mehr hasste als Darl, was er genau wusste.
»Franziska, was ist los mit dir? War doch nur Spaß.«
»Ich muss mal.«
Sie stand auf und marschierte ins Badezimmer. Als Erstes hob sie den Toilettendeckel an und inspizierte ihn. Als sie ihn schließen wollte, glitt er ihr aus den Fingern und schlug klappernd auf die Keramik.
Mist!
»Suchst du wieder Red Back Spiders?«, rief Riley ihr aus der Küche zu. »Keine Sorge, ich habe vorhin nachgesehen.«
Der Spott in seiner Stimme ärgerte sie. Ihm mochte es übertrieben erscheinen, dass sie jedes Mal den Deckel hochklappte, um zu prüfen, ob sich dort eine giftige Spinne verbarg. Aber Franziska war nun einmal in einem Land aufgewachsen, in dem es weder tödliche Schlangen noch Spinnen gab. Die Lockerheit, mit der die Australier diese Gefahren betrachteten, brächte sie nie auf, selbst wenn sie den Rest ihres Lebens hier verbringen würde.
Immerhin gab es weder in dem Haus, in dem Riley und sie wohnten, noch auf der Farm Carpet Snakes, die auf dem Dachboden lebten, um Ratten und Mäuse zu jagen. Franziska hätte kein Auge zugemacht in dem Wissen, dass über ihr eine Schlange lebte. Selbst unter Aufbietung ihrer gesamten Fantasie gelang es ihr nicht, sich auszumalen, so ein Biest auf dem Dachboden zu wissen.
Manchmal hätte sie schreien können über diese australische Unbekümmertheit. No worries, keine Sorgen – das war das Lebensmotto. Niemals hätte Franziska erwartete, dass diese Unbeschwertheit ihr auf die Nerven ginge. Sie war wohl deutscher, als sie sich eingeschätzt hatte.
Wo Riley und seine Freunde großartige Surfgelegenheiten sahen, dachte Franziska an weiße Haie, tödliche Seeschlangen oder mörderische Quallen. Auf Amber’s Joy musste Riley ihr Schlafzimmer auf unerwünschte achtbeinige Besucher kontrollieren, bevor Franziska einen Fuß dort hineinsetzte.
Als sie sich die Hände wusch, schaute sie in den Spiegel. Sie hatte dunkle Ringe epischen Ausmaßes unter den graublauen Augen. Obwohl sie im Sunshine State lebte, wollte ihre Haut keine schöne Bräunung annehmen. Das lag sicher auch daran, dass Franziska sich jedes Mal mit Sun Blockers eincremte, bevor sie einen Fuß vor die Tür setzte. Obwohl Riley vom Ozonloch wusste und dessen Gefahren kannte, ging er nach Franziskas Meinung viel zu locker damit um. Wenn er mit seinen Freunden surfte, vergaß er oft die Zeit und holte sich einen Sonnenbrand.
Surfen – auch etwas, was ihr fremd blieb. Riley zuliebe hatte sie einen Surf-Kurs gemacht, aber sie brachte weder die Geduld noch die Balance auf, um wirklich Spaß am Wellenreiten zu finden.
»Hör auf zu jammern!« Franziska schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. »Die meisten Menschen beneiden dich um dein Leben.«
Sicher, es gab vieles, was Queensland wunderbar machte. Noch immer staunte Franziska über die Regenbogen-Papageien, die durch die Stadt streiften wie Tauben in Deutschland. Auch die Vielfalt und Farbenpracht der Blumen überraschte sie immer wieder, sodass sie stehen blieb, um ein Foto zu schießen. Als wäre sie eine Touristin und keine Brissie, wie sich die Einwohner Brisbanes nannten.
Es gab Tage, an denen sie sich sicher war, dass sie diese Stadt lieben und für immer in ihr leben konnte. Aber es gab auch Zeiten, in denen sie Deutschland vermisste und fürchtete, sich nie an die Besonderheiten des Lebens Down Under zu gewöhnen. In letzter Zeit hatten die Tage, an denen sie sich fremd fühle, eindeutig die Oberhand gewonnen, was auch daran lag, dass sie sich immer mehr von Riley entfernte. Gab es noch eine Rettung für ihre Liebe?