James Matthew Barrie

Peter Pan

Aus dem Englischen von
Kim Landgraf

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Die englische Originalausgabe erschien 1911 bei Hodder and Stoughton in London unter dem Titel Peter and Wendy. Textgrundlage der Übersetzung ist die Ausgabe Oxford: Oxford University Press 1991. Sie erschien zuerst als zweisprachige Ausgabe Köln: Anaconda 2010.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.de abrufbar.

© 2013 Anaconda Verlag,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Inhalt

Kapitel 1

Peter taucht auf

Kapitel 2

Der Schatten

Kapitel 3

Kommt mit! Kommt mit!

Kapitel 4

Der Flug

Kapitel 5

Die Insel wird Wirklichkeit

Kapitel 6

Das kleine Haus

Kapitel 7

Das Haus unter der Erde

Kapitel 8

Die Nixenlagune

Kapitel 9

Der Niemalsvogel

Kapitel 10

Glückliches Zuhause

Kapitel 11

Wendys Geschichte

Kapitel 12

Die Kinder werden entführt

Kapitel 13

Glaubst du an Elfen?

Kapitel 14

Das Piratenschiff

Kapitel 15

Diesmal Hook oder ich

Kapitel 16

Rückkehr nach Hause

Kapitel 17

Als Wendy erwachsen wurde

Glossar

 

KAPITEL 1

Peter taucht auf

Alle Kinder, außer einem, werden groß. Sie wissen sehr früh, dass sie groß werden, und genauso war es auch bei Wendy. Eines Tages, sie war zwei Jahre alt, spielte sie im Garten, und sie pflückte eine Blume und rannte damit zu ihrer Mutter. Ich glaube, sie sah wunderbar aus, denn Mrs Darling legte sich die Hand ans Herz und rief: »Ach, warum kannst du nicht immer so bleiben!« Das war alles, was zu diesem Thema gesagt wurde, doch fortan wusste Wendy, dass sie groß werden musste. Man weiß es immer, sobald man zwei ist. Zwei ist der Anfang vom Ende.

Natürlich lebten sie in Nr. 14, und bis Wendy kam, war ihre Mutter die Hauptbewohnerin. Sie war eine reizende Dame mit einem romantischen Herz und so einem süßen, spöttischen Mund. Ihr romantischer Kopf war wie diese kleinen Schachteln, eine in der anderen, die aus dem rätselhaften Osten stammen. Egal wie viele man öffnet, es gibt immer noch eine mehr. Und auf ihrem süßen, spöttischen Mund lag ein Kuss, den Wendy nie bekam, obwohl er doch da war, deutlich sichtbar im rechten Mundwinkel.

Mr Darling hat sie folgenderweise erobert: Die zahlreichen Herren, die Jungs waren, als sie ein Mädchen war, entdeckten alle zur selben Zeit, dass sie sie liebten, und allesamt rannten sie zu ihrem Haus, um ihr einen Antrag zu machen, außer Mr Darling, der nahm eine Droschke und sauste als Erster hinein und bekam sie. Er bekam alles von ihr, außer der innersten Schachtel und dem Kuss. Von der Schachtel hat er nie gewusst, und den Versuch, an den Kuss zu gelangen, gab er mit der Zeit auf. Wendy dachte, dass Napoleon ihn hätte bekommen können, aber ich kann mir vorstellen, wie er es versucht und dann wutentbrannt davonläuft und die Türen hinter sich zuschlägt.

Mr Darling prahlte vor Wendy häufig damit, dass ihre Mutter ihn nicht nur liebte, sondern auch respektierte. Er war einer von diesen schlauen Köpfen, die etwas von Aktien und Kapitalanlagen verstehen. Natürlich versteht niemand wirklich etwas davon, aber er schien zumindest ein bisschen zu verstehen. Und er sagte oft, dass es um das Kapital gut stehe und die Aktien im Keller seien, und zwar so, dass jede Frau vor ihm Respekt gehabt hätte.

Mrs Darling heiratete in Weiß, und am Anfang führte sie die Bücher vorbildlich, fast heiter, als wäre es ein Spiel, kein noch so kleiner Rosenkohl fehlte. Doch nach und nach gingen ganze Blumenkohlköpfe verloren, und statt ihrer standen dort Bilder von Babys ohne Gesichter. Sie malte sie, wenn sie eigentlich Summen hätte bilden sollen. Sie waren Mrs Darlings Schätzungen.

Zuerst kam Wendy, dann John, dann Michael.

Noch ein, zwei Wochen nach Wendys Geburt war ungewiss, ob sie in der Lage sein würden, sie bei sich zu behalten, denn sie war ein weiterer Mund, der gefüttert werden musste. Mr Darling war fürchterlich stolz auf sie, aber er war auch sehr anständig. Also saß er auf Mrs Darlings Bettkante, hielt ihre Hand und berechnete die Ausgaben, während sie flehentlich zu ihm hinaufsah. Sie wollte das Wagnis eingehen, komme was wolle, doch das war nicht seine Art. Zu seiner Art gehörten Stift und Papier, und wenn sie ihn mit irgendwelchen Äußerungen verwirrte, musste er von vorn beginnen.

»Jetzt unterbrich mich nicht«, bat er. »Ich habe ein Pfund siebzehn Schillinge hier und im Kontor noch zwei Pfund sechs. Den Kaffee im Kontor kann ich streichen, sagen wir zehn Schillinge, macht zwei Pfund, neun Schillinge, sechs Pence, mit deinen achtzehn und drei macht drei neun sieben, mit fünf null null in meinem Scheckbuch macht zusammen acht neun sieben – wer bewegt sich denn da? – acht neun sieben, Komma und sieben rüber – sprich nicht, mein Herz – plus das Pfund, das du dem Mann an der Tür geliehen hast – still doch, Kind – Komma und Kind rüber – na also, du hast es geschafft – habe ich neun neun sieben gesagt? Ja, ich habe neun neun sieben gesagt. Die Frage ist, können wir es ein Jahr lang mit neun neun sieben versuchen?«

»Natürlich können wir, George«, rief sie. Aber sie war befangen zu Wendys Gunsten, und er war in der Tat die stärkere Persönlichkeit.

»Denk an den Mumps«, warnte er sie fast drohend, und dann ging es wieder los. »Mumps ein Pfund, das habe ich jedenfalls hier aufgeschrieben, doch ich vermute, es werden eher dreißig Schillinge – nicht reden – Masern eins fünf, Röteln eine halbe Guinee, macht zwei fünfzehn sechs – nun wedel nicht so mit dem Finger – Keuchhusten, sagen wir fünfzehn Schillinge« – und so ging es weiter, und jedes Mal kam eine andere Summe heraus. Doch schließlich kam Wendy knapp davon, mit Mumps gesenkt auf zwölf sechs und die beiden Maserarten wie eine behandelt.

Die gleiche Aufregung gab es bei John, und noch viel geringer war Michaels Chance. Doch beide blieben, und bald schon hättet ihr beobachten können, wie sie zu dritt in einer Reihe, begleitet von ihrer Kinderfrau, in Miss Fulsoms Vorschule gingen.

Mrs Darling liebte es alles genau so, und Mr Darling war leidenschaftlich gerne ganz genau wie seine Nachbarn. Also hatten sie natürlich eine Kinderfrau. Da sie arm waren, was an der großen Menge Milch lag, die die Kinder tranken, war diese Kinderfrau eine brave Neufundländerin, die Nana hieß und niemandem gehört hatte, bis die Darlings sie in ihren Dienst nahmen. Kinder waren ihr allerdings immer schon wichtig gewesen, und die Darlings hatten sie kennengelernt im Kensington-Park, wo sie die meiste Zeit damit verbracht hatte, ihre Nase in fremde Kinderwagen zu stecken, und wo sie von nachlässigen Kindermädchen sehr gehasst wurde, denen sie nach Hause folgte, um sich bei der Hausherrin über sie zu beschweren. Als Kinderfrau erwies sie sich als wahre Perle. Wie aufmerksam sie beim Baden war! Und nachts jederzeit zur Stelle, wenn einer ihrer Schützlinge ins kleinste Weinen ausbrach. Natürlich stand ihr Hundekorb im Kinderzimmer. Und sie wusste genau, wann mit einem Husten nicht zu spaßen war und wann es einen Halswickel brauchte. Sie glaubte bis zu ihrem Tod an so altmodische Heilmittel wie Rhabarberblätter und hatte für dieses närrische Gerede über Bakterien und so weiter nur ein verächtliches Schnauben übrig. Es war eine Lektion in guten Manieren, zu beobachten, wie sie die Kinder zur Schule begleitete. Ruhig ging sie an ihrer Seite, wenn sie sich ordentlich benahmen, doch wenn eins von ihnen davonlief, stieß sie es zurück. An Johns Fußballtagen vergaß sie kein einziges Mal seinen Pullover, und meistens trug sie einen Regenschirm im Maul, falls es regnen sollte. Im Keller von Miss Fulsoms Schule gab es einen Raum, in dem die Kindermädchen warteten. Dort saßen sie auf Bänken, während Nana auf dem Boden lag. Das war der einzige Unterschied. Sie gaben vor, sie nicht zu beachten, weil sie von niederer Herkunft war als sie selbst, und Nana verachtete ihr seichtes Geschwätz. Sie mochte es nicht, wenn Mrs Darlings Freundinnen das Kinderzimmer betraten, aber wenn sie dann doch kamen, nahm sie zuerst rasch Michael das Schürzchen ab und steckte ihn in das andere mit der blauen Bordüre, dann strich sie Wendys Kleider glatt und stürzte sich schließlich noch einmal kurz auf Johns Haare.

Keiner hätte auf ein Kinderzimmer je besser aufpassen können, und Mr Darling wusste es. Dennoch fragte er sich manchmal besorgt, ob die Nachbarn wohl redeten.

Er musste schließlich an seine Stellung in der Stadt denken.

Nana erfüllte ihn auch noch aus einem anderen Grund mit Sorge. Er hatte manchmal das Gefühl, dass sie ihn nicht bewunderte. »Ich weiß, dass sie dich ganz fürchterlich bewundert, George«, versicherte Mrs Darling ihn und machte den Kindern ein Zeichen, besonders nett zu Vater zu sein. Dann folgten wunderschöne Tänze, und manchmal gestattete man der einzigen anderen Bediensteten, Liza, sich einzureihen. So klein sah sie in ihrem langen Kleid und ihrer Dienstmädchenhaube aus, obwohl sie geschworen hatte, als man sie einstellte, nie wieder für zehn gehalten zu werden. Wie fröhlich diese Balgereien waren! Und am fröhlichsten von allen war Mrs Darling, die so wild pirouettierte, dass alles, was man von ihr sah, der Kuss war, und wäre man jetzt zu ihr gestürmt, hätte man ihn vielleicht bekommen. Eine genügsamere, glücklichere Familie hat es nie gegeben – bis zur Ankunft Peter Pans.

Mrs Darling hörte von Peter Pan zum ersten Mal, als sie die Köpfe ihrer Kinder aufräumte. Jede gute Mutter hat die nächtliche Gewohnheit, in den Köpfen ihrer Kinder herumzukramen, sobald sie eingeschlafen sind, und die Dinge für den nächsten Morgen wieder gerade zu rücken und die vielen Gegenstände, die sich im Laufe des Tages verirrt haben, an ihren richtigen Ort zurückzulegen. Wenn du wach bleiben könntest (was natürlich nicht geht), würdest du sehen, wie deine eigene Mutter das tut, und du würdest es sehr interessant finden, sie dabei zu beobachten. Es ist genau wie Schubladen aufräumen. Ich denke, du würdest sie auf Knien sehen, wie sie schmunzelnd bei einigen deiner Fundstücke verweilt und wie sie sich wundert, wo um Himmels willen du das jetzt wieder aufgelesen hast, und wie sie süße und nicht ganz so süße Entdeckungen macht, und wie sie dies an ihre Wange presst, als wäre es weich wie ein Kätzchen, und eilig jenes hinlegt, wo es keiner sieht. Wenn du am nächsten Morgen aufwachst, liegen die Unartigkeiten und die schlimmen Gefühle, mit denen du zu Bett gegangen bist, klein zusammengefaltet unten in deinem Kopf. Und oben, wunderbar gelüftet, sind deine schöneren Gedanken ausgebreitet und warten nur darauf, dass du sie überstreifst.

Ich weiß nicht, ob du jemals eine Karte vom Kopf eines Menschen gesehen hast. Ärzte zeichnen manchmal Karten von anderen Teilen deines Körpers, und eine Karte von dir selbst kann äußerst interessant sein, doch erwisch sie mal dabei, wenn sie versuchen, eine Karte vom Kopf eines Kindes zu malen, voller Gedanken, die nicht nur ungeordnet sind, sondern auch noch die ganze Zeit durch die Gegend springen. Auf der Karte verlaufen Zickzacklinien, so wie deine Fieberkurve auf einem Blatt, und diese Linien sind wahrscheinlich Straßen auf der Insel. Denn das Niemalsland ist immer mehr oder weniger eine Insel, mit überraschenden Farbspritzern hier und dort, Korallenriffen und schnittigen Booten auf offener See, mit wilden Männern und verlassenen Lagerstätten, Gnomen, die fast alle Schneider sind, und Höhlen, die ein Fluss durchfließt, Prinzen mit sechs älteren Brüdern, einer Hütte, die bald ganz zerfallen ist, und mit einer sehr kleinen, alten Frau mit Hakennase. Es wäre eine simple Karte, wenn das schon alles wäre. Es gibt da aber auch noch den ersten Schultag, die Religion, die Vorfahren, den Runden Teich, Handarbeit, Morde, Hinrichtungen durch Strang, Verben mit Dativ, den Schokoladenpuddingtag, Hosenträger anziehen, neunundneunzig sagen, ein Dreipencestück für den selbstgezogenen Zahn und so weiter. Und entweder ist das alles Teil der Insel, oder es steht auf einer anderen Karte, die von hinten durchscheint, und es ist alles ziemlich verwirrend, besonders weil nichts davon je stillstehen will.

Natürlich unterscheiden sich die Niemalsländer ziemlich stark voneinander. In Johns Niemalsland zum Beispiel gab es eine Lagune, und über die Lagune flogen Flamingos, auf die John schoss, während Michael, der sehr klein war, einen Flamingo hatte, über den Lagunen flogen. John lebte in einem Boot, das umgedreht im Sand lag, Michael lebte in einem Wigwam und Wendy in einem Blätterhaus, das geschickt zusammengenäht war. John hatte keine Freunde, Michael hatte nachts Freunde, und Wendy hatte einen zahmen Wolf, den seine Eltern im Stich gelassen hatten. Doch im Ganzen ähneln sich die Niemalsländer wie eine große Familie, und wenn sie in einer Reihe stünden, würde man sagen, dass sie die gleiche Nase haben und so weiter. An diesen magischen Stränden ziehen spielende Kinder für immer ihre Weidenboote an Land. Auch wir waren da, und wir hören noch immer das Rauschen der Brandung, auch wenn wir dort nie wieder landen werden.

Von allen wunderbaren Inseln ist das Niemalsland die gemütlichste und die kleinste; also nicht groß und endlos hingestreckt, mit ermüdenden Entfernungen zwischen einem Abenteuer und dem nächsten, sondern richtig vollgestopft. Wenn ihr am Tag mit Stühlen und Tischtuch Niemalsland spielt, ist das überhaupt nicht schlimm, doch in den zwei Minuten, bevor du einschläfst, wird es fast ganz Wirklichkeit. Das ist der Grund, warum es Nachtlichter gibt.

Manchmal fand Mrs Darling auf ihren Reisen durch die Köpfe ihrer Kinder Dinge, die sie nicht verstand, und der mit Abstand verwirrendste Fund war das Wort Peter. Sie kannte keinen Peter, trotzdem lag er in Johns und Michaels Köpfen hier und dort herum, während Wendy bald über und über damit vollgekritzelt war. Der Name stach in fetteren Buchstaben hervor als irgendeins der anderen Wörter, und während Mrs Darling ihn so anstarrte, schien ihr, als wäre er eine seltsam freche Erscheinung.

»Ja, er ist ziemlich frech«, gab Wendy mit Bedauern zu. Ihre Mutter hatte sie ausgefragt.

»Aber wer ist er, mein Mäuschen?«

»Es ist Peter Pan, Mutter, weißt du denn nicht?«

Erst wusste Mrs Darling nicht, doch als sie an ihre Kindheit zurückdachte, erinnerte sie sich vage an einen Peter Pan, von dem es hieß, er lebe mit den Elfen. Man erzählte sich komische Geschichten von ihm, zum Beispiel dass er Kinder, wenn sie starben, ein Stück des Wegs begleitete, damit sie keine Angst haben mussten. Sie hatte damals an ihn geglaubt, aber jetzt, wo sie voller Verstand und verheiratet war, bezweifelte sie stark, dass es ein solches Wesen gab.

»Außerdem«, sagte sie zu Wendy, »wäre er inzwischen längst erwachsen.«

»Aber nein, er ist nicht erwachsen«, versicherte ihr Wendy mit Nachdruck, »und er ist genau meine Kragenweite.« Sie meinte, dass er im Kopf und körperlich genauso groß war wie sie. Sie wusste nicht, woher sie das wusste. Sie wusste es einfach.

Mrs Darling fragte Mr Darling um Rat, aber er lächelte nur geringschätzig. »Hör auf meine Worte«, sagte er, »es ist nur irgendein Unsinn, den Nana ihnen in den Kopf gesetzt hat. Hunde haben immer solche Ideen. Kümmere dich nicht darum, dann geht es vorbei.«

Aber es ging nicht vorbei, und schon bald jagte der freche Lümmel Mrs Darling einen ordentlichen Schreck ein.

Kinder erleben die seltsamsten Abenteuer, ohne dass sie sich irgendwelche Sorgen darüber machen. So kann es zum Beispiel sein, dass sie eine Woche, nachdem es passiert ist, plötzlich erzählen, sie hätten im Wald ihren toten Vater getroffen und mit ihm gespielt. In eben dieser beiläufigen Art machte Wendy eines Morgens eine beunruhigende Entdeckung. Auf dem Kinderzimmerboden waren ein paar Blätter von einem Baum gefunden worden, die dort ganz bestimmt nicht gelegen hatten, als die Kinder zu Bett gegangen waren, und Mrs Darling zerbrach sich darüber den Kopf, als Wendy mit einem milden Lächeln sagte:

»Ich glaube, das war schon wieder dieser Peter!«

»Was redest du denn da, Wendy?«

»Es ist so ungezogen von ihm, dass er sich nie die Füße abtritt«, sagte Wendy mit einem Seufzer. Sie war ein ordentliches Kind.

Sie erklärte ganz sachlich, dass sie glaube, Peter würde manchmal nachts ins Kinderzimmer kommen und am Fußende ihres Bettes sitzen und ihr auf seiner Flöte etwas vorspielen. Unglücklicherweise würde sie niemals aufwachen, also wüsste sie nicht, warum sie das wusste. Sie wusste es einfach.

»Was redest du für einen Unsinn, mein Schatz. Keiner kommt ins Haus, ohne anzuklopfen.«

»Ich glaube, er kommt durchs Fenster«, sagte sie.

»Meine Liebe, wir wohnen im dritten Stock.«

»Lagen die Blätter nicht unter dem Fenster, Mutter?«

Das war völlig richtig. Die Blätter waren ganz in der Nähe des Fensters gefunden worden.

Mrs Darling wusste nicht, was sie davon halten sollte, denn Wendy erschien das alles so natürlich, dass man es nicht einfach beiseite schieben konnte, indem man sagte, sie hätte geträumt.

»Mein Kind«, rief die Mutter, »warum hast du mir nicht schon früher davon erzählt?«

»Hab ich vergessen«, sagte Wendy unbekümmert. Sie wollte lieber schnell ihr Frühstück.

Oh, bestimmt hatte sie das nur geträumt.

Doch andererseits lagen da diese Blätter. Mrs Darling untersuchte sie sorgfältig. Es waren gerippte Blätter, aber sie war sich sicher, dass sie von keinem Baum stammten, der in England wuchs. Sie kroch über den Boden und suchte mit einer Kerze angestrengt nach Spuren eines fremden Fußes. Sie stocherte mit dem Schürhaken den Schornstein hinauf und klopfte die Wände ab. Sie ließ ein Zwirnband vom Fenster bis zum Bürgersteig hinunter, und das war ein jäher Sturz von dreißig Fuß und nicht einmal ein Speirohr, an dem man hätte hinaufklettern können.

Bestimmt hatte Wendy geträumt.

Doch Wendy hatte nicht geträumt, wie schon die nächste Nacht bewies, die Nacht, von der man sagen kann, dass in ihr die wundersamen Abenteuer dieser Kinder begannen.

In dieser Nacht, von der ich rede, lagen alle Kinder schon im Bett. Zufällig war es Nanas freier Abend, also hatte Mrs Darling die Kinder gebadet und für sie gesungen, bis sie eines nach dem andern ihre Hand losgelassen hatten und ins Land des Schlafs geglitten waren.

Alle sahen sie so behütet und so wohlig aus, dass sie über ihre Ängste lächelte und sich friedlich an den Kamin setzte, um zu nähen.

Es war etwas für Michael, der zum Geburtstag seine ersten Hemden bekam. Doch das Feuer war warm und das Zimmer von drei Nachtlichtern nur schwach erleuchtet. Und so lag das Nähzeug kurz darauf in Mrs Darlings Schoß. Dann nickte ihr Kopf, oh, so anmutig. Sie schlief. Schaut sie euch an, die vier, Wendy und Michael dort drüben, John hier und Mrs Darling vor dem Kamin. Dort hätte ein viertes Nachtlicht stehen sollen.

Während sie schlief, hatte sie einen Traum. Sie träumte, dass Niemalsland sei zu nahe gekommen sei und ein fremder Junge sei von dort hindurchgebrochen. Er erschreckte sie nicht, denn sie dachte, sie habe ihn früher schon in den Gesichtern vieler Frauen gesehen, die keine Kinder haben. Vielleicht begegnet man ihm auch in den Gesichtern einiger Mütter. Doch in ihrem Traum hatte er den Schleier zerrissen, der das Niemalsland verbirgt, und sie sah Wendy, John und Michael, wie sie durch die Öffnung lugten.

Der Traum an sich wäre eine Lappalie gewesen, doch während sie träumte, wehte das Kinderzimmerfenster auf, und ein Junge fiel auf den Fußboden. Er wurde von einem seltsamen Licht begleitet, nicht größer als eure Faust, das durch den Raum hin und her schoss, als wäre es lebendig. Und ich glaube, es war dieses Licht, das Mrs Darling weckte.

Sie schreckte auf mit einem Schrei und sah den Jungen und wusste aus irgendeinem Grund sofort, dass es Peter Pan war. Wenn ihr oder ich oder Wendy dort gewesen wären, hätten wir bestimmt gesehen, dass er dem Kuss von Mrs Darling sehr ähnelte. Er war ein wunderschöner Junge, ganz in gerippte Blätter und in diese Säfte gekleidet, die aus Bäumen sickern. Doch das Bezauberndste an ihm war, dass er noch alle ersten Zähne hatte. Als er sah, dass sie eine Erwachsene war, knirschte er mit den kleinen Perlen in ihre Richtung.

KAPITEL 2

Der Schatten

Mrs Darling schrie, und wie als Antwort auf eine Glocke öffnete sich die Tür und Nana trat herein, zurück von ihrem freien Abend. Sie knurrte und stürzte sich auf den Jungen, der leichten Fußes aus dem Fenster sprang. Mrs Darling schrie noch einmal, diesmal aus Angst um den Jungen, denn sie dachte, er müsse tot sein. Sie rannte auf die Straße hinunter, um nach seinem kleinen Körper zu sehen, aber er war nicht dort. Und sie sah auf und konnte in der schwarzen Nacht nichts erkennen – nur etwas, das sie für eine Sternschnuppe hielt.

Sie ging zurück ins Kinderzimmer und sah, wie Nana etwas im Maul hielt, das sich als der Schatten des Jungen entpuppte. Als er in Richtung Fenster sprang, hatte Nana es rasch zugemacht – zu spät, um ihn zu fangen, doch sein Schatten war nicht schnell genug, um hinauszukommen. Das Fenster schlug zu und riss ihn ab.

Ihr könnt davon ausgehen, dass Mrs Darling den Schatten gründlichst untersuchte, aber er war von ganz gewöhnlicher Art.

Nana zweifelte keinen Moment, was am besten mit diesem Schatten zu tun sei. Sie hing ihn draußen ans Fenster und meinte damit: »Er kommt bestimmt zurück, um ihn zu holen. Wir wollen ihn hinhängen, wo er ihn leicht mitnehmen kann, ohne die Kinder zu stören.«

Doch leider konnte Mrs Darling ihn draußen am Fenster nicht hängen lassen, denn es sah viel zu sehr nach Wäsche aus und ließ das ganze Haus in einem schlechten Licht erscheinen. Sie dachte daran, ihn Mr Darling zu zeigen, der aber rechnete gerade an den Wintermänteln für John und Michael herum und trug ein nasses Tuch um die Stirn, um einen klaren Kopf zu bewahren, und es wäre eine Schande gewesen, ihn dabei zu stören. Außerdem wusste sie genau, was er sagen würde: »Das kommt davon, wenn man einen Hund als Kindermädchen hat.«

Also beschloss sie, den Schatten aufzurollen und ihn sorgsam in einer Schublade zu verwahren, bis sich eine passende Gelegenheit fände, ihrem Mann davon zu erzählen. Ach je!

Die Gelegenheit ergab sich eine Woche später, an diesem für immer unvergesslichen Freitag. Natürlich war es ein Freitag.

»An einem Freitag hätte ich besonders vorsichtig sein sollen«, sagte sie später oft zu ihrem Mann, während vielleicht Nana auf ihrer anderen Seite saß und ihr die Hand hielt.

»Nein, nein«, sagte Mr Darling dann immer, »ich bin für alles verantwortlich. Ich, George Darling, habe es getan. Mea culpa, mea culpa.«* Er war humanistisch gebildet.

So saßen sie Abend für Abend und erinnerten sich an diesen unheilvollen Freitag, bis jede Einzelheit ihren Gehirnen aufgeprägt war und auf der anderen Seite wieder hervorkam wie die Köpfe auf schlechten Münzen.

»Wenn ich doch nur diese Einladung nicht angenommen hätte, in Nr. 27 zu Abend zu essen«, sagte Mrs Darling.

»Wenn ich doch nur nicht meine Medizin in Nanas Schale geschüttet hätte«, sagte Mr Darling.

»Wenn ich doch nur so getan hätte, die Medizin zu mögen«, sagten Nanas nasse Augen.

»Meine Vorliebe für geselliges Zusammensein, George.«

»Mein unheilvoller Sinn für Humor, Liebste.«

»Meine Empfindlichkeit, wenn es um Lappalien geht, lieber Herr und liebe Herrin.«

Dann brach einer von ihnen (oder zwei oder drei) in sich zusammen; Nana bei dem Gedanken: »Es ist wahr, sie hätten niemals einen Hund als Kindermädchen haben dürfen.« Und mehr als einmal war es Mr Darling, der sein Taschentuch an Nanas Augen hielt.

»Dieser Teufel!«, schrie Mr Darling häufig, und Nanas Bellen war das Echo. Nur Mrs Darling warf Peter niemals etwas vor. Irgendetwas saß da in ihrem rechten Mundwinkel, das sie davon abhielt, auf Peter zu schimpfen.

So saßen sie dort im leeren Kinderzimmer und erinnerten sich zärtlich an jede kleinste Einzelheit dieses furchtbaren Abends. Er hatte so ereignislos begonnen, genau wie hundert andere Abende: Nana hatte das Wasser für Michaels Bad angestellt und trug ihn auf ihrem Rücken dorthin.

»Ich will nicht ins Bett«, hatte er gerufen wie jemand, der immer noch glaubte, er hätte, was das betrifft, das letzte Wort. »Ich will nicht, ich will nicht. Nana, es ist noch nicht sechs. Na gut, wie du willst. Dann hab ich dich eben nicht mehr lieb, Nana. Ich sag dir, ich lass mich nicht baden, ich will nicht, ich will nicht!«

Dann war Mrs Darling hereingekommen, sie trug ihr weißes Abendkleid. Sie hatte sich früh umgezogen, weil Wendy es so sehr liebte, sie mit der Kette, die George ihr geschenkt hatte, in ihrem Abendkleid zu sehen. Sie trug Wendys Armband, sie hatte sie gefragt, ob sie es leihen darf. Wendy liebte es so sehr, ihrer Mutter ihr Armband zu leihen.

Sie hatte ihre zwei älteren Kinder dabei überrascht, wie sie spielten, Mutter und Vater zu sein, als Wendy geboren wurde, und John hatte gesagt:

»Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Sie von nun an Mutter sind, Mrs Darling«, und das in genau dem Tonfall, den wahrscheinlich auch Mr Darling bei der wirklichen Geburt angeschlagen hatte.

Wendy war vor Freude tanzend durchs Zimmer gesprungen, ganz wie die wirkliche Mrs Darling es getan haben muss.

Dann wurde John geboren, und zwar mit all dem extra Pomp, den er zur Geburt eines Jungen für angemessen hielt, und dann kam Michael aus der Badewanne zurück und wollte auch geboren werden, aber John erwiderte harsch, dass sie jetzt keine Kinder mehr wollten.

Michael hatte fast geweint. »Keiner will mich«, hatte er gesagt, und natürlich konnte das die Dame im Abendkleid nicht ertragen.

»Ich will dich«, sagte sie, »ich will so gerne ein drittes Kind.«

»Junge oder Mädchen?«, fragte Michael ohne allzu viel Hoffnung.

»Junge.«

Dann war er in ihre Arme gesprungen. So eine Kleinigkeit, an die sich Mr und Mrs Darling und Nana jetzt erinnerten, aber doch nicht ganz so klein, wenn man bedenkt, dass es Michaels letzter Abend in diesem Kinderzimmer war.

Sie fahren mit ihren Erinnerungen fort.

»Das war der Moment, wo ich wie ein Tornado ins Zimmer gestürmt kam, oder?«, sagte Mr Darling dann immer und verachtete sich selbst. Und so war es tatsächlich: wie ein Tornado.

Vielleicht gibt es eine Entschuldigung. Auch er war damit beschäftigt gewesen, sich für die Abendgesellschaft umzuziehen, und alles war soweit gut gegangen, bis die Fliege an der Reihe war. Es ist eine verblüffende Geschichte, die man da erzählen muss, aber dieser Mann, der sich mit Aktien und Kapitalanlagen bestens auskannte, hatte seine Fliege nie wirklich im Griff. Manchmal streckte das Ding kampflos die Waffen, dann wieder gab es Momente, in denen es für sämtliche Bewohner des Hauses besser gewesen wäre, wenn er seinen Stolz überwunden und eine fertig gebundene Fliege benutzt hätte.

Dies war ein solcher Moment. Er kam ins Kinderzimmer gerannt, in seiner Hand ein verkrumpeltes kleines Scheusal von Fliege.

»Was ist denn los, lieber Vater?«

»Los?«, schrie er – und er schrie wirklich. »Diese Fliege, sie fliegt nicht!« Er wurde gefährlich sarkastisch. »Jedenfalls nicht um meinen Hals! Um den Bettpfosten ja! Zwanzig Mal hab ich sie um den Bettpfosten fliegen lassen! Aber um meinen Hals – nein! Oh nein, bitte nicht! Und bittet um Verzeihung!«

Da er den Eindruck hatte, Mrs Darling damit noch nicht ausreichend imponiert zu haben, fuhr er unnachgiebig fort: »Ich warne dich, Mutter, wenn diese Fliege nicht bald an meinem Hals sitzt, gehen wir heute Abend nicht zum Essen, und wenn ich heute Abend nicht zum Essen gehe, gehe ich nie wieder ins Büro, und wenn ich nie wieder ins Büro gehe, werden du und ich verhungern, und unsere Kinder wird man auf die Straße werfen.«

Auch da blieb Mrs Darling noch gelassen. »Lass mich das mal versuchen, Liebling«, sagte sie – und in der Tat war er nur gekommen, um sie eben darum zu bitten. Und mit ihren schönen, kühlen Händen band sie ihm die Fliege, während die Kinder um sie herumstanden und zusahen, wie sich ihr Schicksal wenden würde. Manche Männer hätten ihr sehr verübelt, dass es ihr so leicht fiel, doch Mr Darling war dafür ein viel zu feiner Charakter. Er dankte ihr beiläufig, vergaß sofort seinen Zorn, und im nächsten Moment schon tanzte er mit Michael auf dem Rücken durchs Zimmer.

»Wie wild wir getobt haben!«, sagte Mrs Darling jetzt, wo sie sich erinnerte.

»Zum letzten Mal getobt!«, seufzte Mr Darling.

»Oh George, erinnerst du dich, wie Michael plötzlich zu mir sagte, ›Wie hast du mich eigentlich kennengelernt, Mutter?‹ «

»Ich erinnere mich!«

»Sie waren schon recht zauberhaft, findest du nicht, George?«

»Und sie waren unser – unser – und nun sind sie fort.«

Die Toberei hatte mit dem Erscheinen von Nana ein Ende gehabt, und höchst unglücklicherweise stieß Mr Darling mit ihr zusammen, und seine Hose war ganz mit Haaren bedeckt. Die Hose war nicht nur brandneu, sie war auch die erste mit Tressen besetzte Hose, die er je besessen hatte. Er musste sich auf die Lippen beißen, um nicht in Tränen auszubrechen. Natürlich bürstete Mrs Darling ihn ab, doch da fing er wieder davon an, dass es ein Fehler sei, einen Hund als Kindermädchen zu haben.

»George, Nana ist ein Schatz.«