Seit über 25 Jahren arbeitet Thorsten Hofmann als Verhandlungsexperte – zunächst beim BKA und bei Interpol, später in seinem eigenen auf Krisenkommunikation und Krisenmanagement spezialisierten Unternehmen.
Erstmals gibt er in diesem Buch sein Insiderwissen weiter. Sein Ziel ist es, Erkenntnisse, die er bei seiner jahrelangen Arbeit mit Geiselnehmern, Erpressern und Terroristen angewandt hat, in ein Konzept zu überführen, das auch im privaten und geschäftlichen Bereich funktioniert. Egal ob es um Gehaltsverhandlungen, Kundengespräche oder das Verhandeln mit Geiselnehmern geht: Eine detaillierte Vorbereitung, die richtige Taktik und ein guter Draht zum Gegenüber spielen eine entscheidende Rolle.
Anhand von hochspannenden Fällen aus seiner Zeit beim BKA erklärt Thorsten Hofmann, wie man Menschen durchschaut, Mimik und Gestik entschlüsselt und Verhaltensweisen analysiert. Er verrät wirksame Tipps und Tricks und vermittelt Methoden, wie jeder in schwierigen Situationen seine Ziele erfolgreich durchsetzen kann.
Ein Buch für alle, die ihren Verhandlungserfolg deutlich steigern wollen!
Vita:
THORSTEN HOFMANN studierte Psychologie, Kriminologie und Wirtschaftswissenschaften. Er war lange Zeit für das BKA tätig und wurde in verschiedenen Verhandlungskonzepten ausgebildet. Auch heute berät er eine internationale Versicherung bei Erpressungsfällen und Geiselnahmen. Zudem ist er Direktor des Center for Negotiation an der Quadriga Hochschule Berlin, leitet Seminare und Trainings zum Thema strategische Verhandlungsführung und unterstützt Organisationen bei komplexen Verhandlungsprozessen.
THORSTEN HOFMANN
DASFBI
PRINZIP
Verhandlungstaktiken für Gewinner
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Für meinen Vater:
Von dem ich viel über den Umgang mit Konflikten gelernt habe.
© 2018 Ariston Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion: Dr. Henning Thies
Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN: 978-3-641-21562-0
V001
Inhalt
Einleitung
Erstes Kapitel Grundsätzliches zur Verhandlung
Zweites Kapitel Vorbereitung ist alles
Drittes Kapitel F.I.R.E. Concept of Control – Mit Struktur zum Erfolg
Phase 1: Taktische Empathie
Phase 2: Verständnis- und Mandatsklärung
Exkurs: Ankern im Kopf
Phase 3: Motivanalyse
Phase 4: Der kontrollierte Aushandlungsprozess
Phase 5: Eine echte Einigung
Phase 6: Die Sackgasse als zweite Chance
Viertes Kapitel FACS: Wenn das Gesicht Bände spricht
Exkus: Das Pokerface-Paradoxon – wie Emotionen durchsickern
Fünftes Kapitel Verhandlungsprofiling
Epilog Geisel der eigenen Gedanken oder flexibler Verhandler? Sie haben die Wahl!
Anhang: Anmerkungen und Quellen
Einleitung
Warum gibt es dieses Buch?
Verhandeln kann Leben retten. Konfliktsituationen auflösen. Gegenläufige Interessen in Lösungen verwandeln. Gegner zu Partnern machen und das Leben jedes Einzelnen erfolgreicher gestalten. Leben ist Verhandeln. Menschen jeden Alters, jeder Bildungsschicht und jeder ethnischen Herkunft tun es jeden Tag. Nicht nur einmal, nein, circa fünf bis zehn Mal verhandelt der durchschnittliche Europäer pro Tag. Im privaten Umfeld, im Geschäft, in der Familie, mit Partnern, Freunden, Kunden oder Kollegen. Trotzdem führt die Verhandlungsausbildung in Deutschland ein Schattendasein: Nur sporadisch findet sie in einigen Studiengängen wie Betriebswirtschaft oder MBA-Programmen statt. Unverständlich, denn im beruflichen Alltag wird von jedem verlangt, dass er verhandelt. Dafür befähigt und ausgebildet wird allerdings kaum.
Verhandeln kann ja jeder – so die weitverbreitete Meinung. Verhandeln ist somit wie Fußballspielen. Jeder kann einen Ball kicken. Aber trotzdem gibt es einen großen Unterschied zwischen Profis der Champions League und Amateurkickern. Was sie eint, ist die Begeisterung für das Spiel und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten. Doch während die einen sich schon frühzeitig mit Technik, Taktik und Strategie beschäftigen, diese immer weiter verfeinern und lernen, das Spiel zu »lesen«, neue Entwicklungen genau verfolgen, ihr Gegenüber studieren und jede Situation zu ihren Gunsten nutzen, agieren die anderen häufig »aus dem Bauch« heraus und planlos. Ohne ein System zu kennen und ihre eigenen Fehler zu reflektieren, lassen sie viele Chancen und Möglichkeiten ungenutzt. Genau so sieht es dann oft am Verhandlungstisch aus. Hierbei geht ein Großteil des eigenen Verhandlungspotenzials verloren, weil es nie abgerufen wird. Was bleibt, ist ein Auf-der-Stelle-Treten und eine Verwunderung darüber, dass andere sich in Verhandlungen immer durchsetzen. Immer die Oberhand behalten. Immer als Gewinner vom Tisch gehen.
Diese Defizite im Verhandeln spüren immer mehr Menschen in Deutschland und haben den Wunsch, daran etwas zu ändern. Eine Studie der Universität Potsdam ergab, dass 92 Prozent der Befragten Kenntnisse über Verhandlungen als wichtig ansehen und 85 Prozent entsprechende Schulungen wünschen.1 Doch obwohl wir wissen, dass ein großes Bedürfnis nach gezielter Ausbildung in Verhandlungsführung besteht, gibt es so gut wie keine Angebote. Dabei beeinflusst das professionelle Vorgehen bei Verhandlungen die Erfolgschancen dramatisch – egal, ob es sich um die Bitte um mehr Geld beim Chef handelt, den Kauf eines Autos oder Hauses, den Abschluss eines wichtigen Geschäfts oder den Umgang mit den pubertierenden Kindern. Es gibt keinen Bereich des Lebens, in dem wir nicht verhandeln.
Seit rund einem Vierteljahrhundert bin ich im operativen Krisenmanagement, als Krisenverhandler und in der Krisenkommunikation tätig – zunächst beim Bundeskriminalamt (BKA) und dem INTERPOL National Central Bureau (NCB), später als Geschäftsführer meines auf strategische Krisenkommunikation spezialisierten Unternehmens. Ich habe unterschiedlichste Fälle in den verschiedensten Branchen hautnah miterlebt und betreut. Das Spektrum reicht von Entführungen (Touristen, Manager, Schiffsbesatzungen oder Mitarbeiter von Hilfsorganisationen im Ausland) und Erpressungen, unter anderem mit kontaminierten Lebensmitteln, über Vernehmungen von Schwerstkriminellen der Organisierten Kriminalität, Konflikte zwischen Unternehmen und Bürgerinitiativen, Gewerkschaftsverhandlungen und eine Vielzahl von Verhandlungen in der Politik bis hin zu Onlineerpressungen mit gestohlenem oder gefälschtem Datenmaterial. Ich habe hierbei die unterschiedlichsten Techniken und Taktiken des Verhandelns immer wieder auf ihre Wirksamkeit hin erprobt und nie damit aufgehört, auch mich selbst weiterzuentwickeln. Je mehr ich mich mit diesem Gebiet beschäftigt habe, desto mehr hat es mich fasziniert. Verhandeln ist auch mein Leben.
Verhandeln ist Handwerk und Kunstform zugleich. Jeder kann es erlernen. Psychologisches Know-how ist die Basis. Was Menschen seit jeher intuitiv versuchen, ist in den vergangenen 40 Jahren eine angewandte Wissenschaft geworden. Psychologen und Ökonomen, Biologen und Mathematiker ergründen die Mechanismen – und entdecken und erproben Taktiken, Strategien und Tricks. Und trotzdem führt dieses Wissen nach wie vor ein Schattendasein.
Ergebnisse aus alltäglichen Verhandlungssituationen haben mit professioneller, strategischer Gesprächsführung und mit Verhandeln auf psychologischer Grundlage meistens wenig zu tun. In Organisationen wie FBI, BKA oder CIA dagegen, wo es bei Verhandlungen mit Schwerkriminellen, Erpressern und Geiselnehmern um Leben oder Tod geht, wird man in dieser Kunst intensiv ausgebildet. In meiner Zeit als operativer Ermittler in der Abteilung Organisierte Kriminalität (OK) des Bundeskriminalamts (BKA) gehörten diese bewährten Vorgehensweisen in Vernehmungen und Verhandlungen zum Standardrepertoire. Ich arbeitete unter anderem bei einigen der spektakulärsten Erpressungsfälle und Geiselnahmen im In- und Ausland mit. Im Jemen, in Kolumbien, Indonesien oder auch in Deutschland. Hierbei wurde nicht ausschließlich über Geiseln verhandelt, sondern auch über wertvolle Gemälde, Anschläge auf Züge oder über Informationen zu begangenen oder geplanten kriminellen und terroristischen Straftaten.
In dieser Zeit, aber auch danach, habe ich eine Vielzahl von Ausbildungen im In- und Ausland zum Thema Verhandlung durchlaufen, in polizeilichen und militärischen Einrichtungen genauso wie in politischen und akademischen. Die dahinterstehenden Systeme und Strukturen liegen diesem Buch zugrunde und dienen als Basis des F.I.R.E. – Business Negotiation System® für erfolgskritische Verhandlungen.
Mein Ziel ist es, Erkenntnisse, die ich jahrelang erfolgreich bei Verhandlungen und Vernehmungen mit Geiselnehmern, Erpressern, Terroristen und organisierten Kriminalitätsstrukturen angewandt habe, in ein Konzept zu überführen, welches auch in privaten und geschäftlichen Verhandlungen zum Erfolg führt. Natürlich ist nicht jede berufliche oder private Verhandlung mit Erpressungen, Drohungen oder irrationalem Verhalten verbunden. Aber wäre es nicht überhaupt hilfreich, in solchen Situationen die Kontrolle über das Gespräch und die Verhandlung zu behalten und das eigene Verhandlungsergebnis zu optimieren? Ein solches System muss dann nicht nur in Ausnahmesituationen funktionieren, sondern auch in normalen beruflichen und privaten Verhandlungen, in denen sich die Verhandlungspartner sachbezogen und rational verhalten. Das im Folgenden dargestellte System ermöglicht es jedem Menschen, Verhandlungen zu kontrollieren und zu steuern: den Verhandlungsprozess, die Inhalte, die Zeit, die Beziehungen sowie das Ergebnis. Dabei helfen eine klare Struktur sowie eine Vielzahl von flexibel anwendbaren Taktiken.
Seinen Ursprung hat dieses System im Verhandlungssystem der Geheimdienste, das in den 1970er-Jahren, ausgelöst durch eine Reihe von Banküberfällen und dramatischen Vorfällen, in den USA entwickelt wurde und auch den Weg nach Deutschland fand. Auslöser in Deutschland waren vor allem die Olympischen Spiele 1972 in München, als Mitglieder einer palästinensischen Terrororganisation elf israelische Olympiateilnehmer als Geiseln nahmen. Zwölf Menschen verloren an diesem Tag, der als »Massaker von München« in die Geschichtsbücher einging, ihr Leben – auch, weil die Bemühungen der deutschen Polizeibehörden auf fatale Weise scheiterten. Ein Jahr zuvor hatte sich in den USA eine Tragödie ereignet, die ebenfalls ein Umdenken initiierte: Ein entführtes Flugzeug landete in Jacksonville, der Entführer verlangte Kerosin. Doch das FBI wollte nicht verhandeln, eröffnete stattdessen das Feuer auf die Reifen des Flugzeugs, um es am Weiterfliegen zu hindern. Was dann passierte, sollte die Geschichte des FBI nachhaltig verändern. Der Geiselnehmer verlor im Kugelhagel die Nerven, tötete erst die Geiseln und anschließend sich selbst.
1971 in Jacksonville und 1972 in München – zwei Geiselnahmen, zwei Polizeieinsätze, zwei tödliche Katastrophen. Katastrophen, die dazu führten, dass man sich erstmals systematisch mit dem Thema Verhandlungen auseinandersetzte.
1979 wurde in den USA das Harvard Negotiation Project gegründet – der Beginn einer Ära. Das sogenannte Harvard-Konzept wurde zum Maß aller Dinge in Sachen Verhandlung. Die Grundidee: Mit rationalen Argumenten zwingt man jeden Verhandlungspartner früher oder später in die Knie. Es war die Zeit, in der der sogenannte rationale Akteur Einzug in die akademische Welt hielt. Auch bei den Geheimdiensten öffnete man diesem rationalen Menschen nur allzu gern die Tür, so logisch und ausgeklügelt erschien die neue Verhandlungsmethodik. Doch bald mussten FBI, CIA, BKA und Co. einsehen, dass Geiselnahmen nicht mit dem Schachbrett zu lösen sind, dass Täter nicht immer den nächsten logischen Zug wählen. Sind wir Menschen womöglich doch nicht so rational, wie uns die Theorie glauben lässt?
Auch in der Wissenschaft mehrten sich die Zweifel. Die Suche nach Alternativen begann. Eine gegenläufige Denkschule zum »rationalen Akteur« entstand rund um die beiden Wissenschaftler, Psychologen und späteren Nobelpreisträger Amos Tversky und Daniel Kahneman an den kalifornischen Universitäten Stanford und Berkeley. Sie nahmen den »emotionalen Akteur« in den Fokus und beschäftigten sich mit Verhaltensökonomik und Entscheidungen unter Risiko, mit der Bildung von Urteilen über unsichere oder unbekannte Sachverhalte (Urteilsheuristik) und mit kognitiven Verzerrungen – also mit den systematischen fehlerhaften Neigungen beim Wahrnehmen, Erinnern, Denken und Urteilen, die meist unbewusst entstehen und von außen beeinflusst werden können. Neue Ansätze wie die Erkenntnis, dass unterschiedliche Formulierungen einer Botschaft – bei gleichem Inhalt – das Verhalten des Empfängers unterschiedlich beeinflussen können (in der Fachterminologie »Framing« genannt), rückten schließlich die Emotionen als treibende Kraft für Verhalten und Denkweisen in den Mittelpunkt. Aus dem rationalen wurde mehr und mehr ein emotionaler Akteur.
Eine 1994 gegründete Sondereinheit des FBI, die Critical Incident Response Group, experimentierte fortan mit therapeutischen Ansätzen, die an das menschliche Bedürfnis nach Akzeptanz appellieren. Es geht nun nicht länger darum, die gegnerische Seite durch logische Argumente zu überzeugen, sondern eine positive Beziehung zu ihr aufzubauen. Empathie statt Mathematik, emotionale statt rationale Problemlösung, so die neue Taktik. Und: Sie funktioniert!
Das von FBI und CIA auf der Basis dieser Prämissen entwickelte Verhandlungssystem, das später unter dem Akronym F.I.R.E. bekannt wurde, hat sich über Jahrzehnte bewährt und gehört inzwischen zum Standardrepertoire jeder polizeilichen und geheimdienstlichen Verhandlungsausbildung. Es bildet auch die Grundlage des von mir entwickelten Systems.
In unserem F.I.R.E. – Business Negotiation System® steht F.I.R.E. als Akronym für
Facial-
Instrumental-
Relational-
Emotional-Issues.
FACIAL steht für das genaue Beobachten der emotionalen Veränderung in der Körpersprache des Gegenübers. Grundlage hierfür ist das Facial Action Coding System (FACS, engl. für »Gesichtsbewegungs-Codierungssystem«), ein unter Psychologen weltweit verbreitetes Codierungsverfahren zur Beschreibung von Gesichtsausdrücken. Das FACS ist somit eine Technik zur Mimik- beziehungsweise Emotionserkennung.
Hinter INSTRUMENTAL verbergen sich die verschiedenen Taktiken und Instrumente, um in der Verhandlung die eigenen Interessen durchsetzen zu können. Das beginnt beim strategischen Ansatz und führt über die verschiedensten operativen und sprachlichen Taktikformen hin zum Einsatz manipulativer Auslöser von Reaktionen, sogenannter Trigger.
RELATIONAL beschäftigt sich mit dem professionellen Aufbau und dem Nutzen der Beziehungen vor, während und nach der Verhandlung, also mit der sogenannten taktischen Empathie. Hierzu gehört auch das genaue Herausarbeiten eines Verhandlungsprofils, um das Gegenüber genau einschätzen und »behandeln« zu können.
EMOTIONAL steht für den Umgang mit den eigenen Emotionen und denen des Gegenübers. Verhandlungen gewinnt man im eigenen Kopf. Deshalb werden der Aufbau einer passenden inneren Einstellung zur anstehenden Verhandlung und die vier grundlegenden Fertigkeiten mentaler Stärke als sehr wichtiger Punkt hervorgehoben. Es geht vor allem um Faktoren, die Stress erzeugen und reduzieren. Zudem wird der Umgang mit irrationalem und manipulativem Verhalten erörtert.
Der Kern des gesamten Systems ist das F.I.R.E.-Concept of Control, ein Phasenmodell, welches die Struktur eines Verhandlungsablaufs grafisch darstellt. Es gibt dem Anwender Sicherheit zu wissen, wo er in der Verhandlung steht und wie er sie steuern kann. Es hilft ihm, die Verhandlung zu »lesen«. Es ist ein komplett eigenständiges System, um in irrationalen, schwierigen und emotionalen Verhandlungen die eigenen Zielvorstellungen durchzusetzen. Verhandlungen sind eher durch prozessuale, subtile und mittelbare Veränderungen des gegnerischen Verhaltens geprägt. Der Gegner wird konsequent und kontrolliert durch die Verhandlung geführt, aber empathisch behandelt.
Verhandlungen müssen, wenn sie erfolgreich sein sollen, fundiert vorbereitet, strategisch geplant und taktisch umgesetzt werden. Psychologisches Wissen und dessen Anwendung entscheiden maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg. Wer sich mit diesem System auseinandersetzt, wird feststellen, warum es nicht darauf ankommt, den besten Rhetoriker in die Verhandlungen zu schicken. Vielmehr sind die Fähigkeit zum intensiven Zuhören und Beobachten sowie Disziplin gefragt. Wer das versteht, ist für den »Psychokrieg« am Verhandlungstisch gut gewappnet.
Mein Wunsch ist es, dass Sie in Zukunft Ihren Verhandlungserfolg deutlich steigern. Dazu gehört allerdings auch, das hier Gelesene anzuwenden – weil Verhandlungserfolg immer etwas mit Verhaltensänderung zu tun hat.
Erstes Kapitel Grundsätzliches zur Verhandlung
»Alle Kriege enden mit Verhandlungen. Warum also nicht gleich verhandeln?«
Jawaharlal Nehru (1889–1964), indischer Ministerpräsident
Zwar werden Sie als Leser dieses Buches hoffentlich niemals mit jemandem verhandeln, der, auf einem Brückenvorsprung stehend, mit Selbstmord droht, oder mit jemandem, der einen anderen Menschen töten will, sollten seine Forderungen nicht erfüllt werden. Gleichwohl gehen Sie täglich mit eigenen Krisensituationen um. Dazu zählen das Entwickeln und Führen von Verkaufsgesprächen, das Aushandeln von Vertragsbedingungen (zum Beispiel beim Hauskauf), das Entwickeln und Durchsetzen von Entscheidungsstrategien bei der Arbeit, die Erteilung von Anweisungen an Mitarbeiter und die Festlegung von Finanz- und Budgetplänen. Manchmal kann auch die Wochenend- oder Urlaubsplanung mit Partnern oder der Familie schon zu belastenden Konfliktsituationen führen. Tagtäglich kommen Menschen in Situationen, in denen sie verhandeln müssen. Allerdings ist ihnen das meistens gar nicht bewusst. Wie oft steht in einem Terminkalender »Besprechung«, »Sitzung«, »Lunchtermin« oder Ähnliches, aber eigentlich verbirgt sich dahinter inhaltlich eine Verhandlung. Wie häufig ruft ein Geschäftspartner, ein Freund, ein Chef, ein Kunde an und Sie merken gar nicht, dass Sie sich unversehens in einer Verhandlungssituation befinden.
Woran lässt sich eine Verhandlungssituation erkennen? Was sind die Parameter? Jedenfalls verhindert ein Bewusstsein dafür, wann man sich in einer Verhandlung befindet, dass man über den Tisch gezogen wird. Es schafft eigene Reaktionsmöglichkeiten. »Die gefährlichste Verhandlung ist diejenige, die Ihnen nicht bewusst ist, obwohl Sie sich mittendrin befinden«, hat Chris Voss, der frühere internationale Verhandlungsleiter (Chief International Hostage and Kidnapping Negotiator) des FBI, einmal gesagt.2
An sich sind diese Rahmenbedingungen ganz einfach zu erkennen: Eine Verhandlung setzt voraus, dass mindestens zwei Parteien an einem Thema unterschiedliche Interessen haben. Beide Seiten – und das sollten Sie sich immer wieder bewusst machen – sind dabei voneinander abhängig. Es liegen deshalb ungefähr gleiche Machtverhältnisse vor. Beide Parteien haben grundsätzlich dasselbe Ziel: nämlich eine Übereinkunft zu erzielen, die in ein Ergebnis mündet. Vor allem müssen sich die Verhandler klarmachen, dass trotz des gemeinsamen Wunsches, ein Ergebnis zu erzielen, immer ein Interessenkonflikt besteht.
Was genau ist ein Konflikt? Der Begriff leitet sich vom lateinischen confligere ab: zusammenstoßen, aufeinanderprallen. Entsprechend ist der Konfliktgegenstand in der Regel ein Interessengegensatz, also das Aufeinanderprallen verschiedener Motive. Nehmen wir das Beispiel Autokauf oder -verkauf. Käufer und Verkäufer haben beide ein Ziel – sie wollen handelseinig werden. Naturgemäß begegnen sich hier jedoch unterschiedliche Interessen. Der Verkäufer möchte zu einem möglichst hohen Preis verkaufen, der Käufer hingegen möchte etwas Gutes haben und dafür möglichst wenig ausgeben. Doch dahinter liegen weitere Motive, die auf den ersten Blick nicht sichtbar sind. Denn hinter diesem eigentlichen Konfliktgegenstand verbergen sich unterschiedliche Bedürfnisse und Wertevorstellungen. Ein leidenschaftlicher Autonarr, der zu seinem Wagen ein beinahe sinnliches Verhältnis hat, wird es im Falle eines Verkaufes sicher wichtig finden, dass der Käufer die liebevoll gepflegte Karosse wertschätzt und nicht nur als Gebrauchsgegenstand betrachtet.
Entscheidend sind auch Persönlichkeitsmerkmale, aus denen sich unterschiedliche Beurteilungen, Gefühle und Ziele ergeben. So führt etwa bei einer Geiselnahme häufig Verlustangst zu Gewalt, vor allem Angst um die eigene Zukunft. Der Geiselnehmer fragt sich, wo er diese verbringen wird. Er hat ein Bedürfnis nach Orientierung, nach Hoffnung, er giert nach einer positiven Erwartung, an der er sich festhalten kann. Oft habe ich in Verhandlungen genau diese Angst gespürt und herausgearbeitet, um sie zu nutzen. Andere Verlustängste sind mir bei Menschen begegnet, die auf den Dächern von Hochhäusern standen und sich das Leben nehmen wollten. Hier war es oft der Verlust von Wertschätzung, der die Situation verschärfte. Ein Bedürfnis nach Sicherheit und Bindung, nach Anerkennung oder Zugehörigkeit – teilweise auch das Bedürfnis nach Verwurzelung, einem Zuhause. Bei manchen Menschen, die in eine solche verzweifelte Situation hineingeraten, kann auch der Strukturverlust ausschlaggebend sein. Sie haben ein starkes Bedürfnis nach Bedeutung, Beteiligung und Wertschätzung, gerade weil sie aus einer bestehenden Struktur herausgenommen wurden, etwa weil sie ihren Job verloren haben oder weil eine Familie auseinandergebrochen ist. Hinzu kommt oft ein Bedeutungsverlust. Die Betroffenen stellen sich die Sinnfrage – und tendieren zu einer negativen Antwort.
Bei Kriminellen kommt häufig die Angst vor Kontrollverlust hinzu. Zum Beispiel, wenn aufgrund falscher Zeitplanungen die Polizei schneller am Tatort eines Banküberfalls erscheint als erwartet. Die Angst, das eigene Schicksal könnte sich wenden, die Furcht vor den Folgen, wenn die Kontrolle über die Situation nicht rechtzeitig wiedererlangt wird, kann ein Auslöser für Gewalt sein. Die Analyse solcher Mechanismen ist notwendig, um die Ursachen und Dynamiken zwischenmenschlicher Konflikte besser zu verstehen. Gerade weil in jeder Verhandlung die zwischenmenschlichen Beziehungen und das gegensätzliche Verhalten handelnder Personen zu Konflikten, Irritationen und Verhärtungen in der Verhandlung führen kann, ist es notwendig zu analysieren, was genau einem Konflikt zugrunde liegt und an welcher Stelle er sich wie entwickeln kann. In meiner Ausbildung hieß es, man müsse »die Tiefenströmung in der Verhandlung erkennen«.
Tauchen in den Untiefen der Verhandlung
In Verhandlungen bei Krisen und Geiselnahmen besteht das Ziel darin, eine Verhaltensveränderung bei einem Menschen herbeizuführen, um eine freiwillige Deeskalation oder Aufgabe zu erreichen. Anders ausgedrückt: Wir wollen einen Menschen dazu bewegen, nicht länger so zu handeln, wie er aktuell handelt, und ihn gleichzeitig motivieren, so zu handeln, wie wir es wollen. Genau dieses doppelte Ziel steht auch bei vielen Verhandlungen im beruflichen und privaten Umfeld im Vordergrund.
Gemeinsam ist den oben geschilderten Extremverhandlungen und Verhandlungen im privaten und beruflichen Bereich (die im Einzelfall durchaus auch »extrem« sein können), dass die Handlungen von Menschen in Krisensituationen von Gefühlen und nicht von rationalem Denken bestimmt werden. Daher versucht ein erfolgreicher Krisenverhandler, die negativen Gefühle, die die Handlungen des Verhandlungspartners bestimmen, zu reduzieren und einen rationaleren Denkprozess zu reaktivieren.
Doch welche Fähigkeiten benötigt er dazu? Was schafft die Möglichkeit, negative Emotionen des Gegenübers zu reduzieren und die Verhandlung zu kontrollieren?
Was in der Verhandlung mit Schwerstkriminellen bei Geiselnahmen und Erpressungen notwendig ist, kann zu großen Teilen auch auf Verhandlungen mit Geschäftspartnern, Freunden, Kunden und Partnern übertragen werden. Denn auch hier geht es darum, Konfliktquellen herauszuarbeiten: die unterschiedlichen Ziele und Interessen, die zu Differenzen führen können – Differenzen über die Wahrnehmung eines Problems oder des eigenen Machtstatus. Solche unterschiedlichen Interessen herausarbeiten zu können, ist eine der Grundvoraussetzungen für erfolgreiche Verhandlungen.
Neben der Fähigkeit, den anderen zu analysieren, ist ein weiteres Geheimnis einer erfolgreichen Konfliktbewältigung die Fähigkeit, Bindungen aufzubauen, sie dauerhaft zu erhalten und immer wieder zu erneuern. Nur dann sind Sie in der Lage, bei Ihrem Verhandlungspartner Sprachfähigkeit zu erzeugen. Ohne Beziehungsfähigkeit gibt es keine zufriedenstellende Konfliktlösung – das müssen Sie verinnerlichen. In der Verhandlungsausbildung von FBI und CIA nennt man das auch taktische Empathie. Gary Noesner, pensionierter Chefverhandlungsführer beim FBI, erklärt das wie folgt:3
»Wir alle müssen gute Zuhörer sein und lernen, den Problemen, Bedürfnissen und Fragen anderer Menschen mit Empathie und Verständnis zu begegnen. Nur dann können wir hoffen, ihr Verhalten in unserem Sinne zu beeinflussen.«
Vorannahmen abzustreifen, neugierig Informationen zu sammeln, kreative Fragetechniken einzusetzen und nach Kooperation zu streben, ohne sein eigenes Ziel aus dem Auge zu lassen – darauf kommt es an. Denn aktiv nach einer Lösung zu suchen, dient auch Ihrem Erfolg. Machen Sie sich klar, dass Sie sich gerade in einem Konflikt befinden, dass dies jedoch nichts Negatives ist.
Unser Bewusstsein dafür, dass wir hart unsere Ziele verfolgen und trotzdem die Beziehung zu unserem Verhandlungspartner stabil halten können, muss geschärft werden. Konflikte entstehen schließlich überall und ständig. Im Privaten wie im Berufsleben, auf nationaler Ebene wie auch im globalen Kontext. Zu beobachten ist dies etwa bei Handelskriegen, beim Wiederaufflammen des Konfliktes zwischen den USA und Russland oder beim Kettenrasseln in Nordkorea. Die gute Nachricht ist, dass jeder lernen kann, Konflikte zu beherrschen und zu lösen. Voraussetzung ist das richtige Maß an Beziehungspflege, Engagement, Kooperation, Bereitschaft, etwas auszuhandeln, und Kontrolle der eigenen Emotionen. Wir müssen uns von manchen Vorstellungen verabschieden, wenn dies einem größeren Nutzen dient.
Das Wort »Konflikt« muss seinen Schrecken verlieren. Alles ist lösbar, auch wenn unser Gehirn, genau genommen unser limbisches System, darauf geeicht ist, einen Konfliktherd zu vermeiden oder ihn zu zerstören. Jedes Mal, wenn wir einen Konflikt erkennen, warnt unser limbisches System: »Vorsicht, es könnte gefährlich werden! Lass uns diesen Konflikt vermeiden oder bekämpfen.« Der Flucht- oder der Angriffsreflex übernimmt die Kontrolle, die Emotionen dominieren das Geschehen. Professionelle Verhandlungsführer sind sich dieser Situation bewusst und haben deshalb eine Reihe von Taktiken entwickelt, um dieses Verhalten bei sich selbst und ihrem Gegenüber zu kontrollieren.
Es gibt immer mehrere Möglichkeiten, einen Konflikt zu lösen.
Vermeidung einer Verhandlung oder Auseinandersetzung
Das Vermeiden von Konflikten liegt oft in der Persönlichkeit des Verhandlers begründet. Es gibt Menschen, die eher harmoniebedürftig und personenbezogen sind. Sie versuchen oft, Konflikten aus dem Weg zu gehen. Oftmals wissen sie gar nicht, dass dadurch in der Regel alles schlimmer wird. Solche Persönlichkeiten kommen für Verhandlungen eher nicht infrage. Kundenbetreuer, die auf ihrem Gebiet sehr gut sind, aber ein hohes Harmoniebedürfnis haben, sind möglicherweise für eine Verhandlung nicht geeignet. Denn für solche Menschen sind Verhandlungen eine Zumutung. Sie wollen ihrer Natur entsprechend möglichst schnell aus der Konfliktsituation herauskommen, haben Sorge um die Störung der Harmonie und tendieren dazu, viele und schnelle Zugeständnisse zu machen. Sie wollen ein schnelles Ergebnis erhalten. Dass dieses dann wohl kaum mit den eigenen Zielen vereinbar ist, liegt auf der Hand.
Durchsetzung der Interessen ohne Verhandlung
Dies funktioniert nur, wenn keinerlei Abhängigkeit vom Verhandlungspartner besteht. Wenn man selbst entscheiden kann und keinen anderen dazu braucht. In einem solchen Fall sind Menschen bestenfalls bereit, Verhandlungen für die Bühne zu führen. Wir kennen so etwas aus der Politik. Wähler und Medien erwarten beispielsweise, dass man sich mit einer Oppositionspartei oder einer Nichtregierungsorganisation auseinandersetzt und mit ihr verhandelt. Das zieht man dann über mehrere Runden vor den Kameras der versammelten Medienlandschaft hin, bis schließlich festgestellt wird, was eigentlich von Anfang an feststand: Man ist zu keinem gemeinsamen Ergebnis gekommen. Zum Schluss werden dann doch ausschließlich die eigenen Interessen durchgesetzt. Nur wenn keinerlei Abhängigkeit besteht, nur wenn Sie die Macht haben, alles allein zu entscheiden, können Sie auf eine Verhandlung verzichten.
Das Führen von Verhandlungen
Dies kann natürlich auf unterschiedliche Arten geschehen. Zum einen auf konstruktive Art und Weise. Das wäre der Idealfall einer Verhandlung, in der alles sachlich zugeht, Sachargumente überwiegen, beide Parteien arbeiten gemeinschaftlich an einer Lösung, verhalten sich dabei rational und gehen faire, belastbare Beziehungen miteinander ein. Bekannte Modelle wie das Harvard-Konzept streben dies an. Man geht von einer strikten Trennung zwischen Sachen und Personen aus – Emotionen spielen keine Rolle. Ein wunderbarer Gedanke – der leider in der Realität kaum Bestand hat. Viel öfter haben wir es nämlich mit zwei anderen Arten der Verhandlung zu tun: In einer manipulativen Verhandlung arbeitet man mit Appellen an Moral und Verstand, man täuscht und nutzt unsaubere Tricks. Und beim Verhandeln auf konfrontative Art versucht man, sich selber in eine verstärkte Machtposition zu bringen. Oft wird mit Drohungen und Benachteiligungen gearbeitet, häufig tritt ein echtes oder gespieltes irrationales Verhalten zutage.
Für alle Arten von Verhandlungen, konstruktive, manipulative wie konfrontative, ist das Verhandlungssystem F.I.R.E. geeignet. Natürlich wäre es wünschenswert, dass alle Menschen in Verhandlungssituationen konstruktiv wären und Sachargumente abwägen sowie die Beziehungsebene stabilisieren würden. Doch eine Verhandlung ist nun mal ein Konflikt. Und in einem Konflikt fühlen wir uns angegriffen, verletzt und haben Ängste, dass unsere Bedürfnisse nicht berücksichtigt werden. Das führt manchmal auch bei uns selbst zu Verhaltensmustern, die anderen völlig irrational erscheinen. Rationalität liegt immer auch im Auge des Betrachters.
Zuhören, Reinhören oder Überhören
Die Grundlage zum Lösen eines Konfliktes ist der Dialog. Die Wurzeln des Wortes »Dialog« stammen aus dem Griechischen: aus dem Wort dia, was so viel heißt wie »durch«, und logos, was unter anderem für »Wort« oder »Form« steht. Logos war zudem für die Griechen eine Eigenschaft der menschlichen Seele. Sie gab den Dingen eine Form. Worte sind solche Formen oder auch Formeln und Verpackungen für die Übermittlung der Bedeutung, die ein Mensch in sich trägt. Ein Dialog findet erst dann statt, wenn mindestens zwei Menschen Worte, Formeln und Behältnisse für die Dinge, die sie in sich tragen, austauschen. Dialog ist somit die gemeinsame Erforschung einer Art zu denken und zu reflektieren – eines der Grundwerkzeuge erfolgreicher Verhandler. Der Fokus liegt darauf, ein Verständnis für den Dialog- oder Verhandlungspartner zu finden. Verständnis dafür, was seine wahren Motive hinter den Positionen sind, die er in der Verhandlung vertritt. Verständnis dafür, in welchen Abhängigkeiten er oder sie sich befindet. Und auch ein Verständnis dafür, bis zu welchem Punkt er oder sie zu einer Lösung bereit ist. Ein Dialog ist jedoch nicht mit einer Debatte identisch, auch nicht mit dem Austausch von Argumenten. Bei Debatten oder Streitgesprächen, genauso wie bei Verhandlungen vor Gericht, gibt es ein Publikum und/oder Schiedsrichter. Dann sind Argumente entscheidend. Bei einer Verhandlung hingegen gibt es nur Abhängigkeiten, gefühlte und echte Abhängigkeiten. Das Affektive überwiegt. Emotionen bestimmen unser Denken. Also müssen wir in der Verhandlung auch mit Emotionen arbeiten. Argumente helfen da wenig.
Es gibt immer einen Grund, weshalb sich jemand mit Ihnen an einen Tisch setzt. Und der Grund ist, dass er ein Problem nicht ohne Sie lösen kann. Daraus entsteht eine Abhängigkeit. Und manchmal auch Hilflosigkeit. Das sollten wir uns bei einer Verhandlung grundsätzlich verdeutlichen. Es gehört zum Selbstbewusstsein und zum eigenen Selbstverständnis: Unser Verhandlungsgegenüber befindet sich auch in einer Abhängigkeit uns gegenüber. Sonst würde er oder sie doch gar nicht mit uns verhandeln. Egal, ob es die Chefin ist, die viel machtvoller erscheint, oder der Einkäufer eines Konzerns, der so unglaublich viel Machtpotenzial hinter sich hat und uns gerne spüren lassen möchte, dass wir machtlos sind – machen Sie sich stets klar: Es gibt einen Grund, weshalb die anderen mit Ihnen am Tisch sitzen. Dieser Grund ist eine wechselseitige Abhängigkeit.
Der Lösungsweg aus dem Konflikt, der jeder Verhandlung innewohnt, ist der Dialog, also der gemeinschaftliche Austausch. Im Kontext einer Verhandlung herrscht ein kontrollierter und gesteuerter Dialog. Und zu jedem Dialog gehören sowohl die individuellen Motive, Vorstellungen, Emotionen, verbale und nonverbale Ausdrucksformen als auch die dahinterstehenden Abhängigkeiten. Diese Punkte zu sehen und zu hören ist das, was wir im Verhandlungskontext Reinhören nennen. Das ist mehr als nur zuzuhören. Denn nur, wenn Sie in der Lage sind, in einen Menschen reinzuhören, sind Sie auch in der Lage, ihn in Ihrem Sinne zu steuern, zu führen und zu einem Ergebnis zu bewegen, das am Ende Ihnen nutzt. Verstehen Sie mich nicht falsch: Das bedeutet nicht, dass wir uns hier im Bereich des Coachings oder Therapierens befinden. Wir haben ein klares Konzept: unsere eigenen Ziele zu erreichen.
Relevante Fähigkeiten – eine Übersicht
Doch welche Fähigkeiten werden dafür benötigt? Was benötigt man, um seine Ziele in der Verhandlung durchzusetzen? Was schafft die Möglichkeit, negative Emotionen des Gegenübers zu reduzieren und die Verhandlung zu kontrollieren?
In den Trainingseinheiten, die für Spezialkräfte zur Bewältigung von Krisen und Geiselnahmen weltweit durchgeführt werden, wird eine Reihe von Kernfähigkeiten vermittelt, die auch in beruflichen und privaten Verhandlungsprozessen erfolgskritisch sind:
Diese Fähigkeiten tragen nachweislich dazu bei, auch unter extremen Bedingungen das Zepter des Handelns in der Hand zu behalten, die Verhandlung zu steuern und sie im eigenen Sinn zu einem guten Ergebnis zu führen.
Wenn diese Fähigkeiten schon in Extremsituationen zu großen Erfolgen geführt haben, was können sie dann erst bei Ihren weniger dramatischen Verhandlungen bewirken? Wie können Sie in irrationalen Verhandlungen für sich selbst rationale Ergebnisse erzielen? Und wie können Sie bei grundsätzlich rationalen Verhandlungspartnern noch bessere Ergebnisse erzielen?
Krisenverhandlungen bei Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten basieren natürlich auf vielen vorangegangenen Trainingsstunden und kontinuierlichem Training während der gesamten beruflichen Laufbahn. Die Trainingseinheiten umfassen Rollenspiele und das Bearbeiten von lebensechten Krisenszenarien. Hinzu kommt die Bereitschaft, stets auf dem neuesten Stand der Forschung zu sein. Dieses permanente Training entscheidet am Ende häufig im wahrsten Sinne des Wortes über Leben und Tod.
Professioneller Beziehungsaufbau
Unter dem professionellen Aufbau einer Beziehung ist zu verstehen, dass Sie Ihrem Gegenüber Ihre Aufmerksamkeit schenken, ihm positiv gegenübertreten und Ihre Kommunikation disziplinieren und koordinieren. Darum wird eine solche Beziehung in hohem Maße von aktivem Zuhören bestimmt. Wenn Sie eine Beziehung erfolgreich aufbauen wollen, müssen Sie dafür sorgen, dass sich Ihre verbale mit Ihrer nonverbalen Kommunikation deckt. Das schließt Ihren Tonfall, offene Gesten und Augenkontakt ein.
Taktische Empathie
Sie müssen in der Lage sein, die Emotionen und stressbedingten Veränderungen bei Ihrem Gegenüber zu erkennen und interaktiv darauf einzugehen. Wer als Verhandlungsführer beim Verhandlungspartner eine Verhaltensänderung herbeiführen will, muss dessen aktuelle Gefühle und Verhaltensweisen verstehen. Empathie ist genau das – die Perspektive des anderen zu ergründen und zu verstehen. Das Facial Action Coding System (FACS), ein weltweit von Psychologen angewandtes Verfahren zum Decodieren nonverbaler Signale, verschafft uns die Möglichkeit, auf der Grundlage von kleinsten mimischen Reaktionen – sogenannten Mikroexpressionen – die Emotionen des Gegenübers genau zu erkennen. Erfolgreiche Verhandlungsführer benötigen die Fähigkeit, taktische Empathie gezielt einzusetzen und zugleich schnelle nonverbale Signale zu erkennen und auf dieser Basis ihr Vorgehen anzupassen. Die gute Nachricht lautet, dass das Erlernen des FACS und das Erkennen von schnellen Mikroexpressionen heute mit Onlinelernportalen sehr gut funktioniert und leichter ist, als es sich anhört. Der Mehrwert in einer Verhandlung ist allerdings unbezahlbar.
Aktives Reinhören
Einfach ausgedrückt, stellt das aktive Reinhören die wichtigste Kommunikationsfähigkeit dar, die ein Verhandlungsführer in einer Krise nicht nur anwenden, sondern auch richtig anwenden muss. Im Einzelnen gehören zum aktiven Reinhören:
Aktives Reinhören ermöglicht es einem Verhandlungs- oder Vernehmungsführer, von einem anderen wichtige Informationen (in der Verhandlungssprache als »Interessen hinter den Positionen« bezeichnet) zu erhalten. Gleichzeitig ist es von ebenso großer Bedeutung, Empathie und Beziehungsbereitschaft zu demonstrieren.
Aktives Reinhören ist vor allem dann erfolgreich, wenn alle eben genannten Techniken im Kontext gemeinsam eingesetzt werden. Sie dürfen nicht einfach nur willkürlich isoliert, sondern müssen strategisch eingesetzt werden. In einer Verhandlung sitzen Sie Menschen gegenüber, die an das zu behandelnde Thema Gewinn- und Verlusterwartungen haben. Erwartungen, die häufig mit Sorgen, Bedürfnissen und Ängsten verknüpft sind. Man spricht dabei auch gerne von einer krisenhaften Situation. Denken Sie an Ihre letzte Krise: Wollten Sie da mit einem anderen Menschen sprechen oder ihm zuhören? Die Antwort ist, dass Menschen, die sich in einer Krise befinden, sprechen und nicht zuhören wollen! Aktives Zuhören erlaubt dem Verhandlungspartner weiterzusprechen, während Sie mit Ihren kurzen Reaktionen das Gespräch kontrollieren und Ihrem Gegenüber signalisieren, dass es gehört wird. Eine Reduktion seiner negativen Emotionen ist die Folge, der Erhalt von verhandlungsrelevanten Informationen Ihr zusätzlicher Gewinn.
Das Konzept der Kontrolle
Befindet sich ein Mensch in der Krise, hat er höchstwahrscheinlich das Gefühl, dass etwas Wichtiges fehlt: die Kontrolle – zum Beispiel über sein Leben –, und genau das stürzt ihn in eine Krise. Wenn Sie diesen Menschen in den Entscheidungsprozess einbeziehen, trägt das wesentlich dazu bei, dass Sie am Ende bekommen, was Sie wollen. In nicht polizeilichen Verhandlungen bedeutet dies meist, »etwas zu geben«, um »etwas zu erreichen«. Man spricht hier von motivbedingtem Verhandeln.
Geben Sie Ihrem Gegenüber das Gefühl, dass er oder sie in den Prozess einbezogen ist. Ihn am Prozess teilnehmen zu lassen, bedeutet zunächst, ihn reden zu lassen, Informationen zu gewinnen und ihn dann am Aushandlungsprozess zu beteiligen.
Gleich zu Beginn einer Verhandlungsausbildung wird immer wieder klargestellt, dass die Bereitschaft, einem anderen Menschen ein Gefühl der Kontrolle zu geben, nicht bedeutet, dass Sie Ihre eigene Kontrolle aufgeben. Im Gegenteil, Sie vermitteln Ihrem Gegenüber nur das Gefühl der Kontrolle, um ihn zu steuern. Tatsächlich besitzen Sie selbst während des ganzen Prozesses die Kontrolle.
Denken Sie aber daran, dass Sie auch die Kontrolle über sich selbst behalten müssen – insbesondere über Ihre Emotionen. Emotionen sind ansteckend, und wenn Sie sich in eine Krisensituation begeben, in der die Handlungen eines anderen Menschen von einer Vielzahl negativer Emotionen bestimmt werden, müssen Sie sicherstellen, dass Sie nicht in dessen Emotionen verstrickt werden. Wenn Sie sich dagegen selbst unter Kontrolle haben (Tonfall und andere nonverbale Hinweise), kann Ihre Gelassenheit zur Deeskalation der angespannten Lage beitragen.
Kontrolle über das Gegenüber und sich selbst erhalten Sie dadurch, dass Sie die Verhandlung steuern. Dazu muss Ihnen natürlich auch bewusst sein, welche Phasen eine Verhandlung durchläuft und in welcher dieser Phasen Sie sich gerade befinden. Gelegentlich müssen Sie sich fragen, ob Sie gegebenenfalls eine Phase erneut durchlaufen müssen, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Der Faktor Zeit
Zeit kann in einer Verhandlung Freund oder Feind sein. Aber eines ist sie auf jeden Fall: Macht! Deshalb ist Zeit auch der wichtigste Verbündete eines Verhandlungsführers. Das bedeutet, eher langsamer vorzugehen, als nach einer schnellen Lösung zu suchen. Treibt man den Prozess überstürzt voran, verstärkt man nur die negativen Gefühle, übersieht Informationen und löst Stress aus – schlimmstenfalls auch bei sich selbst.
Verhandlungs- und Vernehmungsführer bei Sicherheitsbehörden und Nachrichtendiensten werden ständig dazu angehalten, das Tempo zu reduzieren, und daran erinnert, dass es genau wie beim Balancieren auf einem Balken sinnvoller ist, einen Schritt nach dem anderen zu machen, wenn man nicht stolpern, die Kontrolle verlieren und abstürzen will. Die Berücksichtigung jedes einzelnen Schrittes trägt zur Entschleunigung bei und ermöglicht die Anwendung der übrigen fünf Fähigkeiten.
Einflussnahme
Mithilfe der vorgenannten Fähigkeiten können Sie als Verhandlungsführer kritische und extreme Situationen entschärfen. Bei Kriseneinsätzen besteht die Aufgabe darin, zu verhandeln und den Versuch zu unternehmen, die aktuell vorliegende Krise zu bewältigen. Es ist sinnvoll, den Prozess zu entschleunigen und durch aktives Zuhören Empathie zu demonstrieren sowie eine Beziehung aufzubauen.
Doch es geht nicht nur darum, eine menschliche Verbindung herzustellen; Verhandlungen zweier Parteien erfordern, dass man ein Ziel hat und dieses nicht aus den Augen verliert. Sein eigenes Ziel zu definieren und auch zu wissen, was ein nicht mehr zu akzeptierendes Verhandlungsergebnis wäre, ist Bestandteil einer jeden gründlichen Verhandlungsvorbereitung und schafft die Sicherheit für den anstehenden Verhandlungsprozess.