Kevin Hearne
Wie ein T-Shirt mich vor Aliens bewahrte
Aus dem amerikanischen Englisch
von Urban Hofstetter
Knaur eBooks
Kevin Hearne, geboren 1970, lebt in Arizona und unterrichtet Englisch an der Highschool. Sein Debüt Die Chronik des Eisernen Druiden stand monatelang auf der New York Times-Bestsellerliste und war weltweit erfolgreich. Do not eat! ist sein erster Science-Fiction-Roman voller Humor und perfekt für alle, die Monty Python und Douglas Adams lieben. In Fintans Sage entführt uns Kevin Hearne in eine Welt voller tödlicher Magie, mit abenteuerlichen Questen, politischen Intrigen, angriffslustigen Hornissen, Senf – und einem Barden, der Geschichten erzählt.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »A Question of Navigation« bei Subterranean Press, Burton, Michigan.
Mit einer Leseprobe aus Kevin Hearne: Das Spiel des Barden. Fintan Sage 1, übersetzt von Urban Hofstetter. Knaur Taschenbuch, 2019, München mit freundlicher Genehmigung der Verlagsgruppe Droemer Knaur, 16,99 € (Paperback), 12,99 € (E-Book). Die amerikanische Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel »A Plague of Giants. Book One of The Seven Kennings« bei Orbit.
© 2021 by Kevin Hearne
© 2022 der deutschsprachigen Ausgabe Knaur Verlag
Ein Imprint der Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Covergestaltung: Carola Bambach
ISBN 978-3-426-46117-4
Sie haben mich gestern entführt, und ich bin mir nicht sicher, wie genau meine Zeitmessung ist. Die Schiffstage unterscheiden sich bestimmt von den Erdtagen – sie verwenden nicht einmal die gleichen Zeiteinheiten wie wir und haben auch keinen Planeten, der sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden einmal um die eigene Achse dreht. Außerdem wird die Zeitdilatation zunehmen, während wir uns der Lichtgeschwindigkeit annähern. Daher spielt es wahrscheinlich keine Rolle, welcher Wochentag gerade ist. Über das Datum kann ich mir wieder Gedanken machen, wenn ich es je zur Erde zurückschaffe.
Hier ist eine Liste der Dinge, über die ich mir derzeit stattdessen Sorgen mache:
Sondenuntersuchungen und ...
Äh, das ist eigentlich schon alles. Nur Sondenuntersuchungen.
Emily hat versprochen, dass sie mich nicht fressen werden, und damit fürchte ich mich im Augenblick bloß vor:
Sondenuntersuchungen
Vor allem weil ich Emily auf das Thema angesprochen habe und sie mir bezeichnenderweise auf meine direkten Fragen eine ganze Reihe ausweichender Antworten gegeben hat.
ICH: Werdet ihr mich mit Sonden untersuchen?
EMILY: Unsinn! Was ist das denn für eine Frage?
ICH: Entführungen durch Aliens sind bei uns fast so was wie ein eigenständiges Genre. Und in diesen Geschichten führen die Aliens immer ohne jeden Grund Sondenuntersuchungen an den Menschen durch. Erst ertönt ein schmatzendes Geräusch, dann gibt es jede Menge Geschrei, und wir bekommen Albträume davon. Ich glaube, man kann sagen, dass unsere Spezies eine Urangst davor hat, von anderen intelligenten Lebensformen mit Sonden untersucht zu werden. Schlimmer finden wir nur noch die Vorstellung, von anderen Lebensformen gegessen zu werden, aber du hast mir ja versprochen, dass ihr mich nicht essen werdet.
EMILY: Ja, wir haben beschlossen, dich am Leben zu lassen. Das freut dich doch, oder? Wir haben dir diese schönen Sachen angezogen, auf denen hinten und vorn in unserer Sprache DO NOT EAT – ESSEN VERBOTEN steht.
ICH: Das freut mich sehr. Das ist mein Ernst, danke! Und die Klamotten gefallen mir. Aber kannst du mir auch versprechen, dass ihr mich nicht mit Sonden untersuchen werdet?
EMILY: Ich weiß nicht einmal genau, was das für Untersuchungen sein sollen, und irgendwie habe ich jetzt die Befürchtung, dass wir nicht deinen Erwartungen genügen. Was verursacht dieses schmatzende Geräusch?
ICH: Moment mal. Du weißt ganz genau, was Sondenuntersuchungen sind. Ich weiß, dass ihr meine Sprache fließend sprecht, und ich will von dir hören, dass ihr mir keine Sonde einführt.
EMILY: Weißt du was, Clint, das klingt wirklich wichtig, und ich will nichts falsch machen, nur weil ich etwas nicht ganz genau verstehe. Darauf kommen wir später noch mal zurück.
ICH: Was? Nein, Emily, es gibt nichts, was man an einer Sondenuntersuchung missverstehen könnte!
EMILY: Bis nachher.
Verdammt! Sie werden mich mit Sonden untersuchen.
Ich kann keine Notizen auf meinem Handy machen, da sie es mir weggenommen haben. Aber es war ohnehin leer, und auf dem Schiff gibt es keine kompatiblen Ladegeräte. Dafür hat Emily mir einen Stapel Notizbücher und Stifte gegeben, die sie irgendwo geklaut haben. Sie hat gesagt, dass ich alles aufschreiben soll, was mir durch den Kopf geht. Ich glaube nicht, dass sie meine Privatsphäre respektieren werden, also: Hallo, Emily, oder wer immer von euch das hier liest. Vielen Dank, dass ihr mich nicht esst. Das weiß ich wirklich zu schätzen.
Aber ich will aufschreiben, wie ich hierhergekommen bin, bevor mein Terminplan mit Sondenuntersuchungen gefüllt ist und ich mich nicht mehr daran erinnere, weil sie mir das Gehirn entfernt haben.
Derek und ich waren gerade zum ersten Mal seit dem Ende der Pandemie im Rocky Mountain National Park wandern. Auf dem Bierstadt Trail stießen wir auf zwei Mädchen, die aussahen, als wären sie keine zehn Jahre alt. Sie waren ohne erwachsene Aufsichtspersonen unterwegs. Zumindest konnten wir auf dem Pfad hinter ihnen niemanden entdecken, und uns war auch keiner entgegengekommen.
Eine von ihnen war weiß. Sie trug ein T-Shirt mit einem rosafarbenen Einhorn darauf. Die Baseballkappe auf ihren langen blonden Haaren und ihre Jeans waren ebenfalls pink. Das andere Mädchen war nicht weiß. Auf ihren glatten dunklen Haaren saß eine schwarze Kappe der Colorado Rockies. Mit den beiden stimmte etwas nicht – ihre Augen waren ein bisschen zu groß.
Das Einhornmädchen deutete auf uns. »Schau mal, da sind zwei. Kann ich einen von ihnen haben?«
»Vielleicht«, sagte ihre Begleiterin. Sie betrachtete den Pfad hinter uns und warf einen kurzen Blick über die Schulter, bevor sie uns ansprach: »Hallo.«
»Hallo«, erwiderten wir, und ich fragte: »Wo sind denn eure Eltern?«
Das Einhornmädchen schaute ihre Freundin an. »Wieso fragt er uns nach unseren Eltern?«
»Das ist mir schon ein paarmal passiert. Wir wirken wie Kinder auf sie, und das weckt ihre Beschützerinstinkte.«
Das Einhornmädchen sah verblüfft aus. »Das ist ja eine ziemlich eklatante Fehleinschätzung.«
»Es ist vor allem eine glückliche Fügung. Wir kommen ihnen nicht bedrohlich vor. Sie sind in unserer Gegenwart nicht vorsichtig und machen sich weder zum Kampf noch zur Flucht bereit. Siehst du? Sie stehen einfach nur dumm rum.«
Das erste Mädchen schaute uns erneut an, um zu überprüfen, ob diese Aussage stimmte. »Hmm. Du scheinst recht zu haben.«
Die Art, wie die beiden miteinander sprachen, war mir sofort unheimlich, und ich zupfte an Dereks Ärmel, um ihn zum Weitergehen zu bewegen. Doch entweder spürte er die schlechten Vibes der beiden nicht, oder es war ihm egal, denn er fragte: »Habt ihr euch verlaufen? Wo wolltet ihr denn hin?«
»Genau hierher«, erwiderte das Einhornmädchen. »Jetzt ist meine Essenszeit. Welchen soll ich nehmen, Emily? Kann man von außen erkennen, wer von ihnen besser schmeckt?«
»Reiß dich zusammen und hab etwas Geduld«, sagte Emily mit leicht vorwurfsvoller Miene. Dann drehte sie sich zu uns um und bedachte uns mit einem Lächeln, das vermutlich charmant und beruhigend wirken sollte, aber es sah so aus, als hätte sie mehrere Zahnreihen im Mund. »Hat einer von euch einen Universitätsabschluss?«
»Ja, wir beide«, antwortete Derek. »Geht es dir gut? Was ist mit deinen Zähnen passiert?«
Emily ignorierte die Gegenfrage und hakte nach. »In welchen Fächern?«
»Anglistik«, sagte Derek.
Emilys zu große Augen verengten sich, und ihr Lächeln verblasste. »Verstehe. Und du?«
»Physik«, sagte ich.
Ihre vielen Zähne blitzten erneut auf. »Ah! Physik! In deinem Wissen klaffen vermutlich peinliche Lücken, aber damit können wir etwas anfangen.« Sie drehte sich zum Einhornmädchen um und deutete mit einer wegwerfenden Handbewegung auf Derek. »Du kannst den Anglisten haben, Janelle.«
»Hey, was?«, fragte Derek.
»Ja! Endlich!« Janelle nahm die Kappe mitsamt ihren Haaren ab. Das ganze Ding war eine Perücke gewesen, und darunter verbarg sich …
O SCHEISSE …