Für Ophelia und Bruno
und für die Menschen in der Ukraine
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wbg THEISS ist ein Imprint der wbg.
© 2022 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Lektorat: Kristine Althöhn, Mainz
Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart
Einbandmotiv: Denkmal für die Opfer des nationalsozialistischen Terrors in Babyn Jar,
© Guy Corbishley / Alamy Stock Photo
Abb. auf S. 2: Gedenkstätte Kaunas IX. Fort in Litauen, © akg-images (Michael Foedrowitz)
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-4432-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8062-4456-4
eBook (epub): 978-3-8062-4457-1
Ein neuer europäischer Krieg – Eine Einleitung
1Warschau – Stadt der Aufstände
2Lwiw – Von Nachbarschaft, Zeugenschaft und Gewalt
3Babyn Jar – Ein Schauplatz der Vernichtung des sowjetischen Judentums
4Von Minsk nach Malyj Trostenez – Der lange Weg zur Holocausterinnerung in Belarus
5Stalingrad – Die Wolga in Flammen und Schornsteine im Schnee
6Leningrad – Vernichtung durch Hunger: Stimmen aus der Blockade
7„Wilner Getto“ – Erzählungen vom Kampf und vom Verlust
8Chatyn, Pirčiupis und Korjukiwka – Drei Feuerdörfer, der Partisanenkampf und die Erinnerung danach
9Bełżec und Majdanek – Europa der Toten
Epilog – Europa der Lebenden
Dank
Anmerkungen
Ausgewählte Literatur in deutscher und englischer Sprache
Wozu erinnern? Diese Frage stellt sich in diesen Tagen, in denen Bomben auf eine europäische Hauptstadt fallen, in denen ukrainische Männer, Frauen und Kinder in Metro-Stationen ausharren und um ihr Leben fürchten, noch einmal völlig neu. Das letzte Mal wurde Kyiv im September 1941 bombardiert, damals von der deutschen Wehrmacht. Erobert wurde die Stadt von der sechsten Armee der Heeresgruppe Süd unter dem Kommando von General Walter von Reichenau, einem überzeugten Nationalsozialisten und einem der Hauptverantwortlichen für das Massaker von Babyn Jar, bei dem Einsatzgruppen der SS mit Unterstützung der Wehrmacht innerhalb von zwei Tagen an einer Schlucht bei Kyiv 33 771 sowjetische Jüdinnen und Juden erschossen. In den Jahren der Besatzung setzte die deutsche Besatzungsmacht ihre Politik des Terrors gegen die Zivilbevölkerung durch. Allein in Babyn Jar ermordete sie in den folgenden Jahren abertausende Menschen, sowjetische Kriegsgefangene, ukrainische Nationalistinnen und Nationalisten, Roma und Romnja, Geistliche und andere, die sie als Feinde ansahen. Am achten Tag des Putin’schen Krieges gegen die Ukraine verbreitete sich die Nachricht, dass Babyn Jar von einer russischen Rakete getroffen wurde – es gab fünf Tote. Hier, wo es viele Denkmäler gibt, die an die Millionen Opfer der deutschen Besatzung erinnern, wo es Pläne gab, einen musealen Komplex zu errichten, der allen Opfergruppen dieses zentralen europäischen Erinnerungsortes gerecht werden sollte – hier also fallen heute Putins Bomben.
Es gibt sehr glaubhafte Berichte darüber, dass der Aggressor Listen führt mit den Namen derjenigen, die ausgeschaltet werden sollen – Politikerinnen und Politiker, Schriftstellerinnen und Schriftsteller, Journalistinnen und Journalisten, Intellektuelle, ethnische Minderheiten, die LGBTQI-Community, womöglich Krimtataren und die jüdische Gemeinde, die sich entschlossen hinter Kyiv stellt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Menschen ultimativen Repressalien ausgesetzt oder gar aus dem Land verwiesen, verhaftet und vernichtet werden sollen. Eine Strategie, die Putin bereits gegen diejenigen im Donbas oder auf der Krim anwandte, die sich seiner Kriegs- und Expansionspolitik widersetzten. Putin versucht gerade mit brachialer Gewalt seine imperiale Version eines Großrusslands zu verwirklichen, in der es keine unabhängige, freie und demokratische Ukraine geben darf. Schon in den Jahren zuvor hatte er deutlich gemacht, dass er dem ukrainischen Nationalstaat, deren Ursprünge – wie im Falle fast aller europäischen Nationen – sich mindestens bis ins 19. Jahrhundert zurückverfolgen lassen, jede Existenzberechtigung abspricht. In dieser imperial-chauvinistischen Herabsetzung eines ganzen Volkes begreift Putin die Ukrainer als minderwertig, als nicht staatsfähig. Die Putin’sche anti-ukrainische Propaganda wird seit der Kyiver „Revolution der Würde“ im Winter 2013/14 auch in den Staatsmedien verbreitet. Putin versucht alles, um der Bevölkerung Informationen über den Krieg vorzuenthalten. So ist das Wort „Krieg“ verboten; stattdessen muss von einer „militärischen Spezialoperation“ gesprochen werden. Doch die Euphorie, die in Russland die Annexion der Krim begleitete, bleibt aus.
Dieser Krieg wird auch für Russland eine Zeitenwende, oder ist es schon. Zunächst einmal, weil dieser Krieg härteste Repressalien für die Teilnahme an Anti-Kriegs-Protesten, ein Verbot von Radio- und TV-Sendern, die Abschaltung von sozialen Netzwerken und YouTube und eine strikte Zensur auch im Internet mit sich bringt. So straft ein neues Gesetz die Verbreitung von „falschen“ Informationen über das russische Militär mit 15 Jahren Freiheitsstrafe. Was als „falsch“ gilt, bestimmt der Machthaber. Die Staatsstrukturen wurden ebenfalls angewiesen, denen zu kündigen, die sich an einer Anti-Kriegs-Petition beteiligten. Und trotzdem gibt es Widerstand gegen Putins Krieg; in vielen Städten gehen Menschen auf die Straßen. Der Repressionsapparat reagiert jedoch umgehend: Am ersten Tag der Invasion verhaftete die Polizei knapp zwei Tausend Menschen, und mit jedem Tag der Proteste greift die Polizei heftiger durch; es gibt viele Verletzte. Neben jungen Menschen, die kein anderes Regime kennen, als das Putin’sche, gehen auch die Älteren auf die Straßen, vor allem alte Frauen, die selbst Überlebende des Krieges sind. Sie tragen in der U-Bahn blau-gelbe Kopftücher oder harren mit Plakaten bei den Anti-Kriegs-Demos aus. In St. Petersburg führten Polizisten auch eine Überlebende der Leningrader Blockade ab.
Aber es gibt auch eine andere Seite, die wir nicht ignorieren dürfen: Ukrainer und Ukrainerinnen, die vor Bomben fliehen und Tote zu beklagen haben, berichten, dass ihre Verwandten und Freunde in Russland ihren Schilderungen nicht glauben würden, dass sie immer noch davon überzeugt seien, dass in der Ukraine „Faschisten“ regierten. In den sozialen Medien verbreiten sich Videos, in denen Menschen ihre Unterstützung Putins bekunden und anti-ukrainische Propaganda teilen. Ja, die Entscheidung zum Krieg fällte Putin, aber schon vor dem Angriff stimmten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens in die hasserfüllten Tiraden gegen das Nachbarland ein und beschworen die Rückkehr von Russlands national-imperialer Größe. Es ist derzeit schwer zu beurteilen, wie groß die Unterstützung für Putins Kriegskurs tatsächlich ist; das wird wohl eine Aufgabe für zukünftige Historikergenerationen sein. Aber die Tatsache, dass zumindest Teile der russischen Gesellschaft diesen Krieg und seine ideologische Grundlage mittragen, dass die Soldaten der russischen Armee die Beschießungen der Zivilbevölkerung ausführen, wird die russisch-ukrainischen Beziehungen über Jahrzehnte belasten – das Band zwischen den vermeintlichen „Brüdervölkern“ dürfte so endgültig zerrissen sein. Anders als manche es jetzt behaupten, ist dies eben nicht nur „Putins Krieg“. Dies wird auch Auswirkungen auf die ukrainische Erinnerungskultur haben. Für manche Ukrainerinnen und Ukrainer war der sowjetische Sieg gegen den deutschen Faschismus eine Verbindung zu Russland. Der gemeinsame Mythos des „Großen Vaterländischen Krieges“ dürfte nun der Vergangenheit angehören.
Wie hängt das, was derzeit in Europa geschieht, mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, mit der gewaltvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts zusammen? Bezüge zur Geschichte sind an allen Fronten zu beobachten. Putin legitimierte seinen Einmarsch in die Ukraine mit der absurden Behauptung, dass dieser nötig sei, um die Ukraine zu „denazifizieren“ und einen „Genozid“ zu verhindern. Damit griff der russische Präsident geschichtspolitisch an mehreren Fronten an: Er missbrauchte das anti-faschistische Erbe der Sowjetunion, die im Zweiten Weltkrieg Hitler-Deutschland besiegt hatte, um seinen Angriff auf ein friedliches Land zu rechtfertigen. Zugleich verhöhnte er damit die Opfer des Nationalsozialismus, was sich in diesem Fall besonders plastisch zeigt: Der demokratisch gewählte ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj, ist selbst Jude und Nachkomme von Überlebenden des Holocaust. Sein Großvater hat in der Roten Armee gegen die Wehrmacht gekämpft. In einer bewegenden Fernsehansprache an das russische Volk hatte Selenskyj dies zum Ausdruck gebracht: Wie könne er Nazi sein?
Auch den Genozid-Vorwurf wählte Putin wohl sehr bewusst, benutzte er damit doch die ultimative Schuldzuweisung, die gerade Hochkonjunktur hat. Scharf wie kein anderer Terminus teilt dieser Begriff Gemeinschaften in Opfer und Täter. In Russland werden seit einigen Jahren die Verbrechen der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg unter eben diesem Begriff subsumiert. Der Propaganda-Apparat wollte damit wohl die Menschen auf den Krieg vorbereiten und die Invasion gegen die Ukraine als Fortsetzung des Befreiungskampfes gegen den Faschismus erscheinen lassen. Zudem instrumentalisierte Putin auf diese Weise das schlimmste Trauma der Ukrainer und Ukrainerinnen im 20. Jahrhundert: den Holodomor, also die von Stalin herbeigeführte Hungersnot zu Beginn der 1930er-Jahre. Von dieser war zwar nicht nur die Sowjetukraine betroffen, sie kostete auch innerhalb Russlands und in Kasachstan Millionen Menschen das Leben, im Falle der Ukraine war sie aber auch gegen die Nation selbst gerichtet. Denn seit dem Russischen Bürgerkrieg galt die umkämpfte Ukraine als widerständig. Nach dem Zusammenbruch des russischen Zarenreiches und des Habsburger Reiches im Zuge des Ersten Weltkriegs hatte es mehrere Versuche gegeben, einen unabhängigen ukrainischen Staat zu gründen. In der Zentral- und Ostukraine waren es die im Bürgerkrieg siegreichen Bolschewiki, die diese Träume beendeten. Stattdessen wurde die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik in die neu gegründete Sowjetunion integriert und wurde damit de facto von Moskau aus regiert. Den Bolschewiki waren großrussische Ansprüche keineswegs fremd, eine unabhängige Ukraine akzeptierten sie nicht. Die Angst vor ukrainischer Resistenz war ein zentraler Faktor im stalinistischen Terror der frühen 1930er-Jahre. Mit der Hungerspolitik gegen die ukrainische Bauernschaft und der massenhaften Ermordung ukrainischer Eliten sollte auch das Rückgrat der ukrainischen Nation gebrochen werden. In der Geschichtswissenschaft ist zwar umstritten, ob es sich beim Holodomor um einen Genozid handelte – das ist in diesem Zusammenhang jedoch zweitrangig. Entscheidend ist, dass in der ukrainischen Erinnerungskultur die Begriffe Genozid und Holodomor untrennbar miteinander verbunden sind. Putin unterstellt der Ukraine also ausgerechnet ein Verbrechen, dem in den 1930er-Jahren über drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer zum Opfer gefallen waren, während die Verantwortlichen dafür in Moskau saßen.
Der Zweite Weltkrieg spielte auch in den deutschen Debatten in Bezug auf Russland und die Ukraine eine Rolle und das mindestens seit der Annexion der Krim im Februar 2014 und dem darauffolgenden Angriff auf den Donbas. Die Bundesregierung hat ihre Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine stets mit historischen Argumenten begründet: Aufgrund der Geschichte des Zweiten Weltkriegs könne Deutschland keine Kriegspartei werden. Implizit bedeutete dies auch: keine Kriegspartei in einem Krieg gegen Russland, dem Nachfolgestaat der Sowjetunion, die NS-Deutschland 1941 mit einem Vernichtungskrieg überzogen hatte. Es hat den Angriff auf Kyiv gebraucht, um diese Position zu ändern.
Für die Ukraine, die ja immerhin selbst zu großen Teilen im Krieg Teil der Sowjetunion gewesen war, war es genau andersherum: Gerade, weil Deutschland für die Totalbesetzung ihres Landes im Zweiten Weltkrieg verantwortlich war, gerade weil so viele Menschen dort der deutschen Vernichtungspolitik zum Opfer gefallen waren, hatte Deutschland jetzt eine besondere moralische Pflicht, den Menschen dort gegen einen Aggressor beizustehen.
In Ostmitteleuropa war die Haltung Deutschlands zuvor auf großes Unverständnis, ja, auf Entsetzen gestoßen. Und auch hier spielte die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine Rolle. Ausgesprochen präsent ist in Polen, in den baltischen Staaten aber auch in der Westukraine die Erinnerung an den Nicht-Angriffspakt zwischen der Sowjetunion und Deutschland, den die beiden Mächte im August 1939 schlossen und in dem sie in einem geheimen Zusatzprotokoll die Aufteilung Ostmitteleuropas in eine sowjetische und in eine deutsche Einflusszone vereinbarten.
Haben wir die falschen Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen, vielleicht auch deswegen, weil über achtzig Jahre nach seinem Beginn die Erinnerung an den Krieg im östlichen Europa so lückenhaft ist? Wie viel wissen die Deutschen über jenes zentrale Ereignis in Polen, den Warschauer Aufstand von 1944? Damals erhoben sich die Polen gegen die übermächtigen deutschen Besatzer, um für ihre Freiheit zu kämpfen. Die vor der Stadt stationierte Rote Armee kam ihnen damals nicht zur Hilfe, hatte Stalin doch keinerlei Interesse an einem freien Polen. Die ausgeprägte Solidarität der polnischen Bevölkerung mit der Ukraine hängt auch damit zusammen, dass Polinnen und Polen das eigene historische Schicksal in der Ukraine wiederholt sehen: das Ausgeliefertsein an einen militärisch überlegenen Nachbarn, während die Welt zuschaut.
Hätte eine stärkere Sensibilisierung in Deutschland für ostmitteleuropäische Perspektiven auf den Krieg vielleicht dazu beigetragen, die Position der Ukraine in den letzten Jahren besser zu verstehen? Während für die Deutschen der Holocaust, die Ermordung des europäischen Judentums, Fluchtpunkt der Erinnerung ist, ist es für viele Länder in Ostmitteleuropa die Erfahrung der doppelten Besatzung und das eigene Leiden unter der deutschen Besatzung. Damit ist nicht gesagt, dass es in Ländern wie Polen und Litauen oder der Ukraine nicht auch problematische Aspekte im Hinblick auf die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gibt, besonders was die Kooperation der lokalen Bevölkerung bei der Ermordung der Jüdinnen und Juden angeht. Über diese Aspekte wird auch dieses Buch nicht schweigen, auch wenn es uns in dieser Situation unangemessen erscheint, dass wir ein Buch publizieren, in dem es auch um die dunklen Seiten der ukrainischen Geschichte geht, und in dem wir kritisch auf ihre Erinnerungskultur blicken. Aber nun die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu scheuen, wäre genau der falsche Weg. Und gerade der Blick in die Geschichte zeigt, wie sehr sich die Ukraine in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, wie sie zu einer inklusiven Staatsbürgernation geworden ist. Hätte man einem Juden im damals noch polnischen Lwów in den 1930er-Jahren gesagt, dass ein Jude zum Nationalheld und Anführer der Ukraine werden würde, er hätte es vermutlich nicht geglaubt. Und hätte man einem Ukrainer zu derselben Zeit gesagt, dass in einem europäischen Krieg niemand der Ukraine so entschlossen zur Seite stehen werden würde wie Polen, er hätte es wohl ebenso wenig geglaubt.
Freilich sollte uns die Aggression Putins nicht dazu verleiten, die Erfahrungen von Krieg und Gewalt in Russland auszublenden oder die russischen Verluste gegen die anderer Länder aufzurechnen. Schon vor dem Totalangriff Putins im Februar 2022 war zu beobachten, dass die Ukraine und Russland um die Opfer und Helden des Zweiten Weltkriegs konkurrierten. Putin reklamierte den Sieg über NS-Deutschland allein für Russland, während Ukrainer und Ukrainerinnen wiederholt daran erinnerten, dass nicht nur Millionen ihrer Landsleute dem deutschen Vernichtungskrieg zum Opfer gefallen waren, sondern ebenso etwa sechs Millionen Soldaten und Soldatinnen der Roten Armee aus der Ukraine stammten. Die Lobbyisten begründeten ihren Einsatz für Putin auch mit den Abermillionen sowjetischen Opfern im Zweiten Weltkrieg, unterschlugen dabei aber, dass unter diesen eben auch Menschen aus Belarus, der Ukraine, dem Kaukasus und natürlich auch den zentralasiatischen Regionen der Sowjetunion gewesen waren. Tatsächlich werden in den deutschen öffentlichen Debatten die sowjetischen Opfer oft mit russischen gleichgesetzt. Was bedeutet dies für die deutsche Erinnerung an den Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion? Es ist längst an der Zeit, diese bemerkenswerte Reduktion kritisch zu überprüfen und den historischen Kontext dieses Wahrnehmungsmusters zu reflektieren.
Die deutsche Gesellschaft während des NS-Zeit unterschied kaum nach der ethnischen Zugehörigkeit der Opfer aus der Sowjetunion, sondern brandmarkte sie alle als „Russen“. Sowohl die Wehrmacht an der Ostfront als auch die lokale Bevölkerung hatte wenig Ahnung vom multinationalen Charakter der Sowjetunion – für die Deutschen bedeutete ein „Sowjet“ gleich ein „Russe“. „So sieht es im blöden Russland aus“ – waren die Überschriften auf den Fotos der Wehrmachtssoldaten, die sie nach Hause schickten, auch wenn die Bilder in der Ukraine oder in Belarus aufgenommen wurden. „Dann kam der Russe“, heißt es in den Erinnerungen deutscher Zeitzeugen über das Jahr 1945 – und dies war nicht positiv gemeint. Im alltäglichen Sprachgebrauch waren es „russische Gefangene“, auch wenn es Menschen mit ukrainischen oder belarussischen Namen waren. Im Jahr 1945 waren die „Russen“ vor allem „Täter“ – Feinde, die den Sieg errungen hatten, Diebe und Vergewaltiger. Der „Russe“, der 1945 nach Deutschland kam, war ein Sammelbegriff für die Soldaten der Rote Armee, die eigentlich jedoch einen multinationalen Charakter hatte und der neben Russen, Ukrainern, Belarussen, Armeniern, Juden, Letten auch weitere Nationalitäten der Sowjetunion angehörten. Die vor 1945 gepflegten Vorurteile gegen „Russen“, die sich in den miserablen Lebensbedingungen der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion niederschlugen, setzten sich ohne Bruch auch nach der Niederlage Deutschlands fort. Die „Russen“ wurden vorschnell in Verdacht gezogen, kriminell zu sein. Die nach dem Krieg als DPs in Deutschland lebenden Ostarbeiter wurden als „russische Landplage“ wahrgenommen – und von der Kriminalpolizei als Erste der Verbrechen verdächtigt. Zudem hat die Forschung schon mehrfach auf die Fortsetzung antirussischer Stereotypen aus dem Ersten Weltkrieg in der NS-Ideologie im Zweiten Weltkrieg hingewiesen. Die „Russifizierung“ der Sowjetbürger basiert also auf einem Unwissen über den multiethnischen Charakter der Sowjetunion.
Eine genaue Bezifferung von ukrainischen, russischen und belarussischen Opfern auf Grundlage der heutigen territorialen Grenzen ist aus historischer Sicht allerdings schwierig, überlagerten sich bei den Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion doch oftmals viele unterschiedliche Identitäten in einer Person: russisch, sowjetisch, jüdisch, ukrainisch, belarussisch – diese Identitäten schlossen sich gegenseitig nicht aus. Plastisch verarbeitet wird dies etwa in dem Roman Babij Jar des sowjetischen Schriftstellers Anatoly Kuznecov, in dem dieser auf Grundlage seiner eigenen Autobiografie die Tage der deutschen Besatzung von Kyiv beschreibt. Die Hauptfigur hat einen russischen Vater und eine ukrainische Mutter und liest kurz nach der Einnahme der Stadt durch die Wehrmacht ein Propagandaplakat: Juden und Russen seien die größten Feinde der Ukraine. Bin ich nun also selbst mein größter Feind?
Für die Ukrainerinnen und Ukrainer war es schmerzhaft, dass das Schicksal ihrer Vorfahren in Deutschland oft keine Rolle spielte. Die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung in den besetzten Gebieten Osteuropas setzte sich nach dem Ende der Kriegshandlungen und auch nach der Ermordung eines Großteils der jüdischen Bevölkerung fort. Der Besatzungsalltag in Orten wie Kyiv, Lwiw, Winnyzja, Charkiw und Schytomyr war weiterhin von Gewalt geprägt: verbrannte Dörfer, Rückzugsverbrechen, die allgegenwärtigen Vergeltungsaktionen gegen die vermeintlichen Partisanen, Erschießungen von sowjetischen Kriegsgefangenen und eine Hungerspolitik gegenüber der Zivilbevölkerung – schließlich standen die „Slawen“ auf der zweituntersten Stufe der NS-Rassenhierarchie nach den Jüdinnen und Juden. Außerdem verbanden sich in den Erfahrungen ihrer Familien oft Geschichten, in denen Menschen zu Opfern sowohl des nationalsozialistischen als auch des sowjetischen Staates geworden waren. Mindestens zwei Millionen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter stammten aus der Ukraine und wenn diese Menschen nach ihrer Tortur in ihre Heimat zurückkehrten, waren sie abermals mit Repressalien konfrontiert, weil sie aus Sicht der Sowjetunion Verrat begangen hatten.
Wie können wir all diese Erlebnisse von Gewalt, Tod und Verlust nachgeborenen Generationen greifbar machen? Tatsächlich können wir die Erfahrung der Menschen, die den Krieg überlebt haben, nicht nachempfinden. Trotzdem dürfen ihre Geschichten nicht in Vergessenheit geraten. Das Einzige, was wir tun können, ist, nach ihren Geschichten zu suchen, ihre Stimmen zu hören und ihnen Raum zu geben. Das war nach dem Krieg viele Jahrzehnte lang nicht der Fall. Gerade die Erfahrung jüdischer Opfer wurde diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs aus unterschiedlichen Gründen marginalisiert.
Sich diesen Erzählungen über das Überleben in der Unmenschlichkeit zu stellen und die Orte des Todes und der Vernichtung zu besuchen, ist eine Herausforderung. Primo Levi schrieb einmal: „Man ist versucht, sich erschaudert abzuwenden und sich zu weigern, zu sehen und zu hören: Das ist eine Versuchung, der man widerstehen muss.“ Der sowjetische Regisseur Elim Klimov fasste es noch prägnanter: „Geh und Sieh“. Denn das Hinschauen auf die gegenwärtige Katastrophe in der Ukraine ist unsere Pflicht, sowie das Zurückschauen in die Vergangenheit eine Notwendigkeit bleibt. Seit einigen Jahren stehen wir aber in dieser Hinsicht vor neuen erinnerungskulturellen Herausforderungen. Die letzten Überlebenden sterben, und damit endet allmählich die Epoche der Zeitzeugenschaft. Junge Menschen stehen mittlerweile in der vierten Generation zur Kriegsgeneration. Biografisch sind es nun die Urgroßeltern, deren Leben mit der NS-Zeit verbunden war. In manchen Familien sind Erfahrungen der Gewalt, der Flucht und des Fremd-Seins in das Familiengedächtnis eingeschrieben. In anderen Familien fehlt dagegen ein direkter persönlicher Bezug zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Wir leben in einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft, die sich nicht mehr auf eine deutsche identitätsstiftende „zweite Schuld“ reduzieren lässt. Das Nachdenken über die Vergangenheit sollte mehr sein als ein Pflichtbesuch einer Gedenkstätte mit der Schulklasse. Das vergangene Unrecht hat Implikationen für die Gegenwart: nicht wegzuschauen, wenn Menschen diskriminiert werden, und sich für die Schwächsten in einer Gesellschaft einzusetzen. Reinhard Koselleck hat dies als Kern des „negativen Gedächtnisses“1 verstanden – die Erfahrung der Opfer der NS-Gewalt ließe sich nicht nacherleben, aber sie solle uns dazu bewegen, stets unsere politische und gesellschaftliche Ordnung kritisch zu hinterfragen.
Die Frage nach dem Warum des Erinnerns impliziert, dass wir wissen, „was“ erinnert werden soll. Gemeinhin gilt Deutschland noch immer als leuchtendes Beispiel für die Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit. Uns, als Osteuropa-Historikerinnen, fallen dagegen gerade die Leerstellen der Erinnerung auf. Immer wieder hören wir in unseren Seminaren von Studierenden, dass sie in der Schule zwar viel zu Deutschland zur Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gelernt hätten, aber wenig von den Erfahrungen der Millionen von Menschen in Osteuropa während des Krieges wüssten. Wer hat schon einmal von dem ukrainischen Dorf Korjukiwka gehört, wo im März 1943 das berüchtigte Sonderkommando 4a und ungarische Feldjäger-Einheiten abertausende Zivilistinnen und Zivilisten ermordeten als „Racheakt“ an Partisaninnen und Partisanen? Wer hat vor Augen, dass über zwei Millionen Menschen aus der Sowjetukraine zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt wurden? Wer verbindet etwas mit dem 1. August 1944, als in Warschau ein Aufstand gegen die deutschen Besatzer begann? Wer hat die Selbstzeugnisse von Menschen gelesen, die die fast 900 Tage andauernde Blockade von Leningrad überlebten? Wer kennt den Ort Bełżec im Osten Polens, wo die SS mit ihren Helfern etwa eine halbe Million Menschen systematisch ermordete? Diese und viele, viele andere Orte im östlichen Europa stehen bis heute am Rande der deutschen Erinnerung. Dabei waren der Feldzug gegen Polen und das „Unternehmen Barbarossa“ – der Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 – integrale Bestandteile nationalsozialistischer Ideologie und Politik.
Dieses Buch versteht sich als Einladung, über die Lücken der deutschen Erinnerungskultur nachzudenken und zugleich den Blick für die Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg im östlichen Europa zu öffnen.
Dass die Erinnerung an die hohe Zahl von Opfern im östlichen Europa so lange verdrängt werden konnte, hängt auch damit zusammen, dass sich Teile der 18 Millionen starken Wehrmacht schlimmster Menschenverbrechen schuldig gemacht haben. Ohne das Zutun der „einfachen Soldaten“, die sich selbst gerne als Opfer stilisierten, wären Verbrechen dieses Ausmaßes während der Besatzungsherrschaft nicht möglich gewesen. Die Täter aber lebten unbehelligt und gesellschaftlich anerkannt in der Bundesrepublik weiter, alle Gespräche über ihr Tun an der Ostfront versiegten im Schweigen, lediglich aufgebrochen durch Anekdoten. Erst seit Kurzem helfen gesellschaftliche Projekte den NS-Nachkommen, sich ihrer Familiengeschichte zu stellen. Zugleich lässt sich bis heute beobachten, dass die Akzeptanz der deutschen Verantwortung im Zweiten Weltkrieg oft endet, wenn es um die eigenen Vorfahren geht. Einer neuen Studie zufolge glaubt nur ein Viertel der Deutschen, dass es Täterbiografien in der eigenen Familie gibt.2 Sicherlich ist die Konfrontation mit der Vergangenheit schmerzhafter als das – vordergründig – bequemere Schweigen. In der Hinwendung zu Täterbiografien liegt aber die Chance, dass man nun allmählich auch mehr über die Landschaften deutscher Verbrechen im Osten erfährt: Warum ließ sich der Großvater in den Kessel von Stalingrad einfliegen? Was bedeutete die „Sicherung“ des Gebietes im Rahmen der „Bandenbekämpfung“? Warum bekam die Großmutter mit der Feldpost Fotografien der traditionell gekleideten Juden aus Petrikow? Warum werden Regalien und Auszeichnungen im Krieg aufbewahrt? Ein gewisser Aufbruch des Interesses an den Lebenswegen eigener Großeltern hat also auch die Chance, dass die Orte der Verbrechen im östlichen Europa wieder sichtbarer werden.
Unsere eigenen Familiengeschichten, die der Autorinnen dieser Zeilen, sind auch durch den Zweiten Weltkrieg geprägt. Aber sie sind es auf sehr unterschiedliche Weise. In einem Fall ist es die Geschichte einer sowjetisch-jüdisch-tatarisch-russischen Familie. Der eine Großvater wurde im Kindesalter rechtzeitig vor der Schließung des Belagerungsrings um Leningrad evakuiert, aber in der Blockade starben viele seiner Freunde an Hunger. Sein Cousin, der Großonkel, war der Einzige in seiner Familie, der den Holocaust überlebte. Seine Eltern und sein jüngerer Bruder kamen im Minsker Ghetto um. Auf einem der Petersburger Friedhöfe ließ er eine symbolische Grabstätte für sie errichten, denn deren tatsächliche letzte Ruhestätten sind bis heute unbekannt. Sein ganzes Leben sprach er nicht über seinen Verlust und die Schrecken des Lebens im Ghetto. Der andere Großvater, von dem die Autorin den Nachnamen trägt, fiel in einem der Kämpfe um die Stadt Orjol. Es bleibt nur ein Eintrag in der „Allgemeinen Datenbank“ der Gefallenen – weder der Ort des Sterbens noch der Ort der Beisetzung sind der Familie bekannt. Das teilt er mit Millionen von Sowjetsoldaten, die in namenlosen Massengräbern verscharrt worden sind. Das Schweigen über Schrecken verband sich am Familientisch jedoch immer mit der Freude um den Sieg über NS-Deutschland 1945.
Im zweiten Fall ist es die Geschichte einer deutsch-britischen Familie. Die deutsche Mutter ist im vorletzten Kriegsjahr in Kaliningrad geboren, zu einer Zeit also, als die Stadt noch Königsberg hieß und in Deutschland lag. Die Großmutter flüchtete mit den beiden Kleinkindern aus Ostpreußen und landete schließlich bei Verwandten in der Nähe von Hannover. Der britische Vater wurde im vorletzten Kriegsjahr in einem kleinen nordenglischen Dorf geboren. Seine Mutter, so erzählte sie es ihm und er wiederum dann seiner Tochter viele Jahre später, hörte sich stets die Radioansprachen Winston Churchills an. Sie gaben ihr Hoffnung in einer Zeit, als sich die Herrschaft NS-Deutschlands scheinbar unaufhaltsam über immer weitere Teile Europas erstreckte. Der deutsche Großvater war ein kleiner Teil dieses Geschehens. Er war als Wehrmachtssoldat im Krieg gegen Polen im Einsatz. Er war Mitglied der NSDAP und trat im April 1933 in die SA ein – einer Organisation, die in der Weimarer Republik ihre Gegner terrorisiert hatte und die zum Zeitpunkt seines Eintritts massive Gewalt ausgeübt hatte gegen Sozialdemokraten, Kommunistinnen und Juden und Jüdinnen. Immerhin trat er einige Jahre später wieder aus.
Außerdem war der Großvater Beamter im besetzten Polen, dort mitverantwortlich für die „Eindeutschung“ der Wirtschaft im Bezirk Zichenau. In seiner Personalakte heißt es: „Herr Dr. Meyer richtete seine Arbeit auf eine vollständige Beschlagnahme des gewerblichen polnischen und jüdischen Vermögens zu Gunsten des Reiches aus.“ Mithin war er verantwortlich für die Enteignung jüdischer und polnischer Menschen, deren Heimatland Deutschland im September 1939 angegriffen hatte. Sein Vorgesetzter bescheinigte ihm im Februar 1943, dass er seine Aufgabe „mit grosser Tatkraft und Umsicht“ erfüllt habe. Über seine Zeit als Wehrmachtssoldat an der West- und Ostfront wissen wir nichts. Und das Wissen, das wir haben, stammt nicht etwa aus dem Familiengedächtnis, sondern ist das Ergebnis einer Archivrecherche. Daher wissen wir auch, dass er nach dem Krieg im Prozess der Entnazifizierung behauptete, die Mitgliedschaften in SA und NSDAP seien nur aus Gründen der Karriere erfolgt, eigentlich habe er deren Ideologie stets abgelehnt. Über diese Widersprüche und seine Rolle in einem verbrecherischen Regime wurde in der Familie aber nicht gesprochen. Lediglich Fragmente dieser Zeit geistern durch das Familiengedächtnis. So sei er beim Abendessen einmal weinend zusammengebrochen, weil er die Erinnerungen nicht ertragen konnte. Seine Kinder stellten keine Fragen, und seine Enkelinnen konnten ihn nicht mehr fragen, weil er vor ihrer Geburt starb. Lediglich der britische Schwiegersohn hat ihn einmal nach jener Zeit gefragt und bekam eine ausweichende Antwort: Es seien „verzweifelte Zeiten“ gewesen. Das ist eine ganz typische deutsche Familiengeschichte. Über den Vernichtungskrieg der Deutschen im Osten Europas wurde oft schlicht geschwiegen.
Das Schweigen über den Vernichtungskrieg gegen Polen und die Sowjetunion manifestiert sich auch darin, dass es bisher keinen zentralen Erinnerungsort in Deutschland für seine Opfer gibt. Es steht außer Zweifel, dass die deutsche Gedenkstätteninfrastruktur sehr gut ausgebaut ist, dass die staatlich geförderten Lernorte umfassend über die Opfer des NS-Terrors informieren und in den Schulen gelehrt wird, was die Ursachen der NS-Diktatur waren und welche Konsequenzen sie hatte. Gleichzeitig bleibt der Blick auf den Krieg merkwürdig deutsch-zentriert – und dies ungeachtet dessen, dass in der Historiografie inzwischen gut erforscht ist, dass mit der „Operation Barbarossa“ das NS-Regime seine genozidale Politik auf das östliche Europa ausweiten konnte, zur systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Polen und in der Sowjetunion schritt, die Vernichtung durch Hunger, die Politik der verbrannten Erde und den Tod von drei Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen vorantrieb.
Heute erzählen uns einige Museen und Gedenkstätten davon, welche Gewalt von Deutschland im Osten ausging. Dazu gehört der Ort der Information am Mahnmal für die Ermordeten Juden Europas, der auch den Holocaust durch Erschießungen auf dem sowjetischen Gebiet zeigt. Das deutsch-russische Museum Berlin-Karlshorst, eine Dokumentationsstätte am historischen Ort – hier wurde die Kapitulation am 8./9. Mai 1945 unterzeichnet – informiert seit 1994 umfassend über den Angriffs- und Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion und leistet Großes bei der Dokumentation der letzten Ruhestätten der Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen in Deutschland. Polnische Perspektiven auf den Krieg, dass nämlich 1939 auf den deutschen Angriff der sowjetische Einmarsch folgte, fehlen dagegen völlig. Die Topografie des Terrors am Ort des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes zeigt in ihrer Ausstellung die Gewalt der SS und des SD im Osten Europas. Auch ein anderer historischer Ort widmet sich dem Thema: Das Haus der Wannsee-Konferenz schildert in der Online-Ausstellung „Unrecht-Erinnern. Auf den Spuren sowjetischer Kriegsgefangener“ das Schicksal sowjetischer Soldaten in deutscher Gefangenschaft.3 Außerhalb der Hauptstadt ist es die Gedenkstätte Bergen-Belsen, die das Schicksal der sowjetischen Opfer gut dokumentiert und deren Gräber pflegt. Im Oktober 2020 wurde zudem die Errichtung der Gedenkstätte Stalag-326 Stukenbrock für Tausende sowjetischer Kriegsgefangener beschlossen und ihre Förderung durch den Bund sichergestellt.
Die Liste der Gedenkstätten, die den Krieg zum Thema haben, ließe sich weiter fortsetzen, aber: Die genannten Orte greifen meist nur einen Teilaspekt des Themas auf. Für eine umfassende Darstellung der Dimensionen des Vernichtungskrieges braucht es eine Rundführung, die alle Orte miteinander verbindet.
Die Politik hat diese Leerstelle inzwischen erkannt. Erst kürzlich, im Oktober 2020, hat der Bundestag die Errichtung eines neuen zentralen Gedenkortes in Berlin beschlossen. Es soll eine Erinnerungs- und Dokumentationsstätte zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Besatzung in Europa errichtet werden, unter besonderer Berücksichtigung von Mittel- und Osteuropa. 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat das deutsche Parlament den politischen Willen kundgetan, im Zentrum der deutschen Hauptstadt einen Ort des Lernens und des Gedenkens an den Vernichtungskrieg zu bauen, der helfen soll, die „bisher wenig beachteten Opfergruppen des Nationalsozialismus“ anzuerkennen. In seiner viel gelobten Rede aus Anlass des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, mahnte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier an, dass über den Krieg im Osten viel zu wenig bekannt sei.4 Wie kommt es, dass sich diese Lücke erst so spät zu schließen beginnt?
Tatsächlich spielten dafür mehrere Faktoren eine Rolle. Nach 1945 war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gespalten – in die Perspektive der Opfer und die der Täter. Und für Jahrzehnte waren es die Täter, die den Nachkriegsdiskurs dominierten. Die Frage nach den Verbrechen der deutschen Armee wurden in der Bundesrepublik vom schillernden Mythos Stalingrads, des deutschen Opfergangs an der Wolga 1942–43, überlagert.5 Die Erfahrung deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion hatte Priorität, sowohl in der individuellen Erinnerung als auch im offiziellen politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland. Hier offenbarte sich der Zusammenhang von Politik, Erinnerung und Ideologie – der Umgang mit dem Krieg in den ersten Nachkriegsjahrzehnten befand sich in Händen derer, die biografisch mit dem NS-Regime verbunden waren. Die in den eigenen Aussagen enthaltene Perspektive zielte darauf ab, der eigenen Erfahrung Sinn zu verleihen. In der BRD bedeutete dies meist, sich selbst als Opfer in einem „sinnlosen Krieg“ zu sehen. In der DDR gestaltete sich die Erinnerung etwas anders: Hier waren politische Eliten eher bereit, den verbrecherischen Kern des deutschen Krieges zu sehen. Zugleich aber verstand sich der ostdeutsche Staat nicht als Nachfolger des NS-Regimes und reihte sich stattdessen ein in den antifaschistischen Widerstand. Beide erinnerungspolitischen Strategien drängte die Geschichte der Opfer an den Rand.
Hinzu kam, dass sich der Anti-Bolschewismus der Nationalsozialisten unter anderen Vorzeichen im Kalten Krieg als Anti-Kommunismus fortsetzte. Die Sowjetunion, das Land, aus dem die Mehrzahl der Opfer des deutschen Vernichtungskrieges stammte, war der neue alte Hauptfeind. Die politische Kultur der Angst, die antikommunistische Gesinnung der Eliten der BRD und die Abgrenzung zur DDR bildeten den Rahmen des Umgangs mit den Kriegsopfern und verhinderten die Entwicklung von Empathie gegenüber den Opfern und der Anerkennung des sowjetischen Beitrags zum Sieg über den Nazismus.
Schließlich fehlte über Jahrzehnte das Verständnis für den engen Zusammenhang zwischen dem Holocaust und dem Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion. Das Wissen von sechs Millionen Juden war bereits in den 1960er-Jahren Gegenstand der deutschen Schulbildung, doch dass die große Mehrheit der Opfer aus Osteuropa stammte und auch dort ermordet wurde, war (und ist) kaum präsent. Die historiografischen Interventionen von Alexander Dallin, Gerald Reitlinger, Christian Streit, Gerd R. Ueberschär und Rolf-Dieter Müller erzeugten zwar schon in den 1960er- und 1970er-Jahren eine öffentliche Beachtung, doch deren wissenschaftliche Erkenntnisse wurden nicht zum Teil der Erinnerungspolitik.6 Als Symbol des Holocaust gilt Auschwitz, wo sich der organisierte und technologisierte Massenmord an Jüdinnen und Juden aus ganz Europa vollzog. Neben Auschwitz verblassten in der Erinnerungskultur selbst Vernichtungslager wie Sobibór, Bełżec und Treblinka.7 Freilich hat es lange gedauert, bis Auschwitz zum Fundament der kollektiven historischen Erinnerung wurde. Dieser Prozess begann gegen große Widerstände in den 1960er-Jahren. Ein wichtiges Ereignis in diesem Zusammenhang war der Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem im Jahr 1961. Vor allem linke Intellektuelle begannen, gegen den andauernden Einfluss ehemaliger Nationalsozialisten zu rebellieren. Im sogenannten Historikerstreit der 1980er-Jahre, der sich um das Verhältnis von kommunistischen und nationalsozialistischen Verbrechen drehte, setzten sich schließlich diejenigen durch, die auf der historischen Verantwortung für den Holocaust als dem Fundament der deutschen politischen Kultur bestanden. Die Politik zog in gewisser Weise nach und erklärte im Jahr 1996 den 27. Januar – den Tag der Befreiung des Lagers Auschwitz – zum Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine starke Wirkung hatte auch die Wiedervereinigung Deutschlands, die Abschwächung des antikommunistischen Diskurses, die Übertragung der ostdeutschen Gedenkstätten unter eine neue Führung und die Aufnahme eines neuen staatlichen Programms zur Konzeption der Gedenkinfrastruktur. Die Erinnerung an den Holocaust wurde jetzt erst zum gesamtstaatlichen Projekt.
Die Erinnerung an den Krieg blieb aber von der Erinnerung an den Holocaust merkwürdig losgelöst. Vielmehr zeigten gerade die Debatten der 1990er- und frühen 2000er-Jahre, wie schwer sich die deutsche Gesellschaft mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg tat. Zwar hielt der Bundestag 1991 eine erste Gedenkveranstaltung ab, die dem Beginn des Überfalls auf die Sowjetunion (der Begriff „Vernichtungskrieg“ selbst wurde erst 1997 angenommen) gewidmet war, aber die Proteste gegen die Ausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung „Verbrechen der Wehrmacht“ zeigten, dass die Frage nach der persönlichen Beteiligung von Deutschen, die nicht der SS angehört hatten, nach wie vor Abwehrreflexe auslöste.8
Dabei war es diese Ausstellung, die zum ersten Mal den Nexus zwischen dem Holocaust und dem Vernichtungskrieg im Osten aufzeigte. Sie löste den Krieg aus seiner verharmlosenden Erinnerungsaura normaler Kriegshandlungen heraus und zeigte die Gräuel der deutschen Besatzungspolitik. Die Ausstellung hatte deutlich gemacht, dass die Mehrheit der zivilen Opfer der deutschen Vernichtung geografisch im Osten liegt und zeitlich zwischen 1941 und 1944.
Doch die deutsche Erinnerungspolitik blieb auf die Chiffre Auschwitz und den anonymen technologisierten Massenmord konzentriert. Auschwitz wurde zu einer Ressource für Symbol-, aber auch Außenpolitik. Der grüne Außenminister Joschka Fischer legitimierte 1999 den militärischen Einsatz in Ex-Jugoslawien mit seiner Überzeugung, dass es „nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord“ geben dürfe. Fischer dachte hier aber offenbar vor allem an die ethnische Säuberung, symbolisiert durch Auschwitz, aber nicht an den „Krieg“, der nie wieder von Deutschland ausgehen sollte. Diese spezifische Erinnerung an den Holocaust „in einem geschlossenen Raum der Einzigartigkeit“9 hatte zur Folge, dass die Leidenserfahrung anderer Opfer weniger Raum bekam. Die Erinnerung an Täter, die brachiale Gewalt der Wehrmachtssoldaten, die Unterstützung der deutschen Gesellschaft für die NS-Politik und ihre Vernichtungspolitik blieben abstrakt und anonym.
Dass der Vernichtungskrieg über Jahrzehnte im Schatten von Auschwitz blieb, hat noch einen anderen Grund: das lange Fehlen der Stimmen der osteuropäischen und sowjetischen Opfer in den Diskussionen über Entschädigung und die Verewigung des Gedenkens. Dabei spielte auch eine Rolle, dass diese in der Block-Konfrontation des Eisernen Vorhangs nicht in die westdeutsche Öffentlichkeit vordrangen. Die Entscheidung zur Auszahlung ehemaliger „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“ wurde erst 2000 mit der Gründung der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gelöst. Erst 2015 erfolgte die Entscheidung über die Auszahlung an die sowjetischen Kriegsgefangenen, und erst 2019 wurde die Hilfe für karitative Einrichtungen für die Überlebenden der Leningrader Blockade beschlossen. Ein Jahr später beschloss der Bundestag, dass für die polnischen Opfer des deutschen Vernichtungskrieges ein Gedenkort in Berlin entstehen soll.
In dieser Systematik des Schweigens gab es zwischen Deutschland und dem osteuropäischen Raum eine gewisse Symmetrie: Sie lag auf sprachlicher Ebene. An den Orten deutscher Verbrechen in Polen und in der Sowjetunion wollte und konnte kaum jemand zurückschauen – die Verdrängung war ein Mittel, weiterzuleben. Die offizielle, kommunistisch verfasste Kultur des Zukunftsoptimismus fand zudem keine Sprache, die geeignet gewesen wäre, die traumatische Erfahrung zum Ausdruck zu bringen, und trug zur Verdrängung bei.
In Deutschland verband sich das Schweigen in den Familien mit dem politisch gewollten Schweigen. Die wenigen Stimmen des Vernichtungskrieges, die in die deutsche Öffentlichkeit vordrangen, taten dies meist im Bereich der Literatur. In den 2010er-Jahren wurde Wassili Grossman (wieder-)entdeckt: Sein epochaler Roman Leben und Schicksal wurde auch außerhalb von Slawisten-Kreisen als „Krieg und Frieden im 20. Jahrhundert“10 gefeiert. In seinem antitotalitären Roman thematisierte Grossman den Krieg so, wie er von Sowjetbürgern und -bürgerinnen erfahren wurde: Dazu gehörten die Ermordung des sowjetischen Judentums und der Holocaust in den Gaskammern, die heldenhafte Verteidigung Stalingrads gegen die deutsche Armee, die vielen Entbehrungen und die Not der Zivilbevölkerung sowie auch Gewalt aus den eigenen Reihen. Grossman ließ seine Leserschaft nicht vergessen, dass der Krieg in Zeiten des Stalinismus stattfand. Ausgesprochen positiv war auch die Aufnahme von Grossmans Roman über die Schlacht von Stalingrad, der erst 2021 in deutscher Sprache erschien.11 Die Feuilletons waren sich einig, dass damit nun eines der wichtigsten Bücher über diese Schlacht endlich auch einem deutschen Publikum zugänglich war.
Zum 70. Jahrestag des Endes der Belagerung Leningrads (2014) sprach der Schriftsteller Daniil Granin bei der Gedenkstunde im deutschen Bundestag, und es erschien sein Roman Mein Leutnant, in dem der Krieg aus der Perspektive des einfachen sowjetischen Soldaten geschildert wird.12 Als Herausgeber des „Blockadebuchs“ war Granin zusammen mit seinem belarussischen Schriftstellerkollegen Ales Adamowitsch in der DDR bekannt gewesen. Die beiden sammelten in den 1970er-Jahren Interviews mit Überlebenden der Leningrader Blockade und Auszüge aus den Tagebüchern jener, die an Hunger starben. Erst 2018 konnten auch westdeutsche Leser das Blockadebuch kennenlernen, als es in einer ergänzten und kommentierten Neuauflage erschien.13 Das Tagebuch von Lena Muchina, die Aufzeichnungen eines Blockademenschen von Lidia Ginzburg und kürzlich auch Lebende Bilder von Polina Barskova, besprochen in den großen Tageszeitungen, konnten der interessierten Öffentlichkeit das grausame Schicksal Leningrads etwas näherbringen.14
Die Schülerin von Ales Adamowitsch, die belarussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, erhielt 2015 den Nobelpreis für Literatur – vor allem das Schicksal der Frauen im Zweiten Weltkrieg, das sie schonungslos in ihrem Der Krieg hat kein weibliches Gesicht beschreibt, hat in Deutschland ein Publikum gefunden.15 Im Jahr 2017 erschien Natascha Wodins autobiografischer Roman Sie kam aus Mariupol; das von der Leipziger Buchmesse prämierte Werk rekonstruiert das Schicksal von Wodins Eltern, die aus der Sowjetunion zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden waren.16 Ebenfalls für Aufmerksamkeit sorgte das 2014 publizierte Buch Vielleicht Esther der deutsch-ukrainisch-jüdischen Autorin Katja Petrowskaja, die darin ihrer in Babyn Jar ermordeten Urgroßmutter ein Denkmal schuf.17 Diese Literatinnen gaben den Opfern des Vernichtungskrieges im Osten eine Stimme, die in der deutschen Öffentlichkeit lange Zeit fehlte.
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