Manchmal ist das was wir brauchen der Abstand zu unseren Problemen. Manchmal ist das was wir brauchen der Kontakt zu neuen Menschen, die uns weiterbringen. Manchmal ist das was wir brauchen die Sehnsucht nach unseren Freunden und nach der Zeit, die mal gewesen war. Und manchmal ist das was wir brauchen die Liebe zueinander und die Gewissheit, nur mit dir wirklich leben zu können.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, rief sie entsetzt. „Seit wann ist aufgeben und weglaufen denn eine Option für dich?“
„Seitdem ich am Ende bin“, sagte er ruhig und sah sich um. „Außerdem gebe ich weder auf, noch renne ich weg.“
„Und wie willst du es dann nennen?“ Sie schlug ihm gegen die Brust.
„Vielleicht eine Auszeit nehmen und Urlaub machen? Ich helfe niemandem, wenn ich mich falsch entscheide.“
„Du hilfst niemandem, wenn du dort bist! Hier wirst du gebraucht! Bei uns! Bei deinen Freunden!“
„Der Rat hat bereits zugestimmt. Ich werde gehen und da kannst du auch nichts mehr dran ändern.“ Er klang nun etwas bestimmter. Fast, als wollte er sich mit seinen Worten selbst überzeugen. „In drei Tagen werde ich aufbrechen.
„Ohne mich. Und ohne meinen Bruder.“ Sie schluchzte. Sanfte Arme legten sich von hinten um sie und der junge Mann, der ihr Bruder war, nahm sie in den Arm.
„Es ist doch nicht für immer, Schwesterchen. Gib ihm etwas Zeit und er ist wieder bei uns.“
„Aber das dauert garantiert sehr lange!“, jammerte sie.
„Lang?“, lachte er. Der Bruder stimmte mit ein. „Für DIE ist es eine lange Zeit, da hast du Recht. Aber für uns doch nicht! Ich kann dir versichern, dass dein Schüler nicht in der Lage sein wird uns alle zu beschützen, wenn ich wieder da bin. Und jetzt lasst uns die letzten Tage genießen, die uns vorerst zusammen bleiben.“
In einer kleinen Wohnung im 3. Stockwerk klingelte der dritte Wecker im Badezimmer. Ein schriller und lauter Ton, einer von der Sorte der sich nicht lange ignorieren ließ.
„Ja ist ja schon gut! Ist schon gut! Ich bin schon aufgestanden.“ Ein Mann, der mit einem Bein in einer Jeans steckte, hüpfte aus dem kleinen Schlafzimmer in das beengte Bad. Beinahe rutschte er auf dem Teppich aus, der seine besten Jahre bereits hinter sich gehabt hatte, als der Mann ihn in einem Second-Hand-Laden erworben hatte. Mit einer Hand stützte er sich am Waschbecken ab und griff nach dem schrillen Wecker, während er mit der anderen Hand die Hose hielt, damit sie nicht wieder hinunterrutschen konnte. Nachdem er den Wecker ausgeschaltet hatte sah er in den Spiegel und seufzte. Viele Menschen in seiner Umgebung hatten ihm bereits gesagt, dass er hübsch sei, doch das, was ihn jeden Morgen im Spiegel ansah, sah einfach nur zerknautscht und müde aus. Für ihn war das nicht hübsch, aber für ihn hatte ‚hübsch sein‘ auch keinen großen Wert. Die Ringe unter seinen Augen schimmerten beinahe so blau, wie seine Augen, auf seinem Handgelenk hatte er eine Strichliste tätowiert, die eine sieben zeigte, seine Haare waren schwarz, wie Kohle und standen in alle Richtungen ab. Nur heute Morgen waren sie auf der rechten Seite platt gelegen. Einige Strähnen hatten sich mit etwas Schweiß an seiner Stirn festgekrallt. Erst jetzt bemerkte er, dass er wohl noch einmal duschen musste. In letzter Zeit wachte er häufig schweißbedeckt auf. Er wusste, dass es die wilden Träume waren, die ihn sich nachts hin und her rollen ließen, doch konnte er sich morgens nicht mehr an sie erinnern.
Frisch geduscht und fertig angezogen nahm er sich einen Apfel aus der Obstschale und verließ die Wohnung.
Das Treppenhaus war um diese Uhrzeit noch verlassen, doch bald würde das Haus aufwachen und dann herrschte hier ein Kommen und ein Gehen. Akira war froh, vor dem Erwachen raus zu kommen. Nicht dass er ein Problem mit seiner Nachbarschaft gehabt hätte. Gerade die alte Mrs. Miller war ein wahrer Engel auf Erden. Mit ihrer kleinen runden Brille, die sie fast immer an einem kleinen Bändchen um den Hals hängen hatte, saß sie oft im Eingang ihrer Wohnung und sah den jungen Leuten im Flur zu, wie sie ihre Geschäfte trieben. Sie wusste stets, wer gerade mit welchem Stoff dealte und welcher Hehler neue Waren bekomme hatte. Doch sie beteiligte sich an keinem Streit und selbst die Polizei respektierte ihre Zurückhaltung. Zu Akira war sie immer besonders nett. Ständig bat sie ihn sich eine Wohnung in einem anderen, besseren Viertel zu suchen, damit er nicht verdorben würde. Doch Akira wollte bleiben. Es gefiel ihm hier. Nie war er allein und es war immer etwas los. Die Menschen in St. Beatrix beachteten ihn kaum. Er war weder eine Gefahr noch eine Bereicherung für sie. Er schloss die Tür hinter sich ab und stieg die Treppe durch das verlassene Treppenhaus hinunter. Er biss ein Stück von dem knackigen Apfel ab und wischte sich den Saft mit dem Ärmel seines Pullovers vom Kinn.
Die Tankstelle, an der er bereits seit elf Jahren arbeitete, war hell erleuchtet und die grün gelben Schilder luden ihn herzlich ein, herein zu kommen. Im Shop standen zwei Polizisten, die sich vermutlich gerade den ersten Kaffee ihrer Schicht genehmigten. Akira begrüßte sie mit einem Nicken und schlüpfte hinter den Tresen.
„Morgen, Samira“ begrüßte er seine Kollegin. Sie hatte ihre besten Jahre an diese Tankstelle verschwendet und die rauen Jahre in diesem Viertel hatten ihr Haar bereits mit Anfang fünfzig schneeweiß werden lassen, doch die Falten um ihre Augen zeigten deutlich, dass sie ihr Leben bisher mit einem Lächeln verbracht hatte. Und auch jetzt, nach einer Nachtschicht, lächelten ihre Augen ihn noch liebevoll an.
„Guten Morgen, Akira.“
„Wie war die Nacht?“, fragte er, während er sein Kassenbrett zählte.
„Ach, du weißt ja wie es ist. Ein paar Betrunkene, ein, zwei Junkies…“
„Und nur ein Polizeieinsatz, wie ich gehört habe“, warf einer der Polizisten ein. Ein glatzköpfiger, alter Mann mit dickem Bauch.
„Ja genau“, bestätigte Samira. „Also eine ruhige Schicht.“ Sie lächelte.
„Na ich hoffe mal, dass es heute so weiter geht.“ Er gab ihr ein Zeichen, dass er bereit war und sie tauschten ihre Kassen. Akira wünschte ihr noch einen schönen Tag und ging dann seiner Arbeit nach.
Schon kurz vor Feierabend begann sein Magen fürchterlich zu knurren. Er wurde von einem Studenten abgelöst, der sich irgendwie zum Arbeiten in dieses Viertel verirrt hatte. Der Junge war gerade mal neunzehn Jahre alt, hochgewachsen und sehr schlank. Seine braun blonden Haare waren so gewöhnlich, wie Haare es nur sein konnten und lagen wirr auf seinem Kopf. Akira hatte nicht viel mit ihm zu tun und dabei wollte er es auch belassen. Er war ihm einfach zu jung. Auch, wenn er selbst nicht viel älter wirkte, vielleicht Mitte oder Ende zwanzig, fühlte er sich dennoch so viel älter. Sein wahres Alter war ihm ein Rätsel, genau wie der Großteil seiner Vergangenheit. Nach einigen Ungereimtheiten, die ihm aufgefallen waren, hatte er mit Nachforschungen begonnen. Das Seltsame war, dass er immer weniger zu wissen schien, je mehr er forschte. Er konnte sich nicht daran erinnern je eine Schule besucht zu haben, auch wenn er lange Zeit überzeugt gewesen war die Cliffton, zwei Städte weiter besucht zu haben. Alle Dokumente sprachen für seinen Aufenthalt an dieser Schule, nur konnte er sich auf keinem einzigen Foto entdecken. Außerdem konnten sich weder die Lehrer noch die Mitschüler an ihn erinnern. Genau so verhielt es sich mit Vereinen, in denen er im Verlauf seiner Kindheit gewesen sein sollte.
Noch immer hungrig besorgte er sich einen Hot Dog, zwei Straßen weiter und machte sich auf den Weg zurück zu seiner Wohnung. Dort verbrachte er nicht viel Zeit. Die stickigen und engen vier Wände erweckten in ihm das Gefühl, erdrückt zu werden, aber er wollte auch nicht den ganzen Tag mit einer großen Tasche durch das Viertel laufen. Die Erfahrung musste er leider am Anfang seiner Zeit in St. Beatrix machen. Erst wurde er von einer Straßengang ausgeraubt, die auf fette Beute gehofft hatte, dann wurde er von der Polizei durchsucht, die ihn in Verdacht hatte Waffen oder Drogen zu transportieren. Er kehrte lieber nach der Arbeit zurück ins Haus. Dort konnte er einmal kurz die Neuigkeiten des Tages von der alten Miller hören, was er gerne Die Tageszeitung durchstöbern nannte und dann die große Tasche mit seinen Sportsachen holen. Fast jeden Tag ging er in dem nahegelegenen Boxstudio trainieren. Es war angenehm, seine Kräfte mit den anderen zu messen, gut in Form zu bleiben und vor allem den Respekt der ‚Bösen Jungs‘ in St. Beatrix zu erlangen.
„Guten Morgen, Mrs. Miller“, begrüßte er die Frau, die im zweiten Stock auf ihrem Stuhl mit den breiten Armlehnen vor ihrer Haustür saß. Sie nickte ihm zu. „Gibt es irgendetwas Neues?“ fragte er, während er die Treppe zu ihr hinaufstieg.
„Ach, noch nichts Neues, mein Junge. Frag mich doch heute Abend noch mal“, sagte sie und trank einen Schluck aus ihrer Teetasse. Akira lächelte und ging an ihr vorbei die Treppe zu seiner Wohnung hinauf. Er tauschte seine Taschen, nahm sich noch einen Apfel und ging wieder hinaus.
„Wann ziehst du endlich von hier weg?“, fragte die alte Miller mit gutmütigem Blick.
„Gar nicht“, lächelte er sie an. „Sie wissen doch, dass ich hierbleiben möchte.“
„Oh weh“, klagte sie und schlug wie beinahe jedes Mal die Hände vor das Gesicht. „Das Viertel ist nicht gut für dich. Du musst dir eine bessere Nachbarschaft suchen, mein Junge.“
„Ach Ruth“, er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „St. Beatrix ist genau das Viertel, in dem ich sein sollte und wir kommen blendend miteinander aus.“
Der kleine Sandsack schnellte vor und zurück. Mit rasanten Schlägen bearbeitete Akira den schwarzen Sack. Um ihn herum trainierten die schweißbedeckten Körper und ein Trainer schrie seinen Schüler an. Der Geruch von Schweiß und das Testosteron in der Luft ließen ihn aufblühen. Für ihn gab es keinen Ort, an dem er sich wohler fühlte, als in seinem eigenen Körper und wie konnte man seinen Körper besser spüren als beim Sport. Diese Mischung aus Anspannung und Entspannung, die es ihm erlaubte mit seinen Gedanken jeden Muskel in seinem Körper ertasten zu können, konnte doch nur besser sein als jede Droge der Welt. Nicht, dass Akira das wüsste. Drogen hatte er noch nie angerührt und er würde es auch nie tun, denn kaum etwas machte ihm mehr Angst, als die Kontrolle über seinen eigenen Körper zu verlieren. Ruth hatte ihm einmal gesagt: „Unsere Körper sind uns von den Göttern gegeben. Was wir mit ihnen machen ist unsere Sache. Behandeln wir sie schlecht, bekommen wir auch nur schlechtes zurück. Behandeln wir sie gut, werden sie uns treue Dienste leisten. Krankheiten und körperliches Leid, wie auch der Tod sind Hürden, die uns die Götter stellen um unser Selbst zu formen und zu stärken und in unserer reinen und starken Form dürfen wir uns zu den Göttern gesellen.“ Nach diesen Worten musste er zunächst schlucken, aber dennoch machte es Sinn. Zumindest wenn es darum ging seinen Körper gut zu behandeln. Die Sache mit den Göttern hatte er nicht verstanden.
Nachdem Akira seinen gesamten Körper aufgewärmt hatte stieg er in den Ring. Seine Gegner wechselten stets, doch in letzter Zeit waren es besonders die erfahrenen Kampfsportler, die mit ihm tanzen gingen. Für Akira war das kein Problem. Er freute sich, im Ring endlich wieder einen Gegner zu haben, mit dem er länger spielen konnte, doch auch die erfahrenen Männer konnten ihm nicht das Wasser reichen. Wenn es wirklich Götter gab, die Akira seinen Körper geschenkt hatten, dann hatten sie ihn fürs Kämpfen geschaffen.
Im Ring wurde alles gern gesehen, was die Regeln des Kickboxens erlaubten. Vollkontakt war dabei das, was am meisten Spaß machte. Zwei Gegner schlug er im Ring und beide gaben auf Grund zu großer Schmerzen auf. Als Akira schweißbedeckt und mit einem leichten Ziehen in seien Muskeln aus dem Ring stieg bauten sich drei Männer vor ihm auf. Sie gehörten zu der Art Mann, der er auf der Straße gern aus dem Weg ging. Groß, mit Oberarmen wie kleine Baumstämme und Schultern so breit, wie Schränke.
„Kann ich euch helfen?“, fragte er, nachdem er den Schutz für seine Zähne aus dem Mund genommen hatte, um sie nicht anzuspucken. „Zeig uns deine Handschuhe“, raunte der Mittlere der Drei mit tiefer, rauer Stimme.
„Meine Handschuhe? Wieso das denn? Was denkt ihr habe ich damit gemacht?“
„Wir mögen keine Cheater. Bei deinen Schlägen ist es klar, dass du deine Handschuhe manipuliert hast.“
Akira, der keine Lust darauf hatte sich weiter mit den drei Männern anzulegen, zog sich seine Handschuhe aus.
„Da. Seht ihr. Es sind Handschuhe. Vollkommen normal. Ich manipuliere gar nichts.“
Brook, der mittlere Mann musterte Akiras Handschuhe mit seinen grauen Augen. Er drehte sie hin und her und tastete sie ab. Er fand nichts.
„Siehst du“, sagte Akira genervt. „Die Handschuhe sind vollkommen normal. Ich weiß nicht was du zu finden dachtest, aber du hast es nicht. Richtig?“
Brooke gab ihm die Handschuhe wieder und musterte ihn mit ernstem Blick.
„Du hast etwas genommen. Was nimmst du?“, fragte er mit seiner tiefen stimme und sah ihn vorwurfsvoll an.
„Ich nehme nichts!“, raunte Akira genervt. „Ich weiß nicht, was für ein Problem ihr habt.“
„Du bist unser Problem“, mischte sich Baker, der Mann links von Brooke ein, dessen Glatze in dem Licht der Neonröhren von St. Beatrix Boxstudio glänzte. Baker war, wie Brooke und Brandon, der dritte von ihnen, momentan auf Bewährung. Sie hatten sich im Gefängnis verbrüdert und Brooke war seitdem der Anführer ihrer kleinen Gang. Zwar waren die drei weniger gefährlich als viele der anderen Männer in dem Boxstudio, doch hielten sie sich für etwas Besseres und waren der Meinung, ein Aufenthalt im Gefängnis hätte sie zu harten Jungs gemacht. Dass sie Akira in Verdacht hatten, er würde etwas einnehmen, nur um die Männer im Ring schlagen zu können machte ihn wütend. Sein Körper war ihm heilig und er würde nie etwas zu sich nehmen, was ihm dauerhaft schaden konnte. Er war gut im Training, schließlich verbrachte er einen Großteil seiner Zeit mit Sport. Im Gegensatz zu den drei Männern vor ihm beschränkte er sich dabei allerdings nicht auf seinen Oberkörper und auf den bloßen Aufbau enormer Muskeln. Er wollte in Form bleiben und ab und zu einem Gegner im Ring gegenüberstehen. Es war ihm nicht einmal wichtig zu gewinnen. Der Kampf war es, den er genoss. Der Sieg kam meist automatisch und wenn es mal nicht so war, so machte es am Ende des Tages auch keinen Unterschied.
„Vielleicht sollten wir mal seinen Spint durchsuchen“, schlug Brandon vor und Baker nickte. Baker bildete sich viel darauf ein, dass er hier im Studio arbeitete. Er ließ bei seinen Schwärmereien über den guten Job gern aus, dass er eigentlich nur zum Toilettensauber machen und Trinkflaschen befüllen angestellt war.
„An meinen Sachen habt ihr nichts zu suchen und das wisst ihr.“ Akira hatte keine Lust, sich weiter mit den drei Männern zu streiten und wollte an ihnen vorbei gehen.
„Wir haben dich im Verdacht, dass du etwas einnimmst und du weißt, dass das hier verboten ist.“ Brooke grinste.
„Und wenn jetzt etwas in deinem Spint gefunden wird wäre das doch wirklich schade“, ergänzte Brandon und Baker schielte in seine Hand, die er unauffällig aus seiner Hosentasche zog. Zwischen seinen Fingern hielt er ein kleines Plastiktütchen.
„Du weißt doch, dass der Alte sehr empfindlich auf Drogen reagiert. Wenn du hier welche deponierst dann fliegst du ganz schnell raus. Er ist sowieso schon so misstrauisch dir gegenüber. Du gehörst hier nicht her.“
In Akira schwoll die Wut an. Sie wollten ihn aus St. Beatrix Boxstudio werfen, das war ihm bewusst. Allerdings war dies das einzige Boxstudio in der Nähe und er hatte nicht vor, sich sein Hobby verderben zu lassen, nur weil drei dumme Kerle nicht damit klarkamen, dass er gegen ihre Freunde siegte. Am liebsten hätte er es mit allen drein gleichzeitig aufgenommen. Diese aufgeblasenen Männchen dachten, sie wären ihm überlegen, nur weil ihre Schultern doppelt so breit waren als die seinen und sie zu dritt ihm gegenüberstanden. Dabei wusste er, dass sich hinter den kleinen Baumstämmen, die sie ihre Arme nannten, Feiglinge versteckten, die in einem echten Kampf keine Chance gegen ihn hatten. Allerdings hatten sie damit Recht, dass der Alte bereits ein Auge auf ihn geworfen hatte und das hatte nichts Gutes zu bedeuten. Wenn Akira nun auch noch einen Aufstand anzettelte, dauerte es nicht mehr lange, bis er wirklich aus dem Studio flog.
Er versuchte seine Wut zu zügeln und atmete einmal tief durch.
„Ihr habt Recht. Ich gehöre hier nicht her und deshalb werde ich jetzt gehen.“ Mit diesen Worten ging er an den drein vorbei und ließ sie stehen. In seinem Nacken spürte er ihre triumphierenden Blicke. Das machte ihn noch wütender. Brooke begann zu lachen und laut über Akiras Feigheit zu sprechen und seine beiden Schoßhündchen fielen ins Lachen mit ein. Akira, der sich seine Handschuhe wieder angezogen hatte, spürte wie sich die Wut in seiner geballten Faust sammelte. Er wollte nicht mehr länger als notwendig im Boxstudio bleiben und machte sich auf den Weg zu den Duschen. Im Laufen schweifte sein Blick über die Gerätschaften auf seinem Weg. Er musste diese Wut loswerden und sie einfach zu schlucken war unmöglich. Ein kleiner Mann, dessen blasse haut fast vollständig von schwarzer Tinte bedeckt war, schlug gerade auf den Sandsack ein, den Akira vor ihm bearbeitet hatte. Mit zusammengepressten Lippen bat er ihn, so höflich er nur konnte, an die Seite zu gehen. Dann schlug er mit der ganzen Wut, die sich in seiner Faust gesammelt hatte auf den Sandsack und mit einem leisen Knall brach die Haut des Sacks auf und es bildete sich ein Loch in der Größe seiner Faust.
Ein alter Mann mit grauem Bart und weiß durchsetzen Haaren ging nun zum zweiten Mal um den großen Baum herum, der sich fast genau in der Mitte des schrumpfenden Parkes befand. Der Baum bot einen prächtigen Anblick. Der Stamm hatte einen Durchmesser von beinahe zwei Metern und seine Krone breitete sich mindestens über ein Viertel des gesamten Parkes aus, der sich im Herzen von St. Beatrix befand. Als Akira den Park vor elf Jahren das erste Mal betreten hatte war er noch doppelt so groß gewesen. Doch die Bäume, Sträucher, Wiesen und Teiche, die einst vielen Stadtkindern das Spielen in der Natur ermöglicht hatten, waren mit der Zeit Häuserblocks aus grauem Beton gewichen. St. Beatrix war einmal das Herz der Stadt gewesen. Benannt wurde das Viertel nach der großen und prunkvollen Kirche, die im Zentrum des Viertels, nahe des Parks stand. Sie war wahrscheinlich das Einzige, das in St. Beatrix heilig war. Trotz des Wandels stand der Baum, der noch immer das Zentrum des Viertels bildete, da und breitete majestätisch seine Äste über den Köpfen der Menschen aus, als würde er schützen wollen, was sich unter seinem Blätterdach befand. Der alte Mann lehnte sich mit dem Rücken an den gewaltigen Stamm und sank langsam zu Boden. Aus der braunen Tasche, die er bei sich trug, holte er ein abgewetztes und in Leder gebundenes Buch heraus und begann darin zu lesen.
Ein junges Mädchen ging an der Bank vorbei, auf der Akira saß und den Mann beobachtete. Ihr hüftlanges, orangerotes Haar wehte bei jedem Schritt hinter ihr her. Anne wurde sie gerufen, erinnerte sich Akira. Ihre Mutter liebte das Mädchen mehr als alles andere und war eigentlich nie weit von ihr entfernt. So war es auch jetzt. Wie die Tochter, so hatte auch die Mutter orangerotes Haar. Es fiel ihr fast bis auf die Schultern und wirkte immer etwas zerzaust, was wahrscheinlich daran lag, dass sie sich ständig mit den Händen in die Haare fuhr. Mutter und Tochter setzten sich gemeinsam zu dem alten Mann, der mit dem Rücken an dem Baum lehnte und unterhielten sich leise. Es dauerte nicht lange, bis sich unter der eindrucksvollen Baumkrone noch mehr Menschen versammelt hatten. Sie schienen aus allen Altersgruppen zu stammen und viele von ihnen erkannte Akira von der Tankstelle wieder, an der er arbeitete. Derek war ein Alkoholiker, der sich jeden Abend zwei Dosen von überteuertem Billigbiers und einen Kräuterschnaps kaufte. Ein junges Mädchen, vielleicht 19 Jahre alt, war vermutlich eine weitere Studentin, die sich nach St. Beatrix verirrt hatte. Sie tankte häufig ihren rosafarbenen Motorroller. Selbst Jo, der regelmäßig die extra langen Blättchen kaufte und mit geröteten Augen einen Haufen Süßkram, Erdnüsse und Bockwürstchen mit Nuss-Nougat-Creme auf den Tresen legte, gesellte sich zu ihnen. Es war ein bunter Haufen. Menschen, die zum Teil nicht unterschiedlicher sein konnten und dennoch saßen sie gemeinsam vor dem prächtigen Baum und unterhielten sich. Viele von ihnen hatten Bücher in der Hand, die denen des alten Mannes sehr ähnlich sahen. Sie alle hatten einen Ledereinband. Die einen waren etwas weniger abgenutzt als die anderen, aber es schienen alle die gleichen Bücher zu sein. Akira dachte immer, sie würden einen etwas wirr zusammengestellten Buchclub darstellen. Er beobachtete sie nicht zum ersten Mal. Sie trafen sich einmal die Woche um die gleiche Zeit, saßen beisammen und sprachen leise über ihre Bücher. Offensichtlich wollten sie die wenigen anderen Besucher des Parkes, ihn eingeschlossen, nicht stören. Einige der Lesenden sahen immer wieder zu ihm hinüber, daher entschied Akira sich, wieder den Baum zu beobachten und zu versuchen ihnen mit einem Ohr zuzuhören.
„Möchten Sie sich zu uns setzen?“, fragte ihn eine ruhige Stimme und er drehte sich zu ihr.
„Bitte?“, fragte er und blickte einer Frau mit schulterlagen roten Haaren in die blauen Augen.
„Sie sitzen öfter mal hier, wenn wir uns treffen und ich habe das Gefühl, dass Sie uns ab und zu beobachten. Es kann natürlich auch sein, dass ich mich täusche.“ Sie hatte vollkommen recht. Er beobachtete die Gruppe, wenn er auf sie traf und fragte sich, was genau sie taten. „Aber ich dachte mir, ich frage Sie einfach mal, ob Sie sich nicht dazu setzen möchten.“ Akira sah sie an. Er war etwas verwirrt über die plötzliche Einladung und wusste nicht, ob er sie annehmen wollte, oder nicht. Schließlich nickte er. Es konnte nicht schaden, sich ein bisschen zu anderen Menschen zu gesellen und wenn es ihn nicht interessierte, worüber sie sprachen, hatte er wenigstens ein Geheimnis gelüftet und konnte sie sitzen lassen und nach Hause gehen.
Er merkte schnell, dass es sich bei dem vermeintlichen Buchclub um eine religiöse Sekte handelte. Sie trafen sich, um gemeinsam über ihre Bibel zu sprechen. Das Buch, das in der Sprache der Religion Hade lo laéi hieß und übersetzt so viel wie Buch der Götter bedeutete.
„Vielleicht ist meine Frage etwas zu direkt, aber seid ihr eine Sekte oder so?“, fragte Akira und hoffte nicht gleich auf die Liste der Religionsgegner gesetzt zu werden.
„Manche nennen uns so, ja. Aber für uns sind wir eine gewöhnliche Religion, die es überall auf dieser Welt gibt“, antwortete Veronika, die Mutter der rothaarigen Anne.
„Wir sind nur nicht so bekannt, wie die großen Weltreligionen“, ergänzte der alte Mann, der noch immer mit dem Rücken an dem gewaltigen Stamm lehnte.
„Findet ihr es denn nicht schade, dass kaum jemand eure Religion kennt?“
„Nein. Es ist sogar gut.“
„Nicht jeder sieht die Wahrheit so klar, wie wir sie sehen.“ Jo lächelte ihn mit seinen geröteten Augen an. Hatte Akira den Mann jemals erlebt, als er nicht high war? Wahrscheinlich nicht.
„Die Wahrheit, wie ihr sie seht“, sagte er zweifelnd. Veronika lachte und fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar.
„Auch bei uns gibt es unterschiedliche Wahrheiten. Je nach Betrachter. Aber in unserem Glauben haben auch die Religionen, die an andere Götter glauben eine Berechtigung zu existieren. Wir werden von den Göttern geschaffen, aber was wir aus unseren Leben machen ist unsere Sache.“ Das kam ihm sehr vertraut vor. Ruth, die alte Miller, die jeden Tag auf ihrem Stuhl vor der Haustür saß und das Treiben auf dem Flur beobachtete, hatte ihm das gleiche erzählt. Ob sie auch zu dieser seltsamen Religion gehörte? Er hatte sie noch nie außerhalb ihres Stuhles gesehen, geschweige denn draußen im Park. Aber schließlich ging auch nicht jeder Christ in die Kirche.
„Ich glaube, ich kenne eine weitere Anhängerin eures Glaubens“, erklärte Akira.
„Ruth“, stellte Derek fest. „Ja. Sie hat von dir erzählt. Der junge Mann im Haus, der an der Tankstelle arbeitet und unbedingt aus diesem Viertel ziehen muss.“ Jetzt war es Akira, der lachen musste. „Das darf ich mir beinahe jeden Tag anhören.“
„Vielleicht hat es ja einen besonderen Grund, dass du so an St. Beatrix hängst“, stellte Anne fest, die sonst eher schweigsam wirkte. „Momentan ist es einfach das Leben, das mich in St. Beatrix hält. Hier werde ich weitestgehend in Ruhe gelassen und die Miete ist nicht so teuer wie in den umliegenden Vierteln. Außerdem kenne ich nichts anderes.“ Akira erzählte ihnen von seiner Vergangenheit und davon, dass er sich nicht wirklich an sein Leben vor St. Beatrix erinnern konnte. Von seinen Recherchen, die nur noch mehr Fragen aufwarfen und von seinem Gefühl, deutlich älter zu sein, als er es sein sollte.
Buch der Götter
Der erste lae Gott war Eneloa. Der Urzustand der laéi Götter. Sie schuf die Schöpfer dieser Welt. Eneloa gab ihren Schöpfungen viele Aufgaben. Einige bekamen den Auftrag des borede Licht. Die laéi borede schlossen sich zusammen und schufen einen großen Lichtball, den sulario Sonne. Der sulario brachte Licht. Doch das reichte Eneloa nicht. Die laéi ekeméa Erde schufen einen großen Erdball, ekemedio, auf dem sie leben konnten. Die laéi ridugelo Natur teilten sich in Gruppen und schufen regéa Wasser groéde Pflanzen und animene Tiere. Den Zyklus von Tag und Nacht schufen die laéi nismus Nacht und anat Tag. Die laéi nismus teilten sich ihre Nächte mit den laéi siteno Finsternis. Die laéi ridugelo Natur brachten auch gila Frühling, redelika Sommer terena Herbst, und wirut Winter.
Akira sah von seinem neuen Buch auf. Hade lo laéi, Buch der Götter. Das Buch hatte er von Veronika geschenkt bekommen, die offenbar für diese Anlässe immer ein zweites und manchmal auch ein drittes Exemplar bei sich trug. Es war eine knappe, aber interessante Schöpfungsgeschichte und ohne Zweifel wollte er mehr lesen, doch es war auch sehr anstrengend. Die meisten Wörter, die offensichtlich als Fremdwörter übersetzt wurden, störten seinen Lesefluss. Er nahm sich seinen kleinen, alten Laptop und gab in der Suchmaschine das Schlagwort „lae“ ein. Lungenaterienembolie. Ingenieurunternehmen mit Expertise aus… Nicht wichtig. Ein Eintrag bei Wikipedia. „… die zweitgrößte Stadt in…“ Auch nicht. Eine PDF-Datei. Akira öffnete sie und sah sich die Datei an, in der Bilder von einem alten Buch gezeigt wurden.
Hade lo laéi
Lo ele lae turod Eneloa. Eneloa fareh forehik lo ekemedio. Eneloa foloturo lo farehli ni folotui.
Akira wusste, dass es sich um eine andere Sprache handelte. Um die Sprache der Götter, die auch die Gruppe der religiösen sprach. Aber er konnte sie fließend lesen. Es war, als hätte er sie bereits in Kindertagen gelernt. Er schloss die Datei wieder. Es war zwar deutlich einfacher zu lesen, ohne dass die Wörter sich ständig wiederholten, aber das Lesen auf dem kleinen Bildschirm machte ihm auf Dauer einfach keinen Spaß.
Eines der wichtigsten Opfer ist die laéifruse Götterfrucht. Alle claséi Gemeinden, die sich eines laéitrele Götterbaum erfreuen dürfen, ernten seine fruséi Früchte und pressen den Saft aus ihnen. Zusammen mit Wasser und der Milch einer Ziege wird es den Wurzeln des laéitrele übergeben. Das Frucht-Wasser-Milch-Gemisch wird durch die Wurzeln des Baumes in die citari grulu muting Stadt unter dem Berg geleitet. Es dient den laéi Götter als krop Lebenssaft.
Laute Schreie rissen seine Gedanken von dem neuen Buch fort. Akira lauschte auf. Vor seiner Tür schien eine Diskussion im vollen Gang zu sein. Nicht besonders diskret, da er jedes Wort verstehen konnte. „Du Schwein! Dass du deine Finger nicht bei dir behalten kannst!“, brüllte eine Frauenstimme.
„Reg dich mal ab! Ist doch nichts passiert!“, sagte die Stimme eines Mannes, vielleicht etwas zu gelassen.
„Nichts passiert?“, kreischte die Frau „Du hast sie gefickt!“ Akira zog schmunzelnd eine Augenbraue hoch. Solche Konversationen waren ihm nicht fremd.
„Es war doch nur einmal!“, jammerte er. „Einmal ist keinmal, oder Schatz?“ Das Klatschen ihrer Hand auf seiner Wange war bis in Akiras Küche zu hören.
Danach hörte er deutlich leiseres Murmeln, gefolgt von dem lauten Zuschlagen der Haustür, was die Wände zum Wackeln brachte.
Er wandte sich wieder seinem Buch zu. Die laséni ernten also die Früchte, um daraus einen Saft für ihre Götter herzustellen. Dem Buch nach zu urteilen nutzten die Götter diesen Saft für ihre Wiederbelebungszauber, oder wie man es nennen sollte. Sie mischten zu dem Saft noch eine Geheimzutat und flößten sie den gestorbenen laéi ein. Jeder lae kann wiederbelebt werden, es sei denn, er ist durch Eneloas Kern gestorben.
Akira blätterte eine Seite weiter. Wie es ihm schien, so zählten die laéi ihre Tode mit Tinte unter der Haut.
Er seufzte und sah auf die Uhr. Halb sechs. Mit einem Schrecken sprang er auf. Durch das Hade lo laéi hatte er beinahe vergessen, dass er um 18 Uhr zur Arbeit musste. Wiederwillig ließ er das Buch auf dem Küchentisch liegen und packte schnell seine Sachen für die Arbeit zusammen.
„Hallo Akira.“ Derek begrüßte ihn herzlicher als sonst.
„Guten Abend Derek“, erwiderte er.
„Hast du schon ein bisschen in deinem neuen Buch gelesen?“, fragte sein Kunde, während er geradewegs auf die Kühlung mit den Bierdosen zusteuerte.
„Ja das habe ich“, antwortete Akira. „Es ist ganz interessant. Ich glaube das ein oder andere habe ich vielleicht schon einmal irgendwo gehört.“
„Oh das klingt doch sehr gut“, freute sich Derek und stellte zwei Dosen des billigen Biers auf den Tresen. „Wirst du dich noch einmal zu uns setzten, wenn wir uns treffen?“ Er stellte noch einen Kräuterschnaps neben das Bier.
„Wenn sich die Gelegenheit ergibt“ Akira war durchaus nicht abgeneigt sich weitere Geschichten dieser claséi anzuhören. Aber er wollte kein Teil ihrer Gemeinde werden. Dafür hätte er an das glauben müssen, was er hörte und las.
Derek war nicht der einzige Kunde, der ihn auf das Hade lo laéi ansprach. Auch andere, die bei dem kleinen Treffen der claséi dabei waren, erkundigten sich ob er bereits etwas gelesen hatte und was er davon hielt. Akira entschied sich, zurückhaltend, aber freundlich nur wenige Informationen darüber preiszugeben, dass er auch diese Religion lediglich für eine nette Geschichte hielt. Schließlich war er Atheist und glaubte an gar keinen Gott.
Die Stunden kamen und gingen und bald konnte er endlich wieder nach Hause, durch das lärmende und überfüllte Treppenhaus, vorbei an Ruth Miller, die ihn wie immer darum bat, endlich auszuziehen. Zurück in seiner beengten Wohnung setzte er eine Kanne Tee auf und beugte sich erneut über das Hade lo laéi. Nebenan hörte er das laute Knarren eines Bettgestells und ein freudiges Stöhnen der Versöhnung.
Alondra, das Schild der citari Stadt
1500 Jahre lang schützte Alondra die citari grulo muting Stadt unter dem Berg vor den Gefahren ihrer Welt. Kein Wesen, welches sich mit den Göttern messen wollte, hatte es je geschafft in die citari Stadt, das Herzstück der Welt der laéi einzudringen. Aber kein Frieden währt ewig, das mussten auch die Bewohner der citari erfahren, als Alondra auf einer Reise in die Welt der Menschen eines der wichtigsten Gesetze der laéi brach und sich mit einem Menschen vereinigte.
Atemlos rannte Akira über den dünn bewachsenen Sand. Seine Muskeln schmerzten bei jeder Bewegung. Der Schweiß perlte von seiner Stirn. Die Sonne versengte seine Haut. Er war am Ende seiner Kräfte. Erschöpft blieb er stehen. Um ihn herum war nichts, außer dem staubigen Sand und dem vertrockneten Gras, das vom Sonnenlicht langsam verbrannt wurde. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Der Staub, auf dem er stand, erstreckte sich von Horizont zu Horizont und die Hitze staute sich auf dem trockenen Sand und flimmerte vor Akiras Augen.
Der Boden bebte. Langsam drehte er sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Eine riesige Staubwolke rollte auf ihn zu und verbarg, was sich darin befand in einem hellbraunen Schleier. Über 100 Pferde, die mit wütend schreienden Reitern auf ihren Rücken auf ihn zu preschten, ließen die Erde erzittern. Die Hufe der Pferde ließen die Erschütterungen durch den Sand leiten und das Gefühl wurde stärker und stärker, je näher sie kamen. Ein geräuschvolles Dröhnen steckte in seinen Ohren und ließ ihn nichts anderes wahrnehmen, außer den Feind, der auf ihn zu kam. Akira schloss seine Augen und konnte spüren, wie das Beben durch seinen ganzen Körper strömte. Es war, als könne er schon fast die Meter zählen, die die Reiter mit ihren Pferden noch brauchten, um ihn zu erreichen. Beinahe konnte er den Geruch des Schweißes riechen, den die Reiter verströmten und die Angst ihrer Pferde spüren.
Mit einer strengen inneren Ruhe öffnete er seine Augen. Die Hitze flimmerte nun etwas weniger und die Staubkörner waren aus seinen Augen verschwunden. Nicht weit von ihm entfernt galoppierten die Reiter mit grimmigen Gesichtern und lautem Kriegsgebrüll auf ihn zu. Akira umfasste die Luft neben seiner Hüfte, zog sein Schwert aus der Scheide und wartete geduldig darauf, dass die Meute in Reichweite kam.
Um ihn herum stand ein Heer aus Männern und Frauen in denselben ledernen Rüstungen, mit Beinschienen, ledernen Harnischen und geschnürten Sandalen. Auch sie hatten ihre Schwerter gezogen und waren bereit für den Kampf.
Stahl krachte auf Stahl und metallenes Klirren erfüllte die staubige Luft. Der Gegner war in der Überzahl. Mehr als 1000 Mann mit besseren Waffen, besserer Rüstung und auf Pferden. Aber es war nicht wichtig, wie viele Gegner sie hatten, oder wie gut diese Gegner ausgerüstet waren. Wichtig war einzig und allein das Talent und davon besaßen Akira und seine Kameraden genug. Sie alle waren zum Kämpfen geboren und nur von den Besten ausgebildet worden. Gemeinsam konnten sie als Einheit gegen eine solche Übermacht antreten. Sie alle brauchten nicht darüber nachzudenken, was sie taten. Der Kampf, der Krieg, sie waren ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Einige Male wich Akira einer feindlichen Klinge nur knapp aus. Er fühlte sich gut. Das Adrenalin, welches durch seinen Körper schoss ließ ihn sich wieder lebendig fühlen. Es war seine Aufgabe den Feind zu besiegen und er erledigte sie mit Stolz. Über ein Dutzend Männer riss er von ihren Pferden und schlachtete sie mit gezielten Hieben, ohne auch nur einen Kratzer abzubekommen. Es dauerte nicht lange, bis der staubige Sand unter den Füßen der Kämpfenden rot und feuchte geworden war. Akira wusste, dass es gleichgültig war, wie viele von ihnen er niederstreckte. Sie würden doch nur alle durch neue Männer ersetzt werden, die ihren Anführern genau so wenig bedeuteten, wie ihre Vorgänger. Sie waren in den Augen ihrer Vorgesetzten nichts wert. Anders, als Akira und seine Verbündeten. Hier zählten sie auf jedes Schwert und jedes einzelne Leben und sei es noch so winzig. Alondra, die Beschützerin der Schwachen, das Schild der cirati war gekommen, um ihre Krieger kämpfen zu sehen. Alondra, die Wurzel dieses Übels. Die Frau, die sich über die Götter stellte. Die Frau, die so viele unschuldige Leben auf dem Gewissen hatte.
Sie standen sich gegenüber. Eins zu eins. Sie waren allein. Die Frau war ihm in der Kriegskunst deutlich unterlegen. Und so schlug Akira ihr im Zweikampf den Kopf von den Schultern. Kurz und hoffentlich auch schmerzlos. Ein Triumph war es nicht. Der leblose Körper vor ihm war von seinem Blut. Er hatte so viele schöne Erinnerungen an diese Frau. So viele Jahre des Glücks hatte er in ihrer Hütte spielend mit ihrem Sohn verbracht. Als Alondra noch die Beschützerin der Schwachen und das Schild der citari war und damit ein wichtiger Teil in ihrer Gesellschaft.