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© 2022 Peter Hartl

Lektorat: Katharina Glück

Satz, Umschlaggestaltung, Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7562-9847-1

Prolog

Mein Name ist Mac Demain, ich wurde 2004 in Berlin geboren und wuchs dort behütet als Einzelkind auf. Ich war ein neugieriger Junge. Meine Mutter, in Paris geboren, nannte mich »mon petit chercheur«, »mein kleiner Forscher«.

Mein Vater Ron Demain kam 1976 als Sohn einer angesehenen Familie in Damaskus in Syrien zur Welt. Er musste mit seinen Eltern, auf Grund ihres christlichen Glaubens, von dort fliehen. Nach abenteuerlichen Wegen durch Europa fanden sie ein neues Zuhause in der alten Hansestadt Lübeck. Mein Vater ging dort zur Schule und begann danach ein Medizinstudium in Berlin mit einer anschließenden Spezialisierung als Neurochirurg. Meine Mutter Cloe lernte er kennen, als sie Malerei an der Akademie der Künste in Berlin studierte.

Wir waren eine glückliche, fröhliche, kleine Familie, lebten am Rande Berlins und wirkten sicher unkonventionell, vom Aussehen her waren wir schwer einzuordnen. Was uns auszeichnete, waren Neugierde, Phantasie und Humor.

Während meiner Schulzeit reisten wir viel, meine Mutter suchte neue Anregungen für ihre Malerei, Vater besuchte die Zentren der neurologischen Forschung in aller Welt.

Mein geerbter Hang zur Kreativität einerseits, mein Forscherdrang andererseits führten mich zum Studium der Informatik an der Humboldt-Universität in Berlin und dann zur Entwicklung neuer Datentechniken im Zusammenhang mit der künstlichen, selbstlernenden Intelligenz.

Doch auch wir waren nicht gefeit vor Schicksalsschlägen. Als meine Mutter 2027 starb, stürzten mein Vater und ich uns umso mehr ins Berufsleben. Ich arbeitete zu dieser Zeit im Team der Heisenberg-Quantum-Simulation in Berlin an der Entwicklung des Quantencomputers. Mein Vater leitete eine Forschungsabteilung am Institute for Cognitive Neuroscience Potsdam, dem ICNP.

Unser beider Thema war das Gehirn, wobei ich mich auf das künstliche, mein Vater hingegen auf das menschliche konzentrierte, eine Kombination, die zu einem Ereignis führen sollte, das uns in eine neue Bewusstseinsebene versetzen, unser Leben verändern und dramatische Folgen für die Gesellschaft haben sollte.

Der Bekanntheitsgrad, den wir unter dem Namen Mac & Ron in den Medien gewinnen würden, war zu Beginn unserer Forschung natürlich nicht zu erahnen. Dass dieses, unser Erkennungszeichen, Mac & Ron, an den ehemaligen Präsidenten Frankreichs Macron erinnert, ist eine Bemerkung wert, denn er, Emmanuel Macron, ist wieder in aller Munde, seit er nach seiner letzten Amtszeit Ivanka Trump heiratete, kurz nach ihrer Wahl zur Präsidentin der USA. Das war 2035. Doch dies nur am Rande.

Inzwischen ist mein Vater verstorben, und trotzdem lebt er weiter auf diese eigentümliche Weise, die wir gemeinsam begründet haben. Doch nun, 2072, da auch ich alt werde, droht unser beider Ende. Vielleicht ist dies der Grund, warum ich unsere Erlebnisse niederschreiben möchte. Nicht so sehr, damit ich selbst auf diesen Seiten weiterlebe, sondern damit er es kann. Im Folgenden möchte ich also unsere Geschichte erzählen, in der es um revolutionäre Forschung geht, um eine Gesellschaft im Wandel und um einen sehr, sehr langen Spaziergang.

MEMORY TRANSFER

Das Human Brain Projekt in Lausanne

Alles begann in der Schweiz. Schon 2019 war das von Henry Markram ins Leben gerufene HBP, das Human Brain Project in Lausanne, eine der größten neurowissenschaftlichen Forschungseinrichtungen weltweit. Das Projektkonsortium umfasste 117 Institutionen in 23 EU-Mitgliedsstaaten mit mehr als 500 unmittelbar beteiligten Forschern. Das Projekt wurde von der EU mit 1,19 Milliarden Euro gefördert. Die Zentrale in Lausanne und alle weiteren Forschungsinstitutionen arbeiteten an dem einzigen Ziel, das menschliche Gehirn auf einer gigantischen Computerplattform nachzubauen und so seine Arbeitsweise zu entschlüsseln.

Henry Marcron, der weltbekannte Neurologe, war getrieben von dem Wunsch, auf diese Weise krankhafte Fehlfunktionen des Gehirns aufzuspüren. Er hatte einen autistischen Sohn.

Der für den Nachbau des menschlichen Gehirns eingerichtete Megacomputer füllte zu dieser Zeit noch zwei ganze Stockwerke, erst mit Einführung der Quantentechnik im Jahr 2028 schrumpfte die Größe der Datenverarbeitungsanlage auf die einer Waschmaschine.

Das Gebäude des Human Brain Project in Lausanne befand sich auf dem Gelände der Technischen Universität und seit Einführung der neuen Technik in einem gläsernen Neubau mit großzügiger technischer und personeller Ausstattung. Hier liefen nun die Informationen der angegliederten Forschungseinrichtungen zusammen und speisten den Zentralcomputer, wobei jede mit dem Human Brain Project befasste Institution einen speziellen Teilbereich des Gehirns bearbeitete.

Der Nachbau des menschlichen Gehirns

Das menschliche Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen ist ein Organ von so ungeheurer Komplexität, dass nur ein Computer, der sämtliche Rechenschritte gleichzeitig ausführt, den Austausch von Gehirnsignalen in einem Netzwerk dieser Größe simulieren kann. Die Quanten-Technologie machte es möglich, die Tätigkeit von 4 Millionen Neuronen und einer Milliarde Synapsen nachzubilden. Seit 2028 stand nun dieser Megacomputer zur Verfügung mit einer Rechenleistung, Geschwindigkeit und einem Speichervolumen das 10.000 mal höher war, als das des menschlichen Gehirns, bei geringstem Energieverbrauch. Der Quantencomputer bekam die Bezeichnung Artificial-Brain-Computer, ABC. Ein guter Name, denn er stand wie ein ABC-Schütze am Anfang einer Lernphase.

Schritt für Schritt mussten dem ABC die Sinneswahrnehmungen in digitaler Form beigebracht werden, mussten je nach ihrer Bedeutung gefiltert und in gleicher Weise wie beim humanen Langzeitgedächtnis gespeichert werden um sie bei Bedarf abrufen zu können. Es musste dafür gesorgt werden, dass die Software auf die gleiche Weise arbeitete wie das menschliche Gehirn. Die Aufgabe wäre kaum zu schaffen gewesen, hätten man nicht Deep Learning verwendet. Dadurch vervollständigte sich die Software in großen Teilen selbstständig.

Der ABC besteht aus drei Teilen: Hardware, Software und Sensoren, die zusammen ein komplettes Ökosystem ergeben. Die Sensoren sind die Augen, Ohren, Nase etc. und erfassen die Informationen, die dann von der Software verarbeitet werden. Grundlage für die Hardware eines künstlichen Gehirns sind die sogenannten Memristoren. Sie arbeiten mit elektronischen Impulsen und sind fähig, allmählich zu lernen und auch zu vergessen. Sie sind über Lichtwellenleiter miteinander verbunden, ähnlich wie Synapsen im menschlichen Gehirn, die über die Neuronen miteinander in Kontakt treten. Auf diese Weise kann der ABC ein Erinnerungspotential aufbauen und damit reale Aufgaben bearbeiten. Nach drei Jahren war der Artificial Brain Computer an die Grundfähigkeiten eines menschlichen Gehirns herangekommen, er war fähig selbständig ein Gedächtnis aufzubauen, zu lernen und sich zu erinnern und das Erinnerte auszusprechen.

Im Jahresbericht von 2031 wurde stolz verkündet, dass nun, 18 Jahre nach Gründung des Human Brain Project, das künstliche Gehirn zu einem wesentlichen Teilbereich funktionsfähig zur Verfügung stand.

Ich, Mac Demain, wollte als Quantenphysiker teilhaben an dieser weltweit einmaligen Aufgabe, dem Eindringen in das Wesentliche der Menschseins.

Im Jahr 2030 zog ich nach Lausanne und arbeitete fortan in einem speziellen Forschungsteam, welches einen Teil des Artificial Brain Computers weiterentwickeln wollte, das Erinnern. Wir setzten uns das Ziel, einen Speicherchip zu entwickeln, der das gesamte Gedächtnis, die ganze Erinnerung eines Menschen in sich speichern konnte. Mit Hilfe der Nanotchnik entwickelten wir einen Speicherchip im Miniaturformat. Er bekam den Namen Cerebral Chip for Memory Transfer, CCMT.

Dieser Chip war kompatibel mit menschlichen Zellen, winzig klein und dennoch übertraf er mit 1,8 Billionen Schaltmedien die des menschlichen Gehirns, war also in der Lage, das gesamte Gedächtnis einer Person mit allen psychischen Fähigkeiten eines Erwachsenenlebens in sich aufzunehmen.

Er konnte im menschlichen Gehirn minimalinvasiv implantiert werden und das gesamte im Cortex gespeicherte Gedächtnis eines Menschen schrittweise abrufen. Es war mit dem CCMT also möglich das Gedächtnis eines Menschen zu duplizieren und digital aufzubewahren.

Human Memory Transfer, HMT

Mit den neuen Möglichkeiten des CCMT, des Cerebral Chip for Memory Transfer, setzte sich das Human Brain Center ein neues Ziel: das Gedächtnis von Menschen digital zu speichern. Man wollte die im Langzeitgedächtnis, im Cortex hinterlegten Erinnerungen abfangen, um sie dann außerhalb des Gehirns bereitzuhalten.

Man wollte mit dieser Methode vor allem Patienten mit Hirnkrankheiten helfen. Schon bei den ersten Anzeichen von Demenz wollte man die Krankheit austricksen, indem man das noch intakte Gedächtnis auf einem neuromorphen Chip speicherte, das in seinem Gehirn implantiert war. Dadurch sollte das Gedächtnis des Erkrankten für immer erhalten bleiben.

Dies gelang, der Demenzpatient konnte danach trotz Verfall seines Gehirns bis zu seinem Tod immer auf sein früheres Gedächtnis im Chip zurückgreifen. Der Verlust des Kurzzeitgedächtnisses konnte allerdings nicht beeinflusst werden, und somit war seine Lebensqualität nicht wirklich verbessert. Nach etwa 60 Chip-Implantierungen bei geistig kranken Menschen gab man diese Therapieform bei Demenz auf.

Nun standen wir im HBC vor einer mittelschweren Sinnkrise. Wir hatten eine phänomenale Technologie entwickelt, doch wir mussten den geplanten Einsatzbereich aufgeben. Wozu sollten wir das Verfahren einsetzen? Was sollte die nächste Versuchsreihe sein?

Wir entwickelten den Plan, das Gedächtnis einer gesunden Person auf einen Chip zu duplizieren und in das Gehirn einer anderen gesunden Person zu übertragen.

Es sollte ein Weg gefunden werden, das Wissen, das Können, die Erfahrung eines Menschen digital zu speichern und auf einen anderen Menschen zu übertragen, sodass dieser ein zusätzliches Wissen und Können zur Verfügung hat. Man hatte die Vorstellung, eine begrenzte Anzahl von Menschen mit Aufgaben betrauen zu können, die bisher außerhalb der geistigen Fähigkeit eines einzelnen menschlichen Geistes gelegen hatten. Dieses Vorhaben bekam die Bezeichnung Human Memory Transfer.

Die Aufgabe bestand nun darin, den mit dem Gedächtnis des Spenders gefüllten Chip in das Gehirn eines anderen Menschen, des Empfängers, zu implantieren und dafür zu sorgen, dass das gespeicherte Gedankengut vom Cortex des Empfängers aufgenommen wird. Diese Aufgabe schien verhältnismäßig einfach, denn es war der gleiche Vorgang wie er normalerweise beim Übertragen realer Sinneseindrücke in den Cortex vor sich geht. Vorläufig unbekannt war, wie sich beim Empfänger das eigene und das implantierte Gedächtnis verhalten, in welcher Weise eine Vermischung stattfindet. Tierversuche gaben Hoffnung.

Aus medizinischer Sicht sahen wir nun in Lausanne den Weg frei für eine Gedächtnisübertragung von Mensch zu Mensch.

Aufgrund der für die Menschheit bedrohlichen Lage des Klimawandels sah die Wissenschaft hier eine Möglichkeit, eigentlich die letzte Möglichkeit, Führungskräfte zur Verfügung stellen zu können, die jetzt und nicht erst im nächsten Jahrhundert, Innovationen erarbeiten und auch realisieren konnten um die Bedrohung unserer Existenz aufzuhalten.

Natürlich galt es als Erstes, ein passendes Probandenpaar zu finden. Wir überlegten lange, diskutierten viel, und schließlich waren es meine Kollegen, die vorschlugen, ich solle mich zur Verfügung stellen. Ich zweifelte, doch als ich meinem Vater davon erzählte, war er sofort Feuer und Flamme. Mehr noch: Er wollte selbst Teil dieses Projekts sein. Nach langen Beratungen und Abwägungen entschlossen ich und mein Vater uns, dem Human Brain Transfer zuzustimmen. Das Gedächtnis meines Vaters, all sein Wissen, Können, und seine Erfahrung sollten in den Cortex meines Gehirns übertragen werden. Die Tragweite dieser wissenschaftlichen Pioniertat war uns sehr bewusst.

Mein Wissen als Quantenphysiker und das meines Vaters als Neurophysiologe waren kompatibel. Es war zu erwarten, dass durch den Transfer in mir eine Kompetenz entstehen würde, die in einem einzelnen Menschenleben auf natürlichem Wege nicht zu erzielen war. Das Human Brain Center Lausanne befürwortete unseren Entschluss. Bis zur Durchführung vergingen noch sechs Monate. Physische und psychische Untersuchungen, Gespräche mit dem für das Vorhaben ausgewählten Team. Die europäische Ethikkommission antwortete positiv.

Uns war bewusst, dass wir lange unter Kontrolle stehen würden und zeitlebens Kontakt zur wissenschaftlichen Zentrale halten mussten. Es war sichergestellt, dass meinem Vater sein Gedächtnis trotz Übertragung erhalten bleiben würde.

Das Human Brain Center Lausanne war für dieses Vorhaben eine Kooperation mit dem ICNP, dem Institute for Cognitive Neuroscience Potsdam, eingegangen, in dem mein Vater arbeitete. Das ICNP errichtete ein eigenes Institutsgebäude im Wissenschaftspark Potsdam, direkt am Waldrand mit Blick auf den Einsteinturm. Hier würden wir ein Jahr lang wohnen, der Vater aus Syrien mit einer Muttersprache, die mir fremd war, die ich aber bald fließend sprechen würde, und der Sohn, der in seiner Unbekümmertheit mehr seiner französischen Mutter glich.

Der erste Human Memory Transfer

Im Oktober des Jahres 2032 wurde meinem Vater nach mehrwöchiger Vorbereitung bei einem siebzehnminütigen Eingriff der CCMT (Cerebral Chip for Memory Transfer) in die entsprechende Schnittstelle des Hippocampus eingeführt.

Da sich im Gehirn selbst keine schmerzempfindlichen Nerven befinden, war nur eine örtliche Sedierung notwendig, um den CCMT minimalinvasiv in das Gehirn meines Vaters einzusetzen. Er wurde danach tagsüber in eine meditationsähnliche Bewusstseinsstufe versetzt, in der er ansprechbar war, seine Mahlzeiten zu sich nahm und auch in Begleitung kurze Spaziergänge machen konnte. In dieser Zeit erfolgte die Übertragung der gigantischen Speichermenge seines Lebens auf den Chip. Dies geschah in zusammenhängenden Wissensblöcken, etwa einer Fremdsprache, und wurde durch Messung der Gehirnströme kontrolliert.

Schon einen Tag nach Normalisierung des EEG wurde meinem Vater der Chip entnommen und unmittelbar danach in meinen Hippocampus eingesetzt. Es war der 30. Oktober 2032. Es dauerte fünf Tage, bis der neuromorphe Chip eine Einheit mit meinem Gehirngewebe im Hippocampus eingegangen war. Beim Erwachen war ich benommen, musste mich erst orientieren, fühlte mich aber nicht wie ein neuer Mensch. Das wunderte mich. Ich hatte Hunger, und es war mein Hunger, kein fremder.

Der Human Memory Transfer war erfolgreich beendet, die Anspannung ließ nach, doch ein wenig Angst vor unkontrollierbaren Reaktionen ließ sich nicht vermeiden. Hier im Wohngebäude des ICNP genossen wir die Abgeschiedenheit und unternahmen Spaziergänge zu den weit verstreuten Forschungsgebäuden des großen Wissenschaftsparks. Zweimal täglich wurde unser physischer und psychischer Zustand kontrolliert. Wir waren, und das spürten wir auch, der Mittelpunkt im Wissenschaftspark Potsdam. Das gemeinsame Frühstück mit den beiden Institutsleitern und ihren Familien sowie die übrigen Mahlzeiten und Kaffeepausen schafften eine familiäre Atmosphäre. Fahrten in die Stadt oder Spaziergänge in die Umgebung waren vorläufig nur mit Bewachung und mindestens einem Arzt möglich, denn ich war nun ein schützenswertes Objekt, in das Abermillionen Euro an Forschungsgeldern geflossen war.

Abgesehen von diesen Vorsichtsmaßnahmen sollten Vater und ich ein normales Leben führen. Es war beruhigend, dass mich das fremde Gedächtnis nicht unkontrolliert überfiel. Es bedurfte einer gewissen Willenskraft, um die neuen Erinnerungen aufzurufen, und vorerst tat ich dies nur in Anwesenheit meines Vaters und der Psychologin Hanna. Wir begannen mit Arabisch, Vaters Muttersprache. »Al-Watan«, die syrische Tageszeitung, konnte ich lesen und verstehen, für mich das erste, überwältigende Erlebnis. Beim Vorlesen waren meine Stimmbänder und die Zunge noch nicht geschult, bestimmte Kehl- und Zischlaute zu bilden. Die erste Unterhaltung auf Arabisch zwang Tränen in Vaters Augen. Ich konnte beinahe fühlen, wie jedes gelesene oder gesprochene Wort in mein eigenes Gedächtnis verschoben wurde. Es würde noch einige Zeit dauern, bis ich Arabisch als meine Mutter-, in diesem Fall Vatersprache empfinden würde.

Was von Vaters Erinnerung in mir bewusst wurde, erlebte ich unmittelbar. Vaters Eltern als christlichen Minderheit in Syrien, Internierung, abenteuerliche Flucht 1990. Endlich eine Wohnung in Lübeck. Alles aus dem Blickfeld des achtjährigen Ron, meinem Vater. Seine Schulzeit bis zum Abitur, danach ein Medizinstudium in Berlin. Das Kennenlernen meiner Mutter, einer Studentin aus Paris, die an der Kunstakademie Malerei studierte. Die Tage nach meiner Geburt. Als Vater von meiner Einschulung erzählte, merkte ich, dass meine Gedanken in eine andere Richtung abwanderten. Der Umgang mit dem neuen Gedächtnis erfolgte tastend, ich musste erst lernen, Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes verschmelzen zu lassen

Meinen Vater drängte es, mir seine Jugend in Damaskus näherzubringen. »Erinnerst du dich an Firas, meinen Hund?« Eine ganze Welt tauchte in meinem Gedächtnis auf, nicht nur der struppige, kleine Kläffer. Ich spürte förmlich, wie sich die Erinnerung an Vaters Firas neben die Erinnerung an meinen eigenen Hund in Kindheitstagen legte.

Natürlich war mir bewusst, dass ich aus dem neuen Langzeitgedächtnis nicht sein ganzes Leben erfahren würde, sondern dass nur erinnerungswürdige Teilbereiche über den cerebralen Chip in meinen Cortex übertragen worden waren. Es würde ein Puzzlespiel werden, Orte und Zeiten würden sich erst im Verlauf zuordnen lassen, Beziehungen unter einzelnen Personen würden sich erst langsam erschließen. Dennoch waren mir manche Personen, etwa Vaters Schulfreunde aus Damaskus, in allen Lebensphasen präsent, verbunden mit gemeinsamen Erlebnissen. Ich war dankbar, meinen Vater als Lotsen bei mir zu haben. Vieles sollte unangetastet bleiben. Manches sprach mein Vater selbst an, da es ihn drängte, diese Erinnerungen mit mir nochmals nachzuvollziehen.

Anfangs überwältigte mich das Staunen über Bilder und Situationen aus vergangenen Zeiten, aber nach einigen Wochen waren mir zum Beispiel die Gebäude und Menschen im Wissenschaftspark und in der Stadt Potsdam aufgrund der drei Jahrzehnte, die mein Vater hier verbracht hatte, ebenso vertraut wie ihm. Sein Wissen und Können sowie seine Erfahrung, auch als Neurologe, setzten sich Stück für Stück in meinem Gedächtnis fest. Wir gingen gemeinsam durch die Labors und den Operationssaal, und mit jedem Blick tauchte ein Bündel von schon Bekanntem in mir auf. Diese Kombination mit meinem eigenen Wissen würde mich später zu ungeahnten Erkenntnissen führen. Ein für mich unvorstellbarer Gedanke war, dass ich auch nach Vaters Tod sein Gedächtnis und damit sein Leben in mir tragen würde.

Nur allmählich wurde mir bewusst, dass ich nun in meinem weiteren Leben zwei Identitäten in mir tragen würde, meine eigene und die meines Vaters, nicht allerdings sein Ich-Bewusstsein. Ich erkannte immer, wessen Erinnerung ich mir gerade vergegenwärtigt hatte, konnte nachvollziehen, wie Vaters Wissen über die Neurologie bei Gesprächen über das Thema in meinen eigenen Wissensbereich wanderte und sich dort mit meinen Kenntnissen über die Quantentechnologie verwob. Meine Kompetenz auf vielen Gebieten wuchs, das spürte ich und konnte auch bewusst dazu beitragen, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Mein Forscherdrang war beflügelt. Es gab gelegentlich emotionale Phasen, in denen ich mich ganz in der Identität meines Vaters befand. Dann fühlte ich mich in seinem damaligen Körper, sah mit seinen damaligen Augen. So wie etwa beim Erinnern an den Tod meiner Mutter, seiner Frau. Der Schmerz, den ich empfand, als ich die Erinnerungen meines Vaters von den Nächten an ihrem Bett durchlebte, überwältigten mich. Gut, dass wir im Moment des Erinnerns beisammensaßen und darüber sprachen. Ein Identitätswechsel ereignete sich selten, einmal, als ich Vater beim Sezieren eines menschlichen Gehirns assistierte, wurde mir bewusst, dass ich gerade mein eigenes Ich in den Hintergrund gestellt hatte. Ich war ganz der Arzt, der Forscher, der Neurophysiologe. Unmerklich kehrte ich aus solchen Situationen zu mir zurück, hatte dabei aber mein eigenes Bewusstsein ganz wesentlich bereichert.

Ein Jahr nach dem Memory Transfer wohnten wir noch immer im Wohngebäude des Instituts im Wissenschaftspark Potsdam. Die wissenschaftlichen Untersuchungen hatten sich auf vier Stunden wöchentlich reduziert, und unsere Wohnungen wurden für neue Memory-Transfer-Kandidaten benötigt.

Die neuen Bewohner im ICNP (Institut for Cognitive Neuroscience in Potsdam) und Kandidaten für einen weiteren Human Memory Transfer waren beide Naturwissenschaftler. Ihn, Niklas, kannte ich aus Schulzeiten, seine Freundin kam aus Peru. Hier ihre Geschichte.

Das Geheimnis der Nasca-Kultur

Rebecca war Initiatorin eines Kongresses in Cusco. Sie war die Nachfolgerin der legendären Dresdnerin Maria Reiche, die ihr Leben der Entdeckung und Erforschung der Nasca-Linien gewidmet hatte. Niklas war Evolutionsforscher und blieb nach einem Kongress in Lima noch den ganzen Herbst in Peru, um gemeinsam mit Rebecca das Gebiet der Nasca-Linien zu durchwandern. Rebecca war eine große, aufrechte Erscheinung, hatte eine leicht getönte Hautfarbe und eine schmale, gebogene Nase. Ihr scharf geschnittenes Profil erinnerte an Steinreliefs der Inka. Niklas verliebte sich sofort in sie. Beide setzten sich das Ziel, das Geheimnis der Entstehung der kilometerlangen Scharrbilder in der steinigen Ebene Perus zu lösen. Diese sogenannten Geoglyphen nahe der Stadt Nasca sind eine rätselhafte Hinterlassenschaft der untergegangenen Nasca- und der Paracas-Kulturen. Über 1.500 Scharrbilder sind bekannt. Es gibt sowohl bis 20 Kilometer lange schnurgerade Linien als auch riesige dreieckige und trapezförmige Wege. Die Figurenbilder von Affen, Walen, Menschen und Vögeln haben teilweise einen Durchmesser von tausend Metern. Erst durch die Drohnenvermessung wurde ein Großteil der Bilder genau dokumentiert. Sie entstanden etwa 600 bis 800 vor Christus, und es war bislang ungeklärt, wie Frühmenschen so riesengroße Bodenzeichnungen anlegen konnten. Eine 20 Kilometer lange, absolut gerade Linie über unebenes Gelände wäre heute nur mit elektronischen Messgeräten zu erstellen. Um dieses Phänomen zu entschlüsseln, setzten sich Niklas und Rebecca das Ziel, die Entwicklung des menschlichen Gehirns vom frühen Homo sapiens bis heute zeitlich zu kartieren. Wann entstand Sprache, wann entwickelte sich der Orientierungssinn, wann die Schrift, und wie war die Abfolge dieser Fähigkeiten auf der Erde verteilt?

Als die beiden Naturwissenschaftler nach Europa reisten, kamen sie zu uns nach Potsdam, denn sie suchten unseren Rat. Beide hatte den Wunsch, im Zuge eines Human Memory Transfer ihr Wissen zu kombinieren. Sie waren der Überzeugung, dass ihre Forschungen nur so zum Erfolg geführt werden konnten. Bei dieser Überlegung waren die Erfahrungen, die ich und mein Vater gemacht hatten, entscheidend. Sie entschlossen sich schließlich für einen Transfer, die Ethikkommission gab ihr Plazet und das ICNP führte den Transfer durch, diesmal eine gegenseitige Gedächtnisübertragung. Mit vereinten Kenntnissen gingen die beiden nun ans Werk.

Sie zogen für ein Jahr nach Lausanne, um im Human Brain Center mithilfe des digitalen Nachbaus des menschlichen Gehirns die Evolution seit der Zeit des Urmenschen, also über die letzten drei Millionen Jahre hinweg, zu rekonstruieren. Archäologische Funde halfen bei der zeitlichen Einordnung. Bei dieser sogenannten Re-Cultivation des humanen Gehirns zeigte sich, dass in seiner evolutionsgeschichtlichen Entwicklung der Orientierungssinn durch das Aufkommen der Sprache nachgelassen hatte. Beides hätte dem Körper zu viel Energie abverlangt. Der Kommentar meines Vaters: »Dann konnten sie ja auch nach dem Weg fragen.«

Der Orientierungssinn war für Niklas und Rebecca der Schlüssel zu Lösung des Nasca-Geheimnisses. Dieser Sinn für die räumliche Orientierung ist eine Gabe über welche die meisten Tiere noch heute verfügen, um etwa zu ihrem Bau zurückzufinden, Wasserstellen wiederzufinden oder den Lagern von Feinden ausweichen zu können. Bei Zugvögeln ist dieser Sinn besonders ausgebildet und ist, wie bei allen Tieren, lebensnotwendig. Beim Orientierungssinn reagieren spezielle Ortszellen im Gehirn zusammen mit den Kopfrichtungszellen. Mit Hilfe des Magnetfeldes der Erde wird im Gehirn eine kognitive Landkarte angelegt, die sich im Laufe des Lebens erweitert und sowohl ein Langzeit- wie ein Kurzzeitgedächtnis hat. Bei Zugvögeln werden Wege genetisch verankert, also vererbt. Lange Zeit war auch der Mensch auf diese Gabe angewiesen um sich im früher weglosen Gelände und Urwald zurechtzufinden und nach tagelanger Jagd zu seiner Sippe zurückzufinden. Im Laufe der Evolution verblasste der Orjentierungssinn beim Menschen und ist heute durch Navy-Nutzung fast ganz verloren gegangen. In einzelnen Regionen der Erde, so in peruanischen und australischen Wüstengebieten hielt sich der Orientierungssinn länger, wie etwa in der Nasca-Kultur bis einige Jahrhunderte vor Chr. Er galt lange als göttliche Gabe und wurde in der Priesterklasse gepflegt und durch Anlegen von kilometerlangen Prozessionswegen aufrechterhalten. Hier konnte etwa ein Priester im Umkehrverfahren sich eine Zeichnung als kognitive Wegekarte einprägen und sie dann in tausendfacher Vergrösserung im freien Gelände abschreiten. So entstanden die Scharrbilder von unzähligen Tieren, etwa eines Affen in einer kilometerlangen Größe. Priester mit archaischem Orientierungssinn, legten gehend die Linien an und Helfer scharrten, ihnen folgend, einen breiten, etwa 40 cm tiefen Prozessionsweg. So entstanden riesenhafte bildliche Darstellungen, geometrische Figuren oder Geflechte von kilometerlangen schnurgeraden Wegen auch über unebenes Wüsten- oder Geröll-Gelände.

Niklas und Rebecca untersuchten nach den etwa 1.500 Scharrbildern in Peru noch Scharrbilder in Ohio in Nordamerika und den Marree Man in Australien mit einer Größe von 4,2 Kilometern. Sie hatten das Rätsel um die Entstehung der riesenhaften Zeichnungen auf der Erdoberfläche gelöst. Bei ihren Forschungsreisen trafen sie vereinzelt auf Bewohner abgelegener Gebiete, die noch heute über dieses archaische Orientierungsvermögen verfügen.

Die Entschlüsselung und der zeitliche Ablauf der Gehirnentwicklung während der gesamten Evolution des Menschen war Niklas und Rebecca gelungen. Es wurde ihre Lebensaufgabe immer tiefer in dieser Materie zu forschen. In einer Weltkartierung konnten sie die unterschiedlichen Zeiten für die Entstehung von Sprache nachweisen, den Beginn der Agrikultur, der künstlerischen Tätigkeit und den Beginn der Schrift. Ihre fachlichen Veröffentlichungen und Vorträge beeinflusste die Archäologie, die Soziologie und insgesamt das Verständnis der Menschheitsentwicklung.

Ein Zwischenfall

In den folgenden Jahren wurden zur klinischen Durchführung des Human Memory Transfer in Europa mehrere Institute eingerichtet. Nach Potsdam folgten London, Lüttich, Amsterdam und Madrid. In den ersten vier Jahren, also bis 2036, wurden 76 Gedächtnisübertragungen durchgeführt.

Bei den Anträgen auf Memory Transfers beim europäischen Ethikrat waren die Kombinationen vielfältig und vielversprechend, etwa Mathematiker-Botaniker, Chemiker-Musiker, Softwareentwickler-Weltumsegler, Architekt-Chirurg, Dichter-Orientalist, Soziologe-Psychologe. Auch Verbindungen wie Astronom-Archäologe oder Philosoph-Clown ließen außergewöhnliche Leistungen erwarten.

Zu dieser Zeit kannten sich alle Memory-Transfer-Paare noch persönlich. Durch die gemeinsamen Erfahrungen und die Wissenserweiterung schätzten wir einander, blieben per Videokontakt im Gespräch und trafen uns regelmäßig. Doch eine MT-Person fehlte. Bei einem 38-jährigen Arzt aus Belgien war es zu einer Panne gekommen. Ihm war das Gedächtnis seines 63-jährigen Onkels, eines Professors für höhere Mathematik, übertragen worden. Nach der Übertragung zeigten sich beim Empfänger mentale Störungen, epileptische Anfälle, Anzeichen von Verwirrtheit und Apathie. Es wurde eine Überlastung der Synapsenkapazität diagnostiziert. Nach einem halben Jahr Behandlung waren die oben genannten Probleme verschwunden, doch der Mann hatte sein eigenes Gedächtnis verloren. Er besaß nur noch das Wissen und Können des Spenders, seines Onkels. Natürlich war das ein Schock für alle Beteiligten, nicht zuletzt für die Familie des Mannes. Er war ein anderer Mensch geworden. Es dauerte einige Jahre, bis er sich zurechtgefunden hatte, doch in seinem neuen Metier war er bald ebenso geachtet und erfolgreich wie sein Onkel.

So negativ diese Erfahrung war, zeigte sie den Forschern doch, dass das eigene und das implantierte Gedächtnis im Gehirn des Empfängers getrennt abgespeichert wurden. Auch wenn es sich im Laufe des Lebens dann teilweise sublimiert, ist diese Tatsache für die Transfer-Forschung von großer Bedeutung.

Das Phänomen der Bewusstseinserweiterung

Im Jahr 2042, also zehn Jahre nach der Implantation des Gedächtnisses meines Vaters in mein Gehirn, hatte sich das Human-Memory-Transfer-Verfahren verfeinert und die psychischen Folgen waren sehr gut einschätzbar. Man hatte erkannt, dass diese Erweiterung des menschlichen Bewusstseins geistige Fähigkeiten hervorbrachte, die jene eines normalen Lebensalters bei weitem überstiegen. Es waren in Europa inzwischen jährlich etwa 60 Gedächtnisübertragungen durchgeführt worden, zum Großteil in Deutschland, Frankreich und Spanien. Der Anteil der Frauen lag bei 35 Prozent. Etwa die Hälfte aller Übertragungen erfolgte wechselseitig, beide waren also sowohl Spender als auch Empfänger.

Schon nach etwa drei Jahren trat bei den HMT-Personen oder Paaren ein unerwartetes Phänomen auf, das medizinisch nicht nachzuvollziehen war und nur im Bereich der Tiefenpsychologie und Psychedelik annähernde Erklärungen fand. Man bezeichnete es als ein transzendentales Bewusstsein, das außerhalb jeder subjektiven Erfahrung lag. Da ich selbst von dieser positiven Wesensveränderung betroffen war, will ich meine eigenen Erfahrungen und meine eigene Deutung der Bewusstseinserweiterung zu erklären versuchen.

Mein Vater war bei meiner Geburt 28 Jahre alt. Mein zusätzliches Gedächtnis, meine Lebenserfahrung reichte also bis fast drei Jahrzehnte vor meine Geburt zurück. Mein Leben hat sich – so empfinde ich es – um diese Zeit verlängert. Ich war zum Zeitpunkt der HTM 28 Jahre und hatte die Lebenserfahrung eines fast 60-Jährigen. Mir ist das absolut bewusst, es prägt meine Gedanken, mein Bewusstsein, meine Eloquenz und auch meine Psyche. Ich habe diese Verlängerung meines Daseins bewusst wahrgenommen und mit dieser existenziellen Bereicherung mein Leben gestaltet.

Meine Empfindung war, dass die Ergänzung und Erweiterung meines Gedächtnisses in die Vergangenheit einen Schub in die Zukunft ausgelöst hatte, um sozusagen ein Gleichgewicht herzustellen. Nicht nur ich, alle HMT-Personen stellten diesen Energieschub fest. Ihre Kreativität, die Entschlussfreudigkeit, die Lernbegierde und die Inspiration blühten merklich auf. Ihr Denken wurde komplexer, vielseitiger und intensiver.

Dass sich mein Vater durch den Transfer geistig und körperlich verjüngte und auch an Tatkraft und Kreativität gewann, schien sich darauf zurückführen zu lassen, dass er durch mich eine gewisse Unsterblichkeit erwarten konnte. Er würde sie zwar nicht erleben, aber ein Teil von ihm würde auch nach seinem Tod weiterexistieren.

Alle HMT-Personen empfanden eine starke Verantwortung, sahen die Zukunft deutlich vor sich und hatten ein Bedürfnis, sie positiv zu beeinflussen. Zudem entwickelten sie eine Ausstrahlung, die andere leicht in ihren Bann ziehen konnte.

Ein neuer Lebensabschnitt in Potsdam

Im Herbst 2033 verließen mein Vater und ich also die Wohnungen im Wissenschaftspark und kauften ein ehemaliges Gutshaus mit Nebengebäuden am Rande von Potsdam, direkt am Templiner See. Das Wohnhaus war eigentlich zu groß für uns, aber wir hofften, nicht immer alleine zu bleiben. Hier begann für uns ein neuer Lebensabschnitt. Nachdem uns die Ereignisse so eng aneinandergebunden hatten, wollten wir hier eine gemeinsame Existenz aufbauen und unser Wissen für Zukunftsprojekte nutzen. Ich hatte nun zusätzlich zu meinen Kenntnissen der Informatik und der Quantenphysik das gesamte Wissen und die Erfahrung des Neurophysiologen. Es war eine Kombination, die die Zukunft brauchte für die Weiterentwicklung der Mensch-Maschine-Interaktion und damit der selbstlernenden, künstlichen Intelligenz. Ich spürte, wie dieses neu erworbene Wissen sich mit meinem eigenen verwoben hatte. Ähnlich war es mit den Fremdsprachen. Die arabische Muttersprache meines Vaters drang Stück für Stück in mein Bewusstsein, und mit jedem gehörten oder gesprochenen Satz wurde sie zu meiner eigenen Sprache. Damit entstand auch eine neue Verbundenheit mit dem mir bis dahin fremden Land Syrien. Ich übernahm die Sehnsucht meines Vaters nach der alten Heimat und beobachtete interessiert, ob mein Charakter eine Wandlung vollzog. Es schien aber, dass mein Wesen ebenso wie mein Aussehen nicht veränderbar waren. Was ich empfand, war eine Tiefe und Ernsthaftigkeit meiner Gedanken, so etwas wie Weisheit prägte mich. Andererseits war ich oft der zum Lachen aufgelegte und Albernheiten liebende junge Mann geblieben.

Ich war immer noch angewiesen auf die Überwachung und Beratung durch das ICNP im nahen Wissenschaftspark. Dort suchte ich öfter das Gespräch mit der mich seit Beginn betreuenden Psychotherapeutin. Sie lehrte mich, durch Meditation aus einer Überlastung meines Gehirns zu finden. Die gemeinsamen Spaziergänge durch den nahen Wald wurden uns beiden zu einem Bedürfnis, das die gegenseitige Zuneigung nährte. Sie hieß Hanna und bereicherte meine Gedankenwelt. Ich beobachtete, welchen Einfluss Liebe auf mein neues Bewusstsein ausübte, wie sie das Wesen eines Menschen beeinflusst, wie sich dadurch neue Interessen auftun, welche Energie wachgerufen wird. Hanna war klug, frech, und mir schien manchmal, dass sie mich mehr veränderte als das Gedächtnis meines Vaters. Wir waren glücklich, doch sie kannte meine Belastbarkeit und hatte Geduld.

Wenn uns Freunde meines Vaters besuchten, erkannte ich diese auch als meine Freunde, wusste vieles aus ihrer Vergangenheit und erinnerte mich an gemeinsame Erlebnisse und Konflikte. Aber auch mein Vater, der all diese Probleme nicht hatte, war mir mit seiner Ruhe und seinem Verständnis eine unerlässliche Stütze und trug viel dazu bei, dass sich mein Denkmechanismus stabilisierte und ich anfangen konnte, Zukunftspläne zu schmieden und Ideen, die nach Verwirklichung drängten, anzugehen.

Die Janus-Denkfabrik

In den folgenden Jahren befassten Vater und ich uns mit der Vorstellung, die enorme Innovationskraft, die in den Memory-Transfer-Personen steckte, zusammenzuführen und in einen Dialog zu bringen. Uns schien es notwendig, diese geballte geistige Kraft zu steuern, Weichen zu stellen und auf Ziele hinzuführen. Die inzwischen große Anzahl von Personen, die den Human Memory Transfer durchlaufen hatten, verfügten über ein enormes Wissenspotenzial und einen unermesslichen Erfahrungsschatz. Zudem herrschten in dieser Gruppe ein Zusammenhalt und der Wille, sich für ein Ziel einzusetzen. Alle Energie mündete einzig und allein in den Erhalt und der Verbesserung der Lebensbedingungen auf unserem Planeten.

Mein Vater und ich machten etwas Naheliegendes: Wir gründeten eine Denkfabrik, einen Thinktank. Die Zentrale richteten wir in unserem Potsdamer Gutshaus ein. Dazu bauten wir die ehemaligen Stallungen mit Remise zu komfortablen Büroräumen um, groß genug für 120 Arbeitsplätze. Die Denkfabrik bekam den Namen »Janus-Denkfabrik Potsdam«, kurz JDP. Wir waren vernetzt mit mehreren europäischen Universitäten, Forschungszentren und mit einem Großteil der Memory Transfer People, die wir in einzelne Gruppen nach Fachgebieten aufteilten. Unser KI-Rechner war vernetzt mit dem Megacomputer des Human Brain Center Lausanne, diesem digitalen Riesengehirn, dessen Kapazität nur einen Bruchteil für all unsere Problemlösungen zur Verfügung stellen musste.

Durch diese Vernetzung konnte ich auch Wesentliches zur Software des ABC, des Artificial Brain Computers beitragen, so etwa seine Fähigkeit der Wiedererkennung – einer der in der Evolution und beim Kleinkind frühesten Fähigkeiten. Eine faszinierende, lebensnotwendige Gabe: das Wiedererkennen. Man erkennt nicht nur ein Gesicht wieder, auch eine Schrift, Musik, Geruch und vieles mehr. Bei dieser Arbeit, die Wiedererkennung in den Artificial Brain Computer einzuprogrammieren, kam mir mein Kombinationswissen aus Quantenphysik und Neurophysiologie zugute oder machte sie erst möglich.

In unserer Denkfabrik beschäftigten wir anfangs 48 hoch qualifizierte Informatiker mit Zusatzkenntnissen in Biotechnologie, Sozialwissenschaft, Politologie und Softwaretechnik. Wir beschränkten uns auf Zukunftstechnologien in Verbindung mit Klimawandel und die daraus resultierenden sozialen Folgen. Schon nach einem Jahr waren wir eine von der EU und den Staatsregierungen anerkannte Ideenschmiede und begehrter Ratgeber.

Angetrieben wurden wir von dem Bewusstsein, dass ohne gewaltige Anstrengung aller Bevölkerungsschichten unser Erdball die Lebensgrundlage für alle Lebewesen einschließlich den Menschen verlieren würde. Es war uns bewusst, dass diese Anstrengung zu steuern war und dass neue Ideen entwickelt und umgesetzt werden mussten. Von den Memory Transfer People erwarteten wir maßgebliche Beiträge zur Bewältigung der anstehenden Fragen.

Ein Fall für die Denkfabrik

Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung bestand seit 1992 und untersuchte mit seinen 450 Mitarbeitern die ökologischen, ökonomischen und sozialen Folgen des Klimawandels. Auf der Dringlichkeitsskala stand an erster Stelle: ein Stopp der Flächenversiegelung. Das heißt: Minderung der bebauten Flächen und Mehrung der Vegetationsflächen. Eine Maßnahme und auch Voraussetzung für diesen Strukturwandel war es, das gesamte öffentliche Verkehrsnetz, vorerst in Europa, unter die Erdoberfläche zu verlegen. Die dadurch frei werdenden Flächen und deren Rekultivierung wären eine Notwendigkeit für die Umwelt und Voraussetzung für weitere dem Klima dienenden Maßnahmen. Zudem war der oberirdische Schienenverkehr seit 2030 zunehmend störanfällig; innerstädtisch durch Sabotagen, die teilweise nur auf Frust, Übermut oder Langeweile zurückzuführen waren, im Fernverkehr waren zusätzlich die immer heftiger werdenden Orkane und Überschwemmungen Grund für Verspätungen, Streckensperrungen und Reparaturkosten.

Für ein Untertage-Transportsystem für Personen und Waren stand die Technik bereits seit 2020 zur Verfügung, nämlich in Form der Hyperloop-Hochgeschwindigkeitsbahn von Elon Musk, einer Bahn, die sich mit Magnettechnik in einer vakuumisierten Röhre fortbewegt. Was zur Realisierung eines unterirdischen, europäischen Streckennetzes noch fehlte, war die Technik für den Bau von Tunnels unter der Erdoberfläche in Röhrenform.

Unsere Denkfabrik bündelte Ideen und lud Fachleute und Firmen zu Gesprächen ein.

Wir konsultierten einen der seinerzeit leitenden Ingenieure für die Planung des Gotthard-Tunnels, den Schweizer Peter Vux. Diesem war unser Problem geläufig, aber auch die Tatsache, dass mit der im St.-Gotthard-Tunnel verwendeten Frästechnik das europäische unterirdische Streckennetz eine Bauzeit von 150 Jahren benötigen würde. Immerhin hatte er eine Idee, für die aber Hitze und Druck notwendig waren, die bisher nur die Kernspaltung zuwege brachte, und diese war wegen der radioaktiven Strahlung hier nicht anwendbar.

Unser Rechner recherchierte und wurde in Argentinien fündig. Präsident Juan Perón hatte 1948 den österreichischen Physiker Dr. Roland Richter nach Argentinien geholt. Schon nach zwei Jahren startete dieser Versuche, mithilfe von Lithium und schwerem Wasser eine Kernspaltungsreaktion zu initiieren, die nicht thermonuklearen Ursprungs war, sondern einem hybriden Prozess entsprach, der Kernenergie ohne Radioaktivität erzeugte und somit kein Problem mit radioaktivem Abfall und tödlicher Strahlung hatte. Mit dem Bau eines Reaktors auf der Insel Huemul wurde damals zwar begonnen, doch mit dem Sturz Juan Peróns 1955 und seiner Verbannung ins Exil wurde die Arbeit beendet und nie mehr fortgesetzt. Alle schriftlichen Unterlagen in Argentinien waren vernichtet, es fand sich jedoch die engste Mitarbeiterin Dr. Richters, eine Argentinierin, die die gesamte Forschungsarbeit mitgetragen, gehütet und im Geheimen weitergetrieben hatte. Ihren Namen wollte sie in diesem Zusammenhang nicht öffentlich machen. Wir brachten einen Memory Transfer ins Gespräch, bei dem die Argentinierin, wir nannten sie Eva, als Spenderin und Peter Vux als Empfänger dienen sollte. Eine Wissenskombination von Tiefbau und Atomwissenschaft. Beide stimmten zu, der Ethikrat gab sein Okay. Während die beiden sich der Prozedur unterzogen, sorgten wir für die räumlichen und personellen Arbeitsbedingungen für die beiden.

Das Max-Planck-Institut brachte noch ein verwandtes Verfahren mit ins Spiel. Dr. Paul J. Hahn hatte schon 2003 mit der Reaktion von Lithium-6 mit Protonen und Neutronen experimentiert und nannte das Ergebnis »Kugelblitz mit Kernfusion«. Die Kombination beider Verfahren war dann einige Jahre später die Grundlage für die VTVT (Vux-Tunnel-Vortriebstechnik), um Untertageröhren für den Nah- und Fernverkehr herzustellen.

Der bei dem VTVT-Verfahren erzeugte Kugelblitz ließ sich unter Tage über ein künstliches Magnetfeld in seiner Rotation spiralförmig in Tunnelrichtung steuern. Im vorgesehenen Tunneldurchmesser von 330 Zentimetern verflüssigten sich Stein, Kies und Sand durch die gewaltige Hitze. Der durch die Rotation erzeugte Druck drängte das verflüssigte Gestein nach außen und verdichtete es mit einem unvorstellbaren Druck. Durch Zugabe von Silizium verglaste die Oberfläche der entstandenen Tunnelröhre. Die Vortriebsmaschine selbst arbeitete autonom. Eine Strecke wie München–Berlin, 600 Kilometer, beanspruchte eine Bauzeit von einem Monat. Nach Abkühlung und Verfestigung der Tunnelröhre wurden technische Einbauten und die Magnetschienen verlegt, im gleichen Tempo wie der Tunnelvortrieb.

Die Janus-Denkfabrik initiierte weitere Forschungen mit dem Erfolg, dass der strahlungsfreie Kernspaltungsreaktor zur Energieversorgung eingesetzt werden konnte.

KIKOR, die KI-Kommunal-Reform Berlin

Im Jahr 2036 waren die städtischen Behörden in Berlin nur noch eingeschränkt handlungsfähig. Es fehlte ein Drittel des notwendigen Personals, ein weiteres Drittel war für die anstehenden Aufgaben ungenügend ausgebildet und zudem eingeschränkt arbeitswillig.

Als wir dieses Problem und den Hilferuf der Stadtverwaltung Berlins unter den Memory-Transfer-Personen publik machten, erreichten uns besonders viele Vorschläge und Angebote zur Mitarbeit. Dieses Echo bestärkte uns, der Stadtverwaltung von Berlin die Hilfe der Janus-Denkfabrik zuzusagen.

Wir weckten Interesse bei Herrn Professor Detlev Hepp, dem Leiter von DCMIR, Dahlem Center for Machine Learning and Robotics, und knüpften die Verbindung zur Berliner Bürgermeisterin, Frau Dr. Eleonore Taer, genannt Eli Taer. Es war eine gelungene Verbindung, denn Detlev Hepp und Eli Taer heirateten. Ein Memory-Transfer erübrigte sich auf diese Weise.

Die Digitalisierung der Kommunalverwaltung Berlins nahm vier Jahre in Anspruch, war aber ein voller Erfolg, sie war aber dann 2038 bekannt unter dem Namen KI-Kommunal-Reform Berlin, KIKOR.

Berlin hatte zu Beginn des digitalen Umbaues noch zwölf Bezirksämter mit je einem eigenen Rathaus und einem Bezirksbürgermeister zusätzlich zum Oberbürgermeister im Roten Rathaus. Jede Partei stellte in jedem der Bezirke je einen Stadtrat. Die Verwaltungsaufgaben waren in acht Ressorts von Finanz bis Wirtschaft und Verkehr aufgeteilt.

Jedes Ressort hatte bis zu 10 Unterabteilungen, insgesamt waren es 55 Behörden, wie etwa Feuerwehr, Forstamt, Führerschein und viele weitere. Sie hatten ihre Zentralen im Roten Rathaus, doch die meisten Behörden unterhielten zusätzlich eigenständig Abteilungen in jedem der zwölf Berliner Bezirke.

Insgesamt beschäftigte das Bundesland Berlin mit seinen zwölf Bezirksämtern 250.000 Vollzeit-Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, vom Oberverwaltungsrat bis zur Sekretärin und dem Aktenboten. Mehr als die Hälfte waren verbeamtet. Diese Art der Amtsführung herrschte in jeder europäischen Groß- und Kleinstadt. Sogenannte Verwaltungsreformen hatte es immer wieder gegeben, ebenso wie die Digitalisierung einzelner Bereiche, aber Berlin war die erste europäische Stadt, deren traditionelle Verwaltung zusammengebrochen war. Eine Notstandsmaßnahme folgte der anderen, bis endlich eine radikale Neuausrichtung beschlossen wurde.

DCMIR (Dahlem Center for Machine Learning and Robotics), mit seinen 1500 Mitarbeitern, installierte den Zentralcomputer im Roten Rathaus, einem markanten, mächtigen Bau mit Blick auf Fernsehturm und Humboldt Forum. Mit seiner Kühleinrichtung besetzte der ZC nur einen Teil des obersten Geschosses, die restliche Fläche des riesigen Gebäudes war groß genug um die etwa dreitausend Arbeitsplätze für die Steuerung und Kontrolle der riesigen Datenmengen zu übernehmen.

Es war der erste Quantencomputer im Kommunalbereich einer Großstadt, ausgestattet mit ADLI, mit Artificial Deep Learning Intelligence. Ein weltweit beachtetes Pilotprojekt.