James Rollins

Sub Terra

Roman

Deutsch von Rudolf Krahm

Die Originalausgabe erschien 1999 unter dem Titel
»Subterranean« bei William Morrow, New York.

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Copyright © der Originalausgabe 1999 by Jim Czajkowski
Published in agreement with the author, c/o Baror International, Inc.,
Armonk, New York, USA.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by Blanvalet Verlag,
einem Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Copyright © der deutschen Übersetzung
by Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
2002 erschienen im Ullstein Taschenbuch Verlag innerhalb
der Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München.
Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign,
unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com
Redaktion: Verlagsbüro Oliver Neumann
wr · Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-07432-6
V002

www.blanvalet.de

Buch

Eine fünf Millionen Jahre alte Statue aus makellosem Diamant – nicht nur der Wert dieses Objekts ist eine Sensation, sondern auch ihr Fundort: eine weit verzweigte Höhlenlandschaft mehrere Kilometer unter dem Eis der Antarktis.

Ein Team von Spezialisten aus der ganzen Welt wird mit dem geheimen Forschungsprojekt beauftragt. Für die toughe Archäologin und Anthropologin Ashley Carter, Leiterin der Expedition, lauten die entscheidenden Fragen: Woher stammt die Figur? Und liegen hier – und nicht in Afrika – womöglich die Wurzeln der menschlichen Zivilisation?

Doch ihren Auftraggebern geht es anscheinend nicht um wissenschaftliche Erkenntnisse, und was Ashley und ihr Vertrauter, der australische Höhlenexperte Ben, nicht wissen: Ihr Team ist nicht das erste, das in diese faszinierende Welt vordringt. Die Forscher, auf deren Spuren sie sich bewegen, kehrten nie zurück …

Autor

James Rollins wurde 1968 in Chicago geboren. Er ist promovierter Veterinärmediziner und betreibt eine Tierarztpraxis in Sacramento, Kalifornien. Dort geht der Bestsellerautor, der mit seinen actionreichen Romanen immer wieder zahllose Leser begeistert, neben dem Schreiben auch seinen beiden anderen Leidenschaften nach: Höhlenforschung und Tauchen.

Von James Rollins außerdem lieferbar

Feuermönche (36738) · Der Genesis-Plan (36795) · Sandsturm (37292) · Der Judas-Code (37316) · Das Flammenzeichen (0345, geb. Ausgabe) · Das Messias-Gen (37217)

Für John Clemens

Dies ist ein Roman. Seine Namen, Charaktere, Schauplätze und Ereignisse sind entweder Produkte der Fantasie des Autors oder werden auf fiktionale Weise verwendet. Jegliche Ähnlichkeiten mit aktuellen Begebenheiten, Orten, Organisationen oder lebenden oder toten Personen wären rein zufällig und weder vom Autor noch vom Verlag beabsichtigt.

Es sind einfach zu viele Menschen, denen ich für die Entstehung dieser Geschichte danken müsste. Dank an Pesha Rubinstein, meine literarische Agentin, die in der Rohfassung des Manuskriptes etwas glitzern sah; an Lyssa Keusch, meine Lektorin, die meine Geschichte mit Akribie in die vorliegende Form brachte; an meine Autorengruppe, die die Geschichte mit viel Mühe zerpflückte und sie dadurch besser machte (Chris Crowe, Dennis Grayson, Dave Meek, Jeffrey Moss, Jane O’Riva, Stephen and Judy Prey, Caroline Williams). Besonderer Dank an Carolyn McCray für ihre Unterstützung, Kritik, Liebe und Freundschaft.

Und zuletzt an die beiden Menschen, denen ich alles verdanke: meine Eltern!

Großer Gott! Dies ist ein schrecklicher Ort.

Kaum leserlicher Eintrag im Tagebuch des
gescheiterten Südpolfahrers Robert F. Scott

PROLOG

Mount Erebus, Antarktis

SO WEIT DAS Auge reichte, bedeckte blau schimmerndes Eis den Kontinent. Peitschende Stürme hatten Gestein, Sand und Geröll über die gefrorene Landschaft gefegt und ihr den Glanz von satiniertem Glas gegeben. Es gab kein Leben auf der Oberfläche, bis auf die schmutzigen Flecken gelber Flechten, die weit älter waren als die Besatzung der McMurdo Base.

Drei Kilometer unter dem Mount Erebus, unter Gletschereis, Dauerfrost und Granit, wischte sich Private Peter Wombley den Schweiß von den Augen. Er träumte von dem Kühlschrank in der Schlafbaracke und dem Kasten Coors darin. »Was für ein Wahnsinn. Oben tobt ein verdammter Blizzard, und hier unten ist es heißer als im Hintern eines Pavians.«

»Wenn Sie endlich aufhören würden, darüber nachzudenken, wäre es halb so schlimm«, erwiderte Lieutenant Brian Flattery. Er löste die Blendlaterne vom Transportmotorrad. »Gehen wir. Vor dem Ende der Schicht müssen noch drei Relais geeicht werden.«

Wombley schnappte sich seine Laterne, schaltete sie an und folgte ihm. Wie eine Klinge schnitt das Licht durch die Dunkelheit.

»He, passen Sie auf, wohin Sie treten«, sagte Flattery und richtete den Lichtstrahl der Laterne auf eine Spalte im Höhlenboden.

Wombley huschte mit einem misstrauischen Blick an der schwarzen Spalte vorbei. Seit seinem Eintreffen vor drei Monaten hatte er vor dem verwirrenden Höhlensystem einen gehörigen Respekt bekommen. Er beugte sich über den Rand und leuchtete in die Spalte. Sie schien geradewegs zum Mittelpunkt der Erde zu führen. Fröstelnd überlegte er, ob es ein Tor zur Hölle gab. »Warten Sie!«

»Ich mache mich jetzt auf den Weg zur Relaisstation«, sagte Flattery und zog den Transportschlitten am Tunneleingang in Position. »Sie können fünf Minuten Pause machen, bis ich zurückkomme.«

Wombley seufzte heimlich vor Erleichterung. Er hasste die »Wurmlöcher«. Diesen Spitznamen hatte die Truppe den gewundenen Höhlengängen verpasst, die einen so kleinen Durchmesser hatten, dass ein Mensch gerade eben hindurchpasste. Nur mit dem Motorschlitten konnte man sich durch die Wurmlöcher von Höhle zu Höhle bewegen.

Wie beim Rodeln legte sich Flattery bäuchlings auf den Motorschlitten, mit dem Kopf in Richtung Tunnelöffnung. Er gab Gas, und das Dröhnen des Motors hallte mit doppelter bis dreifacher Dezibelzahl von den Wänden wider. Flattery hob den Daumen und ließ die Kupplung kommen. Der Schlitten schoss in den schmalen Tunnel.

Wombley war in die Hocke gegangen, um Flattery hinterherzuschauen. Die Lichter verblassten, als der Schlitten in der Ferne um eine Kurve röhrte. Nach wenigen Augenblicken verklang sogar der Lärm. Wombley war allein in der Höhle.

Im Licht seiner Laterne schaute er nach der Uhrzeit. Flattery würde in etwa fünf Minuten zurück sein. Er grinste. Wenn Flattery allerdings das Funkrelais auseinanderbauen und Teile ersetzen musste, dauerte es vielleicht auch zwanzig Minuten. Das sollte mehr als genug Zeit sein.

Er zog einen schmalen Joint aus der Brusttasche. Dann schwenkte er die Laterne im Kreis, um die Umgebung auszuleuchten. Schließlich lehnte er sich an die Höhlenwand, fischte ein Streichholz aus der Tasche und zündete es an. Er nahm einen tiefen Zug. Ah! Er legte den Kopf zurück an die Wand und inhalierte den Rauch genüsslich.

Plötzlich hallte ein schabendes Geräusch durch die Höhle.

»Scheiße!« Wombley verschluckte sich am Rauch und griff zur Laterne. Er ging in die Mitte des Raumes und schwenkte die Lampe vor und zurück. Niemand. Nur eine leere Höhle. Er lauschte angestrengt, hörte jedoch nichts mehr. Die Schatten tanzten im Lampenlicht unermüdlich auf und ab.

Ganz plötzlich kam es ihm noch viel kälter und viel dunkler vor.

Er schaute auf die Uhr. Vier Minuten waren um. Flattery musste auf dem Rückweg sein. Wombley trat den Joint aus und wartete. Er würde vergeblich warten.

Brian Flattery schloss die seitliche Abdeckung des Funkrelais. Die Einheit war vollkommen in Ordnung. Zwei weitere Relais mussten noch überprüft werden. Zwar hätten seine Support-Mitarbeiter die Testroutinen durchführen können, doch die Relais waren seine Babys. Die kleine atmosphärische Störung empfand er als persönlichen Angriff auf seine fachliche Kompetenz. Ein wenig Feinjustierung, und alles wäre perfekt.

Er ging zum Schlitten hinüber, der im Leerlauf war, schlüpfte in Position und legte den Gang ein. Bevor er in den Tunnel hineinfuhr, duckte er sich. Als ob man von einer Schlange verschluckt würde, dachte Flattery. Die glatten Wände huschten an seinem Kopf vorbei, der Scheinwerfer zeigte ihm den Weg. Nach einer Minute glitt der Schlitten aus dem Tunnel in die Höhle, in der er Wombley zurückgelassen hatte.

Flattery stellte den Motor ab und blickte sich um. Die Höhle war leer, doch bemerkte er einen vertrauten Geruch. Marihuana. »Verflucht!«, schnaubte er. Er hievte sich vom Schlitten und brüllte: »Private Wombley! Bewegen Sie Ihren Arsch hierher, aber ein bisschen plötzlich!«

Das Echo seiner Worte hallte von den Wänden wider. Wombley antwortete nicht. Mit seiner Laterne suchte Flattery die Höhle ab, fand jedoch nichts. Die beiden Motorräder, mit denen sie hergekommen waren, standen noch am selben Platz an der gegenüberliegenden Wand. Wo war der Scheißkerl?

Er ging auf die Motorräder zu. Mit seinem linken Stiefel rutschte er auf einer nassen Stelle aus; er ruderte wild mit den Armen, um sich an der Wand festzuhalten – und griff daneben. Mit einem heiseren Schrei knallte er heftig auf sein Hinterteil. Die Blendlaterne schlitterte über den Boden und blieb schließlich mit auf ihn gerichtetem Strahl liegen. Warme Feuchtigkeit drang durch seine Khakihose. Er knirschte mit den Zähnen und fluchte.

Wieder auf den Beinen wischte sich Flattery über den Hosenboden und schnitt eine Fratze. Ein gewisser Private würde in Kürze Flatterys Stiefel einen Meter tief in den Arsch bekommen. Als Flattery das Hemd in die Hose steckte, sah er, was da von seinen Händen tropfte. Er rang nach Luft und machte einen Satz rückwärts, als ob er vor den eigenen Händen fliehen könnte.

Warmes Blut bedeckte seine Handflächen.

Erstes Buch

TEAMWORK

1

Chaco Canyon, New Mexico

VERFLUCHTE KLAPPERSCHLANGEN.

Ashley Carter trat den Lehm von den Stiefeln, bevor sie in ihren rostigen Chevy-Pick-up stieg. Sie warf den staubigen Cowboyhut auf den Beifahrersitz und wischte sich mit dem Taschentuch über die Stirn. Über den Steuerknüppel gebeugt, klappte sie das Handschuhfach auf und holte das Erste-Hilfe-Set für Schlangenbisse heraus.

Mit einem Knöchel schaltete sie das Funkgerät ein. Statisches Rauschen kam aus dem tragbaren Empfänger. Summend pellte sie die Spritze aus der Verpackung und zog die übliche Menge Gegengift auf. Mittlerweile konnte sie es schon nach Augenmaß dosieren. Sie schüttelte die Flasche. Fast leer. Es wurde Zeit, dass sie sich in Albuquerque Nachschub besorgte.

Nachdem sie mit einem Alkoholtupfer die Haut desinfiziert hatte, stach sie sich die Nadel in den Arm. Sie zuckte zusammen, als sie sich die bernsteinfarbene Flüssigkeit injizierte. Dann löste sie die Aderpresse ein wenig, strich Jod auf die beiden Male an ihrem Unterarm und legte sich einen Verband an.

Nachdem sie die Aderpresse etwas fester gezogen hatte, blickte sie auf die Uhr am Armaturenbrett. In zehn Minuten würde sie die Presse wieder lockern.

Sie nahm das Mikrofon des Funkgeräts und drückte den Knopf an der Seite. »Randy, bitte kommen. Over.« Sie hörte atmosphärische Störungen, als sie den Knopf losließ.

»Randy, nimm bitte ab. Over.« Ihr Nachbar Randy war wegen einer Rückenverletzung, die er sich in der Mine zugezogen hatte, noch arbeitsunfähig. In den vergangenen zehn Wochen hatte er sich schwarz ein paar Extradollar verdient und sich tagsüber um ihren Sohn Jason gekümmert.

Sie ließ den Motor an und setzte in die tiefen Furchen des Wegs zurück. Das Funkgerät stieß plötzlich verstümmelte Worte aus, dann hörte sie: »… ab. Ashley, was ist los? Wir haben schon vor einer Stunde mit deiner Rückkehr gerechnet.«

Sie nahm das Mikrofon an den Mund. »Tut mir leid, Randy. Ich habe eine neue Kammer in der Anasazi-Ausgrabungsstätte gefunden. Unter einem Bergrutsch verschüttet. Die musste ich untersuchen, solange das Licht noch ausreichte. Nur hatte eine Diamantklapperschlange andere Pläne. Jetzt will ich noch bei Doc Marshall reinschauen. In etwa einer Stunde bin ich daheim. Könntest du schon mal die Lasagne in den Ofen schieben? Over.« Sie hängte das Mikrofon wieder an das Funkgerät.

Rauschen. »Ein Biss! Schon wieder! Das ist das vierte Mal seit Weihnachten. Du forderst dein Glück heraus, Ash. Diese Alleingänge kosten dich eines Tages das Leben. Aber hör zu, sobald dich Doc Marshall untersucht hat, komm schnell nach Hause. Hier warten ein paar Typen von den Marines auf dich.«

Sie runzelte die Stirn. Was hatte sie angestellt? Sie stöhnte und nahm wieder das Mikrofon zur Hand. »Was ist los? Over.«

»Keine Ahnung. Sie stellen sich dumm.« Mit leiser Stimme fügte er hinzu: »Und das beherrschen sie verdammt gut. Richtige GI-Jungs. Du wirst sie nicht ausstehen können.«

»Die haben mir gerade noch gefehlt. Wie kommt Jason damit klar? Over.«

»Dem geht es gut. Genießt es förmlich. Quatscht gerade irgendeinem Corporal das Ohr ab. Ich glaube, er hätte dem Trottel beinahe die Kanone abgeschwatzt.«

Ashley klatschte mit der flachen Hand aufs Lenkrad. »Was bringen diese Scheißkerle Waffen in mein Haus? Verdammt, ich bin gleich bei euch. Halt die Stellung. Over.« Sie trug niemals eine Waffe. Noch nicht einmal in den Badlands von New Mexico. Verdammt wollte sie sein, wenn sie einer Bande Halbstarker erlaubte, Waffen in ihr Haus zu schleppen. Sie knallte den Gang rein, und die Räder griffen im losen Felsgestein.

Ashley sprang vom Pick-up, den Arm in einer blauen Schlinge. Sie durchquerte ihren Kaktusgarten und eilte auf eine Gruppe uniformierter Männer zu, die sich auf der Veranda unter der kleinen grünen Markise zusammendrängten, die den einzigen Schatten im Umkreis von einhundert Metern bot.

Während sie die Holzstufen hinaufstampfte, wichen die vorderen Männer zurück. Bis auf einen, der mit Lametta auf jeder Schulter protzte und sich nicht von der Stelle rührte.

Sie schritt genau auf ihn zu. »Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Platzen hier mit einem Arsenal herein, mit dem man ohne weiteres ein vietnamesisches Dorf in die Luft jagen könnte. In diesem Haus wohnt ein Kind!«

Der Mund des Offiziers wurde zu einer dünnen Linie. Er lehnte sich zurück, nahm seine Sonnenbrille ab und offenbarte ein Paar kalte und gefühllose blaue Augen. »Major Michaelson, Ma’am. Wir eskortieren Dr. Blakely.«

Sie starrte ihn an. »Ich kenne keinen Dr. Blakely.«

»Er kennt Sie, Ma’am. Er sagt, Sie seien einer der besten Paläoanthropologen dieses Landes. Zumindest habe ich gehört, wie er das zum Präsidenten sagte.«

»Dem Präsidenten wovon?«

Er starrte sie verständnislos an. »Dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.«

Ihre Überraschung wurde von einem rotblonden Wirbelwind, der sich seinen Weg durch die Uniformierten bahnte, unterbrochen. »Mama! Endlich bist du zu Hause! Das musst du dir ansehen.« Ihr Sohn musterte die Schlinge, dann packte er sie am anderen Ärmel. »Komm schon.« Obwohl er kaum über ihre Gürtelschnallen hinausragte, scheuchte er die Soldaten zur Seite.

Wütend ließ Ashley sich durch die Tür zerren. Als die Tür der Trennwand hinter ihr zufiel, lief sie aufs Wohnzimmer zu. Da bemerkte sie eine Lederaktentasche, die jemand auf dem Tisch abgelegt hatte. Es war nicht ihre.

Aus der Küche wehte ihr der Knoblauchgeruch der Lasagne im Backofen entgegen. Ihr Magen reagierte mit einem Knurren. Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen. Randy, mit fleckigen Topfhandschuhen bewaffnet, versuchte, die blubbernde Lasagne aus dem Ofen zu ziehen, ohne dass sie überlief. Sie musste beim Anblick dieses Bären von einem Mann lächeln, der, mit einer Schürze bekleidet, mit einer Auflaufform voll Lasagne kämpfte. Er sah sie an und rollte mit den Augen.

Als sie gerade zu einer Begrüßung ansetzte, zog jemand drängelnd an ihrem Arm. »Komm schon, Mama, schau dir an, was Dr. Blakely hat. Das ist affengeil.«

»Pass auf, was du sagst, junger Mann«, warnte sie ihn. »Du weißt, dass diese Ausdrucksweise hier nicht erlaubt ist. Jetzt zeig mir, was das alles soll.« Sie winkte Randy zu, während sie ins Wohnzimmer gezerrt wurde.

Ihr Sohn deutete auf die Aktentasche und flüsterte: »Es ist da drin.«

Das Geräusch von fließendem Wasser aus dem Gäste-WC erregte ihre Aufmerksamkeit. Die Tür ging auf, und ein langer Schwarzer, dünn wie eine Bohnenstange, in einem dreiteiligen Anzug trat in die Diele. Er war schon älter, sein kurz geschorenes Haar ein wenig ergraut. Er schob die Nickelbrille den Nasenrücken hinauf. Als er Ashley bemerkte, machte sich ein Lächeln des Erkennens in seinem Gesicht breit. Er ging rasch auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen. »Professor Ashley Carter. Ihr Foto in der Archaeology vom letzten Jahr war eine Untertreibung.«

Ashley wusste genau, wann sie jemand einwickeln wollte. So wie sie aussah – voller Dreck, einen Arm in der Schlinge und mit lehmverschmierter Jeans –, war sie keine Schönheitskönigin. »Hören Sie auf mit dem Quatsch. Was wollen Sie hier?«

Er ließ die Hand sinken. Für einen Augenblick riss er die Augen auf, dann lächelte er umso freundlicher. Er hatte mehr Zähne als ein Hai. »Mir gefällt Ihre nüchterne Einstellung«, sagte er. »Sie ist so erfrischend. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag …«

»Kein Interesse.« Sie wies zur Tür. »Sie können sich mit Ihrem Gefolge jetzt aus dem Staub machen. Auf Wiedersehen.«

»Wenn Sie mir nur zuhör …«

»Ich möchte Sie ungern mit einem Arschtritt verabschieden.« Ihr Arm schnellte mit einer knappen Bewegung in Richtung Tür.

»Sie bekommen hundert Riesen für zwei Monate Arbeit.«

»Machen Sie endlich …« Ihr Arm sank herab. Sie räusperte sich, starrte Dr. Blakely an und hob die Augenbrauen. »Ich bin ganz Ohr.«

Seit ihrer Scheidung hatte sie alle Hände voll zu tun gehabt, damit sie etwas zu essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf hatten. Das Gehalt einer Assistenzprofessorin deckte kaum die Lebenshaltungskosten, geschweige denn ihre Forschungsprojekte.

»Warten Sie«, fuhr sie auf. »Eine Minute. Ist es legal? Das ist doch nie und nimmer legal.«

»Ich versichere Ihnen, Dr. Carter, dieses Angebot ist korrekt. Und das ist noch nicht alles«, fuhr Dr. Blakely fort. »Ihnen gehört das exklusive Recht, Ihre Forschungsergebnisse zu veröffentlichen. Und ein Lehrstuhl an der Universität Ihrer Wahl wird Ihnen garantiert.«

Träume wie diesen hatte Ashley nur nach zu viel Zwiebel-Salami-Pizza. »Wie ist das möglich? Es gibt Universitätsstatuten … Vorschriften … ältere Rechte … Wie?«

»Dieses Projekt wird von höchster Stelle befürwortet. Ich habe freie Hand, jeden, den ich haben will, für das Gehalt, das ich bestimme, einzustellen.« Er setzte sich auf die Couch, legte ein Bein über das andere und streckte die Arme auf der Rückenlehne aus. »Und ich will Sie.«

»Warum?«, fragte Ashley immer noch misstrauisch.

Dr. Blakely beugte sich vor und bat mit gehobener Hand um Geduld. Er griff nach seiner Aktentasche und öffnete klickend den Verschluss. Mit beiden Händen zog er vorsichtig eine kleine Kristallstatue aus dem Inneren. Er wandte sie ihr in aufrechter Position zu.

Es war eine menschliche Figur – nach den hängenden Brüsten und dem schwangeren Bauch zu urteilen, war die Figur weiblich. Das schwindende Licht verfing sich in der kristallinen Struktur und reflektierte funkelnd.

Nickend forderte er sie auf, die Figur in die Hand zu nehmen. »Was halten Sie davon?«

Ashley zögerte. Sie fürchtete sich davor, die zerbrechliche Schönheit zu berühren. »Eindeutig primitiv … Sie scheint eine Art Fruchtbarkeitsstatue zu sein.«

Dr. Blakely nickte eifrig. »Stimmt, stimmt … Hier, gucken Sie näher hin.« Er hob die schwere Statue, und seine Arme zitterten vor Anstrengung. »Bitte schauen Sie genau hin.«

Sie griff nach der Figur.

»Sie ist aus einem einzigen Diamanten geformt worden«, sagte er. »Makellos.«

Nun verstand sie die bewaffnete Eskorte. Sie zog die Hände von diesem unschätzbar wertvollen Objekt zurück, während sie über die Zusammenhänge nachdachte. »Das ist ja affengeil«, flüsterte sie.

Ashley Carter beobachtete über den Tisch hinweg, wie Dr. Blakely sein Handy zuklappte und in seine Brusttasche zurücksteckte. »So, Professor Carter, wo waren wir stehen geblieben?«

»Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«, fragte Ashley und wischte mit ihrem Knoblauchtoast Tomatensoße vom Teller. Sie saßen an ihrem grünen Aluminiumküchentisch.

Blakely schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Nur die Teilnahmebestätigung eines Ihrer potenziellen Begleiter. Ein australischer Höhlenexperte.« Er lächelte ermutigend. »Wo waren wir stehen geblieben?«

Sie betrachtete ihn wachsam. »Wer wird noch an der Expedition teilnehmen?«

»Ich bedaure, die Namen sind vertraulich. Aber ich kann Ihnen sagen, dass wir mit einem führenden Biologen aus Kanada und einem Geologen aus Ägypten im Gespräch sind. Und einigen … anderen.«

Ashley erkannte, dass sie auf diese Art nichts aus ihm herausbekam. »Fein. Dann zurück zur Diamantstatue. Sie haben mir nie gesagt, wo das Artefakt gefunden worden ist.«

Er schürzte die Lippen. »Diese Information ist ebenfalls vertraulich. Nur für diejenigen bestimmt, die mit dem Forschungsprojekt zu tun haben.« Er faltete die Gingham-Serviette auf seinem Schoß zusammen.

»Doktor, ich habe gedacht, dies wäre ein Gespräch. Doch Sie sind mit Ihren Antworten eher sparsam.«

»Vielleicht. Aber Sie haben mir auch noch keine konkrete Antwort gegeben. Wollen Sie sich nun meinem Forschungsteam anschließen?«

»Ich brauche mehr Details. Und mehr Zeit, um meinen Arbeitsplan umzuorganisieren.«

»Um den Kleinkram kümmern wir uns schon.«

Sie dachte an Jason, der sein Abendessen von einem wackligen Tablett vor dem Fernseher aß. »Ich habe einen Sohn und kann nicht einfach alles stehen und liegen lassen. Mein Sohn ist kein Kleinkram.«

»Sie haben einen Exmann. Scott Vandercleve, glaube ich.«

»Bei ihm wird Jason nicht bleiben. Vergessen Sie’s.«

Blakely seufzte laut. »Dann haben wir ein Problem.«

Doch Ashley würde in dieser Hinsicht nicht mit sich reden lassen. Jason hatte Ärger in der Schule gehabt, und sie hatte sich geschworen, in diesem Sommer viel Zeit mit ihm zu verbringen. »Das steht nicht zur Debatte«, sagte sie mit so viel Überzeugung, wie sie aufbringen konnte. »Entweder begleitet Jason mich, oder ich habe keine andere Wahl, als abzulehnen.«

Blakely musterte sie schweigend.

Sie fuhr fort: »Er ist schon bei anderen Ausgrabungen dabei gewesen. Ich weiß, dass er klarkommt.«

»Ich halte das nicht für klug.« Er lächelte schwach.

»Er ist ein zäher und gewitzter Junge.«

Blakely zog eine Grimasse. »Schließen Sie sich dem Team an, wenn wir uns in diesem Punkt einigen?« Er hielt kurz inne, nahm seine Brille ab und rieb über die Abdrücke auf seinem Nasenrücken. Er schien laut nachzudenken. »Ich glaube, er könnte in der Alpha-Basis bleiben. Dort ist er sicher.« Er setzte die Brille wieder auf und streckte ihr über den Tisch hinweg seine Hand hin. »Einverstanden.«

Erleichtert atmete sie auf und schüttelte seine trockene Hand. »Und warum machen Sie sich solche Umstände, um mich in Ihr Team zu bekommen?«

»Ihr Spezialgebiet. Die Anthropologie der primitiven Felsenbewohner. Ihre Arbeit über die Gilahöhlen war hervorragend.«

»Dennoch, warum ich? Es gibt andere Paläoanthropologen mit ähnlichen Forschungsinteressen.«

»Aus unterschiedlichen Gründen. Erstens«, zählte er an seinen Fingern ab, »haben Sie bei anderen Ausgrabungen unter Beweis gestellt, dass Sie ein Team leiten können. Zweitens, Ihre Nase fürs Detail ist unübertroffen. Drittens, die unnachgiebige Beharrlichkeit, mit der Sie Rätsel lösen. Viertens, Sie sind körperlich in Bestform. Fünftens, ich habe Respekt vor Ihnen. Sonst noch Fragen?«

Fürs Erste zufrieden und leicht verlegen, schüttelte Ashley den Kopf. Es gelang ihr, nicht zu erröten. Auf ihrem Gebiet bekam man selten Lob zu hören. Peinlich berührt, änderte sie das Thema des Gesprächs. »Da wir jetzt Partner sind, können Sie mir vielleicht verraten, wo Sie dieses einzigartige Artefakt entdeckt haben.« Sie stand auf, um den Tisch abzuräumen. »Ich nehme an, irgendwo in Afrika.«

Er lächelte. »Nein, eigentlich in der Antarktis.«

Sie warf einen Blick über die Schulter, um zu erkennen, ob er sie auf die Probe stellte. »Auf diesem Kontinent gibt es keine primitiven Kulturen. Da ist nur unfruchtbares Gletschereis drauf.«

Blakely zuckte mit den Schultern. »Wer hat von darauf gesprochen?«

Sie klapperte mit dem Geschirr in der Spüle. »Wo dann?« Sie drehte sich zu ihm, lehnte sich an die Spüle und trocknete sich mit einem feuchten Küchenhandtuch die Hände ab.

Er deutete mit dem Finger auf den Boden.

Darunter.

2

Black Rock, Australien

BENJAMIN BRUST BEOBACHTETE eine braune Küchenschabe, die durch das weiße Waschbecken schlitterte. Er ging zum Gitter hinüber und fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln auf seinen Wangen, die ihm seit seiner Inhaftierung gewachsen waren. An der Zellentür war der Gestank nach altem Urin schwächer. Ein Wachsoldat in Khakiuniform schaute von dem GQ-Magazin auf seinem Schoß hoch. Ben nickte ihm zu, und der Wachmann wandte sich ohne weitere Reaktion wieder seiner Lektüre zu.

Wenigstens erholte sich Bens Kunde, Hans Biedermann, zusehends – Gott sei Dank. Eine Anklage wegen unfreiwilligen Totschlags konnte er wahrlich nicht gebrauchen. Biedermann sollte heute nach Deutschland zurückfliegen. Für die kleine Eskapade hatte er gerade mal eins auf die Finger bekommen, während Ben als Organisator der Expedition eine lange Haftstrafe im Militärgefängnis vor sich hatte.

In den vergangenen fünf Jahren hatte sich Ben darauf spezialisiert, diejenigen, die den richtigen Eintrittspreis zahlen konnten, zu exotischen Schauplätzen und seltenen Sehenswürdigkeiten zu begleiten. Ausflüge, die es erforderlich machten, die eine oder andere Regel zu beugen oder gar zu brechen. Bens Spezialität waren Höhlenabenteuer: verlassene Diamantminen in Südafrika, verschüttete Klosterruinen im Himalaja, Tiefseetunnel vor der karibischen Küste – und jetzt, hier in Australien, ein phänomenales Höhlensystem, das zum militärischen Sperrgebiet erklärt worden war. Es lag in einem entlegenen Abschnitt der Black-Rock-Militäranlage. Ben hatte diese außergewöhnlichen Höhlen vor vier Jahren entdeckt und vermessen, als er hier stationiert gewesen war.

Es war alles perfekt gelaufen, bis sein pummeliger deutscher Kunde, Hans Biedermann, ausrutschte und sich das Bein brach. Ben hätte ihn dort verrecken lassen sollen, als Strafe dafür, dass er seine Warnung nicht ernst genommen hatte. Doch stattdessen hatte er versucht, Biedermanns armseligen Hintern aus der Höhle zu schaffen. Biedermanns Wehgeschrei lockte die Militärpolizei herbei, und Bens Bemühungen wurden damit belohnt, dass man ihn festnahm.

Er wandte der Zellentür den Rücken zu und ließ sich auf das von Motten zerfressene Feldbett fallen. Dann lehnte er sich zurück und betrachtete eingehend die Flecken an der Decke. Er hörte die harten Schritte von Stiefelabsätzen auf dem Gang und wie jemand der Wache etwas zuflüsterte. Die schwere Zeitschrift klatschte auf den Boden. »Hier drin, Sir. Die vierte dort hinten.« Er hörte Angst in der Stimme des Wachpostens.

Die Schritte kamen näher und hielten plötzlich an. Ben stützte sich auf die Ellbogen, um zu sehen, wer vor seiner Zelle stand. Er erkannte das Gesicht seines alten Kommandeurs. Glatze, Hakennase, bohrende graue Augen. »Colonel Matson?«

»Irgendwie wusste ich, dass Sie hier enden würden. Sie waren schon immer ein Unruhestifter.« Doch das Lächeln in den Mundwinkeln milderte die Schroffheit des Gesagten. »Wie hat man Sie behandelt?«

»Als wäre es das Hilton, Sir. Der Zimmerkellner ist allerdings ein bisschen langsam.«

»Wie üblich.« Der Colonel bedeutete der Wache, die Zelle zu öffnen. »Folgen Sie mir, Sergeant Brust.«

»Ich heiße jetzt Mr Brust, Sir.«

»Wie auch immer«, sagte der Colonel stirnrunzelnd und wandte sich ab, »wir müssen miteinander reden …«

Die Wache unterbrach ihn. »Soll ich ihm Handschellen anlegen, Sir?«

Ben blickte Colonel Matson mit Unschuldsmiene an.

»Ja«, sagte Matson, »das wäre besser. Trauen Sie nie einem Zivilisten.«

»Okay, okay«, meinte Ben und nahm Haltung an. »Sie haben gewonnen. Sergeant Brust meldet sich zum Rapport.«

Nickend winkte Colonel Matson die Wache fort. »Dann mal los, Sergeant. Gehen wir in mein Dienstzimmer.«

Ben folgte ihm aus dem Gefängnis. Nach einer kurzen Fahrt kamen sie beim Verwaltungsgebäude an. Das Dienstzimmer des Colonels hatte sich nicht verändert. Derselbe Walnussschreibtisch, den klebrige Ringe von Kaffeetassen verunzierten; die Wände mit Transparenten der republikanischen Old Guard geschmückt; die Seitenwand von Trophäen gesäumt. Während der Fahrt hatte das zögerliche Verhalten des sonst so temperamentvollen Mannes Ben verraten, dass er etwas Wichtiges zurückhielt.

Der Colonel bot Ben einen Stuhl an, stützte sich dann auf die Schreibtischkante und musterte ihn. Sein Gesicht war wie versteinert.

Ben versuchte, dem Blick standzuhalten. Schließlich sagte sein alter Kommandeur mit müder Stimme: »Was zum Teufel ist mit Ihnen passiert? Sie waren der Beste der Besten und sind einfach verschwunden.«

»Ich hatte ein besseres Angebot.«

»Was denn? Reiseleiter für Yuppies mit Midlifecrisis auf Nervenkitzeltouren?«

»Ich spreche lieber von ›Abenteuerurlaub‹. Außerdem verdiene ich genug, um die Schafstation meines Vaters über Wasser zu halten.«

»Einen gewissen Ruf haben Sie sich auch erarbeitet. Als Hansdampf in allen Höhlen. Ich habe von der Höhlenrettungsaktion in den Staaten gelesen. Der große Held, was?«

Ben zuckte mit den Schultern.

»Aber das war nicht der Grund, weshalb Sie gegangen sind. Es war Jack, nicht wahr?«

Bens Miene wurde ausdruckslos, als der Name seines Freundes fiel. »Ich habe an die Guard geglaubt. Und an die Ehre. Ich habe Ihnen geglaubt.«

Colonel Matson schnitt eine Grimasse. »Manchmal muss man auf Grund politischer Einflussnahme das Recht beugen und die Ehre Ehre sein lassen.«

»Blödsinn!« Ben schüttelte den Kopf. »Der Sohn des Premierministers hat jeden einzelnen Schlag, den Jack ihm verpasst hat, verdient, nach dem Mist, den er mit seiner Freundin angestellt hat.«

»Ein Premierminister hat mächtige Freunde. Er konnte nicht ungestraft davonkommen.«

»Zur Hölle!« Ben knallte die Faust auf die Stuhllehne. »Ich hätte dasselbe getan. Das Kriegsgerichtsverfahren war eine Farce.« Er hielt inne, schluckte heftig und sprach dann mit ruhigerer Stimme weiter. »Man hat Jack die Menschenwürde genommen. Und da wundern Sie sich, dass ich gegangen bin?«

Matson seufzte, anscheinend zufrieden. »Jetzt hat sich die Waage des Schicksals zu Ihren Gunsten verschoben. Nun haben sich die politischen Kräfte vereint, um Ihnen zu helfen.«

Ben runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Ich sollte so tun, als hätte ich diesen Brief nie erhalten. Bei dem Ärger, den Sie verursacht haben, verdienen Sie mit Sicherheit noch einige Jahre hinter Gittern.«

»Was für einen Brief?«

»Eine Anordnung vom Innenministerium. Sie sollen freigelassen werden.«

War das ein Scherz? Sie wollten ihn einfach laufen lassen? Ben sah, wie ein besorgter Blick über Matsons Gesicht huschte. »Was ist los, Colonel?«

»Da gibt es einen Haken.«

Na klar, dachte Ben. Den gab es immer.

»Sie müssen sich einer internationalen Expedition anschließen. Ein Professor aus den USA benötigt Ihre Kompetenz als Höhlenforscher. Eine Art Undercover-Operation. Keine weiteren Einzelheiten. Die erlassen Ihnen Ihre Haftstrafe und bezahlen Sie für Ihre Dienste.« Er schob Ben ein Blatt Papier zu. »Hier.«

Ben überflog das Schreiben. Sein Blick blieb bei der Zahl am Ende der Seite haften. Er starrte auf die vielen Nullen und traute seinen Augen nicht. Das konnte nicht stimmen. Damit wäre er schuldenfreier Besitzer seiner Schafstation. Keine halbseidenen Expeditionen mehr.

»Fast zu schön, um wahr zu sein?« Matson beugte sich vor und legte die Hände auf Bens Schultern. »Aber unmöglich auszuschlagen.«

Benommen nickte Ben.

»Eine innere Stimme sagt mir, dass Sie besser auf Ihren Arsch aufpassen sollten, Ben.« Matson ging zum Stuhl hinter seinem Schreibtisch und setzte sich. »Die großen Jungs spielen mit Ihnen, und sie neigen dazu, die kleinen Jungs plattzuwalzen. Denken Sie an Ihren Freund Jack.«

Ben starrte auf die Zahl am unteren Blattrand und atmete tief ein. Zu schön, um wahr zu sein.

Als Ben wieder in seiner Zelle lag, schlief er, einen Arm über die Augen gelegt, ein und hatte einen Albtraum, den er seit seiner Kindheit nicht mehr geträumt hatte. Er war wieder ein kleiner Junge, befand sich in einer riesigen Höhle und bahnte sich seinen Weg durch meterdicke Steinsäulen hindurch. Er kannte diesen Ort. Sein Großvater hatte ihn einmal mitgenommen und ihm Petroglyphen der Aborigines gezeigt.

Es war dieselbe Höhle, doch aus den Steinsäulen wuchsen Äste, an denen Früchte hingen. Neugierig griff er nach einer der matschigen Kürbisfrüchte, kam jedoch nicht bis ganz heran. Als er seinen Arm zurückzog, spürte er einen bohrenden Blick im Nacken. Er schnellte herum, doch hinter ihm war niemand. Plötzlich spürte er Blicke aus allen Richtungen. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung hinter einer Steinsäule wahr.

»Wer ist da?«, rief er, rannte zur Säule und schaute nach. Auch dort war nichts. »Was wollt ihr?«

Unwillkürlich schoss ihm das Wort »Geister« durch den Kopf.

Er begann zu laufen …

Er fühlte, dass ihn etwas verfolgte, ihn zurückrief. Aber er ignorierte es, rannte und suchte nach einem Ausgang. Die Säulen um ihn herum standen immer enger und ließen ihn nur langsam vorankommen. Da spürte er eine sanfte Berührung in seinem Nacken und hörte, wie jemand verzerrte Worte in sein Ohr raunte.

»Du bist einer von uns.«

Mit einem Schrei schoss er aus dem Traum hoch.

Er lag auf seiner Pritsche, sein Herz raste wie wild, und er rieb sich die Schläfen. Zum Teufel! Was hatte den alten Albtraum wieder hervorgerufen? Er schloss die Augen und erinnerte sich daran, dass die Träume begonnen hatten, nachdem er sich mit seinem Großvater in einer Höhle in der Nähe von Darwin gestritten hatte. »Nein, das stimmt nicht«, hatte der dreizehnjährige Ben geschrien, als ihm die Enthüllung die Tränen in die Augen trieb.

»Doch, junger Mann. Und ich lasse mich nicht einen Lügner schimpfen.« Sein Großvater blickte ihn aus seinem zerfurchten, ledrigen Gesicht stirnrunzelnd an. »Dies war einmal das Heim meiner Großmutter und der Sitz ihrer Vorfahren«, wiederholte er und tippte ihm mit dem Finger auf die Brust. »Eine direkte Verwandte von dir.«

Der Gedanke, dass in seinen Adern Blut der Aborigines fließen könnte, jagte ihm Angst ein. Er und seine Freunde hatten sich immer über die dunkelhäutigen Aborigine-Kinder in der Schule lustig gemacht. Und nun war er plötzlich einer von ihnen geworden. Er schüttelte den Kopf. »Ich bin kein verdammter Darkie!«

Die Ohrfeige tat weh. »Du wirst deine Vorfahren achten!«

Auch jetzt ließ ihn die Erinnerung noch zusammenzucken. Als Kind hatte ihn dieses Erbe beschämt. Zu jener Zeit hielt man Aborigines für Bürger zweiter Klasse, für nur wenig mehr als Tiere. Glücklicherweise konnte er die vererbte Schande leicht geheim halten, da im Laufe vieler Generationen sein Aborigine-Blut durch europäisches Blut verdünnt worden war. Damals hatten die Albträume begonnen.

In zahllosen Nächten war er aufgewacht, die Laken klebten an seinem nass geschwitzten Körper, Tränen liefen ihm übers Gesicht. Das Bettlaken in den Händen zusammengeballt, betete er, dass niemand von seinem Geheimnis erführe.

Mit der Zeit war er reifer geworden, hatte sogar Respekt und Sympathie für seine geheimnisvolle Herkunft entwickelt, und die Träume waren schließlich verschwunden wie altes Spielzeug, das man in Pappkartons gesteckt hatte. Vergessen und nicht mehr gebraucht.

Er schüttelte den Kopf. Warum also jetzt? Wieso tauchten seine Kindheitsängste plötzlich wieder auf?

Muss an dieser verfluchten Zelle liegen, folgerte er und vergrub sich tiefer unter der fadenscheinigen Decke. Dank des Briefs, der gerade zur rechten Zeit eingetroffen war, würde er dieses verdammte Loch bald hinter sich gelassen haben.

Einen Monat später schickte sein mysteriöser Wohltäter ein Telegramm nach Black Rock, und zwanzig Stunden später hatte Ben seine enge Zelle in Australien gegen eine Suite im Sheraton von Buenos Aires eingetauscht.

Er prüfte das Badewasser mit einem Zeh. Die Hitze ließ ihn kurz zusammenzucken, dann lächelte er. Ahhh, perfekt. Nach einem Monat im Gefängnis von Black Rock, nach einem Monat lauwarmer Duschbäder, die kaum die Schmutzschichten auf seiner Haut lösten, hatte ein volles, heißes Bad eine fast orgastische Wirkung. Er stieg in die Wanne, ließ sich ins dampfende Wasser sinken und regulierte die Wasserzufuhr. Kitzelnde Strömungen massierten ihn von allen Seiten und erzeugten einen sanften Strudel. Ausgesprochen orgastisch.

Er seufzte, lehnte sich in der Wanne zurück, entspannte sich und ließ sich in den Wasserstrahlen treiben.

Da klopfte es an der Tür.

Ohne das Klopfen zu beachten, glitt Ben tiefer in die Strömung. Wieder klopfte es, diesmal eindringlicher.

Er stemmte sich hoch. »Wer ist da?«

Eine undeutliche Stimme antwortete: »Verzeihung, Sir, aber Dr. Blakely bittet um Ihr Erscheinen im Raum Pampas im Parterre. Die anderen Gäste treffen auch gerade ein.«

Ben rieb sich die geröteten Augen. »Ich brauche fünf Minuten.« Er hievte sich aus der Wanne; die kühle Luft rief auf seinen nackten Beinen Gänsehaut hervor. Nachdem er einen alten braunen Tweedanzug angezogen hatte, begab er sich zur Konferenzsuite.

Zu seiner Erleichterung hatte man im Vorraum des Auditoriums eine mobile Bar aufgestellt. Ein Bartender stolzierte hinter einem Regal mit Flaschen hin und her und verteilte Drinks. Eine Schar von Männern und Frauen hatte sich bereits zusammengefunden und stand in einzelnen Grüppchen herum.

Er blickte sich um. Keiner schaute zu ihm hin. So viel zur herzlichen Begrüßung. Nachdem er ein letztes Mal suchend umhergeguckt hatte, beschloss er, dass er sich nach einem Schluck Whisky auf dieser »Party« sicher wohler fühlte, und ging zur Bar hinüber.

»Was darf es sein, Sir?«

»Whisky und ein Bier zum Nachspülen.« Er stützte sich mit dem Ellbogen auf die schwarze kunstlederne Verkleidung der Bar und schaute sich um. Die Leute hier waren nichts für ihn. Niemand lachte laut, niemand verschüttete Drinks, keine wütenden Betrunkenen. Langweilig. Nachdem er den Whisky ohne Umwege hinuntergekippt hatte, knallte er das Schnapsglas auf die Theke, ignorierte das Brennen und machte sich an das Bier heran.

Hinter ihm erklang die Stimme einer Frau: »Whisky. Pur, bitte.«

Ben drehte sich um, weil er sehen wollte, wer seinen Geschmack teilte. Whisky trinkende Frauen waren so selten wie Hühner mit Zähnen. Er war nicht enttäuscht.

Sie spielte mit dem Drink, den man ihr hinstellte. Lange Finger, kurze polierte Nägel. Keine Ringe. Kein Ehering – gut. Sie war so groß wie er, für eine Frau außergewöhnlich. Ihre Haut hatte die Farbe von Bronze, ein satter kupferroter Ton, der verriet, dass sie viel Zeit an der frischen Luft verbrachte. Aber was ihm den Atem nahm, war ihr schwarzes Haar, das ihr in lässigen Locken bis auf die Hüften hing.

»Darf ich Ihnen noch einen ausgeben?«, fragte er und betonte seinen australischen Akzent. Damit zog er die Aufmerksamkeit der Damen immer auf sich.

Sie hob ihre linke Augenbraue. »Die Drinks sind umsonst«, sagte sie, »sie gehen aufs Haus.«

Sein spitzbübisches Lächeln wurde breiter. »Wenn das so ist, wie wäre es dann gleich mit zwei Drinks?«

Sie starrte ihn schweigend aus ihren grünen Augen an.

Er streckte ihr seine Hand hin. »Ben Brust. Aus Sydney.«

»Das hätte mir Ihr Akzent schon verraten können«, sagte sie mit dem Anflug eines Lächelns. »Aber er klingt eher nach Westaustralien, weniger nach Neusüdwales.«

»Nun«, sagte er, ließ seine Hand sinken und ging stotternd in die Defensive, »eigentlich bin ich auf der Schafstation meines Vaters in der Nähe von Perth aufgewachsen. Westaustralien. Aber die meisten Menschen wissen nicht, wo …«

»Dachte ich es mir doch.« Sie nahm ihren Drink und wandte sich ab. »Die Besprechung müsste gleich anfangen.«

Bevor sie ging, musste er noch um wenigstens einen Knochen betteln. »Und Sie sind?«

»Ashley Carter.« Sie glitt an ihm vorbei.

Ben schaute ihr nach. Nicht gerade der Gang einer Professorin. Er trank den Rest seines Biers und genoss den Anblick.

3

Buenos Aires, Argentinien

ASHLEY GING ZU dem jungen spanischen Mann, der ihren Ausweis kontrollierte. Nickend öffnete er die Tür. Im Raum befanden sich Stuhlreihen mit etwa fünfzig Sitzen, von denen nur ein Viertel besetzt war. Ein Platzanweiser führte sie zu einem reservierten Sitz in der ersten Reihe und entfernte sich dann. Sie zitterte in dem leichten Kostüm, das sie trug, und wünschte, man würde den Thermostat höher drehen.

Jetzt, wo sie saß, ging sie die Ereignisse der vergangenen Wochen im Geiste durch; ihre alten Ängste tauchten wieder auf. Eine besonders.

Jason.

Sie hasste es, ihren Sohn allein im Hotelzimmer zurückzulassen. Heute Abend war er ihr sehr still vorgekommen; er war nicht so ausgelassen gewesen wie sonst. Ihre Finger krallten sich in ihre Handtasche.

Und dann diese Mission. Ein postalisch zugestellter Brief mit den Flugtickets und der Aufforderung, sofort zu kommen. »Für alles Weitere ist gesorgt«, hatte darin gestanden. Keine weiteren Einzelheiten.

Ein Mann setzte sich neben sie. »Ach, hallo.«

Sie blickte sich kurz um. Es war wieder der Typ aus Australien. Zum Teufel. Konnte man nicht einmal für einen Augenblick in Ruhe gelassen werden? Die einsamen Canyons von New Mexico zu Hause waren ihr noch nie so reizvoll vorgekommen.

»Ich möchte es noch einmal versuchen …« Er streckte die Hand aus. »Benjamin Brust.«

Um ihn nicht zu verletzen, schüttelte sie ihm kurz die Hand. Und jetzt hau ab, dachte sie.

Er lächelte sie an. Weiße Zähne, rotbrauner Teint, kräftige Wangenknochen, in den Augenwinkeln Krähenfüße von der Sonne. Volle Lippen.

»Was wissen Sie von alldem hier?«, fragte er.

Ashley zuckte mit den Schultern, versuchte, die beginnende Konversation im Keim zu ersticken, und wandte sich ab.

»So viele Geheimnisse«, murmelte Ben.

Sie nickte. »Vielleicht erhalten wir in Kürze einige Antworten.«

Er schwieg, doch sie fühlte seine Gegenwart an ihrer Seite. Sein Rasierwasser war würzig und intensiv, er atmete tief und gleichmäßig.

Sie rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Das Auditorium war fast voll. Langsam wurde es warm. Sie wünschte, man würde den Thermostat reparieren.

»Trauen Sie ihm?«, fragte er flüsternd.

»Nein«, antwortete sie und blickte geradeaus. Sie wusste, wen er meinte. »Überhaupt nicht.«

Von einem der Eingänge aus beobachtete Blakely, wie sich der Saal füllte. Sein Team hatte sich auf den fünf Sitzen in der ersten Reihe eingefunden. Er gab seinem Assistenten Roland am anderen Ende des Raums ein Zeichen.

Roland nickte und hob ein Mikrofon an den Mund. »Meine Damen und Herren, bitte nehmen Sie Ihre Plätze ein. Wir fangen gleich an.«

Noch wenige Augenblicke Unruhe, weil ein paar Nachzügler eintrafen, dann wurden die Türen des Auditoriums geschlossen und das Licht leicht gedämpft. Blakely bestieg das Podium und stellte sich hinter das beleuchtete Rednerpult. Er tupfte die Stirn mit einem Taschentuch ab. Seine Rede konnte er auswendig, seine Worte waren mit Bedacht gewählt.

Prüfend klopfte er ans Mikrofon. Gleichzeitig bat er die Zuhörer damit um Ruhe. »Zuerst möchte ich mich für Ihre Teilnahme bedanken.« Er machte eine Pause. »Ich weiß, dass es für jeden eine Strapaze bedeutet, seinen gewohnten Alltag so plötzlich hinter sich zu lassen. Aber ich bin sicher, Sie in wenigen Augenblicken davon überzeugen zu können, dass sich diese Unterbrechung gelohnt hat.«

Er nahm die Fernsteuerung des Diaprojektors und drückte die Taste. Auf der Leinwand erschien das Bild eines schneebedeckten Bergs mit einer schmutzigen Rauchwolke. »Der Mount Erebus auf Ross Island, direkt vor der Antarktisküste. Einer von drei vulkanischen Bergkegeln auf diesem Kontinent. Am Fuß dieses Vulkans befindet sich die amerikanische Forschungsstation McMurdo, seit fünf Jahren meine Heimat.« Er drückte erneut auf die Taste, und es erschien die Nahaufnahme einer Gruppe flacher Metallbauten auf der Oberfläche des grauen Gletschers. Eine Anordnung von Satellitenantennen wuchs aus den Dächern wie eine bizarre Spinne.

»Während der letzten zehn Jahre habe ich geothermische Untersuchungen an einigen heißen Spalten durchgeführt, die tief unter dem Kegel und unter dem benachbarten Rossmeer immer noch aktiv sind. Diese Untersuchungen wurden von der NASA unterstützt. Ihr drittes Shuttle machte vor sechs Jahren Aufnahmen von der Erdkruste, um Ölfelder und ähnliche Einschlüsse zu finden. Ich beantragte Aufnahmen von Mount Erebus und entdeckte ein paar erstaunliche Dinge.«

Er betätigte die Taste, und die Leinwand zeigte ein Querschnittsdiagramm der Erdkruste unter dem Vulkankegel. Ein Murmeln erhob sich im Raum. »Wie Sie sehen, wurde dabei ein komplexes Höhlensystem unter dem Mount Erebus entdeckt, das sich über viele hundert Kilometer erstreckt.«