Titel
Zu diesem Buch
Widmung
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Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Jennifer Snow bei LYX
Leseprobe
Impressum
Alaska Love
WIEDERSEHEN IN WILD RIVER
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Hans Link
Als Ellie Mitchell eine Einladung zu ihrer Highschool-Reunion erhält, steht ihre Entscheidung fest: sich beim Wiedersehen all die großartigen und erfolgreichen Lebensentwürfe ihrer ehemaligen Mitschüler und Mitschülerinnen anhören? Nein, danke! Doch dann erfährt die Buchhändlerin, dass ihre erste große Liebe zu dem Treffen nach Wild River kommen wird – allerdings in Begleitung. Da sieht Ellies Arbeitskollege Callum McKendrick seine Chance gekommen: Er bietet ihr kurzerhand an, sie als ihr Fake-Freund zu der Reunion und den daran anschließenden Outdoor-Trip zu begleiten. Doch was Ellie nicht weiß, ist, dass Callum seit Jahren in sie verliebt ist …
Für die Abschlussklasse der
Beaconsfield Highschool von 1999!
Fröhliche Zeiten und tolle Erinnerungen!
Alisha Miller hat dich eingeladen, der Abschlussklassen-Gruppe 2011 der Wild River Highschool beizutreten.
Zwei Tage lang hatte Ellie Mitchell auf die Benachrichtigung gestarrt. Ihr Finger hatte über dem Button »Einladung annehmen« geschwebt, und dann hatte sie mindestens sechsundachtzigmal gekniffen. Die Highschool fühlte sich an, als läge sie eine Million Jahre zurück. Wollte sie wirklich diese Zeit ihres Lebens für einen einzigen nostalgieerfüllten Abend noch einmal heraufbeschwören?
Dass Alisha, heute Krankenschwester auf der Intensivstation des Wild River Community Hospital, an diesem Klassentreffen teilnahm, war nur natürlich. Sie war Mannschaftskapitänin der Cheerleader gewesen, stellvertretende Klassensprecherin des Abschlussjahrgangs (nur weil sie sich dagegen entschieden hatte, als Klassensprecherin zu kandidieren) und Vorsitzende des Debattierclubs. Alle hatten sie gemocht, weil sie – ein seltenes Zusammentreffen – sowohl beliebt als auch hübsch und nett gewesen war, bei schulischen Events immer mittendrin und ganz vorn, nicht angeberisch oder Aufmerksamkeit heischend, sondern auf eine aufmunternde, dem Schulgeist entsprechende Weise.
Ellie hatte bei schulischen Aktivitäten eher hinter den Kulissen gewirkt. Sie war eine Arbeitsbiene im Schülerrat gewesen und im Planungskomitee für die schulischen Events. Förderung der Gemeinschaft und Konfliktlösung im Hintergrund war ihr Ding gewesen. Die Hälfte ihrer Klassenkameraden hatte vielleicht sogar vergessen, dass sie überhaupt zu ihrem Jahrgang gehört hatte. Sie war nicht gerade besonders aufgefallen.
Zumindest nicht bis zum Abschlussjahr, als sie plötzlich in den Vordergrund gerückt war und der Aufmerksamkeit aller hatte sicher sein können. Aber das war weniger ihr Verdienst, sondern mehr dem Umstand zu verdanken gewesen, dass sie mit Brent Lanigan zusammen war, dem Klassensprecher und Quarterback der schulischen Footballmannschaft. Ellie wusste immer noch nicht, wie es überhaupt dazu hatte kommen können. Eines Tages hatte sie ihm Nachhilfeunterricht gegeben, damit seine Noten gut genug blieben, um weiter Football spielen zu dürfen, und am nächsten Tag hatte er sie mit einem unerwarteten Kuss überrascht, und dann waren sie während des restlichen Schuljahrs ein Paar gewesen.
Sie seufzte. Das Klassentreffen war für einen Termin in drei Wochen anberaumt, und sie konnte sehen, dass sich bereits über die Hälfte der Klasse angemeldet hatte.
Brent noch nicht. Würde er teilnehmen? Würde das einen Einfluss auf ihre eigene Entscheidung haben? Wahrscheinlich. So jämmerlich war sie.
Es war Punkt neun Uhr morgens, und sie schob sich das Handy in die Gesäßtasche ihrer Jeans.
Zeit, die Buchhandlung zu öffnen, Flippin’ Pages, wo sie seit ihrem Abschluss arbeitete. Nachdem sie vor zehn Jahren eingestellt worden war, war sie mittlerweile die Managerin des Ladens und kümmerte sich um alles, angefangen von der Bestellung über die Inventur bis hin zur Buchhaltung und Planung von Events im Laden. Obwohl Flippin’ Pages eine unabhängige Kleinstadtbuchhandlung war, war sie einer der Hotspots des Ortes – dank ihrer wöchentlichen Buchclubtreffen, Autorenlesungen und Vorlesestunden für Kinder. Flippin’ Pages bot jede Woche irgendein Event an, und während der Touristensaison war das Programm noch dichter.
Sie ging zur Tür, drehte das Geschlossen-Schild auf Geöffnet und sperrte auf. Nachdem sie die Innenbeleuchtung eingeschaltet hatte, genoss sie kurz die behagliche Atmosphäre. Flippin’ Pages war in einem der älteren Gebäude auf der Main Street in Wild River, Alaska, untergebracht, und der historische Charme des Ladens war einer der Faktoren, der Kunden anlockte. Die Buchhandlung zog sich über drei Stockwerke, eine prachtvolle Wendeltreppe führte zu den oberen Etagen, dunkle Mahagoniholzakzente waren überall zu finden, ursprüngliche Dielenböden und Facettendecken sorgten dafür, dass Kunden die stilvolle Aura des Gebäudes ebenso wie die beeindruckende Menge von Büchern bewunderten, die es beherbergte.
Wie zum Beispiel die unglaubliche Lieferung, die am vergangenen Tag eingetroffen war. Ellie konnte es gar nicht erwarten, sich über den Karton mit gespendeten Klassikern herzumachen, die ein älterer, am vergangenen Wochenende verstorbener Mann der Buchhandlung testamentarisch hinterlassen hatte. Hochgelobte Bücher von frischen Debütanten waren immer aufregend, aber solche ehrwürdigen Secondhand-Spenden standen noch höher in Ellies Gunst.
Vielleicht war es ihrer alten, romantischen Seele zuzuschreiben – Antiquitäten und Sammlerstücke hatten für sie etwas Magisches. Alte Dinge, die von Generation zu Generation weitergegeben worden waren, die eine Geschichte hatten … die existiert hatten, lange bevor sie selbst überhaupt zur Welt gekommen war, bargen etwas Mystisches in sich, zu dem sie sich hingezogen fühlte.
Nachdem sie sich einen Cutter unter dem Ladentisch hervorgeangelt hatte, schlitzte sie vorsichtig den Pappkarton auf und öffnete das Bücherpaket. Es war wie das Öffnen eines Weihnachtsgeschenks. Vorfreude erfüllte sie, als sie eins der Bücher herausnahm und von allen Seiten betrachtete.
Eine sichtlich heißgeliebte Erstausgabe des Scharlachroten Buchstabens von Nathaniel Hawthorne.
Sie strich mit einem Finger über den Einband – Oktavformat, original braunes Leinen, mit dem Datum 1850 auf dem Buchrücken. Es gab nur zweitausendfünfhundert dieser Bände auf der Welt, und das Buch würde sich für einen hübschen Preis verkaufen lassen, aber das war es nicht, was ihr am besten gefiel. Sie holte tief Luft und öffnete es behutsam.
Ja! Da war eine Widmung. Das war immer das Beste. Fast als würde sie die Vergangenheit belauschen.
Für meinen lieben Michael,
möge dieses Buch dich auf eine fantastische Reise führen.
Mit all meiner Liebe,
Rose
Ellie seufzte. Michael und Rose. Wie war ihr Leben damals gewesen? Wer waren sie? Was hatten sie einander bedeutet? Verwandte oder heimlich Liebende? Sie hob das Buch an die Nase und atmete tief ein.
»Hast du gerade an diesem Buch gerochen?«, übertönte eine Männerstimme die Glocke der sich öffnenden Tür.
Ellie stellte das Buch schnell auf das Regal für neu eingetroffene Antiquitäten und drehte sich um, als Callum McKendrick, ihr Kollege, die Buchhandlung betrat. »Ich rieche an allen Büchern«, erklärte sie. »Und du bist spät dran.« Er war immer spät dran. Es war fast liebenswert, wie berechenbar seine Verspätungen waren. Als würde sie wissen, dass etwas nicht stimmte, wenn er jemals pünktlich käme. Er rauschte durchs Leben, ohne die mindeste Rücksicht auf lästige gesellschaftliche Konventionen wie etwa pünktliches Erscheinen zur Arbeit. Und er kam damit durch.
»Nur vier Minuten«, entgegnete er nach einem Blick auf eine imaginäre Armbanduhr. »Besser als gestern.«
Sie lachte und schüttelte den Kopf. »Besser als gestern.«
»Was haben wir da?«, fragte er und krempelte sich die Ärmel seines hellblauen Hemdes auf, bevor er sich hinkniete, um in den Karton zu spähen. Sein dichtes dunkles Haar fiel ihm ins Gesicht, und er strich es sich aus der Stirn. Alle in der Stadt nannten ihn Clark Kent, weil er genauso aussah wie Superman mit seinen eins achtundachtzig, dem muskulösen Körperbau, den massigen Schultern und der breiten Brust. Sein pechschwarzes Haar war immer eine Spur zu lang, und seine Brille mit dem dunklen Gestell verringerte nicht im Geringsten den Sexappeal, den er verströmte.
Ellie hätte gern geglaubt, dass ihre Stammkunden wegen des literarischen Erlebnisses und der großen Auswahl bibliophiler Ausgaben kamen, die die Buchhandlug bereithielt, aber wahrscheinlich hatte es mehr mit dem sexy Buchhändler zu tun.
»Das ist diese testamentarisch verfügte Spende eines alten Herrn. Eine Dame hat gestern deswegen angerufen«, sagte sie, während sie auf dem Regal Platz für den Rest der Bücher schaffte. Wirklich erstaunlich, in welchem Zustand sie sich befanden. Irgendjemandem mussten sie so teuer gewesen sein, sie zu erhalten und sich um sie zu kümmern. Viele alte Bücher, die in den Laden kamen, mussten restauriert werden, die hier nicht.
»Ich kann nicht fassen, dass keins seiner Kinder oder Enkelkinder die hier gewollt hat«, bemerkte Callum und griff nach einer Ausgabe von Moby Dick. »Diese Bücher sehen aus, als könnten sie Erstausgaben sein.«
»Sind sie auch«, bestätigte sie und deutete auf das Datum auf dem Buchrücken. »Deshalb werden wir sie für ein kleines Vermögen verkaufen.«
»Und weil du nicht willst, dass sie wirklich jemand kauft«, entgegnete er augenzwinkernd.
Zweifellos bekamen Frauen wegen dieses kleinen Flackerns eines Augenlides nach Rokokomanier Schwächeanfälle, aber Ellie war immun gegen Callums Charme. Er war mehrere Jahre jünger als sie und flirtete so oft, wie er ausatmete.
»Das stimmt nicht«, protestierte sie.
»Doch, tut es.«
»Na schön. Du kennst mich zu gut.« Sie lachte, aber ihr Lächeln verschwand, als ihr Handy eine neu eingegangene Nachricht signalisierte. Sie nahm es heraus und sah einen neuen Post in der Facebook-Gruppe für das Klassentreffen, diesmal von Cheryl Kingsly – einer der langjährigen besten Freundinnen Alishas. Cheryl war jetzt Personal Trainer, und Ellie sah die beiden oft zusammen aus dem Fitnessstudio kommen.
Ich kann es gar nicht erwarten, mit meiner Wild-Cougar-Familie wiedervereint zu werden! Haben wir schon eine Location?
Sofort erschienen kleine Pünktchen, die zeigten, dass jemand tippte, und Sekunden später erschien Alishas Antwort.
Noch nicht. Du kennst mich ja – geniale Ideen, null Fähigkeiten in der Ausführung.
Ellie schüttelte den Kopf. Es sah ihnen so ähnlich zu versuchen, auf die letzte Minute ein Event anzuberaumen, ohne tatsächlich irgendetwas zu organisieren. Vor Jahren war es das Gleiche gewesen. Der Schülerrat hatte sich getroffen und tolle Ideen entwickelt, aber dann hatte sich niemand bereiterklärt, die tatsächliche Arbeit zu leisten – außer ihr und einigen anderen, die am Ende niemand würdigte, wenn die Veranstaltungen ein Erfolg wurden.
Alisha hoffte, es in drei Wochen hinzubekommen, und doch war noch absolut nichts geplant. Keine Location, keine Diskussionen über das Essen, kein Thema, keine Raumgestaltung … Ellie seufzte.
»Was ist los?«, fragte Callum und gab ihr ein weiteres Buch.
Sie betrachtete die Ausgabe von Jane Austens Stolz und Vorurteil, außerstande, sie zur Gänze zu würdigen. Wollte sie zu dem Treffen hingehen oder nicht? Würde sie sich besser oder schlechter fühlen, mit dem, wie sich ihr Leben entwickelt hatte, wenn sie ihre ehemaligen Klassenkameraden wiedersah?
»In diesem Jahr findet das Klassentreffen meiner Highschool statt. Wir haben vor zehn Jahren unseren Abschluss gemacht, und die üblichen Verdächtigen posten auf der Gruppenseite bei Facebook unaufhörlich Neuigkeiten.«
Callum runzelte die Stirn. »Die üblichen Verdächtigen?«
»Du weißt schon, die heiße Clique in der Schule. Die, die immer noch beliebt sind und damit angeben wollen, wie toll ihr Leben sich entwickelt hat, indem sie alle dazu zwingen, an den Schauplatz zurückzukehren, an dem sich für einige andere die demütigendsten Tage ihres Lebens abgespielt haben. Und die dann versuchen, Konversation zu machen, während sie die Last ihrer Verurteilung spüren«, antwortete sie.
Was würden sie über sie sagen? Über die Tatsache, dass sie im Gegensatz zu so vielen von ihnen nicht den Beruf ergriffen hatte, der in ihrem Highschool-Jahrbuch als ihr Wunschziel angegeben war – Lehrerin. Was würden sie tuscheln, wenn sie vorbeiging?
Arme Ellie – arbeitet immer noch in einer Buchhandlung.
Arme Ellie – nicht verheiratet, nicht verlobt, hat nicht mal fantastischen Gelegenheitssex.
Arme Ellie – immer noch keine Kinder. Hat sie nicht gesagt, sie wolle drei? Sie sollte diesen Lebensplan besser in die Tat umsetzen, bevor ihre Eierstöcke endgültig vertrocknen.
»Ich dachte immer, Klassentreffen seien einfach eine amüsante Möglichkeit, mit Leuten zu quatschen, die man seit Jahren nicht gesehen hat«, entgegnete Callum achselzuckend.
Sie musterte ihn. »Natürlich wäre es für dich genau das.«
Er setzte einen gespielt gekränkten Gesichtsausdruck auf. »Was soll das denn heißen?«
»Sieh dich doch an. Du bist der Hammer – groß, dunkelhaarig und gut aussehend, mit Muskeln an Stellen, von denen ich nicht einmal wusste, dass da Muskeln wachsen können … oder sich bilden … was auch immer«, fügte sie lässig hinzu. Sie machte ihn nicht an, sondern zählte nur Tatsachen auf.
Sie wusste es besser. Männer wie Callum bekamen die hübschen Mädchen, die sportlichen Mädchen, die beliebten … die, denen sie bei diesem Klassentreffen aus dem Weg gehen wollte. Ellie war schon in der Highschool ein Bücherwurm gewesen. Daran hatte sich nicht viel geändert. Ihre Vorstellung von Spaß war ein ruhiger Abend zu Hause bei einem Gespräch über ein gutes Buch mit engen, gleichgesinnten Freunden, während sie einen tollen, edlen Wein genossen. Die Teilnahme an einer Veranstaltung, um in Erinnerungen an die guten alten Tage zu schwelgen, mit Leuten, die die Highschool ganz anders in Erinnerung hatten als sie selbst, entsprach ganz und gar nicht ihrer Vorstellung eines amüsanten Abends.
»Gaffst du mich an?«, fragte Callum, lehnte sich an das Bücherregal und ließ sein schönstes Flirtlächeln aufblitzen. Sie wusste, dass es sein schönstes Flirtlächeln war, weil er es bei allen Kundinnen einsetzte, und ihre Bestellungen sich prompt wie von Zauberhand verdoppelten. Da sie – als Managerin des Ladens – im Prinzip seine Chefin war, wusste Ellie seine Fähigkeiten beim Verkauf zu schätzen, aber ihr war auch klar, dass sie nichts in den Flirt hineingeheimnissen durfte.
»Ich sage, dass du keine Ahnung von dem ungeheuren Druck hast, den Menschen angesichts so einer Veranstaltung verspüren können«, erklärte sie, nahm die restlichen Bücher aus dem Karton und stellte sie ins Regal, ohne auch nur ein einziges zu öffnen, um nach Widmungen zu suchen. Ein ernsthaftes Anzeichen dafür, dass dieses ganze Klassentreffen sie stresste.
»Was für ein Druck? Erklär mir das«, forderte Callum sie auf, nahm ihr den leeren Karton ab und zertrampelte ihn.
Sie seufzte. »Wenn ich hingehe, werden alle wissen, dass mein Leben heute genauso langweilig ist wie damals in der Highschool. Also kann ich das Treffen entweder meiden oder hingehen und eine aufregendere Existenz erfinden.«
Er runzelte die Stirn. »Ich dachte, du liebst dein Leben hier in Wild River.«
Das stimmte schon. Es war nur vollkommen unspektakulär. Die Leitung einer kleinen Buchhandlung auf der Main Street, das Leben in der Wohnung darüber, das alles war nicht gerade das, was sie von ihrem Leben erwartet hatte. Nicht dass sie irgendetwas beweisen müsste oder dass etwas an ihrem Lebensstil auszusetzen war … Wenn sie nicht mit Bestimmtheit gewusst hätte, dass Brent, inzwischen Pilot bei einer Airline, jüngst eine sechs Monate währende Affäre mit einer Stewardess hinter sich hatte, der es nur knapp nicht gelungen war, Model für Victoria’s Secret zu werden – für seine Verhältnisse eine ernsthafte Beziehung. Ellie hatte unzählige Packungen Eiscreme verschlungen, während sie die beiden auf Instagram heimlich gestalkt hatte.
Brent war ihr erster fester Freund gewesen und ihre einzige wahre Liebe. Sie hatten als gute Freunde angefangen, als sie ihm als Englischnachhilfelehrerin zugewiesen worden war. Zuerst hatte sie gedacht, dass er einfach irgendein Sportler war, der von ihr erwartete, dass sie seine Aufgaben für ihn erledigte, aber er hatte sie überrascht. Er interessierte sich tatsächlich für Literatur, hatte aber Angst vor Klassenarbeiten gehabt. Eine Art Schreibblockade.
Während ihrer gemeinsamen Zeit hatte sie sich schnell und heftig in ihn verliebt, und er hatte sie wiederum mit einem spontanen Kuss überrascht und sie dann um ein Date gebeten, als er auf seinem Halbjahreszeugnis eine Zwei in Englisch bekommen hatte. Bis zu ihrem Abschluss waren sie unzertrennlich gewesen, dann hatte Brent klargestellt, dass er zur Uni und auf die Pilotenschule gehen wolle. Es war sein Traum gewesen, Pilot bei einer Airline zu werden, und plötzlich war für Ellie kein Platz in der Zukunft mehr gewesen, die er für sich selbst sah.
Er war fortgegangen. Sie war geblieben.
Er war weitergezogen. Und sie steckte noch immer mit einem gebrochenen Herzen in einem Schwebezustand fest, wünschte sich, über ihn hinwegzukommen, und hoffte insgeheim, dass er eines Tages nach Wild River zurückkehren und ihr offenbaren würde, dass er sie immer noch liebte.
Jämmerlich, aber so war es nun mal.
»Ich liebe mein Leben durchaus.« An den meisten Tagen. »Es graut mir nur davor, gewisse Leute wiederzusehen, das ist alles«, fügte sie aufrichtig hinzu.
»Deinen Ex, Brent?«
Sie runzelte die Stirn. »Woher weißt du das?«
»Weil du über ihn redest, als würdest du ihn auf der Stelle heiraten und ein Dutzend Kinder von ihm bekommen, wenn man dir nur die Chance dazu geben würde.«
»Nun, das würde ich, aber das wird nicht passieren, denn …« Sie öffnete ihre Instagram-App und hielt Callum das Handy hin. »Er ist gegenwärtig mit ihr zusammen.« Diese neue Frau war Kellnerin und stammte aus Hawaii – wunderschön, blond, sonnengebräunt mit einem atemberaubenden Lächeln und perfekten Zähnen. Anscheinend hatten Langstreckenflüge auf Inseln für Piloten mehr Vorteile als Rundflüge durchs Paradies.
Callum blinzelte durch seine Brille mit dem dunklen Gestell. »Du bist süßer.«
Sie lachte spöttisch. »Du bekommst keine Gehaltserhöhung, also kannst du dir die Komplimente sparen.«
»Ich brauche keine Gehaltserhöhung.«
Das stimmte. Callum war unabhängig und reich. Er stammte aus einer Familie von Hotelbesitzern, und das schickste Hotel in Alaska stand hier in Wild River. Es passte nicht besonders zur rauen Bergästhetik der Touristenstadt, aber es bediente eine andere Sorte Touristen – solche mit Unmengen Geld. Das Wild River Resort lag in der Nähe der Skihänge und bot Gästen Panoramablicke auf die Berge. Ein luxuriöses Spa und ein Drei-Sterne-Restaurant waren zusätzliche Angebote, die sogar Filmstars in die Stadt lockten. Oder im jüngsten Fall Selena Hudson, die hier Zuflucht vor einem Stalker gesucht hatte.
Callum redete nicht oft von seiner Familie, aber Ellie spürte, dass er nichts mit der Hotelbranche zu tun haben und nicht in die Fußstapfen seines Vaters und seines Großvaters als Hotelbesitzer treten wollte. Er arbeitete in der Buchhandlung, weil er Bücher schätzte, und er hatte es ihr nicht erzählt, aber sie wusste, dass er sein Gehalt dem örtlichen Tierheim spendete und dem einheimischen Schulprogramm »Liebe zum Lesen«.
Wieso er noch Single war, verstand sie nicht.
Vielleicht fiel es ihm schwer, darauf zu vertrauen, dass eine Frau sich für ihn interessierte und nicht für sein Treuhandvermögen und den Status seiner Familie. Ellie fand, dass er diesbezüglich keinen Grund zur Sorge hatte – er hätte bitterarm sein und in einem Van leben können, die Frauen würden sich trotzdem um ihn reißen.
»Wie dem auch sei, ich denke, du machst dir wegen nichts und wieder nichts Sorgen. Er jettet wahrscheinlich gerade rund um die Welt und wird nicht mal auftauchen.«
Er hatte noch keine Antwort geschickt, weder eine Zu- noch eine Absage, daher konnte Callum durchaus recht haben. Brent kehrte jetzt, da seine Eltern in Rente gegangen und nach Arizona gezogen waren, nur noch selten nach Wild River zurück, und als Einzelkind hatte er keine anderen Verwandten, die er hier besuchen könnte.
»Vielleicht«, antwortete sie. Sie wollte überhaupt nicht zu dem Klassentreffen gehen, warum also hoffte sie insgeheim, dass Brent zusagen würde? Wenn er es tat, würde sie auf keinen Fall nicht hingehen. Seit er Wild River verlassen hatte, hatte sich ihr keine Chance geboten, ihn wiederzusehen. Sie würde die Möglichkeit nicht ablehnen, dass er vielleicht …
Dass er sie wiedersehen und ihr seine unsterbliche Liebe gestehen würde. Ja, na klar.
Vielleicht war es an der Zeit, ein Weilchen auf die romantischen Komödien zu verzichten.
Der blinkende Cursor auf dem Laptop-Bildschirm schien Callum zu verhöhnen. Das tat er schon seit Tagen. Zuvor hatte er seine Gedanken und Ideen in perfekten Formulierungen mit flinken Fingern eingetippt … bis auf einmal Schluss gewesen war. Der gefürchtete Durchhänger in der Mitte, wie er einige Bestsellerautoren es hatte bezeichnen hören, wurde ein echtes Problem.
Frustriert verstand er das jetzt. Sein erster Versuch, einen nicht rein fiktionalen Roman in voller Länge zu verfassen, nachdem er jahrelang Schreibratgeber gelesen und online Kurse besucht hatte, lief nicht gerade so, wie er es sich vorgestellt hatte. Vielleicht waren Short Storys alles, was er jemals erfolgreich zu Ende bringen konnte.
»Noch eine Tasse Kaffee?«, fragte Gillian, die ihn in Carla’s Diner gewöhnlich bediente, und kam mit ihrer Kaffeekanne zu seiner Ecknische. Die Tochter des Besitzers kellnerte stets in der Nachtschicht. Sie sparte auf einen Backpacking-Trip durch Europa im folgenden Jahr.
Daher kosteten Callums zig Kaffeekannen einschließlich Trinkgeld fast so viel, als wären die Bohnen für ihn persönlich handverlesen und eigens eingeflogen worden. Er unterstützte gern die Träume anderer Menschen.
»Ihnen ist doch nicht entgangen, dass die meisten Menschen samstagabends Dates haben?«, bemerkte sie und lehnte sich mit der Hüfte an den Tisch.
Es gab nur eine einzige Frau in der Stadt, mit der er ausgehen wollte, und sie hatte nicht den blassesten Schimmer davon. Callum war in seine Kollegin verliebt. Bis über beide Ohren, eine Liebe, die einem jeden Appetit nahm, den Schlaf raubte und für die er seinen Platz im Rettungsboot geopfert hätte. Aber Ellie würde es nicht einmal bemerken, wenn er es mit den alten Wendungen der Klassiker formuliert hätte, die sie jeden Tag so liebevoll auf den Regalen der Buchhandlung einordnete.
Das war einer der Gründe, warum er bei Flippin’ Pages arbeitete. Es war inspirierend, sie jeden Tag in ihrem Element zu erleben und ihre Leidenschaft für die literarischen Werke zu sehen, die ihr so sehr am Herzen lagen.
Im Moment hätte Callum jedenfalls ein wenig Inspiration gebrauchen können. Egal woher.
Er hob seine halb leere Tasse, um sie sich auffüllen zu lassen, und lächelte. »Das werde ich mir merken.«
Gillian errötete, als wäre sie die Glückliche, die er nach einem Date gefragt hatte, und schaute den Laptop an. »Woran arbeiten Sie überhaupt immer so intensiv?«
Er schloss die Datei und zuckte die Achseln. »Nichts Aufregendes.« Er hatte noch nie jemandem etwas von seiner Leidenschaft fürs Schreiben erzählt. Weder seinen Eltern, noch seinen Freunden. Die einzige Person, die vielleicht nicht überrascht gewesen wäre zu hören, dass er ein Buch schrieb, war seine Englischlehrerin von der Highschool, die ihn ermutigt hatte, mehr zu schreiben, und die behauptet hatte, sie sehe Potenzial in seinen Short Storys und Essays.
Das war wahrscheinlich das Schlimmste, das jemandem mit großen Träumen passieren konnte – eine Person zu haben, die ihn ermutigte.
»Sie wollen es mir immer noch nicht verraten, hm?«
Sie fragte ständig danach, und es war verführerisch, es tatsächlich jemandem zu erzählen. Und sei es aus keinem anderen Grund als dem, es einmal auszusprechen und den Druck auf sich selbst zu erhöhen, das verdammte Ding zu Ende zu bringen. Aber er war noch nicht bereit, sich selbst als Schriftsteller zu bezeichnen. Er war sich nicht einmal sicher, was er mit dem Werk tun würde, mit dem er sich beschäftigte. Es war nicht so, als könnte er es wirklich veröffentlichen. »Ich denke, ich werde mein Geheimnis noch ein kleines Weilchen für mich behalten«, antwortete er mit einem Lächeln.
»Okay. Hm, wenn Sie etwas anderes brauchen als Kaffee, geben Sie Bescheid«, sagte sie mit einem Augenzwinkern, und als sie davonging, hatten ihre Hüften einen neuen Schwung. Sie hatte tolle Hüften und einen tollen Hintern und ein tolles Lächeln. Es war buchstäblich nichts nicht toll an Gillian.
Nur dass sie nicht Ellie war.
Aber er musste vorsichtig sein. Wenn er ständig in den Diner kam, um zu schreiben, würde das Gillian vielleicht auf falsche Gedanken bringen, vor allem da ihre beiläufigen Plaudereien an Flirts grenzten. Er wollte sie nicht an der Nase herumführen.
Die Wahrheit war, dass er zu Hause nicht schreiben konnte. Seine Wohnung war zu still, und irgendwann lenkte er sich immer mit Hausarbeit ab oder mit dem Baseballspiel im Fernsehen. Hier hatte er gelernt, die Hintergrundgeräusche anderer Gäste zu schätzen, das Klappern von Geschirr, das Klimpern der altmodischen Kasse und die Türglocke, wenn Menschen kamen und gingen. Es gehörte alles zum Ambiente, ein Soundtrack, den er nicht wirklich wahrnahm, der ihm aber half, seine eigenen beliebigen, alltäglichen Gedanken zu übertönen, die seine Kreativität störten.
Sein Handy gab ein Tock von sich und zeigte eine neue Nachricht an, und er stöhnte innerlich, als er den Namen seines Bruders Sean im Display sah. Er hatte auf die Nachricht seines Vaters an diesem Tag nicht reagiert, daher hatte dieser ihm seinen Bruder auf den Hals gehetzt.
Er griff nach dem Handy und las:
Monatliches Treffen morgen früh um neun Uhr im Chugach-Ballsaal. Es ist eine Pflichtveranstaltung.
Pflichtveranstaltung. Was bedeutete, dass er, wenn er dem Treffen des Hotelmanagements nicht beiwohnte, seinem Zugang zu seinem Treuhandvermögen einen Abschiedskuss geben konnte. Sein Vater weigerte sich zu glauben, dass er null Interesse am Hotelgeschäft oder daran hatte, sich mit seinem Bruder zusammenzutun, um eines Tages die Leitung des Wild River Resort Hotels zu übernehmen. Er hätte auf das Vermögen verzichtet, wenn es eine Möglichkeit gegeben hätte, den Wohltätigkeitsorganisationen, die er unterstützte, trotzdem noch Geld zu spenden. Es wäre ihm schrecklich, mit dem Spenden aufzuhören, weil er das Geld plötzlich brauchte, das er in der Buchhandlung verdiente, aber er hatte keine Ahnung, wie lange er noch so weitermachen konnte.
Er hatte seine eigenen Ziele …
Ziele, die zu erreichen ein wenig länger dauerte, als er gehofft hatte.
Aber wenn er dieses Buch beenden und sich Eier wachsen lassen konnte, die groß genug waren, um sein Werk tatsächlich Verlagen anzubieten, dann würde er das Geld seiner Familie vielleicht nicht mehr benötigen. Es würde höchstwahrscheinlich außerdem bedeuten, dass er jedwede Verbindungen mit seiner Familie abbrechen musste.
Wenn seine dauerhafte Weigerung, sich dem Familiengeschäft zu widmen, von seinem Vater schon als direkte Beleidigung betrachtet wurde, würde dieses halb fiktionale Projekt, bei dem es sich um seine nur dünn verschleierte Version der Familiengeschichte handelte, noch schlimmer sein. Sein Vater würde Callums Bedürfnis niemals nachvollziehen können, etwas über seine Erfahrungen als Kind und junger Erwachsener zu schreiben, um sie zu verarbeiten, genau wie er nicht verstand, welchen Schaden er ihrer Familie im Laufe der Jahre zugefügt hatte.
Vielleicht war es gar keine Schreibblockade, sondern die Erkenntnis, was dieses Projekt bedeutete, die ihn behinderte. Er starrte auf den letzten Absatz, den er geschrieben hatte, und wünschte sich verzweifelt eine Muse, die mit ihm sprach. Bedauerlicherweise war das einzige Lebewesen, das an einer Kommunikation mit ihm interessiert zu sein schien, die hübsche Kellnerin, die ihn vom anderen Ende des Diners aus beobachtete.
Als Callum am nächsten Morgen das Wild River Resort Hotel betrat, wappnete er sich gegen zwei Stunden benebelnd langweiliger Statistiken und Zahlen in Bezug auf Touristenströme, prognostizierte Einnahmen in der bevorstehenden Saison und Neuigkeiten aus jeder Abteilung des Hotels. Es war jeden Monat die gleiche stumpfsinnige Powerpoint-Präsentation einschließlich jeder Menge gegenseitigen Schulterklopfens. Er war sich nicht sicher, wie viele von diesen Sitzungen er noch ertragen konnte. Er hatte dort wirklich nichts zu suchen, und jeder wusste es. Er hatte nie im Hotel gearbeitet. Als Teenager hatte er dort liebend gern seine Zeit verbracht – den Pool benutzt und das Spa sowie den erstklassigen Fitnessraum –, aber er hatte nicht auf die Weise, wie sein Vater es sich erhofft hatte, eine Leidenschaft für die Tourismusbranche entwickelt. Vielleicht wäre es so gekommen, wenn Callums Großvater das Hotel noch immer geführt hätte. Sein Großvater war ein unglaublicher Geschäftsmann gewesen, der den Standpunkt vertreten hatte, seine größte Ressource seien seine Angestellten. Er hatte jeden, der für eins seiner Hotels arbeitete, wie ein Familienmitglied behandelt. Er hatte jede einzelne Person beim Namen gekannt und etwas an sich gehabt, das jedem das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Er hatte Events mit den Familien der Angestellten organisiert und die Resorts sogar einmal im Jahr für eine Woche geschlossen und die Einrichtungen dem Personal wie Urlaub auf Balkonien angeboten. Callums Großvater hatte die Leitung der Hotels amüsant und aufregend erscheinen lassen, aber als sein Vater die McKendrick-Hotelkette übernommen hatte, war jedwedes Interesse verschwunden, das Callum verspürt hatte. Seinen Vater interessierten Reingewinn und Profit. Punkt. Und das war jedem, der diese monatlichen Meetings besuchte, vollkommen klar.
Bedauerlicherweise hatte man Callum in einen Hinterhalt gelockt.
Im Ballsaal saßen sein Vater und sein Bruder Sean allein an dem langen Konferenztisch aus Mahagoniholz. Sonst niemand. Keine Manager, kein Personal, kein Vorstand, keine Direktoren. Nur die Mitglieder seiner Familie starrten ihn an, verärgert darüber, dass er sich verspätete.
Callum seufzte und trat vor den Tisch. »Dad, Sean … nicht viel los heute, hm?«
»Ich habe das Meeting auf heute Nachmittag verlegt«, eröffnete ihm Alan, sein Vater, der Callums Sarkasmus entweder überhörte oder ignorierte, während er ihm bedeutete, Platz zu nehmen. »Setz dich.«
Der strenge Ton ließ keinen Raum für Widerspruch. Hatte er noch nie. In ihrer Kindheit und Jugend hatten er und sein Bruder schnell gelernt, dass die Dinge auf Alans Art und Weise erledigt wurden oder überhaupt nicht. Die Beziehung zwischen Vater und Söhnen war bestenfalls angespannt gewesen. Beschädigt war der Ausdruck, den ihre Familientherapeutin mehr als einmal benutzt hatte, als es Callums Mutter gelungen war, Alan zu den Sitzungen mitzuschleppen. Nach mehreren Jahren gescheiterter Versuche, ihrem Mann klarzumachen, dass seine fordernde Art, seine Arbeitswut und seine unrealistischen Erwartungen die Familie zerstörten, hatte Carolyn, Callums Mutter, schließlich aufgegeben.
Sie hatte es geschafft, der ungesunden Ehe zu entkommen, aber unglücklicherweise befanden er und Sean sich immer noch in den Schützengräben.
»Was ist los?« Er knöpfte sein Anzugjackett auf, bevor er sich setzte.
Sein Bruder mied seinen Blick und spielte mit einer Reihe von Gummibändern an seinem Handgelenk unter seinem Jackettärmel. Unter dem Tisch wippte er mit den Knien.
Großartig. Worum es auch gehen mochte, es war nichts Gutes.
Sein Vater verschwendete keine Zeit, sondern griff sofort an. »Wie du weißt, gehe ich nächstes Jahr in den Ruhestand, und ich will, dass du dein Leben endlich ernst nimmst.«
Das schon wieder. Es waren fast drei Monate vergangen, seit sein Vater ihm diese spezielle Ansprache das letzte Mal gehalten hatte, daher hätte er mit etwas Derartigem rechnen sollen.
»Ich nehme es ernst.« Und davon abgesehen unterschied sich die Definition seines Vaters von Rente sehr von der der meisten Menschen. Er würde nur in der Theorie in Rente gehen, weil der Vorstand Druck ausübte, Platz für frisches Blut und neue Ideen zu machen. Das Wild River Resort Hotel war schon immer als luxuriöse Absteige in dem Skiort bekannt gewesen, aber in letzter Zeit hatten jüngere Testgruppen klargemacht, dass junge Reisende das Hotel mit seinen braunen Ledermöbeln in den Gemeinschaftsbereichen und seiner Aura, die besagte: »Hier werden Zigarren geraucht, das ist ein Herrenclub« spießig fanden. Der Plan für das folgende Jahr sah vor, das Hotel zu renovieren und ihm eine etwas modernere Anmutung zu geben, mit der jüngeren Generation von McKendricks am Ruder.
Natürlich würde sein Vater seinen Stuhl räumen, aber er würde immer noch einen Finger am Puls der Dinge haben. Callum würde eine Zusammenarbeit mit ihm niemals überleben, selbst wenn er wenigstens etwas Interesse an der Hotelbranche gehabt hätte.
Sein Vater war nicht der Typ Anführer, der zu Zusammenarbeit und neuen Ideen ermutigte. Er war in seinem Managementstil eher diktatorisch veranlagt und behandelte alle unter ihm wie angestellte Hilfskräfte. Er versuchte nicht, sein Personal kennenzulernen, und er war gewiss kein Vertreter der Politik der offenen Tür. Callum und sein Vater waren viel zu unterschiedlich und würden sich auf Schritt und Tritt in den Haaren liegen.
»Ein Job in einer Buchhandlung?«, begann Alan. »Das ist deine Vorstellung von Ernsthaftigkeit? Ich bitte dich, Callum, du hast eine erstklassige Ausbildung. Ist das Übereinanderstapeln von Büchern wirklich das, was du für dich selbst siehst?« Sein enttäuschter Blick war wie ein kräftiger Tritt in die Eingeweide. Als frage er, wie er bei seinem jüngeren Sohn so grandios hatte versagen können.
Erstaunlich, dass er sein Ziel trotzdem mit der Präzision eines Scharfschützen traf.
»Nein, die Buchhandlung ist nicht die einzige Sache …« Aber auf keinen Fall würde er seinem Vater die Wahrheit sagen. Der Versuch, Schriftsteller zu werden, würde wie ein Luftschloss erscheinen. Unerreichbar. Für seinen Vater gab es unterschiedliche Ebenen von Träumen. Der Besitz eines Luxushotels war erreichbar, weil man das mit praktischen Schritten hinbekam – mit einer guten Ausbildung, einem starken eingespielten System und Investoren, einer zuverlässigen Risikoeinschätzung und harter Arbeit. Der Wunsch, zu einem auflagenstarken Autor zu werden, war wie der Wunsch nach einer Sternschnuppe. »Ich arbeite an einigen Dingen«, sagte er nur.
»An was für Dingen?« Alan faltete die Hände auf dem Tisch und beugte sich vor. Der interessierte Gesichtsausdruck des älteren Mannes war ein Trick. Es war die Methode seines Vaters, sich selbst einzureden, er sei offen für alles. Wenn Callum eine andere Option für seine Zukunft präsentieren konnte – eine Option, die sein Vater guthieß –, würde er ihn anhören.
Aber das war ganz und gar nicht der Fall. Was immer Callum jetzt vorschlug, sein Vater würde einen Grund finden, es vom Tisch zu fegen. »Warum kommst du nicht einfach zur Sache, Dad? Du verfolgst mit diesem Treffen offensichtlich eine Agenda, also raus damit.«
Neben ihm starrte Sean auf seine Hände und blieb still. So war es immer. Während Callum ständig mit seinem Vater kämpfte, wusste Sean, dass es keinen Sinn hatte, es auch nur zu versuchen, daher hielt er den Mund.
Schön wär’s, wenigstens ein einziges Mal Rückendeckung von seinem älteren Bruder zu haben.
»Ich will, dass du die Leitung des Hotels übernimmst«, erklärte Alan.
»Und ich habe dir gesagt, dass ich daran kein Interesse habe.« Mehrfach. Seine Worte waren immer auf taube Ohren gestoßen. Sein Vater glaubte fest daran, dass Callum ihm das schuldig war. Dass es Verpflichtungen mit sich brachte, in ein privilegiertes Leben hineingeboren worden zu sein.
»Nun, du hast nicht wirklich Interesse an irgendetwas geäußert«, entgegnete Alan und kam schnell zu dem Teil seiner Ansprache, der das Ultimatum beinhaltete. »Ich werde dir deinen Lebensstil nicht ewig finanzieren.«
Wie viele Male hatte er diese Drohung gehört?
»Ich habe dich niemals darum gebeten.« Der Zugang zu seinem Treuhandvermögen war ihm gewährt worden, als er achtzehn geworden war und unter der Bedingung, dass er seine Ausbildung fortsetzte und das MBA-Programm abschloss. Seine einzige Leidenschaft und sein einziges Interesse hatte dem Schreiben gegolten, daher hatte er nicht gegen die Abmachung protestiert. Er hatte hart gearbeitet an der Uni, hatte einen unangreifbaren Notendurchschnitt präsentiert und seine Wahlfächer benutzt, um Kurse in kreativem Schreiben zu belegen. Es hatte geklappt. Aber jetzt war die Situation eine andere. Er konnte das Unausweichliche nicht länger hinausschieben, da er kein Student mehr war.
»Ich will eine Entscheidung binnen dreißig Tagen«, bestätigte Callums Vater dessen Vermutungen. »Wenn du die Leitung des Hotels übernehmen willst, wirst du nächsten Monat mit deiner offiziellen Einarbeitung anfangen müssen.«
Offizielle Einarbeitung. Unter ihm. Gab es ein schlimmeres Schicksal?
Sein Vater sah ihm geradewegs in die Augen, als er den nächsten Schlag führte. »Entweder gehörst du zu dieser Familie – oder nicht.«
Callum hörte, dass er entlassen war, stand auf und schob den Stuhl wieder an den Tisch. Der Stuhl prallte eine Spur zu abrupt gegen das Holz, und Callum hätte sich dafür treten mögen, dass er seinem Vater erlaubt hatte, seine Gefühlsaufwallung zu sehen.
Die Stimme seines Bruders, der ihm etwas nachrief, als er den Raum verließ, veranlasste ihn stehen zu bleiben und sich im Flur des Hotels umzudrehen. »Du hättest mich warnen können«, sagte er.
Sean wirkte gestresst, als er sich mit einer Hand durch sein kurzes dunkles Haar fuhr. Seine Augen waren blutunterlaufen, und er war definitiv dünner als an dem Tag vor einigen Wochen, als Callum ihn das letzte Mal gesehen hatte. Sein marineblaues Jackett schien an einem skelettdürren Körper herabzuhängen. »Tut mir leid, Mann. Ich hatte keine Ahnung, dass das kommen würde.«
Callum stemmte die Hände in die Hüften und kämpfte darum, seinen donnernden Puls zu beruhigen. Sein Vater wusste besser als jeder andere, wie er ihm unter die Haut gehen konnte. »Ich verstehe es einfach nicht. Wie oft muss ich ihm noch sagen, dass ich kein Interesse an der Leitung des Hotels habe?«
»Du solltest es als Kompliment auffassen«, sagte Sean.
Natürlich empfand sein Bruder es so. Sean hätte alles darum gegeben, dass ihr Vater genauso versessen darauf gewesen wäre, ihm die Leitung zu übertragen. Als ältester Sohn wäre Sean die logische Wahl gewesen. Bedauerlicherweise litt sein Bruder unter extremen Angstattacken. Man brauchte kein Therapeut zu sein, um zu verstehen, woher diese Attacken kamen. Aber trotz des Schadens, den ihr Vater ihm zugefügt hatte, stand Sean mit leidenschaftlicher Loyalität zu dem alten Mann. Callum wusste, dass er im Laufe der letzten Jahre mehrere Angebote konkurrierender Hotelketten abgelehnt hatte. Seine Erfahrung und sein Wissen machten ihn für andere zu einem reizvollen Kandidaten.
Sein älterer Bruder war am Boden zerstört, weil ihr Vater in ihm nicht denjenigen sah, der das Familiengeschäft übernehmen sollte, während selbst Fremde seine Arbeitsmoral und sein Potenzial erkannten. So wie Callum verzweifelt war, dass er als einzig würdig betrachtet wurde.
»Hör mal, er muss einsehen, dass du der bessere Mann für diese Sache bist«, sagte er und berührte Sean an der Schulter. Sein Bruder mochte drei Jahre älter sein als er, aber Callum war immer sein Beschützer gewesen, derjenige, der auf ihn achtgab. Das Selbstbewusstsein seines Bruders war durch die jahrelange Missachtung ihres Vaters erschüttert worden, und das verstärkte Callums Verärgerung über den Mann.
»Er wird mir niemals so vertrauen, wie er dir vertraut«, entgegnete Sean.
»Tja, sollte er aber. Du kennst das Geschäft viel besser als er.« Sein Bruder hatte die Universität nicht abgeschlossen, aber er hatte das Geschäft jahrelang von der Pike auf gelernt. Er hatte in jeder Position des Hotels ein Praktikum gemacht, angefangen von der Buchhaltung über den Service bis hin zur Arbeit an der Rezeption. Er kannte das Hotel in und auswendig und wünschte sich mehr als alles andere, es übernehmen zu dürfen. Er genoss es, mit dem Personal und den Managern zusammenzuarbeiten, und alle mochten und respektierten Sean.
Bis auf die Person, die am meisten zählte.
»Danke, Mann …« Sean starrte zu Boden, während er sprach. »Aber ich muss mich der Realität stellen. Du bist seine erste Wahl, und danach gibt es eine ganze Liste von anderen, die er vor mir in Erwägung ziehen würde.« Das Klatschen der Gummibänder an seinem Handgelenk ertönte wieder.
Callum seufzte, denn er wusste, dass es keinen Sinn hatte zu widersprechen. Sean hatte recht. Ihr Vater hatte null Vertrauen in seinen ältesten Sohn und machte daraus kein Geheimnis. Er behandelte Sean wie ein Arbeitstier, weigerte sich aber, ihm bei großen Entscheidungen zu vertrauen oder ihm Verantwortung zu übertragen.
Callum klopfte seinem Bruder auf die Schulter. »Hey, ich habe ein paar Stunden Zeit, bevor ich zur Arbeit muss. Wollen wir zusammen etwas trinken?«
Sean sah auf seine Armbanduhr. »Es ist halb zehn Uhr morgens.«
»Hast du etwas Besseres vor?«
Sean schüttelte den Kopf. »Lass uns gehen.«