Impressum

1. Auflage März 2022

© 2022 Lilly-Grace Turner

Tempus Logus Verlag Luzern, Tribschenstrasse 70, 6005 Luzern,
tempuslogus.ch

Lektorat: büropia, Wolma Krefting, bueropia.de

Korrektorat: Corinna Rindlisbacher, ebokks.de;

Annett Kreil, www.schreibatelier.coach

Cover: Juliane Schneeweiss, juliane-schneeweiss.com

Bildmaterial: Hintergrund © Depositphotos.com/Vitalina_G

Frau © Depositphotos.com/liqwer20

Wolf © Depositphotos.com/manvez

Bokeh © Depositphotos.com/tomert

Gestaltung: Corinna Rindlisbacher, ebokks.de

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7543-6518-2

Liebe Leserin, lieber Leser,

in dieser Geschichte wird es keine wirklichen Helden geben – nur Menschen, die anderen Menschen glauben, die andere Menschen betrügen, die andere Menschen lieben, die für andere Menschen da sind, die sich über andere Menschen stellen. Irgendwie ist bei diesem Roman alles ein bisschen anders gelaufen. Ich hatte ihn fast zu Ende geschrieben und habe dann über 100 Seiten wieder gelöscht. Ich war nicht zufrieden. Jetzt bin ich es. ☺

Ich hoffe, die Geschichte gefällt dir so sehr wie mir, auch wenn sie vielleicht ein bisschen anders ist, als du denkst, oder möglicherweise genauso, wie du es dachtest? So oder so, ich wünsche dir vergnügliche Lesestunden.

Herzlichst
Lilly-Grace Turner

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

Der Mond leuchtete in seiner vollen Gestalt am Himmel. Ein Käuzchen rief nach seinem Gefährten, und die Sterne versuchten, das silberne Schimmern des Vollmondes zu übertreffen.

»Erzähl mir die Geschichte von der Hexe, bitte, Grama!« Alice sah ihre Großmutter flehend an. Sie saßen nebeneinander auf einem Holzstrunk vor dem Feuer, das knisternd ein Holzscheit um das andere fraß.

»Kannst du sie nicht schon selbst erzählen?«, fragte Grama lächelnd.

Alice verzog schmollend ihren Mund. »Ach«, murrte sie.

»Und bist du nicht schon zu alt, um den Geschichten einer alten Frau wie mir zu lauschen?«

Es war ein Spiel, das sie spielten, seit Alice den Kinderschuhen entwachsen war. Sie legte Grama einen Arm um die die Hüfte und lehnte ihren Kopf an deren Schulter. »Du bist nicht alt, und auch wenn ich schon siebzehn Sommer zähle, so werde ich es nie müde sein, deiner klangvollen Stimme zuzuhören. Also bitte erzähl mir die Geschichte.«

Grama tat, als müsste sie noch überlegen, aber dann räusperte sie sich, und Alice schloss ihre Augen.

»Es war einmal eine böse Hexe, die in den Wäldern Ralas hauste. Sie hatte langes, schwarzes Haar und Augen wie Opale. Sie war schön und doch haftete ihr etwas Erschreckendes, Kaltes an. Vielleicht lag es daran, dass sie kein Herz hatte. Sie hatte es dem Teufel geopfert, um mächtiger zu werden, doch er hatte sie überlistet und sie zu einem Werkzeug seiner Begierde gemacht.«

»Unschuldige Seelen«, hauchte Alice.

»Ja, genau«, bestätigte Grama. »Nach nichts dürstet es den Teufel mehr als nach unschuldigen Seelen. Und wessen Seele ist am unschuldigsten?«

»Die eines Kindes«, flüsterte Alice heiser. Ein Schauer jagte ihren Rücken hinunter, obwohl sie die Geschichte schon tausendmal gehört hatte.

»Richtig. Deswegen lockte die Hexe mit ihrem Gesang Kinder in den Wald. Eines nach dem anderen fraß sie. Das Blut der Kinder benetzte den Boden des Waldes, und die Bäume weinten um die jungen Geschöpfe, die ihr Leben lassen mussten. Und mit jedem Kind, das starb, starb auch der Wald ein Stückchen mehr.

Lange Zeit wagte es niemand, sich der Hexe entgegenzustellen. Doch eines Tages nahm ein junger Mann namens Amon sich vor, gegen die böse Frau aufzubegehren. Bevor er das tat, bestieg er den Berg Ruhanja. Auf dem Gipfel angekommen, kniete er sich hin und betete zu den Ahnen und ersuchte den Schöpfer, ihm beizustehen im Kampf gegen die Hexe – zum Wohl aller Lebewesen im Wald.

Die meisten der Menschen in Rala hielten den jungen Mann für verrückt, als er schließlich aufbrach«, erzählte Grama in ihrem sanften Tonfall, den Alice so sehr mochte. Niemand konnte so gut erzählen wie sie.

»Nur Amons Eltern standen hinter ihm«, fügte Alice an. Es war eine Art Tradition, dass Alice Teile der Erzählung ergänzte.

Die Großmutter nickte. »Fest im Vertrauen, dass sein Gebet erhört worden war, ging Amon in den Wald. Die Ahnen hatten ihm Zeichen gegeben, dass er es in einer sternenklaren Nacht bei Vollmond tun sollte. Der Weg zur Hexe war gesäumt von sterbenden oder bereits toten Bäumen, Büschen und Blumen. Hier und dort lagen verendete Tiere und verströmten einen süßlich modrigen Geruch.«

Alice schauderte. Ihre Fantasie zeichnete in ihrem Kopf grausig lebendige Bilder.

»Als Amon sich der Lichtung näherte, auf der die Hexe wohnte, spürte er, wie seine Haut kribbelte. Er schob es der Aufregung zu, doch dann plötzlich strömte eine Hitzewelle durch ihn hindurch, und er sah, wie die Nägel an seinen Händen zu Klauen wurden. Amon verwandelte sich in einen großen, schwarzen Wolf. Ein Wolf, der so dunkel wie die Nacht war und so groß wie ein ausgewachsener Ochse. Amon spürte eine unbändige Kraft in sich pulsieren. Diese Kraft schenkte ihm den Mut, die Lichtung zu betreten. Er erblickte die Hexe, die ein zitterndes Kind am Handgelenk gepackt hielt. Über einer Feuerstelle hing ein riesiger, silberner Topf, in dem heißes Wasser brodelte. Amons Augen glühten gelb in der Nacht.

Unter seinem drohenden Blick war es nun an der Hexe zu erzittern. Denn nie zuvor hatte sie solch ein Wesen gesehen. Doch ihr Schrecken hielt nicht lange an. Sie stieß das Kind zur Seite. Der kleine Junge fiel weinend zu Boden. Wie Espenlaub bebte sein Körper. Doch er rührte sich nicht. Die Hexe griff sich ein Holzscheit aus dem Feuer. Mit der lodernden Waffe in der Hand ging sie dem Wolf entgegen.

›Leg das Scheit beiseite‹, sagte Amon. ›Ich habe keine Angst vor den Flammen.‹

Da blieb die Hexe verwundert stehen. Für einen Moment senkte sie ihre Waffe.

›Du sprichst wie ein Mensch‹, sagte sie mit Entsetzen in den Augen, ›wie kann das sein?‹ Und der Wolf antwortete: ›Weil ich bei Tage ein Mensch bin und bei Nacht ein Wolf. Bei Nacht bleiben mir drei Gaben des Menschen und bei Tag drei Gaben des Wolfs.‹

Die Hexe wurde bleich ob seiner Worte. Sie rief: ›So etwas kann nicht sein!‹ Und Amon antwortete: ›So etwas wie dich darf es nicht geben!‹ Und dann …«

Grama hielt in ihrer Erzählung inne, damit Alice wie damals als kleines Mädchen dazwischenrufen konnte: »… sprang der Wolf die Hexe an. Er riss ihr die Kehle auf und ihr Blut tränkte den Boden.«

Großmutter und Enkelin sahen sich ernst an.

»Genau.« Grama nickte. »Das Blut tränkte den Boden, nährte ihn. Fast augenblicklich begannen die sterbenden Bäume wieder zu wachsen und zu sprießen.«

»Doch sie wuchsen viel höher als gewöhnliche Bäume und deswegen wird der Wald von Rala der magische Wald genannt«, rundete Alice die Erzählung ihrer Großmutter ab.

»Genau«, erwiderte diese erneut.

Schweigen senkte sich über die beiden Frauen. Nur noch das Knistern des Feuers war zu hören, das Rascheln der Blätter im Wind und das Knarzen des Geästs. Alice blickte hoch, versuchte, zwischen den Zweigen den Himmel zu erkennen. Dann und wann konnte sie ihn sehen sowie die kleinen, weißen Punkte, die Sterne. Sie fragte sich, wie weit sich der Nachthimmel erstreckte und was sich wohl an seinem Ende befand. Ob er am selben Ort endete wie der Regenbogen? Sie hatte ihre Großmutter schon als Kind ausgefragt, aber Grama konnte ihr keine Antworten geben.

»Ich habe nichts von der Welt gesehen«, hatte sie geantwortet. »Aber ich habe wie du viel geträumt.«

Alice hatte darauf erwidert: »Ich will nicht nur davon träumen. Eines Tages will ich bis ans Ende der Welt gehen.«

Ihre Großmutter hatte gelächelt und genickt, ohne etwas dazu zu sagen. Alice glaubte zu wissen, dass Grama das immer tat, wenn sie von etwas nicht überzeugt war. Das ärgerte sie und sie fühlte sich dann nicht ernst genommen.

»Bist du nicht müde?«, fragte Grama und riss Alice aus ihren Gedanken. Die junge Frau schüttelte den Kopf.

»Ich bin es. Ich gehe ins Haus.« Sie erhob sich.

Alice nickte.

»Lösch das Feuer bitte sorgfältig.«

»Selbstverständlich.«

»Danke.« Grama beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie auf die Stirn. »Bleib nicht zu lange wach.«

»Nur noch einen Moment. Schlaf gut, Grama.«

Alice blickte lächelnd ihrer Großmutter nach, die langsam ins Haus zurückkehrte. Die Welt würde noch etwas warten müssen, solange Grama am Leben war. Alice wollte sie nicht allein lassen. Auch wenn ihre Grama alles andere als hilflos war, erschien es ihr nicht recht. Alice wohnte bei ihrer Großmutter, seit ihre Eltern an dem Fieber gestorben waren, das vor elf Jahren in Rala gewütet hatte. Es war eine schreckliche Zeit gewesen.

Zuerst erkrankte ihre Mutter, dann ihr Vater. Sie erinnerte sich noch an den Tag, als ihr Vater sie am Handgelenk packte, die Stirn schweißnass, die Augen verzweifelt geweitet.

»Du musst zu Grama gehen!«, hatte er überraschend laut gesagt. »Lauf durch die Stadt, lauf an den Bauernhöfen vorbei in den Wald, so schnell du kannst.«

»Aber, Papa …«, erwiderte Alice.

»Kein Aber!«

Sie zuckte erschrocken zusammen. So harsch hatte ihr Vater nie mit ihr gesprochen. Langsam nickte sie.

»Zieh dein rotes Mäntelchen an und renn. Bleib nicht stehen und schau dich nicht um. Lass dich von niemandem zurückhalten.«

Ihre Knie zitterten, als sie den Mantel mit der Kapuze anzog. Er war aus Filz und würde sie vor dem Regen schützen.

»Papa, Mama, ich möchte aber nicht gehen.«

»Wenn du bleibst, wirst du sterben«, sagte die Mutter. Sie lag neben dem Vater im Bett. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern. Die Augen hielt sie geschlossen. »Es würde mein Herz brechen, wenn du stirbst, Alice. Also bitte geh, wie dein Vater es gesagt hat.«

»Ich möchte euch noch Auf Wiedersehen sagen.« Sie trat ans Bett und küsste ihre Mutter auf die Stirn – so wie es jene normalerweise zu tun pflegte, wenn sie ihre Tochter zu Bett brachte. Die Mutter öffnete kurz die Augen und lächelte sie an. »Ich bin stolz auf dich, mein mutiges Mädchen.«

Dann ging Alice zu ihrem Vater und drückte auch ihm einen Kuss auf die Stirn.

»Ich liebe dich!«, sagte er.

Alice wandte sich schließlich schweren Herzens von ihren Eltern ab. Sie knöpfte das Mäntelchen zu und zog sich die Kapuze über den Kopf. Ihre wilden, dunkelbraunen Locken quollen darunter hervor, als wären sie eingesperrte Tiere.

»Lauf!«, rief ihr Vater unter Aufbringung seiner letzten Kräfte.

Alice gehorchte. Sie eilte die Treppe des Riegelhauses hinunter, stieß die Tür auf und trat hinaus. Kurz blickte sie nach rechts und links, ehe sie dem Rat ihres Vaters folgte und die enge Straße, die sich durch die Reihen der Häuser wand, hinunterrannte. Der Geruch von Tod und Feuer lag schwer in der Luft. Sie hörte Menschen ächzen und stöhnen. Menschen, die einander anschrien, Menschen, die weinten. Sie riss die Hände hoch, drückte sie fest an ihre Ohren. Tränen traten ihr in die Augen. Sie biss die Zähne zusammen, hörte das letzte Wort ihres Vaters wie ein Echo: »Lauf!«

Die Verzweiflung, das Flehen darin trieben sie voran. Als sie den Wald erreichte, war sie außer Atem. Sie blieb stehen, keuchte und hustete. Sie wischte sich die Tränen, die ihr die Sicht trübten, mit den Handrücken ab, und mit dem Ärmel ihres Mäntelchens trocknete sie sich die tropfende Nase. Die Kapuze war während des Laufens nach hinten gerutscht, ihre Locken waren regennass.

Hier stand sie also am Waldrand, wo sie schon so oft mit ihren Eltern entlanggegangen war, hinein in die Tiefe des magischen Waldes bis zu dem Häuschen, in dem Grama wohnte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals und das lag nicht nur am Rennen, sondern war auch der Tatsache geschuldet, dass es langsam dunkel wurde. Es gab Geschichten über den magischen Wald, die von Wölfen und Vampiren erzählten. Ein kalter Schauer jagte ihren Rücken hinunter. Sie ballte entschlossen ihre Hände zu Fäusten. Sie musste sich beeilen. Wenn sie ganz schnell war, dann würde sie das Haus bestimmt noch erreichen, bevor es finster wurde. Sie lief weiter. Sie rannte nicht mehr, denn dafür hatte sie keine Kraft mehr, aber sie ging mit kleinen eiligen Schritten, bis sie zu einem Scheideweg kam. Eine Gabelung, von der drei Pfade wegführten. Verzweiflung keimte in Alice auf. Geradeaus waren sie nie gegangen, dessen war sie sich absolut sicher, aber gar nicht sicher war sie sich, ob sie sich nach rechts oder links wenden sollte.

»Oh lieber Gott«, rief sie mit dünner Stimme. »Wohin soll ich gehen?«

Sie erinnerte sich an ein Abzählspiel und änderte die Worte etwas ab: »Bitte. Sag. Mir. Lieber. Gott. Wohin. Ich. Gehen. Soll. Wo. Wohnt. Grama?« Ihr Zeigefinger deutete auf den Weg nach rechts. Sie zögerte, sah hoch zum Himmel, von dem hier nicht viel zu erkennen war, da die Bäume so dicht standen, dass sich die Äste aufeinander zustreckten, als würden sie sich nach einer Umarmung sehnen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis es zappenduster sein würde. Alice musste eine Entscheidung fällen. Kurzerhand folgte sie dem rechten Weg. Sie ging und ging, aber die Lichtung, auf der ihre Großmutter wohnte, kam nicht in Sicht. Ehe sie sich’s versah, war es pechschwarz um sie herum. So als hätte jemand die Kerze in einem Zimmer ausgeblasen.

Alice tastete sich an einen Baum heran. Ihre Finger krallten sich verzweifelt in die Rinde, als könnte der Stamm sich öffnen und ihr den Weg zu Gramas Haus zeigen. Sie wusste nicht, wie lange sie dastand, in der Dunkelheit, und bei jedem Ächzen und Knacken der Äste zusammenzuckte. Plötzlich ertönte eine Stimme: »Warum weinst du? Hast du dich verlaufen?«

Alice fuhr erschrocken herum, den Rücken an den Baumstamm gepresst. Erst sah sie nur zwei gelbe Augen, die zu schweben schienen, etwa eine Armlänge über dem Boden.

Sie hielt den Atem an.

»Keine Angst«, sagte die Stimme und nun klang sie wie die eines Jungen, jedoch etwas tiefer.

Die Augen kamen näher und dann schälte sich aus der Dunkelheit ein Tier – ein Wolf!

»Tu mir nichts!«, flehte Alice.

»Keine Angst«, wiederholte der Wolf.

»Du … du kannst sprechen … Bist du verzaubert?«, fragte Alice und entspannte sich ein wenig.

»Ja, vielleicht bin ich das?« Er legte den Kopf schief, sodass es wirkte, als würde er sich selbst die Frage stellen. Er setzte sich hin. Sein Fell war sehr dunkel und zottig. Alices Angst wich gänzlich der Faszination. Einer Faszination, die nur Kindern zu eigen ist und ganz wenigen Erwachsenen, die immer noch das Kind in sich bewahren.

»Ja, aber natürlich. Du lebst in diesem Wald und du kannst sprechen, also musst du verzaubert sein. Weißt du das wirklich nicht?«, wunderte sie sich.

»Ach«, seufzte der Wolf ausweichend. »Hast du dich verlaufen?«, stellte er erneut die Frage, ohne die ihre zu beantworten.

»Ja«, schluchzte Alice auf. Nicht aus Angst, sondern weil sie sehr müde und durchnässt war. Sie schlang die Arme um sich, um das Zittern abzuschwächen.

»Wo wolltest du hin?«, fragte der Wolf.

»Zu meiner Großmutter. Sie wohnt hier im Wald«, erklärte Alice. »Aber ich habe den falschen Weg genommen …«

Der Wolf legte wieder seinen Kopf schief. Dieses Mal wirkte er nachdenklich. »Du bist pudelnass und müde. Ich weiß nicht, wo deine Großmutter wohnt, aber ich lebe in einer Höhle nicht weit von hier.«

»Mit anderen Wölfen?«, fragte Alice erschrocken.

»Aber nein, ich hause dort allein«, erwiderte er.

»Du kannst auf meinen Rücken klettern und ich trage dich dorthin.«

Alice zögerte. Sollte sie dem Wolf blindlings vertrauen? Eigentlich hatte ihr Vater gesagt, sie solle sich von niemandem aufhalten lassen. Aber er hatte ja auch nicht geahnt, dass sie sich verlaufen würde. Und der Regen wurde immer stärker.

»Hast du Angst?«, fragte der Wolf mit sanfter Stimme.

»Ein bisschen«, räumte sie ein.

»Dass ich dich fresse?«

»Ja, auch.« Alice blickte auf ihre Füße hinunter.

»Und weshalb noch?«

»Ich möchte dir nicht wehtun, wenn ich auf deinem Rücken sitze. Du bist kein Pferd«, antwortete Alice.

Der Wolf lachte. »Keine Sorge, ich bin sehr stark.« Die gelben Augen funkelten amüsiert.

Alice hatte also all ihren Mut zusammengenommen und war auf den Rücken des Tiers geklettert. Sein Fell war ganz weich, aber nass vom Regen, doch das spielte keine Rolle, sie war es ja auch. Und so hatte der Wolf sie zu seiner Höhle geführt.

»Träumst du mit offenen Augen von fremden Ländern?« Es war die vertraute Stimme, die sie aus ihren Erinnerungen riss. Ihre Mundwinkel krümmten sich nach oben. Sie sah über das Feuer hinweg in ein Paar gelbe Augen, die umrahmt waren von einem schwarzen, zotteligen Fell.

»Amon«, sagte sie leise.

Der Wolf kam langsam näher. Damals, in jener regnerischen Nacht, hatte er bereits die Statur eines ausgewachsenen Wolfs gehabt, aber über die Jahre war er doppelt so groß geworden. Er war riesig, und unter seinem Fell konnte sie bei jeder Bewegung seine Muskeln spielen sehen. Er lächelte und entblößte dabei seine spitzen Zähne.

»Ich habe mich daran erinnert, wie wir uns zum ersten Mal getroffen haben«, erwiderte Alice.

»Aha«, sagte er und setzte sich neben sie.

»Ich hatte solche Angst. So wie ich sie nie wieder hatte seitdem«, gestand sie.

»Vor allem hast du geglaubt, ich würde dich fressen wollen«, sagte Amon amüsiert.

»Gar nicht wahr«, sagte sie lachend.

»Tatsächlich?« Der Wolf grinste.

Alice nickte.

Schweigen senkte sich über die beiden.

Ihre Freundschaft hielt über all die Jahre, und doch gab es immer ein Geheimnis zwischen ihnen. Eines, das Amon um jeden Preis hütete.

Damals war er mit ihr zur Höhle gegangen. Vor dem Eingang bat er sie, abzusteigen und zu warten. Es sei dunkel in der Höhle, aber er werde für etwas Licht sorgen. An die Felswand gelehnt stand Alice da, zitternd, die Arme um ihren Körper geschlungen. Sie hörte schleifende Geräusche, ein Poltern und schließlich das Schlagen von Stein auf Stein. Plötzlich brannte ein Feuer und Alice sah die kauernde Gestalt eines nackten Jungen, der ihr den schmalen Rücken zugekehrt hatte.

»Wo ist der Wolf?«, fragte sie. Ihr Herz schlug schneller.

»Ich bin der Wolf«, antwortete der Junge, ohne sich umzudrehen. Seine Stimme klang etwas seltsam. Sie hatte das Gefühl, er würde sie absichtlich tiefer klingen lassen.

»Du bist wie Amon in der Geschichte!«, rief sie aufgeregt aus. »Bist du DER Amon, der die Hexe getötet hat?« Vor ihren Augen verwandelte sich der Junge wieder in einen Wolf. Dann erst wandte er sich ihr zu.

»Nein, ich bin nicht dieser Amon«, antwortete er. »Ich trage bloß den gleichen Namen.«

Alice trat näher an das Feuer heran, um sich aufzuwärmen. Amon setzte sich neben sie.

»Warum hast du dich wieder in einen Wolf verwandelt?«, fragte sie ihn.

Er zögerte. »Niemand darf meine menschliche Gestalt sehen.«

»Wieso?«

Der Wolf blickte in das Feuer. »Es gibt Menschen, die jagen Wölfe wie mich. Sie hassen die magischen Kreaturen. Sie halten uns für Geschöpfe des Teufels.«

»Aber du bist kein Kind des Teufels, oder? Schließlich hat doch Amon die böse Hexe besiegt und damit Rala von ihr befreit.«

»Das ist nur eine Geschichte«, meinte der Wolf, immer noch die Flammen beobachtend, die am Holz knapperten.

»Aber die Bäume hier im Wald sind höher gewachsen als anderswo. Das ist doch wegen des vergossenen Blutes der Hexe«, beharrte Alice.

Nun blickte der Wolf sie an. »Mag sein, aber auch wenn es wahr ist, hat sich das Blatt gewendet.«

»Das ist traurig«, meinte Alice. »Jeder Wolf sollte in Erinnerung an Amon geehrt werden.«

Der Wolf seufzte.

»Mein Name ist übrigens Alice.« Sie sah sich in der Höhle um. Holz lag aufeinander geschichtet auf der einen Seite, und auf der anderen gab es einen Schlafplatz aus Stroh und einer Decke. Sogar ein Krug und etwas, das wie Brot und Wurst aussah, lagen dort.

»Schöner Name«, meinte der Wolf und bemerkte Alices sehnsüchtigen Blick auf die Speisen. Er bot ihr das Essen an. Sie griff beherzt zu.

Sie redeten lange miteinander. Alice erzählte von dem Fieber, ihren Eltern, die sie zurücklassen musste, und dass sie nun ihre Großmutter suchte. Amon hörte ihr aufmerksam zu. Irgendwann legten sie sich auf das Lager aus Stroh. Der Wolf überließ ihr die Decke. Aneinandergeschmiegt schliefen sie ein.

Am nächsten Morgen half Amon ihr, das Haus der Großmutter zu finden. Er blieb jedoch im Gebüsch verborgen, als sie zur Tür ging. Er sagte, er wolle sehen, ob die Großmutter wirklich da war.

»Willst du Grama nicht kennenlernen?«, hatte sie gefragt, aber der Wolf hatte seinen Kopf geschüttelt. »Je weniger Menschen von mir wissen, desto besser.«

Alice tauchte aus ihren Erinnerungen auf und war wieder in der Gegenwart. »Wirst du mir eines Tages deine vollständige menschliche Gestalt zeigen oder zumindest deinen wahren Namen verraten?«, fragte sie.

Der Wolf seufzte. »Wie oft hatten wir das schon?«

Alice rollte mit den Augen. »Nach all den Jahren vertraust du mir immer noch nicht.«

»Ich schütze dich. Das ist alles.«

»Blödsinn«, brummte Alice. Sie wickelte sich eine Haarsträhne um den Zeigefinger und ließ sie wieder fallen.

»Nein, es gibt Gerüchte, dass Pfarrer Sefrenius den Acranum-Orden gerufen hat.«

Ein kalter Schauer jagte Alices Rücken hinunter. Der Ruf des Ordens war sogar bis nach Rala gedrungen, und dabei lag Rala fernab von allem, jedenfalls aus der Sicht von Alice. In Rom von der Kirche gegründet, hatte sich der Orden der Rettung der Menschenseelen verschrieben oder anders gesagt: »Sie jagen Hexen, Vampire und Mann…« Das letzte Wort blieb Alice im Hals stecken.

»Mannwölfe«, vollendete Amon für sie.

»Dann darfst du dich nicht mehr in einen Wolf verwandeln, wenn diese Ordensleute hier sind«, überlegte Alice und fügte ein flehendes »Bitte« an.

»So einfach ist das nicht«, erwiderte Amon. »Ich kann eine Weile die Verwandlung zurückhalten, aber auf immer geht es nicht. Es macht mich krank. Ich habe es schon einmal versucht. Wenn wir unser wahres Wesen unterdrücken, dann werden wir sterben.«

Alice streichelte dem Wolf über den Kopf. »Ich möchte aber nicht, dass dir etwas geschieht.«

»Ich werde vorsichtig sein«, versprach Amon und setzte etwas leiser hinzu: »Es kann aber sein, dass wir uns nicht mehr so oft sehen können. Eigentlich wäre es sogar besser, wenn wir uns gar nicht mehr treffen. Denn jedes Mal, wenn ich dich aufsuche, bringe ich dich in Gefahr.«

»Aber noch sind die Kirchenmänner nicht hier, nicht wahr?« Alice sah ihm in die gelben Augen. »Und wenn du mich zum Beispiel in deiner menschlichen Gestalt besuchen würdest, dann gäbe es gar keine Gefahr.« Sie lächelte.

»Nein!«, sagte Amon scharf. »Das geht wirklich nicht.«

»Ich möchte dich aber nicht weniger häufig sehen«, gestand Alice. »Ich genieße deine Gesellschaft, unsere Gespräche.«

Amon schwieg. Er schien nachzudenken. Alice hoffte, er würde seine Meinung ändern.

»Es ist zu gefährlich. Die Männer des Acranum-Ordens sind unberechenbar. Sie werden nach Rala kommen und Angst schüren. Sie werden Geschichten von Frauen erzählen, die über Hexenkräfte verfügen, die sich bei Vollmond mit dem Teufel vermählen und ihre Mitmenschen mit Flüchen belegen. Sie erzählen Geschichten von Vampiren, die nachts den Menschen das Blut aus den Adern saugen. Sie behaupten, sie erkennen, wer ein Vampir werden könne. Sie werden so viele Geschichten erzählen und so glaubhaft vermitteln, dass sie im Namen von Gott und zum Wohle der Menschen handeln, dass es niemand infrage stellen wird.«

Amon zeichnete eine düstere Zukunft für Rala. Alice schüttelte den Kopf. »So leicht lassen sich Menschen doch nicht einwickeln. Warum weißt du so viel über den Acranum-Orden?«

»Weil einmal schon jemand hier gewesen ist«, erwiderte Amon. »Frag deine Großmutter nach dem Orden.«

»Dann wird sie wissen wollen, woher ich den Namen kenne«, meinte Alice schmunzelnd. »Dann wäre ich gezwungen, von dir zu sprechen.«

»Ach, Alice«, meinte Amon. »Du gibst nie auf.«

Sie wusste, dass sie mit siebzehn zu alt war, um sich schmollend zu geben, doch Alice schürzte trotzdem ihre Lippen. »Es ist schwierig, mit gar keinem Menschen über dich zu reden. Ich muss immer derart auf der Hut sein, dass ich mich nicht verplappere.«

»Und das weiß ich zu schätzen.« Amons Ohren bewegten sich hin und her. »Deine Großmutter geht zur Tür.«

»Du hörst so gut!«

Amon lachte leise, als würde er befürchten, dass auch Grama gut hören konnte. »Warum, denkst du, sind meine Ohren so groß?«

Alice lachte auch. »Und deine Augen sind so groß, damit du mich besser sehen kannst?«

»Ja, und mein Mund ist so groß, damit ich dich fressen … ach, nein …« Er stand auf, schüttelte sich und fügte an: »Damit ich dich beschützen kann, wenn es sein muss.« Sein Lachen war verstummt. Die Worte waren voller Ernsthaftigkeit.

Alice wurde ebenfalls ernst. »Bin ich denn in Gefahr?«

»Pass einfach gut auf dich auf«, meinte Amon. »Ich muss gehen.« Und mit wenigen Sätzen war er im Gebüsch verschwunden. Keine Sekunde zu spät, denn die Tür des Hauses öffnete sich und Grama rief: »Alice, du sitzt ja noch immer hier draußen, ist dir nicht kalt?«

Ihre Enkeltochter erhob sich und trat die letzte Glut des Feuers aus. »Nein, aber ich komme jetzt rein.«

Grama hielt ihr die Tür auf. »Du bist wie dein Großvater«, meinte sie lächelnd.

Alice erwiderte das Lächeln. »Wieso?«

»Er war auch so eine Nachteule.« Gramas Augen glänzten feucht und verträumt.

»Du vermisst ihn sehr.«

»Jeden Tag«, bestätigte sie. »Er war ein außergewöhnlicher Mann. Ich habe nie wieder einen mutigeren, gütigeren und herzlicheren Mann getroffen als ihn.«

»Ich wünschte, ich hätte ihn kennengelernt«, sagte Alice mit einem Seufzer, ehe sie ihre Großmutter tröstend in die Arme nahm.

»Er lebte in deinem Vater weiter und ein Teil von ihm auch in dir. Das tröstet mich und macht mich auch glücklich«, sagte Grama leise.

Alice dachte an Amons warnende Worte. Sie wollte Grama davon erzählen, aber dann erinnerte sie sich, dass sie dann auch das Geheimnis um den Mannwolf preisgeben musste, und das konnte sie nicht. Sie hatte es ihm versprochen, und Alice hielt sich an ihre Versprechen.

»Schlaf gut«, sagte sie und küsste ihre Großmutter auf die Stirn. Früher hatte Grama das immer bei ihr getan, aber seit Alice sie um einen ganzen Kopf überragte, hatte sie es übernommen. Manchmal kicherte ihre Großmutter darüber wie ein kleines Mädchen und sagte: »Wann haben wir die Rollen getauscht?«

Heute Abend sagte sie es jedoch nicht. Sie wirkte etwas müde.

2. Kapitel

Der Morgen kam viel zu schnell. Alice hatte nicht sofort einschlafen können. Ihre Gedanken kreisten die ganze Zeit um die Worte Amons. Sie dachte an den Pfarrer der Stadt. Eine unsympathische Persönlichkeit, dessen Wanst und volle Lippen im Gegensatz zur Enthaltsamkeit standen, die er am Sonntag von der Kanzel predigte. Pfarrer Sefrenius war erst seit knapp einem Jahr im Amt. Alice vermisste den alten Pfarrer Franz. Er war ein kleiner Mann mit dichtem, grauem Haar und einem langen Bart gewesen. Als Kind hatte Alice immer gedacht, er wäre vielleicht Jesus, der sich in Rala versteckte und auf ewig lebte. Mit seinen gütigen, braunen Augen und dem steten Lächeln auf den Lippen war er bei allen Bewohnern des Städtchens beliebt gewesen. Er hatte immer und für jeden die passenden Worte gefunden. Einmal hatte Alice ihrer Großmutter von ihrer Überlegung erzählt. Grama hatte nachsichtig gelächelt und erklärt: »Nun, ich verstehe, warum du das denkst. Er hat sicherlich ein großes Herz wie Jesus, aber trotzdem ist er nur Franz, der Pfarrer.«

Als er dann immer älter geworden war und im letzten Jahr schließlich gestorben war, war es für Alice endgültig klar, dass er einfach nur ein Mensch gewesen war. Wobei »einfach« das falsche Wort war. Dafür hatte er zu viel Gutes geleistet mit seinen weisen Predigten am Sonntag, aber auch durch seine tatkräftige Unterstützung, wo immer sie gebraucht wurde. Wenn er gehört hatte, dass eine Familie in Schwierigkeiten war, hatte er selbst mit angepackt, um ihnen zu helfen, und damit auch andere Menschen mobilisiert, seinem Vorbild zu folgen. Und so war es kein Wunder gewesen, dass ganz Rala um ihn trauerte, als er dahinschied. Sefrenius, der neue Pfarrer, hatte so von Anfang an einen schweren Stand gehabt, und als er Neues einführte, waren die meisten Bewohner Ralas nicht begeistert davon.

Einmal war Grama nach einem Gottesdienst gänzlich erschüttert gewesen. Sefrenius hatte den Ablassbrief vorgestellt. Mit diesem Schreiben, das man gegen eine sehr hohe Bezahlung erwerben konnte, wurden einem die Sünden erlassen. Der Brief wurde gesiegelt und war angeblich vor Gott gültig.

Vor der Kirche hatte Alice geflüstert: »Grama, geht es dir nicht gut?«

»Dieser Mann ist schlecht«, hatte die Großmutter leise erwidert. »Macht und Geld sind sein Antrieb.«

Alice hatte lange nicht mehr daran gedacht, aber nun war ihr die Erinnerung an die Unterhaltung wieder so lebendig, als wäre es erst gestern gewesen. Und genau dieses Gespräch und Amons Warnung hielten sie wach. Sie spürte eine dunkle Vorahnung in ihrem Herzen, so als würde ein sehr kalter Winter auf sie zukommen, obwohl dieser Winter noch weit weg war. Schließlich hatte der Sommer erst begonnen.

Trotz des düsteren Gefühls siegte irgendwann doch die Müdigkeit, und Alice glitt in einen traumlosen Schlaf. Als der Hahn krähte, fühlte sie sich nicht ausgeruht. Auf müden Beinen schlurfte sie in die Küche, wo Grama gerade dabei war, den Frühstücksbrei aus Hafer und Gerste zuzubereiten.

»Guten Morgen, Alice.« Die Großmutter blickte auf. Ihr Gesichtsausdruck war so müde, wie Alice sich fühlte.

»Guten Morgen, Grama. Hast du schlecht geschlafen?«

Die Großmutter nickte. »Ich habe ein ungutes Gefühl, als würde sich etwas Dunkles am Himmel zusammenbrauen. Ein Gewitter.«

»Denkst du, etwas wird passieren?«

Grama zuckte mit den Schultern. »Vielleicht täusche ich mich.«

»Du hast dich doch noch nie getäuscht«, meinte Alice.

»Ich weiß, aber ich habe mir jedes Mal gewünscht, es wäre so.« Sie wussten beide, wovon die Großmutter sprach. Damals, bevor die Seuche ausbrach, waren Alice und ihre Eltern zu Besuch gewesen, und Grama hatte noch geschlafen, als sie bei ihr eintrafen. Sie war in einem schrecklichen Traum gefangen, der sie das energische Klopfen ihres Sohnes nicht hören ließ. So hatte der Vater einfach das Haus betreten und nach seiner Mutter gerufen. Bleich war sie aus dem Bett gestiegen. In ihren Augen hatte eine große Unruhe gelegen, und obwohl Alice damals noch ein kleines Kind gewesen war, konnte sie sich noch genau an die Worte von Grama erinnern: »Der Wolf hat mir die Zukunft gezeigt, aber ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, es war schrecklich und ich habe geweint um …« Grama sah Alice an, die sie mit großen, vor Angst geweiteten Augen ansah, und verstummte.

»Ein schlechter Traum, Mama. Nicht mehr und nicht weniger«, hatte ihr Sohn gesagt und sie liebevoll in den Arm genommen. »Jetzt sind wir da und es ist ein wundervoller Tag.«

Die kleine Alice von damals hatte sich von den entschlossenen Worten ihres Vaters sofort ebenfalls umarmt gefühlt. Ihr Vater hatte immer diese Eigenschaft besessen, mit beiden Beinen auf dem Boden zu stehen und in jeder Situation einen klaren Kopf zu behalten. Er war wie ein großer, starker Baum, an den man sich lehnen und unter dem man Schutz finden konnte. Alice vermisste ihn so sehr – noch immer.

Sie hätte jetzt auch gerne beruhigende Worte ausgesprochen, aber sie wusste ja, dass etwas Schlechtes näher kam. Wieder wollte sie Grama von Amon erzählen und von seiner Warnung, aber das Versprechen wog zu schwer, sie konnte es nicht brechen.

»Lass uns essen und uns dann bereit für die Kirche machen«, riss die Großmutter sie aus den Gedanken.

Alice nickte.

Einige Zeit später saßen sie in der Kirche auf den unbequemen Holzbänken, und Alice fragte sich, warum sie eigentlich hier waren. Pfarrer Sefrenius hatte in ihren Augen mehr Ähnlichkeit mit einem Abgesandten des Teufels als dem Gottes. Die Augen des alten Pfarrers hatten immer gestrahlt, und sein Gesicht hatte einen gütigen Ausdruck gehabt. Aber Sefrenius’ feistes Antlitz mit den kalten, blauen Augen, den vollen Lippen und der kleinen Schweinenase hatte nichts Gütiges an sich. Genauso wenig die Worte, die seine Lippen verließen. Jedes war unheilvoll und angsteinflößend. Er sprach am liebsten über Sünden, die Hölle oder, wie eben jetzt, über schreckliche Kreaturen, die sich angeblich wie Karnickel auf der Welt verbreiteten und nur ein Ziel hatten: die Seelen der Menschen zu rauben!

»Ein dunkles Zeitalter hat begonnen«, hallte Sefrenius’ Stimme dramatisch von den Wänden der Kirche wider und jagte einen eisigen Schauer über Alices Rücken.

»Der Teufel hat seine Helfer überall. Hexen tanzen bei Vollmond im Wald und verfluchen unbescholtene Bürger. Vampire saugen den Menschen das Blut aus, Dämonen flüstern ihnen ihre Boshaftigkeiten ein und verleiten gute Weibsbilder und Männer zu Schandtaten. Mannwölfe streifen durch unsere Wälder, töten alles, was ihnen zwischen die Klauen kommt.« Pfarrer Sefrenius hatte ohne Punkt und Komma gesprochen. Nun musste er eine Pause einlegen, um zu atmen. Sein Mund mit den wulstigen Lippen japste nach Luft.

Alice warf einen Seitenblick auf ihre Großmutter, deren Miene wie versteinert war. Die Hände hatte sie ineinander verschränkt.

Nun sah Alice nach rechts, wo ihre Freundin Maria saß, deren Gesicht stets ein Spiegel ihrer Seele war. Alice kannte keinen Menschen, der ehrlicher und unverfälschter war. Maria sah besorgt aus.

»In ein paar Tagen wird unsere Stadt mit hohem Besuch aus Rom bedacht. Männer Gottes, die dämonische Wesen aufspüren und ihnen die gerechte Strafe zukommen lassen«, verkündete der Pfaffe.

Alice umklammerte das Gesangbuch fester. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem ganzen Körper aus.

Am liebsten wäre sie aufgestanden, aber das wäre beinahe der Blasphemie gleichgekommen. Erst vor zwei Wochen war die schwangere Josefine aus der Kirche gestürzt, weil ihr von dem Weihrauch schlecht geworden war. Pfarrer Sefrenius hatte ihr verärgert hinterhergesehen und den Messner angehalten, der Frau nach draußen zu folgen. Nicht um sich zu vergewissern, dass es ihr gut ging, sondern mit der Frage, ob sie mit den Worten Gottes nicht zurechtkam. Und obwohl Josefine ihre Gründe erklärte, wurde sie dazu aufgefordert, am nächsten Tag in die Beichte zu kommen. Sogar zum Kauf eines Ablassbriefes wurde sie gedrängt.

Alice spürte den Blick ihrer Großmutter auf sich und schaute auf. In Großmutters grünen Augen, deren Farbe dem Blätterdach des Waldes glich, glaubte Alice kurz etwas wie Angst aufblitzen zu sehen, aber vielleicht war es auch nur eine Täuschung gewesen. Grama sah wieder nach vorne. Alice hätte sie gerne sofort gefragt, was sie dachte, aber in der Kirche zu sprechen, war undenkbar. Alice presste ihre Lippen zusammen und mahnte sich zur Geduld. Etwas, das nicht zu ihren Stärken gehörte.

Auch hätte sie gerne Amon aufgesucht und ihm mitgeteilt, dass er recht gehabt hatte, aber sie wusste nicht, wo sie ihn finden konnte. Die Höhle von damals bewohnte er nicht mehr. Sie war immer wieder dorthin zurückgekehrt in der Hoffnung, ihn eines Tages dort vorzufinden.

Nach einer gefühlten Ewigkeit beendete Sefrenius seine Predigt und entließ die Gemeinde.

Erleichtert, mit steifen Beinen erhob sich Alice von der Kirchbank und ging mit ihrer Großmutter nach draußen. Hinter ihr folgten ihre Freundin Maria und deren Familie, die aus den Eltern Gottlieb und Trude Hofer sowie Marias älterem Bruder Peter und den jüngeren Geschwistern Almut und Elisabeth bestand.

»Wollt ihr zum Mittagessen zu uns kommen?«, fragte Trude. »Ich habe heute früh einen Gemüseeintopf vorbereitet, es ist genügend da.«

Alices Magen knurrte laut als Antwort, woraufhin alle lachen mussten.

Maria lachte am lautesten. »Du warst schon immer ein Vielfraß«, zog sie Alice liebevoll auf. »Vielleicht bist du deshalb so groß wie Peter.« Sie deutete mit den Daumen auf ihren Bruder, der die Eltern und Maria um Längen überragte. Alice war für eine Frau außergewöhnlich hochgewachsen. Grama meinte immer schmunzelnd: »Du gleichst von Tag zu Tag mehr deinem Vater.« Worauf das Mädchen stets das Gesicht verzogen hatte. Sie wäre lieber mehr nach ihrer kleinen, zierlichen Mutter gekommen, die eine Schönheit gewesen war. Sie selbst fühlte sich oft eher etwas ungelenk und wild.

»Vielleicht hätte ich weniger essen sollen«, brummte sie missmutig.