Cover

Das Buch

Beas fünfjährige Tochter Agnes ist schwer krank. In der riesigen Stadt, in der die beiden leben, gibt es weder genug Platz noch frische Luft noch grüne Pflanzen, dafür Smog und Müll im Überfluss. Das zehrt an den Kräften des kleinen Mädchens, und wenn sich nichts ändert, wird Agnes vor den Augen ihrer Mutter sterben.

Am anderen Ende des Landes liegt die »neue Wildnis«, ein riesiges Naturschutzgebiet, zu dem außer den zuständigen Rangern niemand Zutritt hat. Hier ist die Luft sauber, die Vegetation üppig und die Artenvielfalt groß. Zusammen mit einigen wenigen Auserwählten erhalten Bea und Agnes die Erlaubnis, dort zu leben – unter der Bedingung, dass sie nie länger als ein paar Tage an einem Ort bleiben und keine Spuren hinterlassen. Denn die Pioniere dieser neuen Wildnis sollen im Einklang mit der Natur leben, statt sie sich zu unterwerfen.

Bea und Agnes lernen, giftige von essbaren Pflanzen zu unterscheiden, ihre eigenen Werkzeuge herzustellen und zu jagen. Und sie müssen schmerzhaft erfahren, dass in der neuen Wildnis das Recht des Stärkeren gilt und das Leben mit und in der Natur auch den Tod bedeutet. Eine Erfahrung, die die Gemeinschaft und ihre Ideale zu zerstören droht …

Die Autorin

Diane Cook lebt mit ihrer Familie in Brooklyn, New York. Sie war Produzentin der Radiosendung This American Life und wurde 2016 mit einem Stipendium des National Endowment for the Arts ausgezeichnet. Ihr Debütroman Die neue Wildnis war ein großer Erfolg und wurde 2020 für den Booker Prize nominiert.

DIANE COOK

Roman

Aus dem Amerikanischen
übersetzt von Astrid Finke

WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN

Titel der Originalausgabe

THE NEW WILDERNESS

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Deutsche Erstausgabe 05/2022

Redaktion: Bettina Spangler

Copyright © 2020 by Diane Cook

Copyright © 2022 der deutschsprachigen Ausgabe
und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: DAS ILLUSTRAT, München,
unter Verwendung eines Motivs
von Shutterstock.com / Vectortwins

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN 978-3-641-27799-4
V002

www.diezukunft.de

Für meine Mutter Linda
und meine Tochter Cazadora,
und für Jorge

»Ich bin froh, dass ich nie jung sein werde ohne wildes Land, in dem man jung sein darf. Was nützen vierzig Freiheiten ohne einen weißen Fleck auf der Landkarte?«

– ALDO LEOPOLD

»Get me out of here, get me out of here

I hate it here, get me out of here.«

– ALEX CHILTON

ERSTER TEIL

Die Ballade von Beatrice

Das Baby glitt in der Farbe eines Blutergusses heraus. Bea sengte die Nabelschnur durch und wickelte sie von dem zarten Hals des Mädchens ab, und obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, hob sie ihre Tochter hoch, tippte auf ihre weiche Brust und blies ein paar flache Atemzüge in ihren verschleimten Mund.

Um sie herum dehnte sich der eigenartige Gesang von Grillen aus. Beas Haut prickelte vor Hitze. Schweiß trocknete auf ihrem Rücken und Gesicht. Die Sonne hatte ihren Höchststand erreicht und würde, schneller, als richtig erschien, wieder sinken. Von der Stelle aus, an der Bea kniete, sah sie ihr Tal, seine geheimen Gräser und Sträucher. In der Ferne standen einsame Kuppen und etwas näher Erdhügel, die aussahen wie den Weg nach irgendwo weisende Steinmännchen. Am Horizont zeichnete sich klar und weiß die Caldera ab.

Bea grub mit einem Stock in dem harten Boden, dann mit einem Stein, schließlich schaufelte und glättete sie mit den Händen. Sie schob die Plazenta hinein. Danach das Mädchen. Das Loch war nicht tief, und der Bauch ihres Babys ragte heraus. An dem kleinen, von der Geburt nassen Körper hafteten grober Sand und winzige goldene Knospen, die durch die Sonnenhitze von ihren Stängeln gebröselt waren. Bea streute dem Säugling noch mehr Erde auf die Stirn, holte mehrere welke grüne Blätter aus ihrem Hirschlederbeutel und legte sie darauf. Von den Beifuß-Sträuchern um sich herum brach sie spröde Äste ab, deckte damit den aufgeblähten Bauch ab, die absurd schmalen Schultern. Das Baby war ein unförmiges Hügelchen aus Pflanzengrün, rostrotem Blut, einem trüb violetten Aderngeflecht unter feuchter Seidenpapierhaut.

Jetzt kamen die Tiere, die es gewittert hatten, allmählich näher. Am Himmel sank ein Zyklon von Bussarden herab, wie um die Fortschritte zu prüfen, und stieg dann mit einer Thermik wieder auf. Bea hörte den weichen Schritt von Kojoten. Sie schlängelten sich durch den blühenden Beifuß. Eine Mutter mit drei mageren Jungtieren tauchte im schartig geworfenen Schatten auf. Ein Jaulen sickerte aus ihrem teilnahmslosen Gähnen heraus. Sie konnten warten.

Wind regte sich, und Bea atmete die staubige Hitze ein. Sie vermisste den muffigen Geruch des Krankenhauszimmers, in dem sie Agnes vor mittlerweile wohl acht Jahren auf die Welt gebracht hatte. Das kratzige OP-Hemd, das sich über ihre Brust spannte und verwickelte, wenn sie versuchte, sich auf die eine oder andere Seite zu drehen. Die kühle Luft um ihre Hüften, zwischen ihren Beinen, wohin Arzt und Schwestern starrten, wo sie herumtasteten und Agnes aus ihr herauszogen. Damals hatte Bea das Gefühl gehasst. So exponiert, benutzt, tierhaft. Hier aber war alles Staub und heiße Luft. Hier hatte sie den kleinen Körper – war sie im fünften Monat gewesen? Im sechsten? Siebten? – mit einer Hand herausgeleiten müssen, während sie mit der anderen eine herabstoßende Elster abwehrte. Sie hatte allein sein wollen. Doch was hätte sie nicht für eine tastende Hand in einem Gummihandschuh gegeben, für umgewälzte Luft, brummende Apparate, ein frisches Laken statt dem Wüstenstaub. Etwas sterilen Trost.

Was hätte sie nicht für ihre Mutter gegeben.

»Haut ab«, zischte sie die Kojoten an und warf mit der Erde und den Steinchen nach ihnen, die sie gerade ausgegraben hatte. Aber sie legten nur die Ohren an, das Muttertier setzte sich, und die Jungen schnappten nach ihrer Schnauze, ärgerten sie. Wahrscheinlich hatte sie sich vom Rest des Rudels weggestohlen, um ihrem Nachwuchs einen Extrabissen zu verschaffen, oder um mit ihnen Aasfressen zu üben, Überleben zu üben. Das machten Mütter so.

Bea verscheuchte eine Fliege von den Augen des Babys, die anfangs erschrocken gewirkt hatten, es nicht geschafft zu haben, jetzt aber vorwurfsvoll. In Wahrheit hatte Bea das Kind nicht gewollt. Nicht hier. Es war falsch, es auf diese Welt zu bringen. Das hatte sie die ganze Zeit so empfunden. Doch was, wenn das Mädchen Beas Angst gespürt hatte und daran gestorben war, nicht gewollt zu sein?

Beas Kehle schnürte sich zu. »Es ist besser so«, sagte sie. Die Augen des Mädchens verdunkelten sich von den Wolken, die über ihnen herzogen.

Während einer Nachtwanderung, damals, als sie noch eine Taschenlampe und auch Batterien gehabt hatte, um sie zum Leuchten zu bringen, hatte sie einmal zwei Augen im Lichtkegel schimmern sehen. Sie hatte in die Hände geklatscht, um die Augen zu erschrecken, doch die senkten sich nur. Das Tier war groß, kauerte aber oder saß, und Bea befürchtete, es wollte sie angreifen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, sie wartete auf das kalte Grauen, das sie zu dem Zeitpunkt schon mehrmals empfunden hatte. Ihren Sinn für Gefahr. Doch das Gefühl blieb aus. Sie ging näher. Wieder wurde der Blick gesenkt, flehentlich, wie bei einem gehorsamen Hund, nur gehörte er nicht zu einem Hund. Bea musste noch näher heran, ehe sie erkennen konnte, dass es ein Hirsch war, mit dem schrägen Rücken, den gespitzten Ohren, dem ergebenen Schwanzwedeln. Dann entdeckte sie ein weiteres Auge, klein, nicht auf sie gerichtet, sondern flackernd, wackelig. Der Hirsch hievte sich auf, und daraufhin taumelte auch das flackernde Auge hoch. Es war ein glänzendes Kälbchen auf zittrigen Zahnstocherbeinen. Bea hatte unwissentlich eine Geburt miterlebt. Lautlos in der Dunkelheit. Verstohlen wie ein Raubtier hatte sie sich an die Mutter angeschlichen. Und die Hirschkuh hatte in dem Moment nichts tun können, als ihren Kopf zu senken, als bäte sie darum, verschont zu werden.

Es gab nur weniges, was Bea sich in diesen Tagen zu bedauern gestattete, diesen unberechenbaren Tagen, ausgefüllt mit so schlichtem und brutalem Überlebenskampf. Doch sie wünschte, sie hätte in jener Nacht einen anderen Weg genommen, hätte nicht die Augen in ihrem Lichtstrahl gefunden, damit die Hirschkuh hätte gebären, das Junge beschnuppern und sauber lecken können, damit sie die Chance gehabt hätte, ihrem Kalb eine erste makellose Nacht zu schenken, bevor die Arbeit des Überlebens begann. Stattdessen war die Hirschkuh erschöpft weggetapst, das Kalb orientierungslos hinter ihr herstolpernd, und das hatte den Beginn ihres gemeinsamen Lebens dargestellt. Deshalb hatte Bea vor Tagen, als sie die Tritte und den Schluckauf und die Regungen nicht mehr gespürt und daher gewusst hatte, dass das Baby gestorben war, beschlossen, zur Geburt allein zu sein. Es war ihr einziger gemeinsamer Moment. Den wollte sie nicht teilen. Sie wollte nicht, dass jemand ihre eigene komplizierte Version von Trauer beobachtete.

Bea spähte zu der Kojotenmutter hinüber. »Du verstehst das, oder?«

Das Kojotenweibchen sprang ungeduldig auf und leckte sich die gelben Zähne.

Von einem weit entfernten niedrigen Grat, einem Ausläufer eines Gebirgsausläufers, ertönte ein freudloses Heulen; ein aufmerksamer Wolf hatte die Aasvögel entdeckt, signalisierte Beute.

Sie musste gehen. Die Sonne verschwand. Und jetzt wussten die Wölfe Bescheid. Bea hatte beobachtet, wie ihr eigener Schatten lang und schmal wurde, ein Anblick, der sie immer traurig machte, als sähe sie ihren eigenen Hungertod vor sich. Sie stand auf, streckte die sandigen Knie durch, wischte sich die Wüste von der Haut und dem zerlumpten Kleid. Sie kam sich dumm vor, weil sie versucht hatte wiederzubeleben, was doch eindeutig tot war. Dabei hatte sie geglaubt, die Wildnis hätte ihr jegliche Sentimentalität geraubt. Sie würde niemandem von diesem Moment erzählen. Nicht Glen, von dem sie glaubte, dass er sich ein eigenes Kind stärker wünschte, als er je zugäbe. Auch nicht Agnes, obwohl sie vermutlich gern mehr über diese Schwester, aus der nichts geworden war, erfahren hätte, gern ihre Mutter in all ihren geheimen Einzelheiten verstehen würde. Nein, sie bliebe bei der einfachen Geschichte. Das Baby hatte nicht überlebt. So viele andere ebenfalls nicht. Also ging das Leben eben weiter.

Ohne einen weiteren Blick auf dieses Mädchen, das sie Madeline hatte nennen wollen, machte Bea kehrt. Der Kojotenmutter gab sie noch einen kräftigen Tritt in die deutlich sichtbaren Rippen. Das Tier jaulte, zog den Schwanz ein, knurrte, aber es hatte drängendere Sorgen, als sich mit einer Menschenbeleidigung herumzuschlagen.

Bea hörte das Rangeln und Winseln hinter sich. Und obwohl die wachsende Erregung der Kojoten dem Schrei eines Neugeborenen ähnelte, wusste Bea, dass es nur der Klang von Hunger war.

Ein unverkennbarer Schatten eines Wegs führte zum Lager. Es war schwer zu sagen, ob er von ihrer Gruppe herrührte oder von Tieren, die ihre eigenen Pfade schufen, oder ob er ein Überbleibsel all dessen darstellte, was diese Gegend gewesen war, bevor sie zum Wildnis-Staat wurde. Vielleicht hatte Bea ihn auch ganz allein getreten. Jene Stelle suchte sie auf, so oft sie konnte, wann immer sie durch das Tal zogen. Deshalb hatte sie sie für Madeline ausgewählt. Die Aussicht von dort hatte etwas Verhaltenes, ließ das Tal wie verborgen wirken. Da die Senke aus grünen Gräsern und struppigen Büschen etwas niedriger lag als das Gelände darum herum, bot sie einen geheimen Blick auf den Horizont und den pechschwarzen Gebirgshöcker davor. Alles, was man sehen konnte, bildete ein Mosaik aus verschwommenen, gedämpften Farben. Es war hübsch und still und ungestört, dachte Bea. Ein Ort, den man nicht verlassen wollte. Wieder spürte sie eine flüchtige Erleichterung, Madeline an diesen Platz gebracht zu haben, anstatt sich mit ihr einer unerforschlichen Landschaft zu stellen, als Mutter, die sich nicht in der Lage fühlte, würdevoll damit umzugehen.

Bea konnte die Stimmen der anderen im Lager hören. Sie hallten über das ebene, freie Land und fielen ihr vor die Füße. Aber sie wollte nicht zu ihnen und ihren Fragen oder, noch schlimmer vielleicht, ihrem Schweigen zurückkehren. Also wandte sie sich ab und kletterte die Felsen hinauf zu der niedrigen Höhle, in der ihre Familie sich gern aufhielt. Ihrem Geheimplatz. Über sich sah sie ihren Mann Glen und ihre Tochter Agnes auf der Erde knien, auf sie warten.

Glens Stirn war vor Konzentration gefurcht, während er ein Blatt an seinem Stängel drehte, es aus jedem Blickwinkel betrachtete, Agnes etwas an der grünen Mittelrippe zeigte, sie auf ein beachtenswertes Detail an seiner Form aufmerksam machte. Beide beugten sich mit entzückter Miene dichter über das Blatt, als erzählte es ihnen seine Geheimnisse.

Als Glen Bea näher kommen sah, winkte er sie zu sich. Agnes schloss sich an, ein ausladendes und unbeholfenes Wedeln mit dem Arm, und grinste dabei mit ihrem neuerdings abgebrochenen Zahn, den sie sich an einem Stein angeschlagen hatte. Warum konnte es kein Milchzahn sein?, hatte Bea gedacht, als sie den Kopf ihrer Tochter zwischen die Hände nahm und den Schaden unter ihrer hellen, blutigen Lippe begutachtete. Agnes hielt ganz still, während eine Träne aus ihrem Auge kullerte und durch den Schmutz auf ihrem Gesicht rann. Nur daran erkannte Bea, dass der Unfall sie erschreckt hatte. Wie ein Tier erstarrte Agnes, wenn sie Angst hatte, und rannte bei Gefahr weg. Bea stellte sich vor, dass sich das ändern würde, wenn Agnes größer wurde. Möglicherweise fühlte sie sich dann weniger wie Beute und mehr wie ein Raubtier. Das Lächeln ihrer Tochter enthielt etwas, ein nicht zu benennendes Wissen. Es war das Lächeln eines Mädchens, das auf den richtigen Moment wartete.

»Das hier ist Erle«, sagte Glen gerade, als Bea bei ihnen ankam. Er nahm ihre Hand, küsste sie sanft, hielt sie fest, bis Bea sie ihm entwand. Sie sah ihn nach ihrem Bauch schielen und das Gesicht verziehen.

Er hatte heißes Wasser in der groben Holzschale bereitgestellt, das mittlerweile die Temperatur der Luft angenommen hatte. Bea hockte sich neben ihn, hob ihr Kleid hoch, spreizte die Knie. Behutsam wusch sie sich zwischen den Beinen, die gedehnten, ausgeleierten Falten, die beschmierten Oberschenkel. Sie fühlte sich wund, aber sie spürte, dass sie nicht gerissen war.

Agnes nahm die gleiche Haltung ein, machte die dünnen Froschbeine breit, bespritzte sich mit nicht vorhandenem Wasser, beobachtete Bea eingehend. Sie schien darauf bedacht, nicht an die Stelle zu sehen, wo das Baby gewesen war.

Agnes befand sich in einer Art Mimikry-Phase. Bea sah das bei Tieren. Sie hatte es bei anderen Kindern erlebt. Aber bei Agnes hatte es etwas Entwaffnendes. Bis vor Kurzem hatte sie Agnes verstanden. Ungefähr um die Zeit, als das Laub zum letzten Mal die Farbe gewechselt hatte, war Agnes ihr fremd geworden. Bea wusste nicht, ob dieser Riss einfach immer eintrat bei Eltern und ihren Kindern, oder bei Müttern und ihren Töchtern, oder ob es eine besondere Strapaze war, die Agnes und sie ertragen mussten. Hier draußen fiel es Bea schwer, Dinge als normal abzutun, weil jeder Aspekt ihres Lebens alles andere als normal war. Verhielt Agnes sich normal für ihr Alter, oder war es möglich, dass sie sich für einen Wolf hielt?

Agnes war gerade acht geworden, wusste es aber nicht. Sie zählten Geburtstage nicht mehr, weil sie Tage nicht mehr zählten. Bei ihrer Ankunft hier waren Bea allerdings gewisse Blumen aufgefallen. Damals war Agnes fünf geworden. Auf dem Kalender war April gewesen. Während der ersten Tage auf Wanderschaft hatte Bea eine Veilchenwiese bemerkt. Als sie das nächste Mal Veilchen entdeckte, schien es ihr wahrscheinlich, dass ein Jahr vergangen war: Sie hatten die Sommerhitze gespürt, das Laub sich verfärben sehen und in den verschneiten Bergen gefroren. Der Schnee war wieder weggeschmolzen gewesen. Mittlerweile hatte sie vier Mal Veilchen gesehen. Vier Geburtstage. Agnes’ achter Geburtstag musste irgendwann nach dem letzten Vollmond stattgefunden haben, denn da hatte Bea auf einem Fleckchen Wiese in der Nähe ihres letzten Lagers Veilchen gefunden. Bei ihrer Ankunft hier war Agnes so schwer krank, dass Bea nicht sicher gewesen war, ob sie noch einmal mit ihrer Tochter Veilchen sähe. Doch da standen die Blumen nun, und Agnes hüpfte darin herum.

Bea kroch zur Rückwand der flachen Höhle. Hinter einem Felsen zog sie aus einer Kuhle, die sie ausgeschabt hatte, als sie zum ersten Mal hier ihr Lager aufschlugen, ein Sofakissen und eine Zeitschrift für Design und Architektur heraus. Darin war eine von ihr gestaltete Inneneinrichtung abgedruckt. Es war eine landesweit erscheinende Zeitschrift und die Fotostrecke ein Wendepunkt in ihrer beruflichen Laufbahn gewesen, wobei sie nicht lange nach der Veröffentlichung in die Wildnis aufgebrochen war. Dies hier waren ihre geheimen Schätze, hereingeschmuggelt aus der Stadt, und statt sie von Ort zu Ort zu tragen, die Verachtung der anderen und eine Beschädigung durch die Elemente zu riskieren, versteckte Bea sie, ein krasser Verstoß gegen die im Handbuch dargelegten Vorschriften. Wenn die Gemeinschaft durch das Tal zog, was mehrmals pro Jahr geschah, grub Bea ihre Schätze aus, um sich ein bisschen mehr wie sie selbst zu fühlen.

Sie setzte sich neben Glen und drückte ihr Kissen an sich. Dann blätterte sie durch ihren Artikel, erinnerte sich an die Gegenstände, die sie damals ausgewählt hatte, und warum. Erinnerte sich an das Gefühl, ein Heim zu haben.

»Wenn die Ranger die Sachen finden, kriegen wir Ärger«, sagte Glen, wie üblich, wenn sie ihre Schätze herausholte, immer so um die Vorschriften besorgt.

Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Was sollen sie denn machen? Uns wegen einem Kissen rausschmeißen?«

»Vielleicht.« Glen zuckte die Achseln.

»Entspann dich. Die finden das Zeug niemals. Und ich brauche es. Ich muss mich erinnern, was ein Kissen ist.«

»Bin ich als Kissen nicht gut genug?« Das sagte er so lieb.

Bea betrachtete ihn. Er war nur Haut und Knochen. Sie beide. Selbst ihr Bauch, der sich mit dem Baby nur wenig abgezeichnet hatte, war sofort wieder eingesunken. Als sie zu Glen aufsah, verzog er den Mund zu einem schwachen, gebrochenen Lächeln. Sie nickte. Er nickte ebenfalls. Dann führte er ein langes, lautes, lustvolles Gähnen vor, mit Seitenblick auf Agnes. Agnes’ Gähnen folgte prompt, begleitet von einem ausgiebigen Strecken mit geballten Fäusten.

»Großer Tag morgen«, sagte er. »Es geht auf zum Mittelposten. Und wir dürfen unterwegs deinen Lieblingsfluss überqueren.«

»Können wir auch schwimmen?«

»Wir müssen ja rein, um ihn zu überqueren, also verlass dich drauf.«

»Wann?«

»Wahrscheinlich sind wir in ein paar Tagen da.«

»Wie viele sind ein paar?«

Glen zuckte die Achseln. »Fünf? Zehn? Mehrere?«

Agnes schnaubte. »Das ist keine Antwort!«

Glen kitzelte sie und lachte. »Wir sind da, wenn wir da sind.« Wenn Agnes ärgerlich war, sah sie genau wie ihre Mutter aus.

»Ist alles gepackt?«, fragte Bea.

»Mehr oder weniger. Du brauchst dir keine Gedanken zu machen.«

Bea quetschte das Kissen auf ihrem Schoß ganz fest. Es war feucht und roch herb, aber das störte sie nicht. Sie vergrub das Gesicht darin, stellte sich vor, sie könnte Liebe auf ihr kleines Baby übertragen. Mit einem Seufzen blickte sie auf.

Agnes beobachtete sie, umarmte die Luft, tat, als hätte sie ein eigenes Kissen oder vielleicht ein eigenes Baby, und lächelte das gleiche traurige Lächeln, das Bea zweifellos gerade auf den Lippen gehabt hatte.

Der geschäftige und von Eulenrufen erfüllte Abend wurde nach und nach stiller.

Im Lager saßen ein paar andere Mitglieder der Gemeinschaft noch am Feuer, die meisten aber atmeten leise in dem Kreis, in dem alle schliefen. Bea und Glen deckten sich mit ihrem Elchfell zu. Agnes legte sich, wie sie es immer tat, an ihre Füße. Ihre Hand schlang sich um Beas Knöchel wie eine Ranke.

»Vielleicht warten am Posten ein paar gute Päckchen«, murmelte Glen. »Eine schöne Schokolade oder so.«

Bea machte hmmm, obwohl sie so etwas eigentlich nicht mehr essen konnte, ohne krank zu werden, da ihr Körper überfordert war von dem, wonach er in ihrem alten Leben gelechzt hatte.

Statt Schokolade wünschte sie sich, dass Glen von dem Kind spräche, das sie gerade begraben hatte. Oder sie glaubte, sich das zu wünschen. Was würde sie sagen? Was konnte sie sagen, was er nicht schon wusste? Und wollte sie wirklich darüber reden? Nein. Das wusste er auch.

Sie wandte sich Glen zu und sah im Feuerschein einen Ausdruck von Hoffnung in seiner Miene flackern. Er wusste, dass Schokolade eine solche Verstörtheit nicht lindern konnte, aber vielleicht konnte die Erwähnung erreichen, was die Schokolade erreichen sollte. Sie schmiegte sich in seine Arme. »Ja, ein bisschen Schokolade wäre nett«, log sie.

Überall um sich herum hörte Bea die Geräusche der Tierwelt. Das Gurren von Kaninchenkäuzen, ein Kreischen. Das Gleiten nächtlicher Flieger zwischen Himmel und Sternen. Während das Lagerfeuer sich in den Schlaf zischte, hörte sie die Letzten der Gemeinschaft vorsichtig und blind von den hellen Flammen zu ihren Betten laufen und sich einkuscheln. Jemand sagte: »Gute Nacht allerseits.«

An ihrem Knöchel spürte Bea Agnes’ Blut durch ihre heiße, klammernde Hand pochen. Sie atmete in seinem Rhythmus ein und aus, und das half ihr, sich zu konzentrieren. Ich habe eine Tochter, dachte sie, und keine Zeit zum Grübeln. Sie wurde hier und jetzt von jemandem gebraucht. Sie gelobte, schnell damit abzuschließen. Das wollte sie. Das musste sie. So lebten sie jetzt.