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Impressum

Die russische Originalausgabe entstand unter dem Titel «Wolschebnik» im Oktober und November 1939 in Paris und an der Riviera. Veröffentlicht in der Werkausgabe «Gesammelte russischsprachige Werke in fünf Bänden» St. Petersburg: Simposium, 2000, Band 5.

Die englische Fassung, übersetzt von Dmitri Nabokov, erschien 1986 bei Putnam, New York unter dem Titel «The Enchanter». Die deutsche Fassung erschien 1987 unter dem Titel «Der Zauberer» im Rowohlt Verlag, Reinbek.

Der Text folgt: Vladimir Nabokov, Gesammelte Werke, Erzählungen 1935 – 1951, Band 14, 1991, herausgegeben von Dieter E. Zimmer.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2019

Copyright © 1987, 1989, 1999, 2019 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Wolschebnik» Copyright © 1986 by Véra Nabokov und Dmitri Nabokov

«The Enchanter» Copyright © 1986 by Dmitri Nabokov

«Bemerkungen des Autors I» Copyright © 1957 by Vladimir Nabokov

«Bemerkungen des Autors II» Copyright © 1986 by Article 3B Trust under the Will of Vladimir Nabokov

Veröffentlicht im Einvernehmen mit The Estate of Vladimir Nabokov

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Hamburg

Coverabbildung Annykos/shutterstock.com

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ISBN 978-3-644-00307-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-00307-1

Fußnoten

Aus dem Manuskript von Der Bezauberer geht hervor, dass es 1939 war.

Vater hatte die Geschichte seit Jahren nicht gesehen und sein Gedächtnis ihre Länge um einiges verkürzt.

Dem wurde seither abgeholfen.

Das traf bis Juli 1986 zu, als dem sowjetischen Literaturestablishment endlich klar wurde, dass Sozialistischer Realismus und künstlerische Realität nicht notwendig deckungsgleich sind, und ein Organ jenes Establishments eine scharfe Kehrtwende beschrieb mit der Ankündigung, es sei «höchste Zeit, V. Nabokov unseren Lesern zurückzugeben».

Als Luftschutzmaßnahme.

Wladimir Sensinow und Ilja Fondaminskij.

Madame Kogan-Bernstein.

Auszug aus «Aus einem Buch mit dem Titel Lolita», ursprünglich auf Französisch in L’Affaire Lolita, Olympia Press, Paris 1957, und später als Anhang des Romans veröffentlicht.

Auszug aus einem Brief vom 6. Februar 1959, in dem Nabokov den Bezauberer Walter Minton anbot, dem damaligen Leiter des Verlags G.P. Putnam’s Sons. Mintons Antwort drückte großes Interesse aus, doch offenbar wurde das Manuskript niemals abgeschickt. Vater war damals mit Eugen Onegin, Ada, dem Lolita-Drehbuch und der Durchsicht meiner Übersetzung von Einladung zur Enthauptung beschäftigt. Wahrscheinlich war er zu dem Schluss gekommen, dass ihm keine Zeit für ein weiteres Projekt blieb.

In seinem Buch VN: The Art and Life of Vladimir Nabokov, Crown, New York 1986. Eine seltsame Mixtur aus Groll, Verehrung, Unterstellungen und eindeutigen Sachfehlern, von dem ich ein Umbruchexemplar zu lesen Gelegenheit hatte.

Und die englisch 1990/1991 und deutsch 1999/2005 erschienen ist.

In seiner Geschichte Das morsche Volk, ursprünglich unter dem anstößigen Titel Shid (Der Jidde) veröffentlicht, den Nabokov nebenbei bemerkt nie im Leben benutzt hätte.

In dem Roman Lushins Verteidigung (1930), Werkausgabe Band 2, Reinbek: Rowohlt, 1992.

In der Kurzgeschichte Bachmann (1924), Werkausgabe Band 13, Reinbek: Rowohlt, 1989/2014.

In der Kurzgeschichte Der Kartoffelelf (1924), Werkausgabe Band 13, Reinbek: Rowohlt, 1989/2014.

In der Kurzgeschichte Szenen aus dem Leben eines Doppelungeheuers (1950), Werkausgabe Band 13, Reinbek: Rowohlt, 1989/2014.

Erschienen am 18. Februar 1985 in The New Yorker, Werkausgabe Band 13, Reinbek: Rowohlt, 1989/2014.

Erstveröffentlichung 1927, Werkausgabe Band 13, Reinbek: Rowohlt, 1989/2014.

Siehe «Bemerkungen des Autors I».

Zu dem Namen, den Nabokov dem Protagonisten in der Folge beilegte, siehe «Bemerkungen des Autors I» und den Absatz über Andrew Fields Behauptungen zu Beginn dieses Nachworts.

Erstveröffentlichung 1939, Werkausgabe Band 14, Reinbek: Rowohlt, 1989/2014.

Für gewisse Einzelheiten und Nachweise bin ich Edwin McDowells Bericht über die Veröffentlichung von The Confessions of Victor X durch den Verlag Grove Press verpflichtet, erschienen in der New York Times vom 15. März 1985.

Da ich mit dem Verstand weiß, dass die Euphrat-Aprikose nur als Konserve schädlich ist; dass Sünde und bürgerliche Sitte untrennbar sind; dass jede Hygiene ihre Hyäne hat; da ich darüber hinaus weiß, dass ebendieser Verstand nicht abgeneigt ist, zu vulgarisieren, wozu ihm sonst der Zugang verwehrt ist … Doch ich will alles dies beiseitelassen und mich auf eine höhere Ebene begeben.

Was, wenn der Weg zur wahren Wollust tatsächlich durch eine noch zarte Membran führte, die noch keine Zeit hatte, hart zu werden, sich überwuchern zu lassen, den Duft und den Schimmer einzubüßen, durch die man zu dem funkelnden Stern jener Wollust dringt? Selbst innerhalb dieser Grenzen gehe ich auf kultivierte Weise wählerisch vor; nicht zu jedem Schulmädchen, das mir über den Weg läuft, fühle ich mich hingezogen, ganz und gar nicht – wie viele bekommt man auf einer grauen Morgenstraße zu sehen, die drall sind oder dünn oder ein Halsband aus Pickeln haben oder eine Brille auf – diese Art interessiert mich in amouröser Hinsicht so wenig wie andere vielleicht irgendeine unansehnliche Bekannte. Jedenfalls fühle ich mich mit Kindern allgemein ganz einfach wohl,

Hier berufe ich mich auf das Gesetz der Gradation, das ich verworfen habe, wo ich es beleidigend fand: Oft habe ich versucht, mich beim Übergang von einer Art der Zärtlichkeit zu einer anderen zu ertappen, von der einfachen zur besonderen, und sehr gern wüsste ich, ob sie sich gegenseitig ausschließen, ob sie schließlich doch verschiedenen Gattungen zugewiesen werden müssen oder ob die eine in der Walpurgisnacht meiner düsteren Seele eine seltene Blüte der anderen ist; denn wenn sie zwei verschiedene Wesenheiten sind, dann muss es auch zwei verschiedene Arten von Schönheit geben, und wenn der ästhetische Sinn zum Essen geladen wird, setzt er sich krachend zwischen zwei Stühle (das Los eines jeglichen Dualismus). Andererseits finde ich die Rückreise vom Besonderen zum Einfachen ein wenig verständlicher: Jenes wird sozusagen im Moment der Befriedigung subtrahiert, und das scheint doch darauf hinzudeuten, dass die Summe der Empfindungen in der Tat homogen ist, falls die Regeln der Arithmetik hier tatsächlich anwendbar sind. Es ist sonderbar, sonderbar – und am sonderbarsten ist vielleicht, dass ich unter dem Vorwand, mir bemerkenswerte Gedanken zu machen, lediglich eine Rechtfertigung suche für meine Schuld.»

 

Sein Gedächtnis bewahrte jene wenigen Augenblicke mit melancholischer Dankbarkeit (sie waren ihm ja doch zuteilgeworden) und melancholischer Ironie (er hatte schließlich das Leben doch überlistet). So hatte er in seinen Studententagen am Polytechnikum kein einziges Mal die jüngere Schwester eines Kommilitonen gestreift, der er Nachhilfeunterricht in Geometrie gegeben hatte – ein schläfriges, blasses Mädchen mit samtenem Blick und einem Paar schwarzer Zöpfe –, doch die bloße Nähe ihres Wollkleids hatte genügt, dass die Zeilen auf dem Papier erzitterten und sich auflösten, dass alles in angespanntem, heimlichem Trott in eine andere Dimension hinüberwechselte – und

Wenn er sich jene äußerst seltenen Vorkommnisse ins Gedächtnis rief, jene kleinen Geliebten, die des Inkubus nicht einmal gewahr geworden waren, dann staunte er auch, wie ihm ihr späteres Schicksal auf geheimnisvolle Weise hatte entgehen können; und dennoch, wie oft hatte ihn auf einem schäbigen Rasen, in einem vulgären Stadtbus oder auf einem Stück Strandsand, der höchstens als Futter für ein Stundenglas zu brauchen war, eine schlimme, voreilige Wahl betrogen, hatte das Schicksal seine innigen Bitten ignoriert, war seine Augenfreude unterbrochen worden von der rücksichtslosen Wende, die die Dinge nahmen.

Dünn, mit trockenen Lippen, einem schon leicht kahl werdenden Schädel und immer wachsamen Augen – so nahm er jetzt Platz auf einer Bank in einem

Links von ihm saß eine ältliche Brünette mit roter Stirn, die Trauerkleidung trug; zu seiner Rechten strickte eine Frau mit schlaffem, stumpfblondem Haar fleißig vor sich hin. Mechanisch folgte sein Blick den Kindern, die im farbigen Dunst hin und her flitzten, und seine Gedanken waren anderswo – bei seiner gegenwärtigen Arbeit, der einnehmenden Form seiner neuen Fußbekleidung –, als er neben seinem Schuhabsatz zufällig eine große, von den Kieseln teilweise verdeckte Nickelmünze bemerkte. Er hob sie auf. Das lippenbärtige Weib zur Linken reagierte auf seine entsprechende Frage nicht; das farblose zur Rechten sagte:

«Stecken Sie sie ein. An ungeraden Tagen bringt sie Glück.»

«Wieso nur an ungeraden Tagen?»

«So sagt man in meiner Heimat, in …»

Sie nannte den Namen einer kleinen Stadt, wo er einst die verschnörkelte Architektur einer winzigen schwarzen Kirche bewundert hatte.

«… na ja, wir wohnen auf der anderen Flussseite. Am Hang sind überall Gemüsegärten, es ist reizend da, es gibt weder Staub noch Lärm …»

Eine Geschwätzige, dachte er – sieht aus, als müsste ich mich anderswohin setzen.

Auf Rollschuhen, die nicht rollten, sondern auf dem Kies knirschten, wenn es sie mit kleinen japanischen Trippelschritten hob und senkte, kam schnell und bestimmt ein veilchenblau gekleidetes zwölfjähriges Mädchen (er irrte nie) durch das unstete Glück des Sonnenscheins auf ihre Bank zu. In der Folge (solange es eine Folge gab) kam es ihm vor, als hätte er sie auf der Stelle, gleich im allerersten Moment ganz und gar, von Kopf bis Fuß in sich aufgenommen: die Lebhaftigkeit ihrer rostbraunen (unlängst geschnittenen) Locken; das Strahlen ihrer großen, ein wenig leeren Augen, das irgendwie an durchscheinende Stachelbeeren erinnerte; ihren fröhlichen warmen Teint; ihren rosa Mund, der leicht offen stand, sodass zwei große Schneidezähne knapp auf der vorspringenden Unterlippe auflagen; die sommerliche Färbung ihrer bloßen Arme mit den glatten, fuchsartigen Härchen auf den Unterarmen; die undeutliche Zartheit ihrer immer noch engen, aber schon nicht mehr ganz flachen Brust; die Art, wie sich die Falten ihres Rocks bewegten; deren Knappheit und weiche Höhlungen; die Schlankheit und das Glühen ihrer unbesorgten Beine; die groben Riemen ihrer Rollschuhe.

Sie blieb vor seiner redseligen Nachbarin stehen, die sich abwandte, um in etwas zu kramen, das zu ihrer Rechten lag, eine Scheibe Brot mit einem Stück Schokolade darauf zutage förderte und sie dem Mädchen aushändigte. Unter raschem Kauen löste Letzteres mit seiner freien Hand die Riemen und mit ihnen die

«Aber nicht doch – wir sind nicht verwandt», sagte die Strickerin. «Ich selber habe keine, und ich bereue es nicht.»

Die Fersenstützen der Rollschuhe glänzten neben dem Fuß der Bank, und die lederbraunen Riemen starrten ihm ins Gesicht. Dieses Starren war das Starren des Lebens. Seine Verzweiflung war jetzt verdoppelt. Die noch immer lebendigen früheren Verzweiflungen waren überlagert von einem neuen und besonderen Ungeheuer … Nein, er durfte nicht

«Zerstreutes Lächeln», dachte er übertrieben gefühlvoll. «Aber schließlich sind nur Menschen fähig zur Zerstreutheit.»