Norbert Röttgen
Nie wieder hilflos!
Ein Manifest in Zeiten des Krieges
dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München
Dr. Norbert Röttgen, geboren 1965, ist Jurist und seit 1994 Mitglied des Deutschen Bundestages. Er war Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Umweltminister, von 2014 bis 2021 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, dem er auch in dieser Wahlperiode angehört. Röttgen ist der profilierteste deutsche Außenpolitiker.
Putins Krieg, Rückzug aus Afghanistan, Corona, Flüchtlingskrise 2015, Klimawandel: Erst der Schaden, dann das Handeln. Deutschland und Europa haben sich über viele Jahre in den Zustand der Hilflosigkeit manövriert gegenüber den großen Herausforderungen unserer Zeit. Wir müssen diese bittere Lehre verinnerlichen und Konsequenzen ziehen. Deutschland, Europa und der Westen brauchen eine grundlegend neue Außenpolitik mit einem neuen Realismus gegenüber den Gefährdern von Frieden und Freiheit. Unsere Gegenwart und die nächste Zukunft sind geprägt von der globalen Machtambition Chinas und der aggressiven Obsession Russlands. Wir müssen wieder lernen, Frieden und Freiheit zu verteidigen. Norbert Röttgen skizziert den Weg aus unserer Misere. Sein Manifest ist das Buch der Stunde.
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eBook-Herstellung: Fotosatz Amann, Memmingen (01)
eBook ISBN 978-3-423-44115-5 (epub)
ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-26204-0
ISBN (epub) 9783423441155
Das noch vor Kurzem Unvorstellbare ist geschehen: Der Krieg ist zurückgekehrt nach Europa. Die längste Friedensepoche, die dieser Kontinent je gesehen hat, ist zu Ende gegangen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, seit über 75 Jahren, hat es den Krieg nicht gegeben, wie wir ihn jetzt als Überfall Russlands auf die Ukraine und als Angriffskrieg Putins gegen die Ukrainer erleben.
Natürlich war nicht nur Frieden in dieser Zeit, auch nicht in Europa, und es hat kriegerische Akte gegeben. Die Intervention Russlands in der Ost-Ukraine 2014, die seither anhält, war unzweifelhaft eine grobe Verletzung des Völkerrechts, eine schwerwiegende Verletzung der Souveränität und der Integrität der Ukraine und ein kriegerischer Akt. Die Annexion der Krim durch Russland im gleichen Jahr war ebenfalls ein völkerrechtswidriger Gewaltakt. Seit dem Georgienkrieg 2008 hält Russland erhebliche Teile von Georgien, die Regionen Abchasien und Südossetien, mit Truppen besetzt. In den 1990er-Jahren gab es die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawien.
Aber alle diese Kriege und schwerwiegenden Gewaltakte waren anders als das, was wir jetzt erleben. Die menschlichen Opfer, das Leid und die Zerstörungen und Verwüstungen waren enorm, die Wunden sind zum Teil bis heute nicht verheilt. Politisch gesehen waren diese Kriege jedoch regional begrenzt und zielten nicht darauf ab, die politische Ordnung und die Sicherheitsarchitektur Europas zu verändern. Genau das ist in der Ukraine 2022 anders. Wladimir Putin führt Krieg, wie Großmächte im 19. Jahrhundert Kriege führten. Die Souveränität anderer Staaten, ihr Recht auf territoriale Integrität, ja das Völkerrecht als maßgebliche Autorität zur Regelung der Beziehungen zwischen Staaten bis hin zu dem Wunsch und dem Recht eines Volkes, als Nation zu leben – alles das sind Errungenschaften, die durch die bittersten Erfahrungen von zwei Weltkriegen gewonnen wurden. Für Wladimir Putin mit seinem imperialen Machtanspruch und völkischen Nationalismus existieren sie nicht.
Putin hat die Ukraine überfallen, aber er greift neben diesem Land auch ganz fundamental die Friedensordnung an, die in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges begründet wurde. Sie galt uns als historische Lehre aus der blutigen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, den beiden Weltkriegen, den Millionen von Toten als Folge von Nationalismus, völkischem Überlegenheitswahn und Militarismus.
Diese Zäsur, diese Wende in der Geschichte Europas, kam für die meisten völlig überraschend. Warum aber war für uns unvorstellbar, was Putin nicht nur schon lange geplant, sondern worüber er gesprochen und was er auch schon punktuell etwa mit der Annexion der Krim sowie dem militärischen Eindringen in die Ost-Ukraine praktiziert hat?
Bereits 2008 hat Wladimir Putin dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush gegenüber erklärt, dass die Ukraine weder ein Staat noch eine Nation sei. In einem inzwischen berüchtigten Essay aus dem Jahr 2021 hat er ausführlich seine Idee eines großen völkischen Verbunds von Russen, Kleinrussen, womit er die Ukrainer meint, und Belarussen dargelegt. Dass die Wiedervereinigung dieses zusammengehörenden Volkes das programmatische Ziel seiner Außenpolitik sein würde, konnte nach dieser Darstellung eigentlich niemand mehr anzweifeln. Dennoch wurde weiter beschwichtigt, als Putin im November 2021, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres, damit begann, massiv Truppen an der ukrainischen Grenze zusammenzuziehen. Die Invasion der Ukraine durch Russland schien selbst dann den meisten noch immer unvorstellbar, als Anfang 2022 im Norden, Osten und Süden der Ukraine 180 000 russische Soldaten als invasionsfähige Armee aufgestellt waren.
Ein europäischer Regierungschef nach dem anderen nahm am Ende des absurd langen Tisches im Kreml Platz, und alle versuchten, mit guten Worten den russischen Präsidenten von einem Krieg gegen die Ukraine abzuhalten. Mehr als gute Worte hatte jedoch keiner anzubieten.
Wir Europäer haben, im Gegensatz zu Wladimir Putin, aus dem Ende des Kalten Krieges und aus der damit einhergehenden europäischen Friedensordnung den Schluss gezogen, dass es auf militärische Mittel, die Fähigkeit, das eigene Land und das Bündnis in Europa zu verteidigen, nicht mehr entscheidend ankomme. Wir waren der Auffassung, dass das Wichtigste – Frieden und Freiheit – in Europa garantiert sei. Zur Abschreckung Wladimir Putins fehlten uns dann allerdings der Wille, zu begreifen, dass unsere Sicht auf die Welt nicht seine ist, und schließlich schlicht die Mittel.
In seiner Kriegsrede, gehalten kurz vor Beginn des Überfalls, legte Putin seine Ziele präzise dar. Und trotzdem wollten und konnten in Europas Hauptstädten zu viele noch immer nicht glauben, dass er in wenigen Stunden damit beginnen würde, diese Rede in die Tat umzusetzen. Insgeheim hegte man die Hoffnung, dass Russland sich »nur« die Donbass-Regionen Lugansk und Donezk einverleiben würde. Die Ukraine hätte zwar einen massiven Schaden zu tragen, aber die Auswirkungen für Europa wären nicht allzu groß. Es war möglicherweise auch diese Form von Appeasement, der Politik ständigen Nachgebens gegenüber dem Aggressor, die in Putin die Überzeugung genährt hat, dass die Reaktion des Westens auf seinen Einmarsch verkraftbar ausfallen würde.
Diese Hilflosigkeit der Europäer bringt die Vereinig- ten Staaten von Amerika zurück in die Rolle, die sie im 20. Jahrhundert als die entscheidende europäische Sicherheitsmacht ausgefüllt haben. Wir haben Glück. Denn bis Anfang 2021 residierte Donald Trump im Weißen Haus. Man stelle sich nur für einen Augenblick vor, dass im November 2020 nicht Joe Biden, sondern erneut Donald Trump zum amerikanischen Präsidenten gewählt worden wäre. Auch dessen Wahl im November 2016 hat uns Europäer unvorbereitet getroffen. Sie galt als ausgeschlossen. Experten haben uns im amerikanischen Wahlkampf 2016 dargelegt, dass die Wahl von Donald Trump einen Bruch innerhalb der USA und auch mit der bisherigen amerikanischen Außenpolitik bedeuten würde. Aber die gute Nachricht sei, dass es schon aus demographischen Gründen, nämlich den zahlenmäßig immer stärker werdenden Latinos und Schwarzen, ausgeschlossen sei, dass Trump gewählt werde.
Danach haben wir Europäer vier Jahre lang erlebt, dass die Vereinigten Staaten sich gesellschaftlich verändern, im Inneren von Hass zerrissen und politisch tief gespalten sind. Und wir haben erlebt, was die Politik des »America first« für Deutschland, Europa und die Welt bedeutet. Welche Schlüsse haben wir aus der Erfahrung gezogen, dass wir uns nicht mehr, wie 70 Jahre lang, außenpolitisch auf die Schutzmacht USA verlassen können? Was würde eine Wiederwahl Donald Trumps im Jahre 2024, die nicht auszuschließen ist, für uns bedeuten – und haben wir begonnen, uns darauf strategisch vorzubereiten?
Diese geopolitischen Umwälzungen finden statt, nachdem uns seit dem Frühjahr 2020 die Corona-Pandemie in den Griff genommen und unser Leben, unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft grundlegend verändert hat. Auch die Pandemie bezieht ihre Dramatik aus einer globalisierten Welt, in der sich Menschen täglich über Grenzen und Kontinente hinweg bewegen. Dass eine globale Infektionskrankheit zu den realen Gefahren gezählt werden muss, war den Experten bekannt, und diese Einschätzung wurde auch den Regierungen unmissverständlich mitgeteilt. Dennoch hat uns in Deutschland, in Europa, im gesamten Westen diese Pandemie unvorbereitet getroffen.
Erst nach und nach wurde ein Verständnis dieser Krankheit, ihrer Wirkungen und des Vorgehens gegen sie entwickelt. Erst als Covid sich ausgebreitet hatte und damit der Schaden für Gesundheit, Gesellschaft und Wirtschaft eingetreten war, begannen wir, mit der Katastrophe umzugehen. Der Vertrauensgewinn in die Politik während der ersten Welle war enorm, als die Bundesregierung die notwendigen Maßnahmen und damit verbundenen Einschränkungen für unseren Alltag den Bürgerinnen und Bürgern offen und ehrlich kommunizierte. Leider hatte dieser Politikstil keinen Bestand, und Deutschland fiel zurück in einen reagierenden und dem Krankheitsverlauf hinterherhechelnden Modus. Das ist umso erstaunlicher, als zu jedem Zeitpunkt der Pandemie eine große Mehrheit der Bevölkerung hinter den Maßnahmen stand und diese mittrug.
Die Pandemie wiederum löste eine Krise ab, die im Jahre 2015 in Syrien begonnen hat, sich in der Folge auf die umliegende Region von Afghanistan bis ins nördliche Afrika ausdehnte, die als Flüchtlingskrise die Gesellschaften und die innenpolitische Verfassung in Europa erschütterte und als solche in das kollektive Gedächtnis der Menschen eingetreten ist. Auch diese war eine Krise mit Ansage, die uns jedoch erneut unvorbereitet getroffen hat. Denn Konflikte und Kriege und die Perspektivlosigkeit vieler Menschen im Nahen Osten waren ebenso bekannt wie die überfüllten Flüchtlingslager in Jordanien, im Libanon und in anderen Ländern. Diese Staaten wandten sich an die Vereinten Nationen und ihre humanitären Organisationen und baten die wohlhabenden Länder um mehr finanzielle Hilfe zur Versorgung der Flüchtlinge.
Doch die reichen Länder ignorierten, dass Krieg und Perspektivlosigkeit eine Fluchtbewegung auslösen und diese auch sie erreichen könnte, wenn die Lage nur schrecklich und aussichtslos genug würde. Die Reaktion vieler wohlhabender Staaten auf den Hilferuf bestand darin, die Mittel nicht nur nicht zu erhöhen, sondern sie im Gegenteil zu kürzen oder sogar einzustellen. Das, was wir die »Flüchtlingskrise« nennen, nahm seinen Lauf. Erneut erwiesen sich die europäischen Gesellschaften als unvorbereitet, angefangen bei Fragen der Grenzsicherung, der zwischenstaatlichen Kooperation, bis hin zu der Verteilung und der Versorgung der Flüchtlinge vor Ort.
Migration als ein Phänomen der Globalisierung wird bleiben. Sie wird vor allen Dingen dort immer eine gesellschaftliche Herausforderung sein, wo geographisch Arm und Reich nah beieinanderliegen. Wir in Europa, dem Paradies in den Augen der Flüchtenden, sind nur durch das schmale Mittelmeer von Staaten und Regionen getrennt, in denen gewaltsam Konflikte ausgetragen werden und in denen menschenfeindliche Strukturen und wirtschaftliche Perspektivlosigkeit herrschen. Flucht und Migration sind also nichts, was wir als eine Erfahrung aus den Jahren 2015 bis 2019 einordnen und abhaken können. Schneller als gedacht, ist das Thema mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine wieder da. Der russische Angriffskrieg hat in Europa so viele Menschen in die Flucht gezwungen wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
Flucht und Migration sind eine der großen Herausforderungen unserer Zeit, nicht zuletzt ausgelöst vom Klimawandel, der globalen Menschheitsaufgabe der Gegenwart. Verglichen mit den anderen disruptiven Krisen unserer Zeit, denen wir zumindest anfänglich hilflos gegenüberstanden wie dem Krieg, der Pandemie und den Migrationsschüben, gleicht der Klimawandel einer sich allmählich vorwärtsschiebenden Lavazunge. Er wird uns in seiner Unerbittlichkeit und Unumkehrbarkeit dafür aber umso dramatischer treffen. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie schwer wir uns selbst mit den Krisen tun, die uns in ihren Folgen zeitlich und physisch unmittelbar gegenübertreten, so wird erklärbar, aber kein bisschen entschuldbar, wie schwer wir uns damit tun, aktiv, ausdauernd und konsequent Klimapolitik zu betreiben.
Obwohl seit Jahrzehnten erkannt und beschrieben, hat der durch den Menschen verursachte Klimawandel nicht aufgehört fortzuschreiten – und er nimmt sogar immer weiter zu. Mit anderen Worten: Trotz aller Weltklimakonferenzen, trotz aller nationalen Anstrengungen und Erfolge, klimaverträglicher zu wirtschaften und zu leben, steigen global die klimaschädlichen Emissionen unaufhörlich an. China, das heute mit einem Anteil von nahezu 30 Prozent der größte einzelne Verursacher der weltweiten CO2-Emissionen ist, verkündet offensiv und stolz das Ziel seiner Klimapolitik, im Jahr 2030 den Höhepunkt der nationalen Emissionen überschritten zu haben. Umgekehrt heißt das aber, dass China noch bis zum Jahr 2030 immer mehr CO2 emittieren wird. Wir alle, die Menschheit heute und zukünftige Generationen, können uns das nicht leisten.
Damit bin ich bei dem letzten Beispiel angelangt, mit dem ich illustrieren möchte, wie sehr und umfassend wir Deutschen, wir Europäer und der gesamte Westen mit Herausforderungen konfrontiert sind, für die wir noch nicht gewappnet sind und denen wir hilflos gegenüberstehen, wenn wir nicht damit beginnen umzusteuern. China ist die größte Herausforderung, die heute von einem einzigen Land ausgeht. Denn China hat den Willen und die Fähigkeiten, die internationale Ordnung und damit die Welt, in der wir leben, fundamental zu verändern. China ist die zweitgrößte Volkswirtschaft, und es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis die Chinesen zur größten werden. China hat in einigen zentralen Bereichen eine technologische Spitzenstellung eingenommen.
Vor allem aber hat China unter Xi Jinping den Willen entwickelt, die internationale Ordnung, wie sie sich in den Institutionen und den grundlegenden Verträgen der Vereinten Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg ergeben hat, zu ändern. China besteht darauf, dass chinesische Interessen, die selbstverständlich nur von China definiert werden können, generell maßgeblich berücksichtigt werden. Es akzeptiert es nicht, dass mit völkerrechtlichen Argumenten, die nach chinesischer Ansicht allein westliche Wertvorstellungen repräsentieren, wie zum Beispiel den Menschenrechten, in das, was als innerchinesische Angelegenheiten definiert wird, eingegriffen wird.
Die Idee des Rechts auch in den internationalen Beziehungen, so sehr immer wieder auch von den Staaten des Westens verletzt, aber doch prinzipiell als das