Irgendwann
Später.
Liegt da ein Mann in seiner zu kalten Wohnung.
Na ja, Wohnung.
Also.
Da liegt er, in einem Bärchen-Pyjama, unter einer Gewichtsdecke – die ist, neben Psychopharmaka, Singleplattformen und Alkohol, ein weiterer geldwerter Vorteil der codegesponserten Massenvereinsamung, statt eines Menschen oder Hundes decken die Leute sich mit kiloschweren Textilien zu.
Sie nennen es Kuscheln.
Der Mann in seiner zwangsbelüfteten, ökologisch-grünen Unterkunft steht kurz vor dem Erwachens-Impuls, den Nanobots dem betreffenden Gehirnareal geben werden. Sie sind noch nicht so genau, die kleinen Biester, ab und an läuft etwas schief, aber –
der Moment des Halbschlafs ist stets ein somnambules Fest, wie das Leben, das wir feiern sollten.
Mitten im nebligen Raum zwischen Traum und Realität vermeint der Mann eine Stimme zu hören:
»Geht es dir gut, an diesem Morgen?« Sagt sie. Und
»Es ist ein wunderbarer Tag. Es regnet.«
»Das magst du, dann kannst du dein Homeoffice genießen. Solange es noch da ist, solange du noch ein inneres Office hast, denn dein Beruf als – egal – wird gerade ausgelagert.
Du wirst
heute vermutlich wütend werden«, sagt die Stimme »Es wird fast jeder wütend im Moment. Wegen der unglaublichen Zumutungen, die so ein Leben mit sich bringt. Wegen dieser – nennen wir es – Ohnmacht, die dich begleitet bei allen Verrichtungen.
So ein Ärger, wenn sich die Türen der Tram nicht öffnen, einem Fehler des Bezahlsystems geschuldet.
So ein Hass. Wenn das Smartmeter dir ein Stromverschwenden bescheinigt und dir das wöchentliche Duschen mit warmem Wasser verwehrt.
Und wenn dein Tele-Arzt nicht erreichbar ist, weil die Analyse deiner Daten den Schluss zulässt, dass du mit deiner Existenz ein marktwirtschaftliches Desaster performst, ist das wirklich – unerfreulich. Aber
bei der Rettung des Planeten müssen wir alle zusammenhalten.
Solidarisch sein.
Solidarisch sein.
Solidarisch sein.«
Hoppla, ab und zu hängt das Programm.
»Dann
sind wir hilflos – was auch tun, wen
anrufen, wohin eine Mail senden, wo demonstrieren und mit wem? Und außerdem –
wird geäußerter Unwille mit dem Einzug deiner digitalen Vermögenswerte bestraft.
Vermögenswerte. Der war gut.
Du vermagst – nichts.
Außer dein Leben zu feiern.
So ein Leben, das ist schon was, kannst du sagen und tief durchatmen. Die Luft ist so gut, seit alle Rad fahren.
241.364 neue Menschen werden heute die Erde betreten, und im gleichen Moment vergessen sein, aber – sie werden alle Rad fahren, wegen des Klimas, und sie werden es bewusst tun.
Apropos. Du hast dich gut ernährt gestern, dein Magen meldet den Verzehr von etwas, das du für einen Insekten-Burger gehalten hast.
Du hast trainiert.
Mach weiter, sonst wirst du einer der 1.712.325.934 übergewichtigen Menschen auf der Erde oder einer der
786.067.272 Fetten – hoppla, korrekter: der Menschen mit einem unausgewogenen Gewichts-Fett-Anteil,
die keinen Zugang zu den Gesundheitsdiensten mehr haben.
Du wirst an diesem wunderbaren Tag deine
eigenverantwortliche Psychohygiene in den sozialen Netzwerken ausleben, und einige der 518.807.449 Einträge auf der Massenablenkungswaffe Twitter oder sonst wo –
ins Nichts senden.
Wenn du dich solidarisch, solidarisch, solidarisch,
hoppla,
verhältst,
steht dir ein elektronischer Hund zu.
Und nun – geht es los –
Hast du Angst? Viel Angst?«
Willkommen
im
fortgeschrittenen Jahrtausend!
Es würde als »Zeit des Wandels« in die Geschichtsbücher eingehen. Wenn es später noch Bücher geben würde. Oder eine Geschichte. Oder eine Welt.
Draußen schien alles ruhig.
Die neue Technologie, der Segen der Menschheit, würde der Ausweg aus Gewalt, Hass, Ungerechtigkeit und Klimakatastrophen sein.
Hoffentlich.
Nach zweihundert Jahren Fortschritt, der den Menschen so viel Gutes gebracht hatte – Strom und Wohnung und Konsum gegen Aufstände –, war der Planet am Ende und konnte nur durch die Entfernung der Menschen repariert werden –
(Hier erklingt ein kleiner esoterischer Healing-Song, mit Delfinen.)
Es gab zu viele Leute, die alle etwas wollten.
Leben zum Beispiel.
Doch das Gefühl des Untergangs war immer vorhanden,
so verzweifelt sie auch mit Netzen Plastik aus dem Meer fischten. Sosehr sie versuchten, die Tiere, die auf dem Plastik über die Meere krabbelten und wackelten, um in einem neuen Zuhause einen invasiven Job zu erledigen, zu lynchen.
Sie versuchten, Mauern gegen die, sagen wir,
Natur
zu bauen. Und klonten Tiere, um sie danach beim Aussterben zu beobachten.
Der Himmel erleuchtet von Explosionen im All – da kollidierten chinesische Schallraketen mit den Satelliten, die Milliardäre ins All schossen, um das Internet zu retten, das am Boden zusammenbrach.
Das schöne Internet.
Die Bevölkerung der westlichen Länder teilte sich in die dicke Mehrheit und die fitte Minderheit. Die Dicken, die Adipösen, Diabetiker, herangezüchtet durch all das, was man Nahrung nannte. In Pappkartons lag das Zeug, nicht einmal in Regale mit netter Beleuchtung wurde es geordnet. Der nächste Schritt wäre, den Leuten Zucker, Fett, Hormone und Pestizide einfach in die Venen zu spritzen.
Für Konzerne, also Aktionäre, hatte die Wissenschaft erforscht, wie viel Zucker und Fett und Dreck so ein Körper erträgt, und wie lange es sich für das Wachstum rentiert, den Organismus am Leben zu erhalten. Siebenhundertsechzig Milliarden hatten die Aktionäre mit Insulin verdient.
Das schöne Geld.
All das schöne Geld für die privaten Krankenhausketten, all die armen Leute, die da mit den amputierten Beinen hockten und glaubten, was ihnen von Aufstieg und Glück der kleinen Leute berichtet worden war.
Die Kranken, Langsamen, Dummen, die Alten, die Unnützen, die,
die es anders gekannt hatten, die vom Krieg erzählten und sich doch darin befanden.
Bad News: Sie hatten verloren. Der Feind musste nicht einmal kämpfen. Er war einfach – durchspaziert. Der neue Mensch. Mit Coding und Fremdsprachenkenntnissen, mit virtuellen Brillen liefen sie gegen Laternen und sagten: »Ich unterscheide nicht zwischen Leben im Netz und Real Life.«
Die Fitten, die ihr Humankapital in Form halten,
fanden ihr Leben fantastisch. Sie filmten sich beim Fantastischfinden. Sie hatten nichts zu verbergen. Ihre Vorbilder waren Konzernchefs, Milliardäre, Macher, mutige Männer.
Von denen sie radikalisiert worden waren.
Training und Nahkampf, Diät und Orthorexie.
Die westlichen Kleinbürgerkörper verformt und kurz vor dem Zusammenbruch, der Anspruch, zu einem genormten, energiegeladenen, einheitlich funktionierenden, beschäftigten Konsumkörper zu werden, am Rand des Wahnsinns.
Kaum eines mit einem Gefühl außer ständiger Panik.
Und dem Bewusstsein der eigenen Individualität.
Jedes mit seiner Identität, seiner Nationalität, Regionalität, seiner Religion und seiner Generation, seinen Vorlieben und Abneigungen, gegen den Rest.
Da gehörte keines zu irgendwas.
Außer zur großen Klasse der Betrogenen. Der TagelöhnerInnen, der armen SchluckerInnen, der Arbeiterklasse, die sich aber nicht mehr als Klasse verstand, zu der keiner gehören wollte, zu der fast alle gehörten. Sie strengten sich so an, alles richtig zu machen. Den Planeten zu retten, zu sparen, auf alles zu verzichten, aber – da war kaum noch etwas, was verzichtbar wäre, außer – man stürbe ökologisch.
Mit den Resten ihrer Wut, ihrer Verzweiflung angesichts Lebens, das doch nicht einmal mehr ein bisschen Spaß machte, gab es an allen Orten, in allen Ländern, immer wieder Aufstände, Demonstrationen, Unruhen, die erfolgreich und mit zunehmender Brutalität niedergeschlagen wurden.
Wir nennen es: »Die Schraube anziehen.«
Einen Halt gab es nicht mehr für die Leute am Rand der sich öffnenden Böden. Sie taumelten, strauchelten, schrien Befehle in ihre smarten Geräte, wenigstens jemandem etwas befehlen. »Hauptsache: Arbeit«, stöhnten sie und schleppten sich in Großraumbüros, in denen sie beschäftigt wurden, mit der Programmierung dessen, was sie unnütz machen würde. Sie digitalisierten bis in den letzten Winkel jeden Bereich des Lebens, vergessend, was wohl passierte, wenn der Strom ausblieb.
Oder die AI wirklich den Verstand aller Menschen übertreffen wollte. »AI – gestalte eine nachhaltige Welt.« Und ENTER.
Aber bis es so weit war, lieferten
die Verlierer den neuen, programmierenden Berufstätigen das ausgewogene Essen, das von anderen Verlierern zubereitet worden war.
Die neuen schlanken Menschen hatten geschädigte Nerven – sollten sie nun dauernd Angst haben oder mutig vorangehen? Sollten sie empfindsam ökologisch sein oder wachsam?
Man bräuchte einen Neustart. Aber wer sollte das tun? Und was sollte danach kommen? Wogegen sollte man sein und kämpfen und anschreien?
Und war nicht jede Zeit den Menschen als die schrecklichste erschienen? War es nicht immer weitergegangen? Dank der Innovationskraft, der Technologien, des Weltraumes und des Gottes –
Immerhin konnten sie noch wählen, die Leute.
Zwischen Produkten oder Parteien, die sie mehr oder ein bisschen weniger verwalteten. Sie hatten das Recht, Steuern zu zahlen, und sie durften sagen, was sie dachten und. Verdammter Mist! Es wusste doch keiner mehr, was er denken sollte, es war alles – zu viel. Zu viel Netz und Hormone, Panik, Adrenalin und Mitteilungen. Dauernd gab es Mitteilungen. Und überall waren es dieselben.
Es war die Zeit nach dem Kapitalismus.
Der Glaube an Zukunft, Fortschritt, Wohlstand, Urlaubsreisen, die runde Welt, das friedliche Ende, die glückliche Familie, hatte die Menschen zusammengehalten, lange Zeit.
Doch nun – glaubte keiner mehr irgendwas.
Die unfassbare Menge an realen und gefälschten Informationen, an Schwachsinn, Brutalität, und die Geschwindigkeit, mit der die alten Gesellschaftsordnungen verschwanden und durch irgendwas ausgetauscht wurden, versetzten die Bevölkerungen und ihre Organe in permanente Erregung.
Der Darm. Ein großes Thema.
Gereizt waren sie, die meisten Menschen, durch den Brand in der Amygdala. Das Leben war zu einem Schlachtfeld der Mikroaggressionen geworden, ein Krieg, ausgetragen mit sturmeinsatzfähigen Automobilen, Bikes, Helmen, Masken, Muskeln.
Sie handelten kollektiv gegen alles, was ihnen ein Wohlbefinden bereiten könnte – gegen Ruhe, Entspannung und Müßiggang.
Sie hatten die Parolen ihrer Geiselnehmer verinnerlicht:
»Der Wettbewerb, ich will den Wettbewerb«, röchelten sie auf den letzten Metern zum Ziel.
Fast jeder unter einer Milliarde Vermögen ahnte, dass es nicht gut enden würde. Mit den Menschen der Welt, dem ganzen Zeug, aber –
einen Ausweg wusste keiner.
Apropos. In jeder Sekunde multiplizierte sich die Zahl der Bereiche, die digitalisiert wurden.
Alle Bereiche des Lebens würden schon bald darauf warten, mit ein paar gut ausgeführten Remote Code Executions übernommen zu werden.
So weit zur Theorie.
Jetzt geht es richtig los. Also fast.
lag Ben
Ethnie: irisch
Hobbys: Geheimdienste, Geofencing
Gefährderstufe: unbedeutend
Sexualität: asexuell
Familienzusammenhang: Eltern mit Alkoholschäden. vermutlich tot
mit dem Gesicht auf der Tastatur seines Rechners. Seine Wut war so groß, dass sie in einem paradoxen Systemkollaps einen Ausweg aus seinem Hirn gesucht hatte. Ben war dabei, eine große Sache aufzudecken. Also wie immer. Seit Jahren war Ben mit der Erforschung der smarten Kriege gegen die Bevölkerungen beschäftigt. Stets war eingetreten, was er irgendwann befürchtet hatte. Dinge, die er kaum jemandem erzählen konnte, seit es die Freunde nicht mehr gab. Sie hätten ihn als raunenden Spinner abgetan, die Leute, wenn er von elektronischen Identitätskarten berichtet hätte, von Massenüberwachung und Manipulation, von einer Renaissance des Feudalismus.
Die Technik, die im Moment fast jeden Bereich des Einzelnen ausspähte, sortierte, für den Fall katalogisierte, dass es irgendwann notwendig sein könnte, den Menschen aus dem Verkehr zu ziehen, war aus reiner Profitfreude entstanden. Die Übernahme des Verstandes und der Debatten durch die sozialen Medien, die biometrischen Kameras, die Spionagesoftware, die in fast allen Geräten aktiv war – eine Mischung aus Absicht und Zufall, aus Kapitalvermehrung und Sehnsucht, die Menschheit zu beherrschen, Ordnungssysteme zu schaffen, um das Chaos zu verunmöglichen, das eventuell ausbrechen würde, wenn große Teile der digitalisierten Welt ausfallen würden, es mehr Überschwemmungen, Hunger, Zuwanderung, Abwanderung, Inflation und Elend gäbe.
Gerade war das Internet of Bodies, der große Leuchtturm am Himmel der Monetarisierungsmöglichkeiten, aufgetaucht. In den USA wurde seit einiger Zeit die Beaconisierung schwacher Verkehrsteilnehmer durchgeführt, um sie vor den Gefahren webverbundener Fahrzeuge zu schützen.
Es hatte mit Versuchen begonnen, Fahrräder mit
Transponderbeacons zu sichern, die von den Sensoren smarter Autos automatisch erkannt wurden, um die Fahrradfahrenden nicht zu überrollen. Das funktionierte einigermaßen, aber würde Passanten nicht vor den fast autonomen Automobilen schützen, die, einem Hack oder Fehler geschuldet, immer wieder in weiche Ziele rasten. Inzwischen liefen Versuche, Passanten zu ihrer eigenen Sicherheit RFID-Technologie in Chipform zuzuführen.
Eine grobe Technik, die vor ihrem Einsatz schon veraltet war, denn Ben war überzeugt, dass der Milliarden-Markt der Nanotechnologie bald einsatzfähig wäre.
Er hatte eine Reihe von eingetragenen Patenten gefunden, die seine These belegten, dass es bald ein »Internet of Bodies« geben würde.
Die Verbindung von Netz und Körper, um Menschen auszulesen, zu schützen, zu heilen und so weiter, stand kurz vor ihrer Masseneinsatzmöglichkeit.
Ben suchte, wie alle die Erregung für Lebendigkeit hielten, ausschließlich Belege, die seine Annahme unterstützten. Zum Beispiel im Patentregister.
Es gab Dutzende, die sich als Basis für den Einsatz von Nanobots in Organismen lesen ließen – das Patent US9382579B2 zu elektromagnetisch funktionalisierten DNA/Nanopartikel-Komplexen, zum Beispiel, oder US3816709A zu technischen Grundlagen der Authentifizierung und der biologischen Diagnostik.
Das Patent US20020188470A1 sicherte sich die Rechte an der Möglichkeit, Lebewesen durch zuvor zugeführte Nanopartikel zu identifizieren.
Wenn die Nanotechnologie Ingenieure wie Elon Musk in Aufregung versetzte, war die Chance, dass an ihrem kommerziellen Einsatz gearbeitet wurde, sehr groß. Wenn es möglich ist, kleine, von außen gesteuerte Roboter, einen Milliardstel Meter groß, mit Wasser oder Nahrung aufzunehmen, sie gezielt im Körper zu bewegen, dann –
Ben wurde durch etwas abgelenkt, wie so oft, wenn er etwas Großem auf der Spur war.
Es war eine
Erinnerung.
Die Freunde
waren
Ben, Kemal, Maggy, Pavel, Rachel,
Mentale Einschränkung: diverse Zwangsstörungen
Krankheitsbild: Schuppenflechte, Sonnenallergie
Hobbys: schlechte Ernährung, Gamen
Technische Kenntnisse: befriedigend
Abneigungen: Marvel-Hater, Faschisten, die da oben
damals jugendliche Menschen, die sich in Ermangelung von Bekannten im 1.0-Leben »Die Freunde« nannten. Die Freunde hatten Mitgliederstatuten festgelegt und viel geredet und dabei zu Boden gesehen, um ihren Zuschreibungen als Asperger-Nerds gerecht zu werden. Sie hatten sich über Programmiersprachen, ihre Geräte, Server, Racks, Kryptografie und Lötkolben ausgetauscht und waren im Rahmen ihrer Emotionshemmung erfreut gewesen, dass da andere existierten wie sie: Außenseiter, die sich kraft ihres Außenseitertums dazu berufen fühlten, für alle Außenseiter zu kämpfen. Sie hatten eine Aufgabe gefunden, die größer war als sie. Die jungen Leute, die stotterten, die anderen nicht in die Augen sehen konnten, die keinen Kontakt zu Artfremden hatten, weil keiner hier eine Ahnung hatte, worüber die anderen Menschen sich unterhielten. Über die zwanzig Millionen IP-Adressen, die von der Regierung innerhalb der letzten Monate gesperrt worden waren. »WTF ist eine IP-Adresse«, würden sie fragen, die Normalen.
Die Freunde hatten ihren Hackerspace durch eine gezielte Suche gefunden. Ganz wie die Klimamission GRACE, die angeblich die Schwerefelder der Erde vermessen sollte, hauptsächlich aber nach verschwindenden Wasservorräten Ausschau gehalten hatte, damit im Anschluss Armeen der westlichen Welt in die Orte der südlichen Welt gesendet würden und vorsorglich gegen das Fluchtverhalten von Menschen in wasserlosen Gegenden Stellung beziehen könnten. Genauso hatten die Freunde die Cloud der beliebtesten Fitness-Tracking-App nach interessanten Daten durchsucht. Und diese Perle am Stadtrand gefunden. Hier joggte keine Sau. Keine Wärmeballung, keine Funknetze. Das hieß: Hier gab es keine Überwachungskameras. Das hieß: Hier war nichts. Keine Tiere, keine Drohnen. Keine mit Roboterhunden verbundenen Drohnen. Gute Gegend.
Da war
Ben.
Er war bereits achtzehn und versorgte die Gruppe mit Geld. Er prüfte Unternehmens-IT auf Schwachstellen. Und versuchte in der freien Zeit, ein dezentralisiertes Netz zu entwickeln. Was ihm vermutlich in fünfzig Jahren gelingen würde. Na ja. Oder doch nicht, denn er hatte keine zig Millionen zur Verfügung, um ein Rudel Topprogrammierer an die Aufgabe zu setzen. Er hatte keine Millionen zur Verfügung, weil niemand, der Millionen zur Verfügung hatte, an einem neuen Internet interessiert war. Das alte arbeitet hervorragend.
Da war Maggy,
die sehr jung war und mit Menschen Probleme hatte. Also, die Menschen hatten Probleme mit ihr, denn Maggy war zu dick und zu uneindeutig, um den sozialen Verabredungen zu entsprechen, die darüber bestimmten, wie ein junges Mädchen auszusehen hatte.
Rachel,
da in der Ecke mit dem Bärenohren-Plüsch-Overall, war erst vierzehn und redete nicht gerne. Reden langweilte sie. Sie war auch nicht so gut darin. Sie hatte ständig kalte Finger, an denen sie kaute, und starrte ins Netz – da war es warm. Da waren
Kemal und Pavel.
Kinder von irgendwelchen Einwanderern, die in letzter Zeit gehasst wurden, und zwar zu Recht, und zwar, weil sie schuld an der Klimaerwärmung waren. Und der Privatisierung. Und der Steuerhinterziehung durch Konten auf den Cayman Islands.
Das waren:
die Freunde.
Die Wut auf die Gesellschaft hatten und nicht wussten, wen sie damit meinten. Die von Anarchie redeten und nicht wussten, was das sein sollte. Die sich nach Aktionen sehnten und Dinge im Netz meinten. Sie waren die Guten. Was auch immer das bedeuten mochte.
Die Freunde hatten irgendwann an ihren Sieg geglaubt. Daran, dass sie immer mehr würden. Die neue coole Jugendbewegung. Dabei hatten sie nicht bedacht, dass Nerds keine erotische Kleidung tragen und die Masse keine Ahnung von Technik und Politik hatte. Dazu konnte man nicht tanzen. Die Freunde waren weniger geworden statt mehr. Immer öfter verschwanden ihre Leute. In Gefängnissen oder Nervenheilanstalten. Zu viele Informationen waren nicht gut für menschliche Hirne. Sie wussten, dass dieses sogenannte Internet nicht nur ein Ort war, in dem Leute Katzenpornos betrachteten und Reiseschnäppchen suchten. Sie wussten, dass im Netz alles war. Die Stromversorgung, die Verkehrsregelung, die Börse, der Welthandel, die Züge, das Leben. Und dass alles Leben endete, wenn Systeme angegriffen wurden. Oder keine Rohstoffe für den Bau von Rechnern mehr zur Verfügung standen. Sie wussten, dass es Kriege um diese Rohstoffe gab. Dass sie Kriege gegen den Terror hießen. Sie wussten, dass Menschen manipuliert und überwacht wurden in diesem Internet. Dass ihre Stimmen und Körper und Mails gefälscht wurden, dass es zu Anklagen kam und zur Beseitigung von –
Querulanten.
Es war ernst. Das war es immer, aber früher war es nicht lebensbedrohlich gewesen. Und nun?
Saßen sie hier. In dieser scheiß Fabrik. Und wussten nicht weiter.
Es hatte sich kaum einer für ihre Revolution interessiert. Was Menschen nicht begreifen, interessiert sie nicht. Sie interessierten sich für Terror. Darum fanden in regelmäßigen Abständen Angriffe irgendwelcher Fundamentalisten statt. Gerne ließen sich die Leute im Anschluss an solche Aktionen röntgen, nackt ausziehen und filmen, bevor sie ein Flugzeug bestiegen. Keiner hatte doch etwas zu verbergen. Die Freunde
hatten die Massen nicht mobilisiert.
Bis vor einigen Jahren hatte es noch anarchistische Jugendliche gegeben, die demonstrierten oder Grundstücke besetzten, die auszogen, um Faschisten zu jagen, die ihre Gesichter verhüllten und glaubten, sie könnten England zu einer Freistadt Christiania umbauen, einem rechtsfreien Raum, in dem heitere junge Hippies saßen und veganen Brei aßen. Die Aufstockung der Polizei und die Ausstattung mit Maschinengewehren hatten dem ein Ende gesetzt. Danach war Ruhe. Gewesen. Seitdem gab es nur noch ein paar Jugendliche, die sich nicht dem System untergeordnet hatten. Nur noch ein paar, die nicht glaubten, in der besten aller Zeiten zu leben. Die wenigen Querulanten, die noch rappten oder hackten, würden auch bald ihren Platz in der Gemeinschaft finden. Und das war gut für sie. Nur angepasst konnte man schließlich an den Erfolgen einer Gesellschaft teilhaben.
Egal.
Die meisten, die sich hier im Raum aufhielten, waren unbeliebt. Gewesen. Weil sie den Standards der Menschen-Norm nicht genügten. Weil sie zu laut, zu leise, zu groß, zu klein, zu dick, zu dünn waren. Sich zu schnell oder zu langsam bewegten, zu schwul oder zu nichtsexuell, zu unsportlich oder zu nervös waren. Einsam gewesen waren alle. Waren es immer noch, wenn sie die geschützte Werkstätte verlassen und mit schlechten Augen auf die Umgebung außerhalb des Netzes starrten. Die meisten wollten die Welt retten. Ein paar wollten einfach nur angeben. Und alle ahnten, dass sie nichts erreichen würden. Die Übermacht war zu groß geworden, oder sagen wir: Sie begriffen allmählich, gegen wen sie kämpften –
Geheimdienste, Staaten, Milliardenunternehmen, Rechtsradikale, Nationalisten, Spinner, Verschwörungstheoretiker und Mörder. Wo fing man da an? Kaum hatten sie ein Nazinetzwerk erledigt, wuchsen Tausende von Bots nach. Ein paar Überwachungskameras ausgeschaltet, und schon standen da wie durch ein Wunder neue Laternen mit biometrischen Erkennungssystemen.
Sie hatten gekämpft damals – und irgendwann aufgegeben. Denn die Menschheit war zufrieden in einem vollüberwachten, geregelten System, das eigentlich ohne Menschen auskäme. Sie waren ruhig und satt inmitten der Auflösung. Es war doch alles so wunderbar
smart geworden.
Nun folgt ein verwirrender Zeitsprung. Zurück zu –