Ebookausgabe 2022
Umschlaggestaltung: Bunda Silke Watermeier, www.watermeier.net
Coverfoto: ©Premendra Würzburger
Übersetzung aus dem Englischen: Rajmani H. Müller
Copyright© 2021, Innenwelt Verlag GmbH, Köln
Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des Verlages.
www.innenwelt-verlag.de
eISBN 978-3-947508-90-7
Einleitung
1.Die Begegnung mit Melissa
2.Mein Besuch in Chiclana
3.Im Wanderparadies
4.Warnzeichen
5.Die Operation
6.Beginn der Behandlung
7.Zurück mit einem Knall
8.Schwierige Zeiten
9.Wege zur Genesung
10.Europäisches Abenteuer
11.Am Meer
12.Zweifel und Ängste
13.Ausflug nach Malaga
14.Es geht nach innen
15.Grenzüberschreitung
16.Abschied
17.Ehrfürchtiges Staunen
18.Vollendung
Nachwort
Danksagungen
Anhang
Wir diskutierten es nicht weiter und ich gab kein Versprechen ab. Es schien, als wüsste sie etwas, was ich nicht wusste. Soweit ich mich erinnere, antwortete ich mit einem überraschten und ziemlich unverbindlichen „Okay!“
Aber ich hatte wirklich keine Ahnung, was da auf mich zukam und was es mit sich bringen würde. Wir haben so viele wertvolle, extreme und inspirierende Momente miteinander geteilt, aber es gab weder die Zeit noch die Absicht, sie aufzuschreiben. Erst viel später fielen mir ihre Worte wieder ein.
Ich weiß nicht, welche Motivation Melissa hatte, als sie dieses Buch voraussagte, aber jetzt fühlt es sich richtig an, unsere Geschichte in eine schriftliche Form zu bringen. Das Schreiben dieser Geschichte ist die Einlösung eines nie ausgesprochenen Versprechens an sie. Das Geschenk, das mir unsere Liebesbeziehung machte, erwies sich als so groß und so mächtig, dass ich am Ende keine andere Wahl hatte.
Die Geschichte, die ich erzähle, ist größer als ich. Meine Zeit mit Melissa hat mich weit über das Gefühl der persönlichen Begrenzung hinausgeführt. Sie hat mich dazu gebracht, Dinge zu tun, die ich mir nicht zugetraut hätte. Es hat mich über mich selbst hinauswachsen lassen und mir gleichzeitig geholfen, mit einer tieferen Realität in mir in Kontakt zu kommen.
Meine Zeit mit Melissa war zweifellos die größte Herausforderung, das größte Drama und das größte Abenteuer meines Lebens. Das Ganze spielte sich vor einem intensiven Hintergrund von Liebe, Schönheit, Schmerz, Lachen, Freiheit, Meditation und Tod ab.
Ein praktischer Hinweis: Beim Erzählen meiner Geschichte habe ich die Namen aller Beteiligten geändert, mit Ausnahme von Melissa und mir natürlich. Ich möchte die Privatsphäre dieser Menschen schützen. Sie haben nicht darum gebeten, hierin vorzukommen, aber sie müssen dabei sein, sonst ist die Geschichte nicht vollständig. Ich hoffe, sie werden mir diese Einmischung verzeihen, aber wie gesagt, ich habe wirklich keine andere Wahl. Diese Geschichte muss erzählt werden. Und hier ist sie …
Wir lagen nebeneinander, Händchen haltend, und genossen unser Zusammensein im Zentrum des Universums. Wir starrten in die Sterne, ohne uns anzusehen, doch ich spürte sie neben mir so stark, dass ich mich zu fragen begann, ob dies mehr als nur Anziehung war, mehr als nur der Beginn einer Affäre. Es fühlte sich so anders an, so aufrichtig und offen, wie der erste vorsichtige Schritt einer langen gemeinsamen Reise. Einer Reise in die Liebe.
Wenn ich damals gewusst hätte, wohin es uns führen würde – zu Gipfeln reinen Glücks und den Abgründen der Tragödie, zu süßer Intimität und herzzerreißendem Schmerz über den Verlust –, dann frage ich mich, ob ich den Mut gehabt hätte, bei ihr zu bleiben. Ich frage mich, ob ich fähig gewesen wäre, „Ja“ zu Melissa zu sagen. Ich frage mich, ob ich fähig gewesen wäre, mit ihr Hand in Hand in eine Zukunft zu gehen, die mich so umkrempeln und mein ganzes Leben für immer verändern würde.
Melissa und ich waren uns ganz zufällig in einem kleinen Freiluft-Café in einem Meditationszentrum in Indien begegnet. Es war kurz vor Beginn der heißen Jahreszeit, und ich lag mit meiner Arbeit im Geschäftszentrum von Pune, einer Stadt etwa 200 Kilometer südöstlich von Mumbai, gut in der Zeit. Es war eine angenehme Abwechslung für mich, im Osho International Meditation Resort zu sein, dieser Oase mit ihrem üppigen Grün, den Marmorwegen, den Meditierenden in ihren dunkelroten Gewändern und einem trinkbaren Cappuccino. Ich war gewissermaßen Stammgast, seit ich vor mehr als zwanzig Jahren zum ersten Mal hier gelandet war. Es fügte sich, dass mein Geschäft als Schmuckdesigner regelmäßige Reisen nach Indien erforderte, denn ich ließ meine Kollektionen hier herstellen. Da ich auch Kunstgegenstände aus Asien importierte, konnte ich es gut einrichten, jedes Jahr ein paar Wochen im Resort zu verbringen. Bei meinen Aufenthalten widmete ich mich der Teilnahme an Meditationen und bot gelegentlich auch selbst Kurse und Sitzungen an.
Für mich hatte sich die Verquickung meiner Arbeit mit spirituellem Wachstum im Laufe der Jahre fast zu einer Kunstform entwickelt, die mir eine angenehme und lukrative Möglichkeit bot, mein Leben zu leben. Reich war ich nicht, aber ich war frei. Es saß mir keiner im Nacken, und meine Zeit gehörte mir. Natürlich musste ich mir manchmal arbeitsmäßig den Hintern aufreißen, besonders während des Weihnachts- und Neujahrsgeschäfts im europäischen Einzelhandel. Doch ich war mein eigener Chef, und das bot mir den Luxus, selbst entscheiden zu können, wann ich arbeiten und wann ich es entspannt angehen wollte, um mich auf meine andere Leidenschaft, die Meditation, zu fokussieren.
„Langsam wird‘s ruhig hier“, sagte ich zu dem kleinen, stämmigen Inder, der an diesem Morgen an meinem Cafétisch saß. Die Spitzenzeit für das Osho Meditation Resort war Januar und Februar, wenn Leute aus der ganzen Welt anreisten. Jetzt, Ende März, wurde es zusehends leerer.
„Das ist gut. Ich mag es ruhig. Weniger Störenfriede und weniger Arbeit für mich“, meinte Rahul scherzhaft. Er war seit jeher der Problemlöser am Eingangstor des Resorts, derjenige, der sich um die schwierigen Dinge kümmerte. Er war für die Sicherheit zuständig und hatte aufgrund dessen mit der Polizei von Pune zu tun, mit der er gut zusammenarbeitete. Außerdem kümmerte er sich um die schönen Gartenanlagen des Resorts. Während wir so plauderten, kam Melissa mit einer Tasse Tee in der Hand an unseren Tisch.
„Was dagegen, wenn ich mich zu euch setze?“, fragte sie mit einem Lächeln.
Wir begrüßten sie beide, und sie zog einen Stuhl heran und setzte sich zwischen uns.
Ich kannte Melissa vom Sehen. Sie gehörte wie Rahul zur Szenerie. Soviel ich wusste, hatte sie einen Job in der Resortverwaltung, und ich fand sie sehr attraktiv, aber das war auch schon alles, was ich wusste. Es war das erste Mal, dass wir zusammensaßen, und es war eine angenehme Überraschung, sie bei dieser Gelegenheit besser kennenzulernen.
Melissa war zierlich und auffallend hübsch. Sie hatte langes, kastanienbraunes Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz nach hinten genommen hatte, was ihr eine mädchenhafte Ausstrahlung verlieh, und sie hatte tiefe, dunkle Augen, die amüsiert funkelten und einen Hauch von kokettem Versprechen verströmten. Und sie hatte einen ansteckenden Sinn für Humor. Sie sah jünger aus als ihr tatsächliches Alter – neunundvierzig, wie ich später herausfand.
In modischer Hinsicht war sie immer schick gekleidet. An einem Ort, wo die Kleiderordnung für den Tag auf ein einziges Kleidungsstück beschränkt war – bordeauxrote Roben für alle –, gelang es ihr dennoch, sich durch elegant geschnittener Roben abzuheben, die offensichtlich nach ihrem Geschmack von einem örtlichen Schneider angefertigt worden waren.
Ich weiß nicht mehr, worüber wir an diesem Morgen sprachen, aber die Zeit verging wie im Flug. Ich glaube, wir haben uns über unser Leben ausgetauscht – ich mehr als sie. Aber ich weiß noch, dass sie mir erzählte, sie lebe in Spanien und liebe die Region von Andalusien. Während sie davon erzählte, konnte ich die langen Sandstrände geradezu vor mir sehen und die warmen Sonnenstrahlen spüren. Nach ein paar Minuten, so schien es, schaute sie auf die Uhr und kündigte an, dass sie gehen müsse.
„Ich muss zurück zur Arbeit“, erklärte sie und stand auf.
Ich bin auch aufgestanden. Es war eine wunderbare Begegnung gewesen, und ich hatte Lust, sie zu umarmen. Vielleicht sollte ich hier erwähnen, dass es im Osho Resort eine übliche Freundlichkeitsgeste ist, sich beim Begrüßen und Verabschieden zu umarmen.
Es ist nicht obligatorisch, aber üblich – eine herzliche Art, sich zu begegnen, sodass man schnell das formale Händeschütteln hinter sich lässt. Melissa schien mich gerne umarmen zu wollen, also nahmen wir uns sanft in die Arme. Zu meiner Überraschung ging diese Berührung viel tiefer, als ich erwartet hatte. Melissa wirkte so offen und herzlich – ich fühlte mich so vertraut in ihren Armen. Mich berührte vor allem ihre wache Art, sie war natürlich, offen und interessiert.
So standen wir eine Weile und hielten uns einfach. Alles wurde still. Die Außenwelt verschwand. Ich glaube, man könnte sagen, die Zeit blieb kurz stehen, bis die Umarmung zu Ende ging und wir uns langsam voneinander lösten. Das Sprechen fiel mir schwer, darum sahen wir uns einfach in die Augen. Sie musste weg, darum sagte ich nur, halb als Feststellung, halb als Frage: „Fortsetzung folgt?“
Ohne zu zögern antwortete sie mit einem klaren „Ja!“
Ich sah ihr nach, als sie sich entfernte, und registrierte wie anmutig sie sich bewegte, während sie durch den Garten des Resorts zurück in ihr Büro ging.
„Was war das denn eben?“
Rahuls unverblümte Frage holte mich zurück an den Cafétisch.
„Wow, das war ja der Hammer!“, sagte ich. „Was für eine Schönheit, innen und außen!“
Ich setzte mich wieder und trank meinen Tee aus. Dann erzählte ich Rahul, wie mir Melissa vor vielen Jahren zum ersten Mal aufgefallen war. Es war in der allabendlichen Schlange vor der Buddhahalle gewesen, während wir auf Oshos Abendvortrag warteten. Manchmal reinigte Melissa das Podium, wo wenig später Oshos Sessel aufgestellt wurde. Ihr dabei zuzusehen, wie achtsam und meditativ sie die Marmorfläche mit ihrem Tuch abwischte, war eine passende Einstimmung. Wenige Minuten später kam dann Osho herein und begann seinen Vortrag. Auf meine schwärmerische Erinnerung reagierte Rahul mit einem praktischen Hinweis.
„Ich glaube, sie lebt mit einem Mann in Spanien“, deutete er an. Diese Information war keine Enttäuschung für mich. Ich hatte zu der Zeit eine Beziehung mit einer Spanierin und war nicht darauf aus, mit anderen Frauen auszugehen oder zu flirten. Und doch gab es da diese Anziehung, die nicht zu ignorieren war. Ich fühlte, dass ich Melissa näher kennenlernen wollte und freute mich darauf, ihr wieder über den Weg zu laufen, was auf dem überschaubaren Resortgelände auch täglich passierte.
Wir umarmten uns dann spielerisch und tauschten Witze aus, oder wenn unser Zeitplan es erlaubte, gingen wir für ein bisschen Smalltalk ins Café. Ich fand bald heraus, dass „Small Talk“ für Melissa gar nicht so unbedeutend war. Es war meist tiefgründiger als das übliche Geplauder.
In ihrer Begleitung kam ich auf das zu sprechen, was in meinem Leben wichtig war, und sie antwortete mir mit einem Hinweis auf die Unterscheidung zwischen „horizontalem“ und „vertikalem“ Leben, die Osho in einem seiner Vorträge getroffen hatte.
„Diesen Gedanken finde ich faszinierend“, erläuterte sie, „dass wir das Leben normalerweise horizontal leben, von einer Aktivität zur nächsten, von Tag zu Tag. Aber ein Mystiker versteht es, vertikal zu leben, mit Totalität und Intensität, und in jedem Augenblick tiefer und tiefer zu gehen. Er lädt uns dazu ein, völlig präsent zu sein mit dem, was gerade ist, ohne sich im Verstand und seinen Problemen festzuhaken.“
„Ich möchte verstehen, was das für mich selbst bedeutet“, fügte sie hinzu, „und wie ich den Sprung vom horizontalen Leben ins vertikale Leben machen kann, sodass ich das Leben nicht bloß als eine Abfolge von Ereignissen sehe, sondern als Präsenz erlebe.“ Es gefiel mir, wie sie das sagte, denn ihr Bestreben, ihrem persönlichen Wachstum Priorität einzuräumen, rührte eine Seite in mir an und erinnerte mich daran, wie wichtig es mir selbst war, tiefer zu gehen und in mich reinzuschauen. Sie sprach meine Sprache. Mit ihr zusammen zu sein war wie der Blick in einen Spiegel. Natürlich waren es nicht nur ihre Ideen, die ich anziehend fand. Mit Melissa hatte ich das Gefühl, dass wir uns langsam einander näherten, uns kennenlernten. Die Chemie zwischen uns stimmte und ich spürte eine Anziehung, die ich lange nicht mehr erlebt hatte. Ich hatte keine Ahnung, ob sich daraus mehr entwickeln konnte, aber das Bedürfnis ihr näher zu sein, wuchs mit jeder Begegnung.
Im Grunde war ich vorsichtig, mich auf eine Beziehung einzulassen. Ich war einige Jahre zuvor verletzt worden, als meine Freundin nach sechs Jahren Zweisamkeit beschloss, eine Affäre mit einem anderen Mann zu haben, und damit unsere Intimität beendete. Seither war ich, trotz einer Reihe von angenehmen Affären für mehr nicht offen gewesen und hatte mir nicht mehr erlaubt, mich von ganzem Herzen auf eine längere Partnerschaft einzulassen. Nun schien es an der Zeit, dass sich diese Tür wieder öffnete.
Abends versammelten sich alle im Resort zu einer gemeinsamen stillen Meditation, die „Abendtreffen“ genannt wurde. Danach trafen Melissa und ich uns zu einer unserer liebsten Beschäftigungen: Wir schlenderten zum Areal, wo früher die offene Meditationshalle war, in die Osho jeden Abend gekommen war, um seinen Vortrag zu halten. Der Bereich war inzwischen in Buddha Grove („Buddha-Hain“) umgetauft worden. Das frühere Dach hatte man abgenommen, und so konnten wir es jetzt genießen, eng beieinander auf dem Marmorpodium zu liegen und in den Nachthimmel zu schauen. Melissa nannte es „das Zentrum des Universums“. Mir gefiel diese Bezeichnung, weil ich nachvollziehen konnte, welche Bedeutung es für sie hatte. Jeder Erleuchtete steht in Verbindung mit dem universellen Bewusstsein, oder der „Existenz“, oder dem „Ganzen“, oder wie immer man es nennen will. Nun dort zu liegen, wo früher Osho mit seinem Charisma stand, wo er mit seinem Verständnis des Menschseins eine spirituelle Revolution auslöste. Die Erlebnisse und Erkenntnisse die wir beide mit diesem Ort in Verbindung brachten, gaben dem Platz etwas kraftvoll Magisches.
Eines Abends begleitete ich sie heim, nur ein paar Meter vom Buddha Grove entfernt, und wir gingen in eine lange, verschmelzende Umarmung. Vielleicht war nun der Moment gekommen, einen Schritt weiter zu gehen.
„Lass uns die Nacht zusammen verbringen“, sagte ich.
Sie lächelte ein „Ja“, das für diesen Moment aber ein „Nein“ war.
„Ich brauche mehr Zeit“, erklärte sie. „Lass es uns langsam angehen. Ich möchte zuerst reinen Tisch machen, ohne Reste von altem Zeug.“
Sie sprach die Trennung von ihrem spanischen Freund nicht an, aber nach und nach wurde mir bewusst, dass dies der Grund war, die Sache zu verlangsamen. Er war es gewesen, der sie nach Andalusien geholt und ihr die Schönheit dieser Region nahegebracht hatte und ihr half diesen Ort zu ihrem Zuhause zu machen. Nun waren sie dabei, sich voneinander zu verabschieden, und das brauchte natürlich seine Zeit.
Melissas Antwort half mir zu vertrauen. Wie die meisten Männer neige auch ich dazu, in eine gewisse Spannung zu geraten, wenn ich mich zu einer Frau hingezogen fühle. Zu wissen, dass Melissa offen für mich war, wenn für sie der richtige Zeitpunkt gekommen war, reichte aus, um jedes Zieldenken loszulassen. Außerdem hatte auch ich noch Unerledigtes zu klären. Meine spanische Freundin hatte von Anfang an gewusst, dass ich mich zu Melissa hingezogen fühlte, aber jetzt, wo es wahrscheinlich tiefer gehen würde, hatte auch ich etwas zu bereinigen. Von meiner Seite, und ich bin mir ziemlich sicher, auch von ihrer Seite, gestaltete sich alles recht einfach. Keine Frau, kein Mann lässt sich gerne sagen, dass eine Beziehung zu Ende geht, doch Roshani, meine bisherige Freundin, hatte schon gespürt, welche Anziehungskraft zwischen Melissa und mir bestand, und sie war darauf vorbereitet, sich von mir zu trennen.
Trotzdem sollte ich eine Überraschung erleben. Als Melissa und ich das nächste Mal auf dem Weg zum Podium waren, fragte sie mich plötzlich: „Sollen wir Roshani einladen?“
Ich empfand das als sehr unangenehm.
„Meine Güte, muss ich mich denn mit euch beiden gleichzeitig herumschlagen?“, antwortete ich halb im Scherz. Ich hatte Angst, in eine weibliche Konkurrenzsituation zu geraten: zwei Rivalinnen, die sich gegenseitig abklopfen, und ich mittendrin.
Doch etwas an der Art, wie Melissa das Thema anging, ließ es völlig natürlich erscheinen. Und so war es dann auch. Wir haben Roshani nie richtig eingeladen, aber eines Abends gingen wir zu dritt durch das Resort und landeten auf dem Podium, wo wir eng zusammen lagen. Das war für jeden von uns ein schöner Moment. Für Roshani war es bereits klar, wohin ich mich bewegen würde. Sie war wunderbar, keine Drama, keine schrägen Reaktionen. Sie ließ mich ziehen, voller Respekt und Dankbarkeit für das, was wir hatten. Das Ganze passierte auf eine offene und reife Art. Als wir uns trennten, hat Roshani Melissa umarmt und sie „meine Schwester“ genannt; es gab also eine gewisse Verbundenheit zwischen den beiden, selbst als ich von der einen zur anderen wechselte.
Bald darauf verabredeten wir uns das erste Mal zum Abendessen. Melissa bat mich, sie nach dem Abend-Meeting von ihrem Zimmer abzuholen. Sie wohnte im Obergeschoss von Lao Tzu House – so wurde das Haus genannt, in dem Osho einst gewohnt hatte. Es war eine mittelgroße Villa ohne großen architektonischen Reiz, aber was sie so schön machte, war das dichte Grün der Bäume und Sträucher, die sie umgaben. Es war fast so, als würde man in einem Dschungel leben, in einem Vorort der Stadt. Osho hegte eine Leidenschaft für Bäume und hatte sich mit einem kleinen Wald umgeben. Als er noch lebte, war sein Haus quasi ein Heiligtum, und Hunderte von Sannyasins sehnten sich danach, zu den wenigen zu gehören, die eingeladen wurden, dort zu wohnen. Nun stand das Haus für Resort-Mitarbeiter zur Verfügung, doch Melissa hatte schon zu Oshos Lebzeiten dort gewohnt, weil sie zu denen gehörte, die sein Zimmer sauber machten.
„Ich brauche noch einen Moment. Nach dem Abendtreffen bin ich meistens langsam“, sagte sie, als sie mich an ihrer Zimmertür begrüßte. Sie war noch langsamer als ich und brauchte jedes Mal eine halbe Stunde oder so, um sich umzuziehen. So nahm ich draußen auf ihrer Veranda in einem der bequemen Sessel Platz.
Nach einer Weile kam sie heraus, sagte kein Wort und setzte sich einfach in den Sessel neben mir. Wir hielten uns an den Händen und sagten kein Wort … und sagten kein Wort … und sagten kein Wort … Die nächtliche Atmosphäre nach der Abendmeditation war so kostbar … es war ein Moment in dem wir nichts brauchten, es war genug, einfach nur dazusitzen und der Stille des Abends zu lauschen. Jede Aktion, jedes Reden hätte dem Zusammensein seinen Zauber genommen. Wir vergaßen völlig die Zeit und saßen einfach nur still da. Das war der Moment, in dem ich mich in sie verliebte – denn ich traf sie auf die exquisiteste Art und Weise, in der zwei Menschen sich treffen können: im gemeinsamen Raum geteilter Stille und offener Herzen, völlig relaxt, ohne Programm, ohne Notwendigkeit, irgendetwas zu tun. So saßen wir, umgeben von einem Wald von Grün, auf ihrer Veranda, vergaßen die Zeit, vergaßen den Raum… und verpassten das Abendessen im Resort. Wir hatten dann ein schönes Dinner in einem italienischen Restaurant in der Nähe, und soweit ich mich erinnere, war dies auch der Abend, an dem Melissa ihre Ankündigung machte.
„Ich bin so weit, ich habe reinen Tisch gemacht“, verkündete sie, und es war offensichtlich, dass sie damit nicht den Tisch vor uns meinte. Da tat sich eine neue Welt für mich auf: mit einer Frau zusammen zu sein, die ihre Beziehung auf diese Weise lebte – so achtsam und auf ihr eigenes Timing bedacht.
Wir verbrachten unsere erste Nacht miteinander, und wie schon bei allen anderen Dingen ließen wir uns auch in dieser ersten, kostbaren Liebesnacht viel Zeit. Melissa hatte mein Herz berührt, und die Qualität unserer Begegnung entfaltete sich als ein Tanz der Herzen und der Körper. Wir verschmolzen einfach miteinander, und es hinterließ in mir ein tiefes Gefühl von Einssein mit ihr. Solch ein Gefühl hatte ich schon lange nicht mehr erlebt. Es lag etwas Einzigartiges, Sanftes, Respektvolles in ihren Handlungen, in jedem ihrer Worte. Wollte ich es auf den Punkt bringen, so würde ich sagen, dass Melissa ein Stück weit ihre Mitte gefunden hatten. Sie ging mit der Absicht durchs Leben wach zu sein und jeden Moment zu genießen. Das hatte etwas Ansteckendes.
Jeder von uns entwickelt, ob wir es wollen oder nicht, Gewohnheiten, Einstellungen, automatische Denk- und Verhaltensweisen, und es war für mich interessant zu beobachten, wie mein Hingezogensein zu Melissa mich dazu veranlasste, wacher und aufmerksamer zu werden. So veränderte sich die Art, wie ich mit ihr redete, die Art, wie ich mit ihr umging im Vergleich zu der Art, wie ich die Dinge zuvor getan hatte. Sie spiegelte mir meine tiefe Sehnsucht, so bewusst zu leben, wie ich nur konnte.
Es tauchte in unerwarteten Momenten auf. Zum Beispiel erinnere ich mich an einen Abend, als wir zum Essen ausgingen und ich, sobald wir im Restaurant angekommen waren, automatisch den ersten freien Tisch ansteuerte. Aus alter Gewohnheit, denn ich legte immer wenig oder gar keine Aufmerksamkeit darauf, wo ich beim Essen saß … und nahm wie selbstverständlich an, dass andere damit genauso locker umgingen.
Ein gezielter Stoß von Melissas Ellbogen in meine Rippen ließ mich auf der Stelle anhalten.
„Wenn du weiter Zeit mit mir verbringen willst, geh nicht so mit mir um!“, zischte sie mich mit unerwarteter Heftigkeit an.
„Was ist denn los?“, fragte ich verdutzt.
„Ich möchte als Frau behandelt werden“, erklärte sie ungehalten, lächelte dann aber schnell wieder, als sie meine echte Verwirrung sah. „Bitte … frag mich doch, wo ich sitzen möchte.“
Irgendwie war ihre Haltung altmodisch, ein bisschen wie die einer anspruchsvollen Prinzessin, aber sie verriet auch ein tieferes Anliegen – das, würdig behandelt zu werden. Und das beruhte auf Gegenseitigkeit. Schon bald bemerkte ich, dass sie mir die gleiche fürsorgliche Qualität entgegenbrachte. Damit hat tatsächlich alles begonnen: mit Melissa auf diese ungewöhnliche Art und Weise zusammen zu sein, nichts für selbstverständlich zu nehmen und stets damit zu rechnen, dass ich etwas dazulernen konnte. Ich mochte das. Es war neu, erfrischend und eine lebendige Herausforderung.
Bald wurde mir klar, dass sie im Resort eine Position innehatte, die ihr eine gewisse Aura der Macht verlieh. Ich erinnere mich an einen Abend, als wir im Resort in der Nähe des Swimmingpools in der Nacht spazieren gingen und niemand sonst in der Nähe war. Die Nacht war warm, also schaute ich sie schelmisch an und sagte: „Warum ziehen wir uns nicht aus und springen in den Pool?“
Da lachte sie und schüttelte den Kopf. „Der Gedanke gefällt mir, aber das kann ich mir bei meiner Position nicht leisten“, erklärte sie.
„Was für einer Position?“
„Ich gehöre zum Inner Circle“, gestand sie.
Vielleicht sollte ich jetzt erklären, dass Osho kurz vor seinem Ableben im Jahr 1990 einen „Inneren Kreis“ von einundzwanzig seiner Schüler ins Leben rief, damit diese sein Werk fortführten, was vor allem bedeutete, seine Reden zu publizieren und zu verbreiten und die Verwaltung des Resort in Pune zu organisieren. Im Laufe der Zeit waren einige der ursprünglichen Einundzwanzig ausgeschieden und ihre frei gewordenen Positionen mit neuen Leuten besetzt worden. Dabei handelte es sich in der Regel um Personen mit verantwortungsvollen Aufgaben in der Verwaltung des umfangreichen Erbes von Osho. Melissa war eine von ihnen.
„Oh, das habe ich nicht gewusst“, gestand ich.
„Aber fang jetzt bitte nicht an, auf mich zu projizieren!“, sagte sie, leicht aber bestimmt. Sie war sich dessen bewusst, dass wegen ihrer Position einige Leute dazu neigten, eine „Autoritätsfigur“ auf sie zu projizieren. Ich glaube, sie war angenehm überrascht, dass ich davon keine Ahnung hatte.
Ihre Bemerkung hat mir gefallen. Sie war witzig und spielerisch und löste jedes Gefühl von Unbehagen über ihre Stellung auf.
Zwei Nächte später waren wir im Schwimmbecken.
Was ihre offizielle Rolle betraf, so hielt sie diese gerne bedeckt und ließ nichts davon in ihr Privatleben einfließen. Einmal passierte es, dass wir Richtung Haupteingang gingen, als drei Männer hereinkamen, die ich als bekannte Vertreter des Inneren Kreises erkannte. Melissa hatte sie auch gesehen und sagte: „Oh, da kommen die Jungs, lass uns hier entlang gehen …“ Sie wandte sich zur Seite und nahm einen anderen Weg, um eine Begegnung zu vermeiden. Sie war mit ihnen befreundet und arbeitete gerne mit ihnen zusammen, aber sie wollte ihre Privatsphäre wahren, was ich zu schätzen wusste. Dadurch, dass Melissa mit mir war, überschritt sie eine „politische“ Grenze, die wir beide wahrnahmen. Ein paar Jahre nach Oshos Ableben hatten einige Personen den Inneren Kreis verlassen, um einen eigenen Platz zu gründen. Sie ließen sich in Sedona im US-Bundesstaat Arizona nieder und gründeten dort die Osho Academy. Ihre Herangehensweise an individuelles und spirituelles Wachstum hatte mich sehr angesprochen, und so kam es, dass ich mich in den letzten 14 Jahren dort sehr engagiert hatte.
Ich liebte es im Resort in Pune zu sein, aber meine Zeit dort hatte einen unangenehmen Beigeschmack, weil ich spürte, dass einige mich wegen der Verbindung zur Academy beurteilten. Ob dies nur mein persönlicher Eindruck war, oder ob es im Resort Leute gab, die eine kritische Meinung über die Arbeit der Academy hatten, kann ich nicht sagen. Zu meiner Freude war dies jedoch kein Thema für Melissa. Sie sah über alle Differenzen einfach hinweg – direkt in mein Herz. Offensichtlich gefiel ihr das, was sie dort sah.
„So, wie ich dich erlebe, dich wahrnehme, kann ich die Qualität der Arbeit sehen, die ihr in der Academy gemacht habt“, sagte sie bei mehr als einer Gelegenheit. Das war wichtig für mich, denn um mit jemandem, der so eng mit dem Resort verbunden war, tiefer zu gehen, brauchte ich diese Akzeptanz, diese Brücke, über die ich gehen konnte.
Die Anfangstage mit Melissa waren eine unglaublich schöne Zeit für mich. Es war eine erwachsene, ausgeglichene Begegnung. Meditation war ihre Leidenschaft ebenso wie meine. Sie stand für uns beide an erster Stelle, schloss aber selbstverständlich nicht aus, auch andere Aspekte des Lebens zu genießen. Zum Beispiel liebte sie das Tanzen, und ich muss gestehen, dass ich stets berührt und voller Staunen war war, sie tanzen zu sehen. Ihre Art, sich zu bewegen, war so besonders… so anmutig … so mühelos … und so sexy! Du lieber Himmel! Ich hätte mir nie vorstellen können, dass eine Frau von fast fünfzig Jahren mich so verrückt machen könnte. Das hat meine Sichtweise verändert – denn mit 47 Jahren war ich gewohnt, auf jüngere Frauen abzufahren. Melissa machte mir bewusst, dass ich meine Wahl einer Partnerin unnötigerweise auf eine bestimmte Altersgruppe beschränkt hatte. Seitdem habe ich diese Einstellung nicht mehr, und das fühlt sich gesund und richtig an.
Übrigens haben Melissa und ich uns häufig wie Teenager benommen. Zum Beispiel hatte ich „es“ noch nie mit einer Frau im Flugzeug gemacht. Es bedurfte einer Fünfzigjährigen als Begleiterin, um das zu tun. Als wir einmal auf einem gemeinsamen Flug darüber scherzten, dem „Mile High Club“ (Bezeichnung für Sex im Flugzeug) beizutreten, fragte ich sie, ob sie dafür zu haben wäre.
„Na klar!“, sagte sie, also standen wir auf und steuerten eine Bordtoilette an. Das hat mich total umgehauen, ihre Lust auf Grenzüberschreitung und Abenteuer … Aber das war erst ein bisschen später.
Wenn ich auf diese ersten Wochen in Pune zurückblicke, kann ich mit Sicherheit sagen, dass unsere gegenseitige Anziehung für mich völlig unerwartet kam. Darauf war ich nicht vorbereitet, und als es passierte, fühlte es sich nach mehr als nur einer vorübergehenden Affäre an. Das war etwas, das ich fortsetzen wollte. Als ich einmal auf die Zukunft zu sprechen kam, verblüffte sie mich mit einem Satz, der sich gleichzeitig wie ein Kuss auf die Wange und eine Ohrfeige anfühlte. Es geschah an einem Abend, während wir zusammen auf dem Podium lagen, im „Zentrum des Universums“, und ich ihr erzählte, wie gerne ich sie in Spanien besuchen würde.
Da wandte sie sich plötzlich mir zu: „Vergiss nicht, jede Beziehung endet mit dem Tod.“ Einen derart schockierenden Satz während eines romantischen Abends zu hören, war heftig! Und gleichzeitig stimmte es. Ich nahm Melissas Worte als eine Einladung, im Moment zu bleiben und immer das zu genießen was jetzt da ist, weil es nicht ewig da sein wird.
Ich konnte fühlen, dass sie ihr Leben aus diesem Verständnis heraus lebte und nicht einfach nachplapperte, was sie gehört hatte. Ich war beeindruckt von ihrer Klarheit in einem Moment wie diesem. Wenn eine Liebesbeziehung ins Schlingern gerät, tun wir normalerweise unser Bestes, um sie zu erhalten, etwas zu reparieren und versuchen alles Mögliche, damit sie hält.
Doch Melissa hatte eine andere Sichtweise: Wenn Dinge sich verändern, dann lass es zu. Auf ihre Weise wollte sie mir sagen, dass sie ihrer inneren Stimme folgen würde, wenn sie sich woanders hinbewegte, auch wenn die Trennung schmerzhaft war.
„Der Schmerz des Abschieds ist wie ein Tod“, erklärte sie. „Aber wir dürfen keine Angst vor Veränderungen haben oder uns aus Angst zurückhalten. Wir müssen uns diesem Schmerz stellen.“
Diese Einstellung hat mir gefallen. Natürlich war ich mir schon vorher dessen bewusst gewesen, aus meinen eigenen Erfahrungen mit Intimität und Trennung, Zweisamkeit und alleine sein. Aber hier war sie, die das mit ihrem eigenen Verständnis auf die klarste und radikalste Weise vorschlug. Ich war bereit für die Herausforderung und das Risiko. Und ich hatte keine Ahnung, wie prophetisch sich ihre Worte erweisen würden und wie bald sie uns betreffen würden.
Niemand bleibt für immer in Pune, die meisten Leute kommen für ein paar Wochen zu Besuch. Zufälligerweise mussten Melissa und ich mehr oder weniger zur gleichen Zeit abreisen, sodass wir unsere Abreise auf den gleichen Tag legten und gemeinsam nach Mumbai reisten. Ich buchte uns ein Zimmer in einem Fünf-Sterne-Hotel in der Nähe des Flughafens, und Melissa war begeistert. Sie liebte es, verwöhnt zu werden. Und ich liebte es sie zu verwöhnen.
Wir verbrachten den Tag damit, im Pool zu schwimmen, im Restaurant köstlich zu essen und uns in unserem Zimmer zu lieben. Es war eine schöne Art, Abschied zu nehmen.
„Komm mich in Spanien besuchen“, sagte sie, als wir uns voneinander verabschiedeten.
„Aber sicher“, antwortete ich.
Es war das, was ich wollte, aber es war nicht klar, wie es geschehen sollte. Wir teilten beide die Ansicht, dass das Leben eher eine sich entfaltende Erfahrung ist als eine Reihe von festen Plänen, und so begnügten wir uns damit, abzuwarten und zu sehen, wie sich die Dinge entwickeln würden.
Unsere Wege trennten sich am Flughafen von Mumbai. Melissa flog nach Madrid, um Freunde zu treffen, und ich fuhr nach Deutschland und schaltete schnell wieder in den Geschäftsmodus um. Ich war kaum aus dem Flugzeug ausgestiegen, da hing ich schon am Telefon und kümmerte mich um mein Geschäft.
In den ersten Tagen blieb ich in Melsungen, meiner alten Heimatstadt. Es ist eine typische, historische deutsche Kleinstadt mit bis zu 500 Jahre alten Häusern und bekannt für sein hübsches Stadtzentrum. Da in Melsungen auch meine Firma ist, war es natürlich meine erste Anlaufstelle. Später machte ich mich auf den Weg in andere deutsche Städte, um Messen vorzubereiten oder Kunden zu besuchen.
Melissa verbrachte drei Tage in Madrid, nahm dann den Zug nach Cádiz im Süden und einen Bus zu ihrem Wohnort Chiclana. Wir schickten E-Mails hin und her und versuchten auch manchmal zu skypen, aber während ihrer Zeit in Madrid war die Internetverbindung sehr schlecht. Zum Glück besserte sich das, als sie nach Chiclana kam, sodass wir wieder skypen und Zeit mit Chatten verbringen konnten. Ich merkte, dass es sich positiv auf meine Arbeitsstimmung auswirkte, zu wissen, dass sie sich an einem nicht allzu fernen Ort aufhielt und bereit war, sich online mit mir über die angenehmen Seiten des Lebens auszutauschen. Manchmal kommen Liebende, die sich kurz kennen, gut zurecht, wenn sie zusammen sind, aber wenn sie dann eine Distanzbeziehung haben, kann das zu Krisen führen, wenn sie via Skype kommunizieren. Ich bin froh, dass es bei uns funktioniert hat.
Ich schätzte auch ihre E-Mails, die immer aufbauend und voller Zuwendung waren. Sie war sich ihrer Stimmungen bewusst und übernahm dafür die Verantwortung. So schrieb sie zum Beispiel einmal, dass sie einen schwierigen Tag gehabt habe, und als wir uns über Skype unterhielten, hätte sie das Gefühl gehabt, an mir zu zerren. Sie erklärte: „Ich möchte dich nicht in mein Drama reinziehen und an dir meinen Frust ablassen. Deswegen werde dich nicht anzurufen, bis es mir wieder gut geht. Du bist grade sehr beschäftigt, und ich will dich nicht belasten. Ich schreibe jetzt lieber E-Mails. Die kannst du lesen, wann immer es dir passt, ohne Druck. Ist das okay so?“
Ihre Sorge um mich kam nicht aus einer Unsicherheit heraus. Es war aufrichtig und bewusst so entschieden, denn sie wusste, dass es nicht nett ist, die Stimmung eines anderen zu strapazieren. Ich fühlte mich gesehen und noch mehr zu ihr hingezogen. Auf diese Weise hat sie sich mir gegenüber geöffnet. Das war erfrischend und kam unerwartet, denn die Trennung von ihrem spanischen Mann war noch nicht so lange her, und obwohl sie in Pune verkündet hatte, „reinen Tisch“ gemacht zu haben, wusste ich, dass die Trennung der beiden Zeit brauchte.
Daher war es eine freudige Überraschung, die E-Mails von Melissa zu erhalten und zu spüren, wie wir enger zusammenwuchsen. Darauf war ich nicht gefasst gewesen. Nach dem Abschied in Mumbai war ich irgendwie davon ausgegangen, dass sich unsere Entwicklung hin zu einer tieferen Vertrautheit nun verlangsamen würde, aber das war nicht der Fall.
Schon nach wenigen Tagen erhielt ich eine E-Mail von ihr, in der sie schrieb: „Ich vermisse deine Nähe, das Gefühl mit dir zu verschmelzen. Denn wenn ich dich spüre, kann ich tiefer in mich selber eintauchen, und loslassen – und dann beruhigt sich alles, wird vertraut und still.
Für Melissa bot jede Situation, die ungewiss oder im Wandel war, eine Gelegenheit, um sich damit auseinander zu setzen und Wege zu finden oder zu entwickeln, wie sie gut bei sich bleiben konnte, egal was passierte. Wie sie mir erzählte, trugen die täglichen langen Spaziergänge am Strand zu diesem inneren „Okay“ bei – etwas, das ich bald für mich selbst entdecken und als wertvolles Geschenk schätzen lernen würde.
Bald darauf kam Melissas Einladung, sie zu besuchen. Sie war ein wahres Internetgenie, schickte mir viele Links, um nach Flugtickets zu suchen, überprüfte selbst die Flugrouten und fand den günstigsten Flug heraus. Sie schickte mir den Link für einen Flug am 5. Juli, also in ein paar Wochen, was ich als eindeutiges Zeichen nahm, dass sie mich wirklich sehen wollte. Das Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit. Ich habe mich wahnsinnig gefreut.
Sie schrieb: „Irgendwie fühle ich mich freier und leichter, als ich mich je gefühlt habe. Ich fühle mich wie im Himmel. Ich bin so froh, dass du mich besuchen kommst. Ich freue mich sehr, dir diesen schönen Ort zu zeigen und Momente meines Lebens mit dir zu teilen.“
Mitte Juni kaufte ich das Ticket, vergrub mich dann in meine Arbeit, um eine Lücke von fünf Tagen für meine Reise nach Spanien freizuschaufeln. Ein Teil meiner Arbeit ist recht kreativ: Ich baue und dekoriere die Schaukästen und Displays für meinen Schmuck, gestalte sie so schön wie möglich und mache sie für die Leute fertig, die auf den Messen und Festivals den Verkauf übernehmen. Wenn ich eine Ausstellung vorbereite, muss ich zwölf bis sechzehn Stunden am Tag durchmachen, besonders im Juni für das wichtige Tollwood-Festival in München mit seiner halben Million Besucher und potenziellen Kunden.
Am Tag meiner Abreise fuhr ich zum Flughafen, doch vor dem Einchecken musste ich mir noch Gedanken machen, wo ich die Schmuckpakete deponieren konnte, die noch in meinem Lieferwagen lagen. Es gab nirgendwo eine sichere Lagermöglichkeit und ich hatte keine Zeit gehabt, mir etwas zu überlegen, also mietete ich schließlich einen Garagenplatz und ließ sie einfach hinten im Wagen. In meinem Geschäft war Sicherheit ein ständiges Thema, da ich regelmäßig wertvollen Schmuck von einem Ort zum anderen transportierte. Daher fuhr ich einen alten VW-Bus, bei dem niemand vermuten würde, was darin gelagert wurde. Ich liebte diesen Transporter – in ihm transportierte ich Schaubuden, ein Fahrrad für den Einsatz in den Städten, benutzte den hinteren Teil als Schlafplatz und hatte einen Kühlschrank drin, wenn ich in Urlaub fuhr, sodass ich mir jederzeit auf einem geeigneten Platz was zu essen machen konnte. Nachdem ich mein Bestes getan hatte, um mich auf das Schlimmste vorzubereiten, beschloss ich, meine Sicherheitsbedenken loszulassen und dem Leben zu vertrauen, sonst würde ich unmöglich meine Zeit mit Melissa genießen können.
Spanien war für mich ein neues Abenteuer, und das nicht nur wegen Melissa. Ich hatte schon viel Zeit im Süden von Portugal verbracht, sodass mir die Region im Allgemeinen vertraut war, aber Andalusien war noch unerforscht.
Abgesehen von ein paar flüchtigen Eindrücken auf Skype wusste ich weder, wo Melissa lebte, noch, ob mir der Platz gefallen würde, noch wie es sein würde, sie in ihrem Zuhause zu treffen. Das Osho Meditation Resort in Pune war eine so außergewöhnliche Umgebung. Mit Melissa im normalen, täglichen Leben würde es vielleicht ganz anders sein. Aber es fühlte sich gut an. Sie schien sich zu freuen, mich zu sehen, und ich freute mich auf jeden Fall, sie zu sehen.
Ich erinnere mich, dass ich nach der Landung auf dem Flughafen von Jerez lange auf das Gepäck wartete – zumindest kam es mir ewig vor – und ich schaute immer wieder durch das Fenster hinaus in die Ankunftshalle, um zu sehen, ob ich sie entdecken konnte. Endlich kam das Gepäck durch… ich ging hinaus … und da war sie!
Wir lächelten. Wir schauten uns in die Augen und umarmten uns ganz lang. Sofort konnte ich sie spüren, dieses Gefühl sie im Arm zu halten hatte ich vermisst, tief in mir entspannte sich etwas, ich konnte mich selbst wieder spüren und wusste, das es richtig war, hier zu sein. Sie war warm und einladend und ich war mehr als glücklich, bei ihr zu sein. Dann gingen wir zum Parkplatz.
Als Deutscher, der mit flotten Autos aufgewachsen ist, hatte ich Klischees im Kopf, welcher Autotyp zu welchem Typ Mensch passt. Ich hätte mir Melissa in einem schicken, sportlichen BMW oder einem britischen Range Rover vorgestellt. Mann, was habe ich mich da geirrt! Sie stellte mir ihr Auto vor: einen alten Renault mit mehreren Dellen und einer ausgeprägten Unlust, zu starten. Später erfuhr ich, dass er eine lange Geschichte hatte und offensichtlich am Ende seiner Karriere angelangt war. Melissa pflegte ihn, so gut sie konnte, aber er fiel langsam auseinander. Während meiner Zeit in Portugal war ich ein ähnliches, schrottreifes Auto gefahren. So entstand eine weitere Verbindung zwischen uns und ich fühlte mich gleich wie zu Hause.
Wir fuhren zu ihrer Wohnung, größtenteils schweigend. Normalerweise, wenn man sich nach einer Pause wiedersieht, gibt es viel zu erzählen, aber das war nicht unsere Art der Begegnung. Sie war eine langsame Fahrerin, und über längere Strecken unserer Fahrt hielten wir uns an der Hand, während sie mit ihrer freien Hand lenkte, was nicht unbedingt die sicherste Art des Fahrens war, aber es fühlte sich gut an.
Der Körperkontakt erlaubte es uns, ruhig zu sein. Ihre Hand zu halten, gab mir das Gefühl des Willkommenseins und es gab einfach keinen Grund zum Reden. Wir glitten in einen natürlichen Zustand der Harmonie miteinander – ich nenne es gerne „Synchronizität“ – und es war unnötig, unsere Persönlichkeiten in den Vordergrund zu stellen. Hier trafen sich zwei Wesen.
Es hat mir auch geholfen, mich nach dem Flug und der ersten Aufregung über das Wiedersehen mit ihr anzukommen, quasi zu landen. Das war etwas, das sich bei unseren Begegnungen häufig einstellte: dieses Zusammenfinden in der Stille. Und es war eine Wohltat, sich zu entschleunigen, langsamer zu werden und einfach die Gegenwart des anderen zu genießen.
Wir erreichten die Stadt Chiclana und fuhren durch die Straßen zu ihrem Haus, das auf den ersten Blick enttäuschend wirkte. Vermutlich hatte ich mir ein romantisches Häuschen außerhalb der Stadt in einem lauschigen Wäldchen vorgestellt, das zu meinen Gefühlen für Melissa passte. In Wirklichkeit war es ein schlichtes Haus in einer langen Reihe identischer Häuser, die alle in fader Gleichförmigkeit aneinandergereiht waren.
Doch das Haus wuchs mir sehr schnell ans Herz. Es war im spanischen Stil, mit kleinen Zimmern, einfach, aber gemütlich. Außen war es weiß, mit einer kleinen Veranda an der Vorderseite und einem Gärtchen hinterm Haus. Der Garten grenzte an einen kleinen Park mit Kiefern, was dem Haus ein schönes Ambiente verlieh, denn der Park wirkte wie eine Erweiterung des Gartens.
Ich liebte den Duft der Kiefern und die frische Brise, die durch sie hindurch wehte. Bei warmem Wetter hielten die Bäume die Hitze ab und machten den Aufenthalt im Freien äußerst angenehm. Wir konnten leicht in den Park gelangen, indem wir über den Gartenzaun kletterten, aber Melissa ermahnte mich, dies nur zu tun, wenn es keiner sah, denn sie wollte keinen Ärger mit der Verwaltung der Wohnanlage bekommen.