Katharine McGee
American Crown – Samantha & Marshall
Aus dem amerikanischen Englisch von Michaela Kolodziejcok
FISCHER E-Books
Katharine McGee studierte Literatur und Management an den Universitäten Princeton und Stanford. Eigentlich wollte sie Disney-Prinzessin werden, doch dann wurde sie Autorin. Mit ihrem Debüt »Beautiful Liars« kam sie direkt auf die »New York Times«-Bestsellerliste.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »American Royals II: Majesty« bei Random House Children's Books, a division of of Penguin Random House LLC, New York
Text copyright © 2020 by Katharine McGee and Alloy Entertainment
Covergestaltung: Carolin Liepins
Coverabbildung: Shutterstock
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0523-0
Für John Ed,
der sagte, er würde nie eine bekommen.
Es war ein grauer, trüber Morgen mit dichtem Nebel, der wie ein Schleier über den Straßen der Hauptstadt hing. Sämtliche Medienvertreter waren sich darin einig, dass es das passende Wetter für eine Beerdigung war.
Sie standen hinter dem Samtseil, das den Eingang des Palastes absperrte, boten einander Zigaretten und Minzpastillen an oder überprüften in den Displays ihrer Telefone, ob der Lippenstift noch saß. Dann tat sich das Haupttor des Palastes auf, um die ersten Gäste einzulassen.
So viele waren gekommen, aus sämtlichen Ecken der Welt: Kaiser und Sultane, Erzherzöge und Königinnenwitwen, sogar ein Kardinal, der vom Papst persönlich entsandt worden war. Auch zahlreiche Kongressabgeordnete und Adlige fanden sich ein, von hochrangigen Herzögen bis zu einfachen Edelleuten – sie alle waren hier, um Seine Majestät King George IV zu ehren, den verstorbenen König von Amerika.
In düsteren schwarzen Kleidern und dunklen Anzügen defilierten sie durch die Türen in den großen Thronsaal. Es gab keinen anderen Ort in der Hauptstadt, in dem dreitausend Gäste Platz fanden.
Eine Salve von Salutschüssen hallte über den Fluss, und der Leichenzug bog in die Allee ein, die zum Palast führte. Es herrschte eine Stille, so dicht wie die wabernden Nebelschwaden. Journalisten und Reporter richteten sich gerade auf, die Kameraleute stellten ihre Objektive ein.
Kein Wort fiel, als eine kleine Gruppe von Gestalten aus dem Dunst auftauchte: acht junge Männer der Revere-Garde – das Elite-Corps, das die Krone schützte – gaben dem König das letzte Geleit. In ihrer Mitte trugen sie einen Sarg, der mit der rot-blau-goldenen Fahne Amerikas bedeckt war.
Die meisten Gardisten starrten entschlossen nach vorn. Aber ein junger Mann – groß, mit hellbraunem Haar und matt umschatteten blaugrauen Augen – blickte immer wieder über seine Schulter zurück. Vielleicht wurde er langsam müde. Seit dem frühen Morgen war der Trauerzug durch die Straßen und Gassen der Hauptstadt gezogen. In Luftlinie betrug die Entfernung weniger als zwei Meilen, doch aufgrund der stark gewundenen Strecke hatte es mehrere Stunden gedauert. Die Route war absichtlich so gewählt worden, damit möglichst viele Bürgerinnen und Bürger von ihrem früheren König Abschied nehmen konnten.
Es war immer noch schwer zu glauben, dass King George wirklich tot war. Er war erst fünfzig Jahre gewesen, als er nach einem kurzen, tragischen Kampf an Lungenkrebs gestorben war.
Mit ein paar Schritten Abstand hinter dem Sarg ging Beatrice, die zweiundzwanzigjährige Prinzessin – aber nein, sie war ja keine Prinzessin mehr, ging es den Menschen durch den Kopf. Mit dem Tod ihres Vaters war sie Ihre Königliche Majestät Beatrice Georgina Fredericka Louise, Königin von Amerika, geworden. An diesen Titel mussten sie sich erst einmal gewöhnen. Amerika war noch nie von einer Königin regiert worden. Bis jetzt.
Als die Prozession die Palasttore erreichte, versank Beatrice vor dem Sarg ihres Vaters in einen tiefen Knicks. Ein Klickgewitter von unzähligen Kameras brach los, als die versammelten Fotografen das ikonische Bild festhielten: die neue, junge Königin, die sich zum allerletzten Mal verneigte.
Beatrice hatte den Palast noch nie so still erlebt.
Normalerweise hallten die Gänge und Säle von Lärm wider: Butler, die Lakaien Befehle erteilten; Schlossführer, die Schülergruppen umherführten oder Minister, die dem Kämmerer hinterherliefen, um Audienz beim König zu erlangen.
Heute war alles still. Staublaken hingen über den Möbeln, die im Halbdunkel gespenstisch leuchteten. Sogar die Menschenmassen, die sich sonst vorm Haupttor drängten, waren verschwunden; der Palast schien wie eine einsame Insel in einem Meer aus leeren Gehsteigen und zertrampeltem Gras.
Beatrice hörte, wie ihre Mutter hinter ihr aus dem Auto stieg. Sam und Jeff hatten beschlossen, noch einen weiteren Tag auf dem Landsitz der Familie zu verbringen. Als Kinder waren die Geschwister immer zu dritt dorthin gefahren – im Fond eines dunklen SUV, wo sie auf dem ausklappbaren Fernseher Filme schauten –, aber inzwischen durfte Beatrice mit ihrer Schwester nicht mehr im selben Auto sitzen. Aus Sicherheitsgründen war es nicht erlaubt, dass die Regentin und die Erste in der Thronfolge zusammen reisten.
Beatrice hatte gerade die Mitte der Eingangshalle erreicht, als ihr Absatz an einem antiken Teppich hängen blieb. Sie stolperte – und spürte, wie eine starke Hand sie auffing.
Beatrice sah hoch und blickte in die kühlen grauen Augen ihres Leibwächters Connor Markham.
»Alles okay, Bee?«
Sie wusste, sie sollte ihn dafür rügen, dass er ihren Spitznamen statt ihres Titels benutzte, noch dazu in aller Öffentlichkeit, wo jedermann sie hören konnte. Aber Beatrice konnte nicht klar denken mit Connors Hand auf ihrem Arm. Nach all den Wochen des Abstandhaltens prickelte es bei seiner Berührung wie wild in ihren Adern.
Stimmen hallten vom anderen Ende des Flurs herüber. Connor runzelte die Stirn und wich einen Schritt zurück, als zwei Lakaien um die Ecke bogen, begleitet von einem Mann mit grimmigen Gesichtszügen und ergrautem Haar: Robert Standish, der bereits für Beatrice’ Vater als Kämmerer gearbeitet hatte und nun auch für sie.
Er machte eine förmliche Verbeugung. »Verzeihung, Eure Majestät. Wir haben Sie nicht vor morgen zurückerwartet.«
Beatrice musste sich beherrschen, um nicht zusammenzuzucken, so ungewohnt war es noch, mit Eure Majestät angeredet zu werden.
Die Lakaien begannen, von Raum zu Raum zu gehen, entfernten Staublaken von den Möbeln und warfen sie auf einen Haufen. Der Palast erwachte zum Leben, als nach und nach reich verzierte Beistelltische und filigrane Messingleuchter zum Vorschein kamen.
»Ich habe entschieden, früher zurückzukommen. Ich wollte …« Beatrice verkniff sich, »einfach nur weg« hinzuzufügen, stattdessen ließ sie den Satz unvollendet in der Luft hängen. Dieser vergangene Monat auf Sulgrave, dem Landsitz der Washingtons, hatte eigentlich eine Auszeit sein sollen. Doch selbst im Kreis ihrer Familie hatte sie sich einsam gefühlt. Und erschöpft.
Jede Nacht versuchte Beatrice, so lange wie möglich wach zu bleiben, denn sobald sie einschlief, kamen die Träume. Grässliche, verworrene Träume, in denen sie mit ansah, wie ihr Vater starb, immer und immer wieder, wohl wissend, dass es ihre Schuld war.
Sie hatte den Tod ihres Vaters verursacht. Wenn sie ihn in jener Nacht nicht angeschrien hätte, wenn sie nicht damit gedroht hätte, ihren Leibwächter zu heiraten und auf den Thron zu verzichten, dann wäre King George vielleicht noch am Leben.
Beatrice unterdrückte ein Seufzen. Sie wusste, dass sie sich nicht erlauben durfte, das zu glauben. Wenn sie das täte, würde ihre Seele wie ein Stein in einem Brunnen voll Kummer versinken, tiefer und tiefer, ohne je den Grund zu erreichen.
»Eure Majestät.« Robert blickte auf das Tablet, das er stets bei sich trug. »Es gibt ein paar Dinge, die ich gern mit Ihnen besprechen würde. Sollen wir in Ihr Büro gehen?«
Es dauerte einen Moment, bis Beatrice begriff, dass er das Büro ihres Vaters meinte. Das jetzt ihr gehörte.
»Nein«, antwortete sie, eine Spur zu energisch. Sie war noch nicht so weit, diesen Raum zu betreten – und sich all den Erinnerungen zu stellen, die dort schlummerten.
»Warum unterhalten wir uns nicht da drin?« Sie deutete auf einen der Salons.
»Sehr wohl.« Robert folgte ihr hinein und schloss die Flügeltür hinter sich. Connor blieb draußen auf dem Gang zurück.
Beatrice nahm auf dem grün gestreiften Sofa Platz und warf einen Blick auf die drei Erkerfenster, die zur Auffahrt hinausgingen. Es war eine nervöse Angewohnheit, die sie sich nach dem Tod ihres Vaters zugelegt hatte: in jedem Raum, den sie betrat, zu den Fenstern zu sehen. Als würde natürliches Licht ihr helfen, sich weniger erdrückt zu fühlen.
Oder als würde sie nach einem Fluchtweg Ausschau halten.
»Eure Majestät, Ihr Terminplan für die kommende Woche.« Robert hielt ihr ein Blatt Papier hin, auf dem das königliche Wappen prangte.
»Vielen Dank, Lord Standish«, sagte Beatrice. Sie zögerte kurz. Sie hatte ihn immer mit seinem vollen Titel angesprochen, seit ihrer Jugendzeit, als er in die Dienste ihres Vaters getreten war, aber jetzt … »Darf ich Sie Robert nennen?«
»Es wäre mir eine Ehre«, antwortete er unterwürfig.
»In diesem Fall müssen Sie aber auch anfangen, Beatrice zu mir zu sagen.«
Der Kämmerer stieß ein Keuchen aus. »O nein, Eure Majestät. Das würde ich mir nie erlauben. Und ich würde vorschlagen«, fügte er an, »dass Sie zukünftig nie mehr solche Angebote machen, erst recht nicht gegenüber jemandem, der in Ihrem Dienst steht. Es ist einfach nicht angemessen.«
Beatrice hasste es, dass sie sich wie ein getadeltes Schulmädchen fühlte. Als wäre sie wieder sieben Jahre alt mit einem Benimmlehrer, der ihr zur Strafe für einen schlampigen Knicks das Lineal über die Knöchel zog. Sie zwang sich dazu, das Blatt Papier in ihrem Schoß zu studieren, um dann irritiert wieder hochzusehen.
»Und wo ist der Rest meines Terminplans?«
Die einzigen aufgeführten Termine waren relativ stressfreie öffentliche Auftritte – ein Waldspaziergang vor den Toren der Hauptstadt mit einer Gruppe von Naturschützern, ein Treffen mit den örtlichen Pfadfinderinnen –, alles die Art repräsentativer Aufgaben, die Beatrice bereits als Thronerbin übernommen hatte. »Ich sollte ein Meeting mit jedem der Parteiführer im Kongress haben«, fuhr sie fort. »Und warum ist für den Donnerstag keine Kabinettsitzung angesetzt?«
»Es ist nicht nötig, sich gleich in all das zu stürzen«, sagte Robert mit seidenglatter Stimme. »Sie sind seit der Beerdigung nicht mehr öffentlich aufgetreten. Was die Leute jetzt von Ihnen brauchen, ist Bestärkung.«
Beatrice kämpfte ein Gefühl von Unbehagen nieder. Die Monarchin sollte regieren, nicht durch die Gegend rennen und Hände schütteln wie irgendeine Art von Maskottchen der Nation. Das war die Aufgabe der Thronerbin.
Aber was konnte sie schon dazu sagen? Alles, was sie über diese Rolle wusste, hatte sie von ihrem Vater gelernt. Jetzt war er tot, und die einzige Person, die sie noch beraten konnte, war Robert, seine rechte Hand.
Der Kämmerer schüttelte den Kopf. »Außerdem wollen Sie sich in den nächsten Monaten doch bestimmt der Hochzeitsplanung widmen.«
Beatrice versuchte zu sprechen, aber ihre Kehle war wie zugekleistert.
Sie war immer noch mit Theodore Eaton verlobt, dem Sohn des Duke of Boston. Aber jedes Mal wenn sie in den letzten Monaten an Teddy gedacht hatte, waren ihre Gedanken erschrocken zurückgeprallt.
Ich finde eine Lösung, wenn ich zurück bin, hatte sie sich gesagt. Es gibt nichts, was ich jetzt deswegen tun kann.
Auf Sulgrave war es leicht gewesen, Teddy aus ihren Gedanken zu verdrängen. Niemand aus ihrer Familie hatte von ihm gesprochen. Sie hatten überhaupt nur wenig miteinander gesprochen, alle waren in ihre eigene Trauer vertieft gewesen.
»Ich ziehe es vor, mich jetzt noch nicht auf die Hochzeit zu konzentrieren«, sagte sie schließlich, wobei es ihr nicht gelang, die Anspannung in ihrer Stimme zu verbergen.
»Eure Majestät, wenn wir die Planung jetzt in Angriff nehmen, können wir die Zeremonie im Juni abhalten«, entgegnete der Kämmerer. »Und nach den Flitterwochen können Sie dann den restlichen Sommer auf die königliche Repräsentationsreise der Frischvermählten verwenden.«
Ich sollte die Katze einfach aus dem Sack lassen, dachte Beatrice und wappnete sich innerlich. »Wir werden nicht heiraten.«
»Wie meinen Sie das, Eure Majestät?«, fragte Robert mit vor Verwirrung gekräuselten Lippen. »Ist … zwischen Ihnen und Eurer Lordschaft etwas vorgefallen?« Beatrice sog scharf Luft ein und er hob beschwichtigend die Hände. »Bitte verzeihen Sie, wenn ich Ihnen zu nahetrete. Aber um meine Arbeit gewissenhaft zu erledigen, muss ich die Wahrheit kennen.«
Connor stand noch immer draußen im Gang. Beatrice konnte ihn förmlich vor sich sehen: in der Haltung eines Revere-Officers, die Füße fest auf dem Boden, eine Hand nahe am Holster mit der Waffe. Sie fragte sich mit einem Anflug von Panik, ob er sie durch die geschlossene Holztür hören konnte.
Sie öffnete den Mund, bereit, Robert von Connor zu erzählen. Das sollte nicht schwer sein; sie hatte diese Unterhaltung bereits mit ihrem Vater geführt, am Abend ihrer Verlobung mit Teddy. Sie war in sein Büro marschiert und hatte ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass sie sich in ihren Leibwächter verliebt hatte. Warum also konnte sie es jetzt nicht noch einmal sagen?
Ich muss die Wahrheit kennen. Darauf hatte Robert gedrungen. Nur … was war die Wahrheit?
Beatrice wusste es selber nicht mehr. Ihre Gefühle für Connor waren mit ihren Gefühlen für alles andere verstrickt, Sehnsucht, Bedauern und Trauer waren schmerzhaft miteinander verwoben.
»Ich habe der Heirat zugestimmt, als mein Vater noch am Leben war, weil er mich zum Altar führen wollte«, brachte sie schließlich hervor. »Aber jetzt, da ich Königin bin, gibt es keinen Grund mehr, die Dinge zu übereilen.«
Robert schüttelte den Kopf. »Eure Majestät, gerade weil Sie Königin sind, sollten Sie so schnell wie möglich heiraten. Sie sind das leibhaftige Symbol für Amerika und dessen Zukunft. Und angesichts der aktuellen Situation …«
»Welche aktuelle Situation?«
»Wir befinden uns in einer Zeit der Umwälzungen und Ungewissheit. Die Nation hat den Tod Ihres Vaters noch nicht so verwunden, wie von uns gehofft.« Roberts Tonfall blieb unverändert und ließ keine Emotionen erkennen. »Die Börse hat einen herben Dämpfer erlitten. Der Kongress hat sich festgefahren. Mehrere ausländische Botschafter haben ein Rücktrittsgesuch eingereicht. Nur eine Handvoll«, fügte er rasch hinzu, als er ihren alarmierten Gesichtsausdruck sah. »Eine Hochzeit wäre ein Ereignis, das im ganzen Land für ein Zusammengehörigkeitsgefühl sorgen würde.«
Beatrice verstand die Botschaft hinter seinen Worten. Sie war jetzt die Königin von Amerika. Und Amerika hatte Angst.
Sie war zu jung, zu unerfahren. Und vor allem – sie war eine Frau. Die ein Land regieren wollte, das bislang ausschließlich von Männern regiert worden war.
Wenn Amerika derzeit wankte, dann wegen Beatrice.
Bevor sie antworten konnte, schwang die Flügeltür des Salons auf. »Beatrice! Hier steckst du also!«
Ihre Mutter stand auf der Schwelle. Sie sah elegant aus, sogar in Reisekleidung – einer schmal geschnittenen marineblauen Hose und einem blassblauen Pullover –, die jedoch lockerer saß als früher. Der Kummer hatte sich ihr wie ein Umhang aus Blei um die Schultern gelegt.
Die Queen zögerte, als sie Robert erblickte. »Verzeihung, ich wollte nicht stören.«
Der Kämmerer erhob sich. »Eure Majestät, bitte gesellen Sie sich zu uns. Wir haben gerade nur über die Hochzeit gesprochen.«
Adelaide wandte sich an Beatrice, und in ihrer Stimme lag eine neue Wärme. »Haben Teddy und du ein Datum festgelegt?«
»Also eigentlich … bin ich nicht sicher, ob ich schon bereit bin zu heiraten.« Beatrice warf ihrer Mutter einen bittenden Blick zu. »Es kommt mir zu überstürzt vor. Meinst du nicht, wir sollten warten, bis wir ausreichend Zeit zum Trauern hatten?«
»O Beatrice.« Ihre Mutter ließ sich seufzend aufs Sofa sinken. »Wir werden nie ausreichend getrauert haben. Und das weißt du genau«, sagte sie sanft. »Mit der Zeit wird der Schmerz vermutlich verblassen, aber den Verlust werden wir immer spüren. Wir werden nur lernen, etwas besser damit umzugehen.«
Auf der anderen Seite des Raums nickte Robert zustimmend. Beatrice versuchte, ihn zu ignorieren.
»Wir könnten jetzt alle einen Anlass zur Freude und zum Feiern gebrauchen. Nicht nur Amerika, sondern auch unsere Familie.« Adelaides Augen schimmerten sehnsuchtsvoll. Sie hatte ihren Mann mit jeder Faser ihres Seins geliebt und jetzt, da er tot war, schien sie all diese Gefühle auf Beatrice zu übertragen – als ob Beatrice’ und Teddys Liebesgeschichte die einzige Quelle der Hoffnung wäre, die ihr noch geblieben war.
»Wir brauchen diese Hochzeit jetzt dringender denn je«, warf Robert ein.
Beatrice blickte hilflos von einem zum anderen. »Das verstehe ich. Aber, na ja, Teddy und ich kennen uns erst so kurz.«
Queen Adelaide verlagerte ihr Gewicht auf das andere Bein. »Beatrice. Hast du Bedenken, Teddy zu heiraten?«
Beatrice blickte auf den Verlobungsring an ihrer linken Hand. Sie hatte ihn die ganze Zeit über nicht abgelegt, mehr aus Bequemlichkeit als alles andere. Als Teddy ihn ihr gegeben hatte, war ihr das irgendwie falsch vorgekommen, aber an irgendeinem Punkt hatte sie sich anscheinend daran gewöhnt. Das zeigte wieder mal, dass man sich mit der Zeit an alles gewöhnen konnte.
Der Ring war wunderschön, ein Solitärdiamant in einem weißgoldenen Ringband. Ursprünglich hatte er vor mehr als hundert Jahren Queen Thérèse gehört, doch er war so fachkundig poliert worden, dass jeder Makel unter all dem Glanz verborgen lag.
Ein bisschen so wie bei Beatrice.
Ihr wurde bewusst, dass Robert und ihre Mutter auf eine Antwort von ihr warteten. »Mir fehlt … Dad einfach.«
»Ach, Schätzchen. Ich weiß.« Eine Träne rollte an der Wange ihrer Mutter herab und hinterließ eine dunkle Mascaraspur.
Queen Adelaide weinte nie – jedenfalls nicht im Beisein anderer. Selbst bei der Beerdigung hatte sie ihre Gefühle hinter einer blassen, beherrschten Miene verschanzt. Sie hatte Beatrice eingebläut, dass eine Königin ihre Tränen im Stillen vergießen musste, damit sie, wenn die Zeit gekommen war, der Nation gegenüberzutreten, eine Quelle der Kraft sein konnte. Der Anblick dieser einzelnen Träne war so verblüffend und unwirklich, als hätte eine der Marmorstatuen im Palastgarten zu weinen begonnen.
Auch Beatrice hatte seit dem Tod ihres Vaters nicht mehr geweint.
Sie wollte weinen, doch etwas in ihr schien irreparabel zerbrochen zu sein, und ihre Augen konnten einfach keine Tränen mehr bilden.
Adelaide schlang einen Arm um ihre Tochter und zog sie an sich. Automatisch schmiegte Beatrice sich an ihre Mutter, so wie sie es früher als Kind schon getan hatte. Doch es tröstete sie nicht so wie früher.
Plötzlich bemerkte sie nur noch, wie zart und knochig sich ihre Mutter unter dem Kaschmirpullover anfühlte. Queen Adelaide zitterte vor unterdrückter Trauer. Sie kam Beatrice zerbrechlich – und zum allerersten Mal alt – vor.
Was immer von Beatrice’ Entschlossenheit übrig war, zerbröckelte in tausend Teile.
Ein letztes Mal versuchte sie, sich auszumalen, mit Connor zusammen zu sein: Wie sie ihm sagte, dass sie ihn noch liebte, dass sie ihrem Leben entfliehen und mit ihm zusammen sein wollte, ungeachtet der Konsequenzen. Aber sie konnte es sich schlichtweg nicht vorstellen. Es war, als wäre die Zukunft, von der sie geträumt hatte, mit ihrem Vater gestorben.
Oder vielleicht war sie mit der alten Beatrice gestorben, derjenigen, die Prinzessin und keine Königin gewesen war.
»In Ordnung«, sagte sie leise. »Ich werde mit Teddy reden.«
Sie würde das hinbekommen, für ihre Familie und für ihr Land. Sie würde Teddy heiraten und Amerika die Märchenromanze schenken, die es so dringend brauchte.
Sie würde Beatrice, das Mädchen, loslassen und sich ganz Beatrice, der Königin, hingeben.
Nina Gonzalez war angespannt bis in die Haarspitzen, als sie vorsichtig ein Holzklötzchen aus dem wackligen Turm herauszog. Mit unerträglicher Sorgfalt platzierte sie den Spielstein an die Spitze der improvisierten Konstruktion.
O Wunder, es hielt.
»Ja!« Jubelnd riss Nina die Arme hoch – im gleichen Moment rutschten zwei Klötzchen vom Stapel herunter und fielen klappernd zu Boden.
»Und zu früh gefreut«, fügte sie lachend hinzu.
Rachel Greenbaum, deren Zimmer am anderen Ende des Wohnheimflurs lag, schob die heruntergefallenen Klötzchen mit der Hand zu ihr herüber. »Da, du hast Finde einen Hut und Handyfalle!«
Sie spielten mit dem berühmten King’s-College-»Party-Jenga«-Spielset, das mit rotem Filzer bekritzelt war. Man spielte es wie normales Jenga, nur dass auf jedem Holzspielstein ein anderer Befehl stand – Shotski, Karaoke, Butterfingers –, der von dem Spielenden befolgt werden musste, der die Steine umgeworfen hatte. Als Nina gefragt hatte, wie alt das Jenga-Set war, wusste das niemand.
Es war das letzte Wochenende der Frühjahrsferien und Ninas Freundinnen hingen im Ogden ab, dem Café- und Loungebereich im Untergeschoss des Gebäudes der Schönen Künste. Aufgrund seiner Lage zog das Ogden fast nur die Theaterstudenten an, was Nina immer verwundert hatte, da es dort kostenlos Kekse gab.
»Finde einen Hut ist ganz einfach. Du trägst irgendeinen Gegenstand, als wäre er ein Hut«, erklärte ihre andere Freundin Leila Taghdisi. Nina faltete eine Papierserviette zu einem Dreieck und platzierte sie auf ihrem Kopf.
»Und bei Handyfalle, musst du für den Rest des Spiels dein Telefon so hinlegen, dass wir alle deine Nachrichten lesen können.« Leila warf Nina einen entschuldigenden Blick zu. Ihre Freundinnen wussten, dass Nina ihr Privatleben gern bedeckt hielt – so wie ihre Beziehung zur königlichen Familie.
Aber Nina hatte sich vorgenommen, dieses Semester normal zu sein. Also holte sie wie jede normale Studentin ihr Telefon hervor und legte es auf den Tisch.
Rachel seufzte. »Ich kann kaum glauben, dass es am Montag wieder losgeht. Ich bin überhaupt noch nicht bereit für den Beginn der Vorlesungen.«
»Hm, ich weiß nicht. Ich bin irgendwie froh, wieder hier zu sein.« Nina freute sich richtig aufs College, jetzt, da sie sich frei auf dem Campus bewegen konnte, ohne von Paparazzi verfolgt zu werden. Noch immer erntete sie hier und da ein Raunen, noch immer sahen andere Studierende sie gelegentlich einen Tick zu lange an, die Stirn in Falten gezogen, als überlegten sie, woher sie sie kannten. Aber es war eine gewaltige Verbesserung gegenüber dem Albtraum, den sie Anfang des Jahres erlebt hatte, als sie noch mit Prinz Jefferson zusammen gewesen war.
Die Leute hatten ein bemerkenswert schlechtes Gedächtnis für diese Art von Dingen. Und nach der welterschütternden, alles verändernden Nachricht vom Tod des Königs war die kurze Beziehung zu Jeff das Letzte, was die Gedanken der Menschen beschäftigte. Die Welt hatte sich weitergedreht und sie eindeutig vergessen. Worüber Nina froh war.
»Ich nicht. Ich hätte ewig in Virginia Beach bleiben können«, warf Leila ein. »Wenn wir noch dort wären, würden wir jetzt am Strand liegen, den Sonnenuntergang beobachten und Ninas süchtig machende Guacamole in uns reinstopfen.«
»Das ist das Rezept meiner Mama. Das Geheimnis ist der Knoblauch«, erklärte Nina.
Sie war so dankbar, dass Rachel sie auf diese Reise mitgeschleppt hatte. Es war ganz anders gewesen als die Urlaube, die sie als Gast der Washingtons erlebt hatte. Sie hatten ein ziemlich heruntergekommenes Haus gemietet, ohne Klimaanlage, und ihr Schlafplatz war das Sofa im Wohnzimmer gewesen. Trotzdem hatte sie jede Minute genossen. Mit den anderen Mädchen aus ihrem Wohnheim zusammenzusitzen, billiges Bier zu trinken und sich am Strandlagerfeuer Geschichten zu erzählen hatte sich so viel befriedigender angefühlt als sämtliche königlichen Fünf-Sterne-Reisen zusammen.
»Leider kann ich euch keine Guacamole anbieten.« Jayne, eine weitere ihrer Freundinnen tauchte aus der Küche auf. Sie balancierte ein Tablett in den Händen, die in Ofenhandschuhen steckten. »Aber die hier könnten helfen.«
Die drei Mädchen stürzten sich sofort auf die Kekse. »Habe ich schon erwähnt, wie froh ich bin, dass du hier arbeitest?«, fragte Nina.
»Statt mit dir zusammen in der Bibliothek?« Jayne und Nina waren beide Teilnehmerinnen des Studien-Plus-Programms, das sämtliche Kosten ihrer Stipendien übernahm; als Gegenleistung waren sie verpflichtet, an der Uni zu arbeiten.
»Dein Backtalent wäre in der Bibliothek total verschwendet. Die hier sind so was von lecker«, erwiderte Nina mit einem Bissen Keks im Mund, wofür ihre Mütter sie ordentlich gescholten hätten. Aber sie war gerade nicht zu Hause und auch nicht auf irgendeinem steifen königlichen Empfang.
Jayne stellte das Tablett mit den Keksen auf den Tresen und schnappte sich einen Stuhl. Ihre Schürze mit dem Bild des Unimaskottchens, ein Ritter mit glänzendem Silberhelm, ließ sie einfach um. »Richtig, ich bin’s, die Meisterkonditorin der Fertigteigkekse.«
Auf Ninas Telefon, das immer noch in der Mitte des Tisches lag, leuchtete eine neue Nachricht auf. Rachel schnappte schnell danach, dann schob sie es Nina rüber. »Bis jetzt sind deine Nachrichten todlangweilig.«
Es war Ninas Mom. Kommst du bald mal wieder zum Essen vorbei? Ich mache auch Paella!
Ninas Eltern, Julie und Isabella, lebten nur ein paar Meilen von ihr entfernt in einem Reihenhaus aus rotem Backstein. Es war ein »Gunst-und-Gnade-Haus«: eine Immobilie, die der Königsfamilie gehörte und mietfrei denjenigen zur Verfügung gestellt wurde, die im Dienst der Krone standen – in ihrem Fall Ninas Mutter Isabella, die früher als Kämmerin des verstorbenen Königs gearbeitet hatte und jetzt Schatzministerin war. Nina versuchte, sich nicht an der Tatsache zu stören, dass Samanthas Familie – und somit auch Jeffs Familie – das Haus besaß, in dem sie aufgewachsen war.
In der Zeit nach der Trennung von Jeff hatte Nina viel Zeit zu Hause verbracht. Es war einfach so beruhigend gewesen, die hausgemachten Mahlzeiten ihrer Mütter zu essen und in ihrem Bett aus Kindertagen zu schlafen. Und die neugierigen Blicke ihrer Mitstudierenden zu vermeiden.
Aber jetzt hatte sie mehr Freunde gefunden, hatte sich einen Platz erobert. Sie verspürte nicht mehr das verzweifelte Bedürfnis zu flüchten.
Danke, Mom, aber ich bleibe vorerst auf dem Campus, tippte sie als Antwort. Hab dich lieb!
Rachel zerbröselte den Rest ihres Keks auf einer Serviette. »Nächstes Mal schmuggeln wir eine Flasche Wein rein und machen ein Trinkspiel draus.«
»Du weißt, dass ich während der Arbeit nicht trinken darf«, protestierte Jayne.
»Du darfst während der Arbeit nicht beim Trinken erwischt werden. Das ist ein Unterschied«, erklärte Rachel verschmitzt, und alle lachten.
Sie spielten weiter, wobei der Klötzchenturm immer gefährlicher in die Höhe wuchs. Rachel brachte einen Klotz mit der Aufschrift Akzente setzen zu Fall, was bedeutete, dass sie für den Rest des Spiels mit einem fremden Akzent sprechen musste. Unbeirrt erzählte sie eine Geschichte über einen Kerl, den sie vor kurzem kennengelernt hatte, wobei ihr Akzent mal osteuropäisch, mal französisch klang.
Nina streckte beide Arme über dem Kopf aus. Sie war müde, aber auf eine träge, zufriedene Art.
»Wie auch immer, er hat mich gerade per Nachricht nach einem Date gefragt«, sagte Rachel.
»Akzent!«, schimpfte Jayne.
»Verzeihung«, sagte Rachel in dem grauenhaftesten Cockney, das Nina je gehört hatte. »Also, was meint ihr? Soll ich Ja sagen?«
Sie streckte ihnen ihr Handy entgegen, dessen Plastikhülle mit bunten Ananasstickern übersät war. Die anderen Mädchen lehnten sich gehorsam vor und studierten das Profilbild: eine künstlerisch anmutende Schwarz-Weiß-Aufnahme eines jungen Mannes, dessen Lippe an mindestens sechs Stellen gepierct war.
»Er scheint ziemlich anders zu sein als Logan«, sagte Nina zögernd und wagte es sogar, den Namen von Rachels Exfreund in den Mund zu nehmen.
»Eben!« Rachel hörte auf, mit Akzent zu sprechen, aber diesmal wies sie niemand zurecht. »Anders ist genau das, was ich im Moment suche. Das Gefühl solltest du kennen, nach dem, was dir mit Jeff passiert ist.«
Nina versteifte sich, obwohl ein Teil von ihr wusste, dass an Rachels Worten etwas Wahres dran war.
Sie hatte die königlichen Zwillinge vor über einem Jahrzehnt kennengelernt, als ihre Mama angefangen hatte, für den König als Kämmerin zu arbeiten. Sie und Prinzessin Samantha waren seitdem beste Freundinnen, sie standen sich so nah wie Schwestern.
Letztes Jahr hatte Nina dann begonnen, Sams Bruder zu daten. Es hatte gut funktioniert, solange es nur sie zwei gegeben hatte –, aber als der Rest der Welt davon erfuhr, war sie zur Zielscheibe landesweiter Beschimpfungen geworden.
Das war das Problem mit dem Königshaus: Es wirkte stark polarisierend. Jahrelang hatte Nina miterlebt, wie die Leute über Sam urteilten, ohne sie überhaupt zu kennen, wie sie spontan entschieden, dass sie sie hassten oder anbeteten, dass sie nichts mit ihr zu tun haben wollten oder sie für ihre eigenen Zwecke benutzten.
Als Nina anfing, Jeff zu daten, passierte ihr das Gleiche.
Sie hatte versucht, die hässlichen Online-Kommentare und das übergriffige Verhalten der Paparazzi zu ignorieren. Sie redete sich ein, dass sie das alles verkraften könnte, dass Jeff dies alles wert sei. Bis eines Tages seine Exfreundin Daphne sie konfrontierte und enthüllte, dass sie die Mobbingkampagne dirigiert hatte: Sie hatte einen Fotografen vor Ninas Wohnheim postiert und die Beziehung zwischen Nina und Jeff an die Klatschblätter verscherbelt.
Als Nina versuchte, mit Jeff darüber zu reden, hatte er für Daphne Partei ergriffen.
Seit der Trennung hatte sie ihn nur ein einziges Mal gesehen, bei der Beerdigung seines Vaters, auf der anderen Seite des Raums. Dann waren die Washingtons nach Sulgrave abgereist und Nina nach Virginia Beach, wobei sie tapfer versuchte, Jeff aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Obwohl es schwierig war, den Exfreund zu vergessen, wenn er der Bruder der besten Freundin war – und der berühmteste Mann des Landes.
»Tut mir leid, Nina«, fuhr Rachel fort. »Aber wir sollten beide unseren Horizont erweitern und diese ganzen Verbindungsstudententypen hinter uns lassen. Denk doch mal an die vielen Männer da draußen, die wir uns noch gar nicht näher angeschaut haben: Musiker, Geschäftsmänner …« Sie warf den anderen Mädchen einen hilfesuchenden Blick zu, woraufhin sie ihr schnell beisprangen.
»Oder die süßen Hilfsdozenten, die immer vom Graduiertenhaus rüberradeln«, warf Leila ein.
»Oder diese hippen Autorentypen«, rief Jayne aus. »Wie die, die du in deinem Journalismuskurs kennenlernen wirst.«
»Ich bin doch nicht im Journalismuskurs, damit ich Jungs kennenlerne«, entgegnete Nina leicht vorwurfsvoll.
»Natürlich nicht!«, sagte Rachel. »Du bist im Journalismuskurs, damit ich Jungs kennenlerne.«
Nina prustete durch die Nase. »Na schön«, seufzte sie. »Ich werde versuchen, meinen Horizont zu erweitern, was immer das bedeuten soll.«
»Ich meine doch nur, du solltest wieder mehr unter Leute gehen. Hin und wieder mit uns zusammen eine Party besuchen. Komm schon, Nina«, bettelte ihre Freundin. »Dein neuer Look ist einfach zu umwerfend, um ihn an die Bibliothek zu verschwenden.«
Nina fuhr mit den Fingern durch die Spitzen ihres neuen, kurzen Haares, das ihr jetzt bis knapp auf die Schultern fiel. Ihr Kopf fühlte sich merkwürdig leicht an, ohne das Gewicht all dieser Locken. Sie hatte es nach der Trennung aus einem spontanen Impuls heraus getan: Sie hatte dringend eine Veränderung gebraucht, und für sie waren kurze Haare ein fast so radikaler Schritt wie ein neues Tattoo.
Wenn Nina jetzt in den Spiegel schaute, sah sie eine neue, überraschende Version ihrer selbst. Ihre Wangenknochen traten jetzt schärfer hervor, ihre braunen Augen leuchteten intensiver denn je. Sie sah älter aus. Stärker.
Die Nina, die sich jahrelang nach Jefferson verzehrt hatte, die sich in eine ihr fremde Person verwandelt hatte, in der Hoffnung, als seine Freundin akzeptiert zu werden, war verschwunden. Und diese neue, wildere Nina war klüger, als sich von irgendwem das Herz brechen zu lassen. Nicht mal von einem Prinz.
Als ihr Telefon brummte, nahm Nina an, es sei eine ihrer Mütter, bis sie auf dem Display Samanthas Namen sah. Schnell verbarg sie ihr Telefon in ihrem Schoß.
Rachels Blick schoss zu ihr herüber. »Alles in Ordnung?«
»Entschuldige, ich muss da rangehen.« Nina stand auf, schlüpfte in ihre Jeansjacke und ging durch die Flügeltüren des Cafés nach draußen.
»Sam. Wie geht’s?« Im selben Moment zog sie eine Grimasse. Natürlich ging es Sam nicht gut; sie trauerte.
»Ich bin müde. Ich will wieder nach Hause.« Der Tonfall der Prinzessin klang wie immer, aber Nina kannte sie gut genug, um die Emotion herauszuhören. Sam war nicht annähernd so tough, wie sie immer tat.
»Wann kommst du zurück?«, fragte Nina und klemmte das Telefon zwischen Schulter und Ohr fest.
»Wir sind bereits unterwegs.«
Nina hasste es, wie sich ihre Gedanken auf das Wir fixierten. Sie stellte sich vor, dass Jeff neben seiner Zwillingsschwester saß und die Hälfte des Gesprächs mit anhörte.
»Jeff ist hier, aber er schläft«, fügte Sam hinzu, als hätte sie die Gedanken ihrer Freundin erraten. »Mit Earbuds in den Ohren.«
»Ich … gut. Okay.«
Es tat weh, an Jeff zu denken: ein dumpfer, anhaltender Schmerz, so als würde Nina auf einen Bluterguss drücken, der noch nicht ganz abgeklungen war. Ihre Beziehung hatte so abrupt geendet. Eben noch hatten sie sich im Ballsaal des Palastes in den Armen gelegen, und später am Abend war ihre Beziehung einfach … vorbei.
Ein Teil von ihr wollte ihn hassen, dafür, dass er zuließ, dass Daphne einen Keil zwischen sie trieb, dafür, dass er ihre Beziehung einfach zerbrechen ließ, anstatt darum zu kämpfen. Aber sie konnte einem Jungen, der gerade seinen Vater verloren hatte, nicht so lange böse bleiben. Sie wünschte, sie wäre mutig genug, Sam zu fragen, wie es Jeff ging, aber sie hatte Angst davor, was mit ihr passieren würde, wenn sie seinen Namen laut aussprach.
Am anderen Ende der Leitung raschelte es. »Komm, Nina, erzähl mal. Was ist passiert seit –« Sam brach ab, um nicht seit dem Tod meines Vaters sagen zu müssen. »Seit wir uns zum letzten Mal gesehen haben«, wich sie aus.
Ihnen war beiden klar, dass das nicht die normale Dynamik ihrer Beziehung war. Normalerweise war Sam diejenige, die das Wort führte; die debattierte und theoretisierte und Geschichten erzählte auf ihre verschlungene, detaillierte Art, was so viel befriedigender war, als wenn sie sie von Anfang bis Ende erzählte. Aber heute war es Sam, die Nina brauchte, um die Stille zu füllen.
Ninas Herz tat weh. Wenn jemand so viel Schmerz empfand, gab es nichts, was man sagen konnte, um es besser zu machen. Das Einzige, was man für die Person tun konnte, war mit ihr zu leiden.
Trotzdem räusperte sie sich und schlug einen fröhlichen Ton an. »Hab ich dir schon erzählt, dass ich mir die Haare abgeschnitten habe?«
Sam schnappte nach Luft. »Wie viele Zentimeter?«
»Ich schicke dir ein Bild«, versprach Nina. »Und ich war mit ein paar Freundinnen aus meinem Wohnheim verreist. Wir sind gerade erst zurückgekommen. Der Trip hätte dir auch gefallen, Sam. Wir sind mit Kajaks die Küste entlanggepaddelt und haben diese Tiki-Bar entdeckt, die Frozen Cocktails zum halben Preis servierte …«
Während sie redete, ließ sie sich auf eine Bank sinken. Verschiedene Studenten und Studentinnen liefen vorbei, auf dem Weg zu ihren Zimmern oder um sich mit Freunden im Broken Spoon zum Eisessen zu treffen.
»Nina«, sagte Sam schließlich und klang ungewöhnlich zögerlich dabei. »Ich habe mich gefragt, ob … du morgen mit mir zu den Royal Potomac Races kommen würdest?«
Nina wurde sehr still. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust. Sam wusste genau, was diese Stille bedeutete, und beeilte sich hinzuzufügen: »Ich verstehe, wenn du nicht in Jeffs Nähe sein kannst. Es ist nur so, dass es mein erster öffentlicher Auftritt ist, seit …« Sie stockte, dann gab sie sich einen Ruck. »Seit der Beerdigung meines Vaters und es würde mir wirklich viel bedeuten, wenn ich dich an meiner Seite hätte.«
Wie sollte Nina ihr diese Bitte abschlagen können?
»Natürlich komme ich mit«, sagte sie.
Und damit, dachte Nina mit müder Resignation, würde sie wieder zurückkehren in die Welt ihrer besten Freundin – in die Welt der amerikanischen Königsfamilie.
Daphne Deighton hatte die Royal Potomac Races nie sonderlich gemocht. Sie waren so laut, so unverschämt gewöhnlich. Aber was konnte man von einer kostenlosen öffentlichen Veranstaltung schon anderes erwarten.
Tausende Menschen hatten sich entlang des Potomac versammelt und verwandelten die Flussufer in einen knallbunten Rummelplatz. Familien picknickten auf Decken und Strandtüchern; Mädchen warfen sich mit Sonnenbrille auf der Nase in Pose und stellten die Fotos dann eilig online. Lange Schlangen hatten sich an den verstreuten Bars gebildet, die Mint Juleps anboten. Nach ein paar Stunden ging ihnen zwangsläufig das Eis aus, doch die Leute standen weiter an, um warmen Bourbon mit ein paar aufgeweichten Minzblättern zu erstehen.
Daphne hielt sich nie an diesem Uferabschnitt auf. Zum Glück hatten die Potomac Races auch eine andere Seite, auf der immer noch ein Gefühl von Exklusivität und hierarchischer Ordnung herrschte. Die wirklich bedeutenden Leute wollten die Rennen schließlich nicht von einer schmutzigen Picknickdecke aus anschauen.
Unweit der mit bunten Wimpeln markierten Ziellinie lag hinter Absperrseilen und bewacht von Sicherheitsleuten mit versteinerten Mienen das private Zuschauerareal mit seinen ausladenden weißen Zelten. Am äußersten Ende schloss sich der Bereich des Königshauses an, zu dem nur die Washington-Familie sowie deren geladene Gäste Zutritt hatten.
Anders als in den anderen Zelten, wo rangniedere Adlige und Geschäftsleute mit Namensschildchen aus Plastik herumliefen, trug im königlichen Bereich niemand ein Schild. Man ging stillschweigend davon aus, dass, wer sich hier aufhielt, zu denen gehörte, die man kennen musste.
Und Daphne kannte sie alle. Mühelos konnte sie das verworrene Geflecht von Verwandtschaftsbeziehungen der Familie Washington nachvollziehen, das sich über den gesamten Globus erstreckte. Sie bezweifelte, dass irgendjemand sonst Kronprinzessin Elisabeth der Niederlande (die Cousine des Königs) und Lady Elisabeth von Hessen (eine Tante von ihm, mütterlicherseits) oder Elisabeth, die Grand Duchess von Rumänien (überraschenderweise nicht verwandt), unterscheiden konnte.
Das war der Unterschied zwischen Daphne und all den anderen wunderschönen Mädchen, die es im Laufe der Jahre auf Prinz Jefferson abgesehen hatten. Daphne hatte die Erfahrung gemacht, dass die meisten Mädchen durchs Leben gleiten wollten, indem sie sich ausschließlich auf ihr gutes Aussehen verließen. Ihnen mangelte es an Grips oder Umtriebigkeit, während Daphne beides im Überfluss besaß.
Ein Fanfarenstoß ertönte und sämtliche Blicke richteten sich erwartungsvoll flussabwärts, wo sich die Wimpel der königlichen Barke gegen den Himmel abzeichneten.
Die Sonne funkelte auf dem Potomac und setzte sein zinnfarbenes Wasser in Brand. Daphnes Augen richteten sich automatisch auf Jefferson, der neben seiner Zwillingsschwester stand und halbherzig eine Hand erhoben hatte, aber nicht wirklich winkte. Der Wind zerrte an seinen Ärmeln und zerzauste sein dunkles Haar. Am Bug des Bootes stand Beatrice und lächelte sanft.
An den Flussufern wurden Beifall und Pfiffe laut. Die Leute jubelten Beatrice und auch Jefferson zu. Eltern hoben ihre Kinder auf die Schultern, damit sie einen Blick auf die neue Königin erhaschen konnten.
Aus den Lautsprechern ertönte ein Lied, und der Jubel verebbte. Für einen Moment hörte Daphne über das Pfeifen des Windes und das stete Brummen des Bootsmotors hinweg die Eröffnungsklänge der Musik. Dann verschmolzen Tausende Stimmen miteinander, als alle zu singen begannen.
Von Ufer zu Ufer, von Meer zu Meer,
tönt der Ruf uns’rer treuen Nation weithin,
aller Stimmen und Worte von Liebe so schwer,
uns’re Herzen gehören dir, unsere Königin.
Der Vers war umgedichtet worden, damit sich die Zeilen nun auf »Königin« reimten.
Das Boot legte an und der Kämmerer trat vor, um der königlichen Familie beim Aussteigen zu helfen. Sämtliche Höflinge an Land machten schnell eine Verbeugung oder einen Knicks. In ihren pastellfarbenen Kleidern und den Seersucker-Anzügen sahen sie aus wie ein Schwarm träger Schmetterlinge.
Daphne hatte keine Eile. Sie versank anmutig in einen Knicks wie eine zarte Blume mit gesenktem Kopf und hielt ihre Pose für einen langen Moment. Als Kind hatte sie Ballettunterricht genommen, und in Momenten wie diesen war sie von Kopf bis Fuß eine Tänzerin.
Nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte, strich sie den Rock ihres pfirsichfarbenen Kleides glatt, das gemäß den strikten Regeln des Hofprotokolls genau auf Kniehöhe endete. Der glatte, geschmeidige Stoff umspielte ihre Beine. Ihr prächtiges, rotgoldenes Haar war mit einer eigens für sie angefertigten Spange zusammengefasst, die den gleichen zarten Farbton wie ihr Kleid hatte. Es war so schön, endlich wieder farbenfrohe Sachen anzuziehen, nachdem sie wochenlang in gedeckten Tönen herumgelaufen war, um der offiziellen Trauerzeit um den König Rechnung zu tragen.
Doch um ehrlich zu sein, sah Daphne auch in Schwarz umwerfend aus. Sie sah in allem umwerfend aus.
Sie bahnte sich einen Weg dorthin, wo Jefferson stand, oben auf der grasbewachsenen Böschung, die sanft zum Ufer abfiel. Als er sie sah, nickte der Prinz zur Begrüßung: »Hey, Daphne. Danke, dass du gekommen bist.«
Am liebsten hätte sie »Ich habe dich vermisst« gesagt, doch es schien ihr zu kokett, zu egozentrisch, nach allem, was Jefferson durchgemacht hatte. »Schön, dich zu sehen«, sagte sie stattdessen.
Er vergrub die Hände in seinen Taschen. »Es fühlt sich seltsam an, hier zu sein, weißt du.«
Für Daphne fühlte es sich gar nicht seltsam an. Wenn überhaupt, dann hatte sie das Gefühl, Jefferson und sie wären wieder dort, wo sie hingehörten: beieinander. Schließlich waren ihre Leben miteinander verflochten, seit Daphne vierzehn war.
Damals hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten und eine Prinzessin zu werden.
Über zwei Jahre lang war alles nach Daphnes Plan verlaufen. Sie hatte sich Jefferson in den Weg geschmissen und kurz darauf wurden sie ein Paar. Er vergötterte sie und – was genauso wichtig war – Amerika vergötterte sie, denn Daphne hatte alle mit ihrem anmutigen Lächeln, ihrer sanften Stimme und ihrer Schönheit für sich eingenommen.
Bis Jefferson ihre Beziehung am Morgen nach der Abschlussparty Knall auf Fall beendet hatte.
Irgendein anderes Mädchen hätte die Trennung vermutlich akzeptiert und weitergemacht. Aber Daphne konnte sich einfach nicht geschlagen geben. Sie konnte es nicht, nicht nach allem, was sie für diese Beziehung auf sich genommen hatte.
Jetzt war der Prinz zum Glück wieder Single. Allerdings würde er das nicht lange sein, wenn es nach Daphne ginge.
Sah Jefferson es denn nicht, wie einfach alles wäre, wenn er ihrem Plan folgte, und sie wieder ein Paar würden? Sie könnten in diesem Herbst gemeinsam das King’s College besuchen. Er hatte sich ein Gap Year genommen, was bedeutete, dass er sich in Daphnes Jahrgang einschreiben würde. Und sobald sie ihre Abschlüsse hätten, würde er ihr einen Antrag machen, und sie würden im Palast heiraten.
Und dann endlich, endlich würde Daphne die Prinzessin werden, zu der sie geboren worden war.
»Das mit deinem Vater tut mir so leid. Ich kann mir nicht mal vorstellen, was du durchmachen musst.« Als Geste des Trostes legte sie ihm eine Hand auf den Arm. »Wenn du reden willst, ich bin für dich da.«
Jefferson nickte abwesend, und Daphne nahm ihre Hand herunter. »Tut mir leid, ich bin nur … Es gibt da ein paar Leute, denen ich Hallo sagen muss«, murmelte er.
»Natürlich«.« Sie zwang sich dazu, ruhig zu bleiben, eine gleichmütige, unbekümmerte Miene zu bewahren, als der Prinz von Amerika von ihr wegging.
Mit einem unterdrückten Seufzen machte Daphne sich innerlich auf endlosen Smalltalk gefasst und fing an, ihre Runden durch die Menge zu drehen. Auf der anderen Seite des Rasens entdeckte sie ihre Mutter, die mit dem Eigentümer einer Kaufhauskette plauderte. Wie typisch. Rebecca Deighton hatte ein instinktives Gespür für Leute, die ihr von Nutzen sein konnten.
Daphne wusste, dass sie dorthin gehen, ihr strahlendes Lächeln zeigen und eine weitere Person ins Team Daphne holen sollte. Sie warf einen Blick auf Jefferson – und erstarrte.
Er unterhielt sich mit Nina.
Über das Partygeplauder hinweg konnte sie nicht hören, was sie sagten, aber das war egal; sie konnte den schmerzerfüllten, bittenden Ausdruck in den Augen des Prinzen sehen. Bat er Nina um Vergebung für die Art, wie er sie behandelt hatte … und um eine zweite Chance?
Was, wenn Nina beschloss, ihm eine zu geben?
Daphne riss ihren Blick von ihm los, bevor jemand sie beim Starren ertappte. Sie schlenderte blindlings in das schattige Innere des Zeltes, vorbei an Tischen mit Blumenpyramiden bis ganz nach hinten zu den Damentoiletten.
Sie stützte sich mit den Händen an beiden Seiten des Waschbeckens ab und zwang sich dazu, langsam und zittrig durchzuatmen. Sie war merkwürdigerweise nicht überrascht, als wenige Augenblicke später hinter ihr Schritte zu hören waren.
»Hallo, Mutter«, sagte sie schwer.
Daphne beobachtete, wie Rebecca durch den Toilettenraum strich und sich vergewisserte, dass alle Kabinen leer waren, bevor sie sich ihrer Tochter zuwandte. »Also«, sagte Rebecca barsch. »Er unterhält sich wieder mit diesem Mädchen. Wie konntest du das zulassen?«
»Ich war bei ihm, aber –«
»Ist dir eigentlich klar, wie viel es uns kostet, heute Nachmittag hier zu sein?«, schnitt ihre Mutter ihr das Wort ab. In Momenten wie diesen, wenn sie sauer wurde, brach ihr alter Nebraska-Akzent durch. Als hätte sie vergessen, dass sie Rebecca Deighton war, Lady Margrave, und in ihre alte Persönlichkeit geschlüpft wäre – Becky Sharpe, Unterwäschemodell.
Daphne wusste, dass ihre Eltern sich auf die schnödeste Weise Zutritt zum königlichen Zelt verschafft hatten, nämlich indem sie die Regatta mitfinanzierten. Und während ranghöhere, vermögendere Adlige bei der Summe nicht mal mit der Wimper gezuckt hatten, spürten die Deightons jeden Penny, den sie ausgaben. Schmerzlich.
»Ich bin mir bewusst, wie viel es kostet«, entgegnete Daphne leise und meinte damit nicht nur den Scheck, den ihre Familie ausgestellt hatte. Noch nicht einmal ihre Eltern wussten, was Daphne alles getan hatte, um Jefferson für sich zu gewinnen – und um ihn zu behalten.