Über das Buch

Edward Snowden, Jamal Khashoggi, Martin Luther King: Bestsellerautor Roberto Saviano, Autor von »Gomorrha«, erzählt 30 Geschichten über die Macht von Zivilcourage.

Wie kein anderer steht Roberto Saviano für Mut und Zivilcourage. Gomorrha, sein investigatives Werk über die Mafia, machte ihn weltberühmt und zwang ihn unter Personenschutz. Jetzt zieht er Bilanz — und ruft die nächste Generation auf, ebenfalls die Stimme zu erheben. Wie ist es um die Menschenrechte bestellt? Sind wir Propaganda und Lügen gewachsen? Wo stehen wir im Kampf gegen organisierte Kriminalität? Zwischen Reportage und romanhafter Erzählung, in auch einzeln lesbaren Kapiteln, schöpft Saviano aus eigenen Erfahrungen und berichtet von großen Frauen und Männern der Geschichte, die im Kampf für die Wahrheit kein Risiko scheuten. Ein Aufschrei — und eine mutige Inspiration für alle, die sich für eine gerechtere Welt engagieren wollen.

Roberto Saviano

Aufschrei

30 Anstöße für eine mutigere Welt

Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki

Hanser

Für G., der sich im Dunkel verlor,

sein Schrei hat mir den Weg gezeigt.

Das Universum hat sich selbst ins Leben geschrien.

Wir sind einer dieser Schreie.

Ray Bradbury

Landkarte

Ich spreche mit dir, als wärst du mein anderes Selbst. Du bist jetzt der Schüler am Gymnasium Diaz in Caserta, meiner alten Schule. Du suchst jetzt dieselben Antworten, die ich damals suchte.

Ich stehe jeden Tag vor dem Eingang deiner Schule. Gegen meinen Willen gehe ich dorthin.

Noch bevor die Schulglocke läutet, bin ich schon auf dem Vorplatz. Du kannst mich nicht übersehen, ich stehe immer in der Nähe des Pfostens vor dem Tor und warte auf mich als Junge.

Ich fürchte mich jedes Mal davor, auf ihn zuzugehen. Ich fürchte seinen Blick. Weißt du, warum? Weil ich sein Urteil fürchte. Dieser Junge ist mittlerweile ein Fremder für mich.

Wenn du mich beobachtest, während ich auf ihn warte, wirst du bemerken, dass ich nervös bin.

Wenn die Türen sich öffnen und das Gebäude sich leert, gehe ich ihm entgegen, packe ihn am Pullover und fuchtele mit den Händen vor seinem Gesicht, ich versuche, seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich bin durchsichtig für ihn.

Das lässt mich verzweifeln. Ich weiß, ich müsste aufhören, jeden Tag dorthin zurückzukehren. Ich muss aufhören, vor der Schule auf ihn zu warten. Ich kann nichts mehr für ihn tun. Er kann mich nicht hören oder will es vielleicht nicht. Vielleicht sieht er mich. Vielleicht weiß er schon, was ich ihm sagen möchte, und hat Angst, dass ich versuche, ihn aufzuhalten.

Das stimmt nicht. Nein, es stimmt zum Teil oder ist wenigstens nicht nur falsch. Ich möchte ihm nur eine Landkarte geben, ihm sagen, was ich begriffen habe, ihn auf die Fallen hinweisen, die Sackgassen, ihm zeigen, dass der kürzeste Weg nicht immer der sicherste und der längste Weg nicht immer der richtige ist. Kurz, ich möchte ihm einen Plan, einen Kompass geben. Einen Kompass, weil ich weiß, dass es schwierig ist, den Kurs zu erkennen, während man aufsteigt und einem die Sonne ins Gesicht scheint. Dabei geht dir sofort die Luft im Speicher deiner Lunge aus, du verirrst dich oft, und es ist fast unmöglich, die richtige Strecke wiederzufinden. Die Wege vorher zu kennen, kann nützlich sein.

Also spreche ich mit dir, der du mich liest, als wärst du mein anderes Selbst. Du bist jetzt fünfzehn oder sechzehn oder achtzehn Jahre alt. Oder aber siebzig, das ist unwichtig. Du bist ein Mann, du bist eine Frau, auch das ist irgendwie gleichgültig, du bist jedenfalls du, ich als ein anderer, für den sich nichts ineinanderfügt und der immer das Gefühl hat, die Kehrseite der Geschichte zu erleben, nicht ihre gute Seite. 

Nun, ich will dir zeigen, was unter dem Putz verborgen ist. Was es ist, das in meinem Fall nicht funktioniert hat. Aber nicht, um dich aufzuhalten, im Gegenteil, ich möchte deinen Schritten mehr Kraft geben.

Als ich Schüler war, schrieb ich viele Briefe, ich war besessen davon. Schreiben war meine Art, in der Welt zu sein. »Ich schreibe, was ich niemandem sagen könnte«, sagte Primo Levi. Manche machten sich Sorgen wegen meiner Briefschreiberei, zum Beispiel meine Mutter. Sie hätte es vorgezogen, wenn ich öfter nach draußen gegangen wäre, mehr Menschen getroffen, mein Leben nicht nur mit Worten gefüllt hätte. Oft überkam mich ein Gefühl der Leere, wenn ich rausging. Aber die Leere ermöglicht die Fülle. Meine Mutter hatte recht, ein andauernd gespanntes Gummiband ist zu gar nichts nütze. Ein Gummiband wird nur dann zu einer großartigen Sprungfeder, wenn Trägheit und Spannung sich abwechseln.

Heute schreibe ich nur noch selten Briefe. Doch nicht, weil ich aufgehört habe, zu suchen. Ich habe nur aufgehört, zu fragen. Den, der vor mir steht, zu fragen, was man weiter vorn sieht, ob es Sinn hat, zu kämpfen, ob es gelingen kann. Heute empfinde ich den entgegengesetzten Impuls, ich will nicht mehr den fragen, der vor mir steht, sondern versuchen, dem, der hinter mir steht, etwas mitzuteilen. Ich will derjenige sein, der dir sagt, was man von dieser Stelle des Weges aus sieht.

Noch einmal, ich möchte dir nur eine Landkarte geben. Ich möchte nur, dass du in Deckung gehst.

Was für ein hässlicher Ausdruck, »in Deckung gehen«. Deckung bedeutet, die rechte Faust bis zum Kinn zu heben, und wenn man geschickt ist, den linken Arm auf Nasenhöhe vorzustrecken, sich leicht nach vorn zu beugen, auf die Zehenspitzen zu stellen und sich bereit zu machen, Schläge auszuteilen oder einzustecken. Darum habe ich den Ausdruck »in Deckung gehen« hässlich genannt, denn wenn du in Deckung gehst, weißt du schon, dass du einen Hieb austeilen oder kassieren wirst — eine dritte Möglichkeit gibt es nicht.

Trotzdem möchte ich, dass du in Deckung gehst, genau das.

Man sagt, wenn wir vorhersehen würden, was uns erwartet, wären wir nicht mehr in der Lage, auch nur einen Schritt zu gehen. Mich überzeugt das nicht, im Gegenteil, ich glaube, die Richtung angezeigt zu bekommen, kann uns helfen, das bisschen Zeit, das wir haben, darauf zu verwenden, uns besser auf die Reise vorzubereiten. Besser heißt für mich mit mehr Energie, weil man in jedem Moment spürt, was sich anbahnt.

Wenn du mit einer Wanderkarte in den Wald gehst, ist dein Weg damit noch nicht vorherbestimmt. Die Karte enthebt dich nicht der Mühe, durch eine Furt zu waten, sie schützt dich nicht vor dichtem Gestrüpp, das du oft wirst zerreißen müssen, und vor allem hindert dich keine Karte daran, dich unterwegs zu verlaufen. Vielleicht macht sie deine Wanderung sicherer, weil sie dir zeigt, wo du gerade entlanggehst, ganz bestimmt aber erspart sie dir, Zeit auf Pfaden zu vergeuden, die nirgendwohin führen.

Mit der Karte in der Hand, und das ist es, was ich dir unbedingt sagen möchte, wirst du den Ort, wo der Überfall lauert, im Voraus sehen können. Denn — das kann ich dir garantieren — er wird kommen. Sobald die Lichtung enger wird und die Felswände steil in die Schlucht abfallen, wird der Hinterhalt kommen. Sieh ihn voraus. An dieser Stelle deines Weges wirst du gefangen genommen. Und danach wird es Nacht sein. Vielleicht wird auch der Zweifel kommen, und die Angst.

Während ich dir diese Karte aushändige, widerstrebt es einem Teil von mir, er überlegt, dass der Unterschied zwischen einem Entdecker und einem schlichten Bootsführer darin besteht, keine Routen zu respektieren und den Karten zu misstrauen, denn die Karten zeichnen nur das Bekannte auf, die bereits entdeckte Welt — die wilden Orte zeigen sie nicht. Aber genau dorthin sollst du gehen. Hör mir zu, dorthin will ich dich bringen. Ich will dich an den Punkt bringen, wo du selbst beschließt, dich zu verirren. Wenn ich dir eine Karte gebe, versuche ich nur, zu erreichen, dass du dort ankommst, wo ich angekommen bin, damit du von der Stelle ausgehen kannst, über die ich nicht hinausgekommen bin. Ich will dich keine schon begangenen Wege gehen lassen, um dich auf einem vorgezeichneten Pfad zu halten, ich will dich nicht Vorsicht lehren, im Gegenteil, ich will dich an den Punkt bringen, an dem die Vorsicht waghalsig werden muss und die Klugheit tollkühn, denn vielleicht kann man nur so eine neue Trasse abstecken.

Es ist so, wie ich es sage: Zu sehen, wo die Pfade Gestalt annehmen und wo sie sich verlieren, verlangsamt deinen Schritt nicht, es macht ihn nur entschlossener. Eine Karte, die das Bekannte verzeichnet, verschließt dir neu zu entdeckende Gebiete nicht. Doch die Karte hilft dir, wenn du in den Abgrund stürzt, wenn du sicher bist, dass nichts mehr zu machen ist, wenn du drauf wettest, dass du geliefert bist.

Wenn du abstürzt, schaukele, aber lass den Haken nicht los. Baumele in der Leere, aber schlaf nicht ein, sonst wirst du ein Fraß der Geier.

Ich habe dir die Wege aufgezeichnet, die Lichtungen, ich habe dir die Stellen markiert, wo das Wasser seichter ist und der Fluss leichter überquert werden kann. All das, um dir zu sagen: Gib nicht auf, wenn das Vorankommen schwerer wird. Lass dich von deinem heimlichen Kompass leiten, dem, der das Schiff lenkt, wenn niemand mehr am Steuerruder steht. Folge dem magnetischen Feld. Verleugne nicht den Horizont der Gerechtigkeit und des Guten, von dem du als Junge gelernt hast. Diesen Horizont musst du dir bewahren, was auch immer um dich herum geschieht. Welche Fehler auch immer du machen wirst. Egal, ob ausgerechnet sie dich abstürzen lassen. Fehler wirst du machen, rechne damit. Widersprüche wirst du leben, nimm sie an. Du wirst dich verändern und nicht immer so korrekt und gerecht sein, wie du gewollt hättest. Aber begeh deshalb nicht den Irrtum, zu denken, dass es diesen Horizont nicht gibt, dass er nicht tagtäglich geltend gemacht und beschützt werden muss, dass er dir nicht mehr eingebrannt ist. Erlieg nicht der Versuchung, zu behaupten, Wahrheit und Gerechtigkeit seien Märchen für naive Gemüter oder Masken für die »falschen Guten«. Glaub nicht, dass die radikale Suche nach Wahrheit narzisstisch, der Versuch, zu überleben, ein bürgerliches Bestreben und mit eigener Arbeit Geld zu verdienen ein unerträglicher Betrug ist. Lebe. Bleib auf den Beinen, denn ein toter Krieger dient keiner einzigen Sache. Doch bewahre dir den Raum der Gerechtigkeit, den du als Junge entdeckt hast. Diesen Raum muss es weiterhin geben, auch über das Ende deiner Jugend hinaus. Gib nicht auf, glaub nicht, dass es jugendliche Naivität war, sich zu ihm zu bekennen.

Glaubst du, der du hier vor mir stehst, glaubst du wirklich, das Leben bestünde nur darin, zu betrügen oder sich betrügen zu lassen? Zu konkurrieren? Jemandem Informationen vorzuenthalten, aus Angst, er könnte sie missbrauchen, oder sie ihm zu enthüllen, damit sie anderen schaden? Verstopf dein Herz nicht mit diesem Müll. Glaub dem Gesang dieser Sirenen nicht, die immer darauf abzielen werden, Zweifel an allem und allen in dir zu wecken, dich zu überreden, dass es keinen Unterschied gibt zwischen einem reinen und einem verdorbenen Herzen.

Es gibt den Psalm 24, den ich sehr liebe: »Wer darf auf des Herrn Berg gehen, und wer darf stehen an seiner heiligen Stätte? Wer unschuldige Hände hat und reinen Herzens ist, wer nicht bedacht ist auf Lüge.« Er gefällt mir, weil er sich nicht auf die allgemeine Aussage beschränkt. Er ist kein Aphorismus, keine Maxime oder eine banale Sentenz. Er macht sich die Mühe, das reine Herz zu erklären: eines, das nicht auf Lüge bedacht ist. Doch nicht die Lüge, mit der man sich schützt, oder die Lüge, um nicht zu verletzen, nein, die echte Lüge, die dem Nächsten schaden soll.

Nimm dein Herz in die Hand, lege es auf eine Waagschale, und auf die andere legst du eine Feder als Gegengewicht. Wenn es nicht mehr wiegt als diese Feder, hat es nach Wahrheit und Gerechtigkeit gestrebt, ist leicht geblieben. Wenn es aber schwerer wiegt, ist es verstopft, etwas hat es verschlossen. Dann wird Ammit es verschlingen, das dämonische Wesen aus der ägyptischen Mythologie. Damit ist kein Urteil gesprochen, das Böse hast du dir selbst zugefügt. Das gefällt mir am Mythos, er macht deutlich, dass dich keine Gefangenschaft oder Hölle erwartet, wenn du dein Herz gefährdest. Keine Strafe, außer der, schon mit verwesenden Organen, mit schon von innen verpestetem Fleisch an der Tür zum Jenseits angekommen zu sein. Das Böse hast du dir selbst zugefügt! Doch nicht, als du irrtest, das wird unvermeidlich sein; nicht, als du gefallen bist, das wird mehr als einmal vorkommen; nicht, als du dich in den Widersprüchen des Lebens verfangen hast, du wirst oft nur das kleinere Übel wählen können. Sondern dann, wenn du der Versuchung erliegst, zu glauben, alles sei nur Scheiße, wenn du den Impuls »Rette sich, wer kann« siegen lässt.

Nach der Wahrheit zu streben, an die Gerechtigkeit zu glauben, das hält das Herz gesund, weil es ihm erlaubt, seine eigene Rolle zu spielen: dein Handeln zu leiten. Es sind die Gründe des Herzens, die das ganze Leben pulsieren lassen. Und das Herz schlägt, wie du weißt, unabhängig vom Kopf, von dem, was er will. Es ist der heimliche Kompass, der dich in viele Richtungen lenkt, in denen du dich oft nicht wiedererkennen wirst. Du wirst — zu Unrecht — glauben, aus einem impulsiven Antrieb oder nur zufällig dort gelandet zu sein. Diese Entscheidungen werden dir unangenehm sein. Du wirst erleben, dass du nicht erklären kannst, warum du auf dieser Demonstration warst, warum du nicht zu diesem Vorstellungsgespräch erschienen bist, warum du bei dieser Fernsehsendung nicht dabei warst … Für viele plötzliche Kursänderungen wirst du Müdigkeit, vorübergehende Verwirrung, vermeintliche Schwäche verantwortlich machen, aber er war es, der Kompass, der gemerkt hat, dass du nicht mehr hinter diesen Entscheidungen stecktest. Und weil keiner mehr am Steuerruder stand, hat er dich geleitet.

Vom Moment unserer Geburt bis zu unserem Tod schlägt das Herz etwa drei Milliarden Mal. Ich habe gelernt, diesen drei Milliarden Schlägen zuzuhören, die uns zugedacht wurden, fast allen. Hier ist die Karte dieser Schläge. Es sind Geschichten, die dir eine Methode beibringen sollen. Eine Methode, die mir fehlte, denn ich ging ohne Training los, ohne Horizont. Angst hatte ich nicht, habe ich nie gehabt — das war das große Problem —, aber ich war völlig unvorbereitet.

Die Geschichten, die ich erzählen werde, könnten dir, wenn du sie richtig liest, bei Bedarf als Schutzschild dienen. Sogar als Munition, hoffe ich, eine besondere Munition, die bei ihrer Explosion Leben schenkt, statt es zu vernichten. Nimm sie als Geschenk eines Freundes, eines Veteranen, oder nimm sie als Laterne.

Manche Geschichten sind jüngeren Datums, sie riechen noch nach Sprengstoff. Andere sind Plusquamperfekt, ich habe sie aus einem Tümpel gezogen, der nur noch festgetrockneter Schlamm war, kaum mehr zu spalten. Manche erzähle ich dir so, wie ich sie aus den Quellen gewonnen habe, aus anderen habe ich Narrative gemacht, damit sie für dich klingen wie ein Sinnspruch, eine Parabel, ein beispielhaftes Leben.

Aber aufgepasst! Es ist alles wahr, was ich dir erzähle. Nichts ist erfunden. Ich bin so verfahren wie die Archäologen, wenn sie den Unterbau der Umfassungsmauern eines Gebäudes vor sich haben und mithilfe ihrer Vorstellungskraft die einstigen Aufbauten beschreiben müssen. Doch diese Vorstellung ist nur ein Versuch auf die Wahrheit, die die Herzschläge jener Mauer zusammenfügt.

All diese nach Gruppen geordneten Geschichten sind mit Bedacht ausgewählt. Ich habe sie fast wie unter Zwang hinzugefügt und wieder verworfen. Hartnäckig konzipiert und wieder neu zusammengestellt, es sollten die richtigen Geschichten sein, keine zu wenig, keine zu viel, und ich bitte dich, gebrauche nicht nur deinen Kopf, um sie zu verstehen. Bewusst habe ich vermieden, sie in chronologischer Folge zu reihen, sie sollten nicht nur einem rationalen Kurs folgen, sie sollen dir nicht wie ein Handbuch vorkommen. Denn was ich hier für dich gesammelt habe, ist keine Abfolge von Geschichten, sondern eine Prozession aus den Negativen von Geschichten. Es sind nur Kehrseiten. Und ich werde dein Antiführer sein. Ich will dir nicht zeigen, was oben ist, sondern nur das, was unten ist: keine Aufbauten, nur Gräben, Keller, Tunnel, Kloaken …

Als kleiner Junge wollte ich die Verwandten aus Norditalien, die uns besuchen kamen, nicht zu den touristischen Sehenswürdigkeiten meiner Heimatstadt führen. Ich habe ihnen die Kreuzungen gezeigt, wo die Soldaten der Camorra erschossen wurden. Ich habe sie zu den Gedenktafeln gebracht, den Gipsfigürchen, das heißt zu den improvisierten Ädikulen, die in den Gassen meiner Stadt auftauchten wie Pilze nach einer Regennacht. Es gefiel mir, dass die Verwandten den Krieg, in dem ich lebte, von Weitem beobachten konnten, dass sie die Mütter der Toten sahen, die Blumen an diese trostlosen Orte brachten, die Rahmen der Fotografien putzten, Tränen vergossen, Worte und Gebete. Alle Blutflecke auf dem Asphalt sollten die Verwandten sehen. Die sollten alle sehen. Ich wollte, dass sie die Maschinengewehrsalven auf den Rollläden der Geschäfte fotografierten, um sie nach der Heimreise ihren Freunden zu zeigen. So ließ ich die Wahrheit pulsieren, glaubte ich, denn die Wahrheit blutet, sie gerinnt nicht.

Meiner Mutter gefiel das nicht. Wahrscheinlich wäre es ihr lieber gewesen, wenn ich ihnen das Meer und die Sonne, die Plätze und Monumente gezeigt hätte. Ich kannte alle Monumente in meiner Stadt, ich kannte die Straße, die zum Meer führte, doch das waren Orte, die ohne mich atmen konnten. Das geronnene Blut aber musste in die Adern zurück, Sauerstoff aufnehmen, neue Arterien finden.

Die Sonne ist unaussprechlich für mich, das Licht ist unaussprechlich für mich, wenn es den Schatten verbirgt. Der Schatten existiert, gerade weil es das Licht gibt, und das ist es, was ich sehen und zeigen wollte.

Bei dir aber bin ich mir sicher, dass du die andere Stadt kennenlernen willst. Die unter unseren Füßen atmet. Ich bin mir sicher, dass du die Stadt aus Pappmaschee satthast, die posiert und dich anlächelt. Dich interessiert die echte Faser der Welt, ihre tiefste Peripherie, wo niemals direktes Licht einfällt, sondern nur das schräge, schiefe.

Doch auch hier muss ich dich warnen. Wer die Peripherie der Welt kennenlernen will, braucht ein Herz, das sieht. Und das Herz, das sieht, ist ein reines Herz.

Die Reinheit des Herzens ist weder die eines sterilen Isolierraumes gegen Viren und Bakterien noch die biologische Reinheit der Pseudowissenschaftler der »Rassenforschung«. Sie haben uns dieses Wort gestohlen, wir müssen es uns zurückholen. Wir müssen es einer hinterhältigen Vergangenheit aus Schädelmessungen, Katalogisierung von Oberschenkelknochen und Erhebungen von Nasenlochweiten entziehen. Reinheit ist nicht das, was die Stammbäume von Tieren bescheinigen, und sie ist auch nicht die moralische Reinheit des immer tugendhaften Menschen, der sich nie beschmutzt, nie dem Laster nachgibt, auch dann nicht, wenn dieses Nachgeben die einzige Möglichkeit ist, eine größere Tugend zu leben, wie Christus es tat, der mit den schlimmsten Sündern am Tisch sitzt und die empörten Pharisäer anschreit: »Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer!«

Reinheit hat auch nichts mit Sexualität zu tun. Die der Jungfräulichkeit, der Abstinenz, der Keuschheit, der Treue. Die des Menschen, der seinen Körper von den Wünschen und Trieben des Fleisches fernhält. Das manichäische Bild vom Körper als Gefängnis des Geistes ist mir immer wie eine Strafe erschienen. Lieber ist mir ein Körper, der bei Impulsen, die denen des Geistes zuwiderlaufen, den Geist verleugnet, zur Sicherheit aber das Herz behält.

Rein ist nicht das Herz, das immer verborgen blieb, das geschützt wurde, dem der Irrtum erspart blieb, das durch nichts verunreinigt wurde, das sich nie beschmutzt hat, das noch unbescholten ist. Rein ist dagegen das Herz, das gelebt hat, alles berührt hat, sich befleckt hat, das zusammen mit anderen mitten durch die Hölle ging. Das aber wahrhaftig blieb. »Eine wehrlose Brust kann sogar Panzern widerstehen, wenn in ihr ein reines Herz schlägt«, schrieb Alexander Solschenizyn.

Rein ist das Herz, das am Spieltisch immer nur auf sich selbst gesetzt hat.

Schrei du seine Schläge.

Schrei sie laut!

GLAUBST DU, FANATISMUS GIBT ES NUR BEI DEN ANDEREN?

Hypatia

1.

Hypatia und die Taliban

Das sind nur Worte!

Nur Worte?

Und was benutzt du, wenn du deine Liebe erklärst?

Worte.

Wenn du verletzt?

Worte.

Wenn du zu beschützen versuchst?

Worte.

Wenn du Trost suchst?

Worte.

Um zu trösten?

Worte.

Benutzt du nicht sogar Worte, wenn du Gott anrufst?

Es waren nie nur Worte, sonst verstünde man nicht, warum sie schon immer ausgelöscht, zum Schweigen gebracht, verborgen, verzerrt, zerrissen, verboten, verbrannt, verfolgt und eingesperrt wurden.

Es waren nie nur Worte, sonst verstünde man nicht, warum sie schon immer so gefürchtet wurden. Worte überleben diejenigen, die sie ausgesprochen haben, sie überleben diejenigen, die sie erstickt und erwürgt haben, um Jahrhunderte.

Worte machen Angst! Worte durchqueren die Jahrhunderte, durchlöchern Wände, sitzen in den Herzen, bewohnen die Gewissen, werden durch Absonderung nicht isoliert, durch den Strick nicht erwürgt, sind immun gegen das Feuer, werden beim Vierteilen nicht zerrissen, werden weder von Kugeln getroffen noch vom Dynamit zerfetzt.

Es geht darum, ob man diese Worte aussprechen soll oder nicht. Denn jedes Wort hat einen sehr hohen Preis, und den bezahlt man mit Verdruss, Groll, Spott, Verleumdung, Neid, Isolierung, Bedrohung, Folter, Gefangenschaft, Tod.

Was drängt uns immer noch dazu, zu sprechen? Der Gedanke, dass der Mensch mit dem Wort seine Wildheit überwand, die Höhle, die ihn an seine Primärbedürfnisse fesselte, an die Jagd, das Essen, das Feuer, das Überleben, das Götzenbild, dem er alle Macht zuerkannte. Mit dem Wort schuf der Mensch Straßen, Verbindungen, Brücken; mit dem Wort band er sich an andere, erklärte sich und ließ zu, dass andere sich ihm erklärten. Durch das Wort vereinte er sich mit anderen, um zu kämpfen, besser zu werden, neue Räume des Lebens, des Denkens, des Rechts zu erschließen. Durch das Wort trat der Mensch aus der Vorgeschichte heraus und in die Geschichte ein, die Geschichte komplexer, beständiger Gesellschaften, Kulturen der Schrift, des Buches, des Lesens. Mit dem Wort überwand der Mensch das prähistorische Graffito und wählte die Reflexion, die Analyse, das Zeugnis, das Gesetz.

Das Wort ist der Gedanke, und kein Gedanke existiert außerhalb des Wortes.

Je größer die Anzahl der Wörter wird, die wir sprechen können, desto ausgedehnter und kräftiger wird unser Denken. Ebenso viele Wörter wie Gedanken, wenige Wörter und wir kehren zurück in die Höhle, zum Aberglauben, zur Angst vor der Dunkelheit, zum unkontrollierten Schrecken, für den man weder eine Erklärung noch Trost hat.

Mit der Zeit habe ich gelernt, dass jeder auf seine Weise an die Geschichte denkt. Ich meine, je länger die Schuljahre hinter einem liegen, desto weniger denkt man sich die Geschichte als Abfolge epochaler Daten, berühmter Persönlichkeiten und blutiger Kriege. Wir alle beginnen, die Geschichte umzudeuten, und folgen dabei unserem eigenen roten Faden.

Jeder sieht die Vergangenheit unter seinem eigenen, präzisen, voreingenommenen, persönlichen Blickwinkel. Mir ist das passiert, ohne dass ich es bemerkte. Mit der Zeit verschwanden die großen Schlachten aus meiner Vorstellungswelt, die ich als Kind liebte, wo die Infanterie und die Kavallerie sich an zwei Fronten aufgereiht gegenüberstehen; dann verschwand die Geschichte der Forschungsreisen, der Handelsrouten, der wissenschaftlichen Entdeckungen, die mich in meiner Jugend an die Enzyklopädien fesselten; dann ist auch die »durch und durch ökonomische« Geschichte meiner Zwanzigerjahre verschwunden. Wer heute sehen will, wie die verschiedenen Bereiche meines Gehirns in Kontakt treten, muss mir von der Geschichte des Wortes sprechen. Heute ist die Geschichte für mich die Geschichte von Menschen, die mit Worten gekämpft, mit Worten gebaut haben, die versuchten, mit Worten Veränderung zu bewirken. Auch in entgegengesetzter Richtung: die Geschichte derer, die diese Worte bekämpft, verfolgt, zum Schweigen gebracht haben. Also Geschichte von Scheiterhaufen, Stricken, Ketten und Handschellen, Umerziehungslagern, psychiatrischen Kliniken und Rizinusöl, die Geschichte der entführten, gefolterten, verhöhnten, gedemütigten Worte, die man in Wannen voller Scheiße verfaulen ließ, damit niemand sich ihnen mehr näherte … mit Geldstrafe belegte, bedrohte, angeklagte, vor Gericht gestellte, betrogene, beleidigte, gehackte, gefakte Worte. Worte, die mit einer lächerlich übertriebenen Menge TNT gesprengt wurden, denn die Hälfte der Hälfte hätte gereicht. Je öfter ich ihnen nachgehe, sie sammele, bekannt mache, publiziere, twittere, weiterleite, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass das Phänomen sich verschlimmert, statt abzuklingen.

In der Zwischenzeit sehe ich nichts anderes als Ebenen, Haufen, Lagerhallen, Wälder, Dickichte, Berge von Worten. Worte der Freiheit, Worte der Veränderung, Worte des Trostes, Worte des Dienstes, Worte der Solidarität, Worte des Danks, Worte des Verzichts, Worte der Reue, Worte der Loslösung, Worte der Einschüchterung, Worte der Drohung, Worte der Verbannung, überall und immer nur Worte.

Willst du wissen, wie meine Geschichte der Worte anfängt? Mach einen Sprung über die Prähistorie. Ich bin kein Archäologe, die Vorgeschichte spricht nicht zu mir. Wenn ich ehrlich sein soll, sagen mir auch die stotternden Ideogramme der Sumerer und die ägyptischen Hieroglyphen nichts. Als Junge hätte ich gedacht, dass nur ein Idiot so etwas behauptet, doch heute kann ich nicht anders, wenn du mich heute bittest, dir die Geschichte zu erzählen, von Anfang an, dann beginne ich bei der Agora von Athen. Erst wenn ich das Murmeln der Menge höre, das Gedränge der Körper auf einem Platz spüre, den Schweißgeruch der diskutierenden Menschen rieche, die sich streiten, sich auseinandersetzen, Lösungen suchen, dann beginnt das Blut mit Macht zu fließen.

Weißt du, was ich von der Römerzeit sehe? Ich sehe die Volkstribune. Sie stehen auf, um den Senat herauszufordern, sie erheben ihre Stimme, weil sie ein Recht darauf haben, sie gebrauchen ihre Worte, um denen eine Stimme zu geben, die sie bis dahin noch nicht besaßen.

In der Spätantike gibt es nur eine Frau. Ich liebe diese Frau, und das nicht im übertragenen Sinne. Eine Frau, die freigebig mit ihren eigenen Worten umging. Eine Frau, die an die heilende Kraft des Wissens glaubte und mit allen Mitteln versuchte, es zu teilen und ansteckend zu machen. Eine Frau, die unter anderem zeigte, dass Frauen wie Männer sind, wenn man ihnen erlaubt, zu lernen. Das ist eine Banalität? Ich weiß, aber glaub mir: Es gibt immer noch Leute, die das bezweifeln. Ich spreche von Hypatia, die in Alexandria in Ägypten eine eigene philosophische Schule gründete, in Zeiten, in denen das für eine Frau absolut außergewöhnlich war. Doch Hypatia war so entschlossen, dass die Männer um sie herum Vorurteile überwanden und zu ihren Anhängern wurden. Hypatia war eine Philosophin im umfassendsten Sinn des Wortes, sie liebte das Wissen, und an ihrer Schule blühten die Mathematik und Astronomie. Ihre Schüler waren bereit, alles für sie zu tun, auch zu sterben, wie jeder Schüler für seinen Meister, wenn es sich um einen Meister handelt.

Weißt du, was Taliban bedeutet?

Taliban bedeutet »Student«, im weiteren Sinne aber auch »Student des Korans« mit Bezug auf jene Gruppe Koranstudenten, die zwischen 1996 und 2001 ein fundamentalistisches Regime in Afghanistan errichteten. Also bedeutet es in noch weiterem Sinn »integralistischer Student«, außerdem »Zensor und erklärter Feind des Wortes«. Aber wie kann es passieren, dass ein Student das Wort zensiert?

Die Taliban erlauben — genauer: sie wünschen — die Anwendung von Gewalt, wenn bestraft werden soll, wer die Prinzipien nicht respektiert, die die Taliban mit offensichtlichen Verzerrungen aus dem Koran ableiten. Was hat das mit Hypatia zu tun? Nun, es waren die »Taliban«, die sie umbrachten.

Richtig, damals war der Islam noch nicht einmal entstanden, religiösen Fanatismus aber gab es schon, und er lieferte ungeheuerliche Beweise seiner Existenz. Es waren fanatische Bibelstudenten, neu getaufte Christen, die den freien, mutigen Worten von Hypatia den Krieg erklärt hatten, und auch in ihrem Fall kannte die Gewalt, die sie einzusetzen bereit waren, um Hypatias Worte zum Schweigen zu bringen, keine Grenzen.

Sie entführten Hypatia. Sie brachten sie in eine Kirche, rissen ihr die Kleider vom Leib und zerstückelten sie. Dann wurde sie verbrannt. Dass sie Hypatia nackt ausgezogen haben, ist die Tat, die mich am meisten schmerzt.

Du wirst fragen: Schmerzt es dich wirklich am meisten, dass sie sie ausgezogen haben? Sie zerstückelten ihren Körper, verbrannten ihn, und dich schmerzt am meisten, dass sie vorher entkleidet wurde? Ja, du hast richtig gehört. Ich weiß, es mag paradox erscheinen, ich weiß, dass diese von allen drei Aktionen anscheinend die am wenigsten gewaltsame ist, aber lass uns nichts übereilen, ich werde dir alles sagen, wenn wir zu Giordano Bruno kommen. Ihm wurde 1185 Jahre später das Gleiche angetan.

Wo und in welcher Zeit sie auch lebten, immer habe ich die Menschen eingeteilt in die, die das Wort verteidigen und beschützen, und die, die es bloßstellen und verletzen. Egal, ob entgegengesetzte Ideen widerstreiten, egal, ob es in gewaltsamen und widersprüchlichen Kontexten geschieht, wer das Wort verteidigt, gehört für mich zum wertvollen und häufig unsichtbaren Teil des Menschengeschlechts, der die Humanität verteidigt.

SCHREI, WENN MAN DICH ZUR VEREINFACHUNG ZWINGT.

Ideenkonstrukteure

WELCHE ALIBIS BENUTZT DER, DER IN DEINER UMGEBUNG MACHT AUSÜBT?

Carl Schmitt