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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74099-467-9
Später fragte sich Jonas Leipold oft, ob er Cordelia jemals begegnet wäre, wenn ihn an diesem schönen Spätsommertag nicht plötzlich ein unwiderstehliches Verlangen nach etwas Süßem überkommen hätte. Wäre er dann einfach mit seinem Rad weitergefahren und hätte so die Begegnung verpasst, die sein Leben verändern sollte? Die Frage war natürlich müßig, denn er war ja nun einmal nicht weitergefahren …
Das Verlangen nach Süßem überkam ihn, als er an der verführerischen Auslage einer Konditorei vorüberkam, die erst kürzlich eröffnet worden war. Er bremste, und beim Anblick der appetitlichen kleinen Törtchen und Kuchen, der Pralinen und anderen Leckereien lief ihm buchstäblich das Wasser im Mund zusammen. Er war schlank und durchtrainiert, was ›überflüssige Pfunde‹ waren, ahnte er nicht einmal, und so überlegte er nicht lange, sondern stellte sein Rad ab und betrat den Laden.
Drinnen duftete es herrlich, und beim Anblick des überwältigenden Angebots ahnte er bereits, dass es ihm schwerfallen würde, sich zu entscheiden. Als er aufblickte, stellte er fest, dass er nicht länger allein war, obwohl er die junge Frau, die ihm nun gegenüberstand, nicht hatte kommen hören. Sie war sehr hübsch und schien ihm perfekt in dieses Geschäft zu passen. Um ihren Kopf tanzten braune Locken, ihre ebenfalls braunen Augen waren mit einem fragenden Lächeln auf ihn gerichtet.
»Ich will mich besinnungslos mit Zucker zuballern«, sagte er.
»Ich denke«, erwiderte sie ganz ernst, »für diesen Zweck haben Sie sich den richtigen Laden ausgesucht.«
Jetzt erst bemerkte er die winzigen Lachfältchen um ihre Augen, und ihm entging auch nicht, dass es um ihre Mundwinkel zuckte. Sie amüsierte sich also über ihn, was ihm nicht recht war. Gerne hätte er mit ihr gelacht, aber dass sie über ihn lachte, behagte ihm nicht. Andererseits: Er an ihrer Stelle hätte sich auch amüsiert, wenn ein Typ zur Tür hereingekommen wäre und den blödsinnigen Satz gesagt hätte, der ihm eben herausgerutscht war. So drückte er sich sonst niemals aus! Wieso hatte er ›zuballern‹ gesagt? Das Wort benutzte er normalerweise nie.
Wahrscheinlich hatte er lässig wirken wollen, schoss es ihm durch den Kopf – angesichts der unerwartet attraktiven jungen Frau hinter der Verkaufstheke. Sie musste ihn für ziemlich dämlich halten, er war schließlich ein erwachsener Mann und kein Teenager, dem man es durchgehen ließ, wenn er versuchte, ›cool‹ zu wirken.
»Kuchen?«, fragte sie hilfsbereit. »Pralinen? Schokolade? Marzipan? Nougat? Was mit Nüssen oder ohne? Sehr süß oder weniger süß? Na ja, blöde Frage, ›zuballern‹ ist ja eindeutig. Also sehr süß.«
»Zuballern ist ein blödes Wort«, sagte Jonas reumütig. »Ich hätte mich anders ausdrücken sollen: Ihre Auslage hat mir einen plötzlichen Heißhunger auf etwas Süßes beschert, und diesen Heißhunger würde ich jetzt gerne stillen.«
Jetzt lachte sie ganz offen, und es war um ihn geschehen. Nie zuvor hatte er ein so hinreißendes Lachen gesehen – und gehört. Sie lachte frei heraus und zeigte dabei, dass sie neben ihren anderen Vorzügen auch noch schöne Zähne hatte. Wie sie das wohl machte, bei all dem süßen Zeug um sie herum?
»Das haben Sie jetzt aber sehr schön ausgedrückt«, stellte sie fest. »Also?«
»Kein Nougat. Gerne Marzipan, gerne Nüsse. Kuchen und unbedingt ein paar von den Pralinen. Und Schokolade.«
»Zum Mitnehmen?«, fragte sie. »Oder würden Sie sich den Zuckerschock gerne hier verabreichen?«
»Geht das denn?«
Sie machte eine Handbewegung, und er drehte sich um.
Den kleinen Raum neben der Konditorei hatte er noch gar nicht wahrgenommen.
»Es sind nur fünf Tische«, sagte sie, »eine Art Mini-Café. Im Augenblick sind alle fünf Tische frei.«
»Wieso das denn?«, fragte er verwundert. »Wo das doch alles so verführerisch aussieht …«
»Ich habe eigentlich schon zu, deshalb. Als Sie hereingekommen sind, war ich gerade auf dem Weg, um die Tür abzuschließen.«
»Tut mir leid, das wusste ich nicht. Wenn Sie schon zu haben, nehme ich alles mit und esse es zu Hause, sonst müssen Sie meinetwegen Überstunden machen, dafür will ich nicht verantwortlich sein.«
Sie betrachtete ihn nachdenklich. »Wissen Sie was? Ich schließe ab, koche uns beiden einen schönen milden Cappuccino, und dann sehe ich Ihnen zu, wie Sie sich den Zuckerschock geben. Wie klingt das?«
»Dieses Angebot kann ich unmöglich ablehnen. Ich heiße übrigens Jonas. Jonas Leipold.«
»Cordelia Cramer. Wenn du willst, duzen wir uns.«
Er grinste sie an. »Und ob ich will.«
Sie schloss die Tür ab, ließ ihn aussuchen, was er essen wollte und bereitete währenddessen den Cappuccino zu. Als Jonas seine Wahl getroffen hatte, standen bereits zwei Tassen auf einem der Tische im Café. Cordelia nahm einen großen Teller und ließ sich von Jonas zeigen, was er sich ausgesucht hatte. Dann schaltete sie das große Licht aus und eine kleine, gemütliche Stehlampe im Café ein und sagte: »Lass es dir schmecken! Danke übrigens, dass du nicht gefragt hast: ›Cordelia? Nicht Cornelia?‹ Das ist sonst nämlich die Standardfrage.«
Er grinste sie an. »Ich kann sie ja nachholen. Also: Wieso Cordelia?«
»Kleiner Spleen meiner Eltern. Zunächst habe ich den Namen gehasst, weil ihn alle immer falsch verstanden haben, aber mittlerweile ist er etwas Besonderes, deshalb gefällt er mir.«
Sie sprachen fünf Stunden lang miteinander, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Er erzählte ihr Dinge aus seinem Leben, die er noch niemandem anvertraut hatte, und sie tat das Gleiche. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, aber da war kein Gefühl von Fremdheit. Sie waren sich in vielem einig, in manchem nicht, aber das fanden sie erst recht interessant. Als sie sich endlich voneinander verabschiedeten, taten sie es mit einem ersten Kuss, der das Versprechen enthielt, dass viele weitere folgen würden, und sie verabredeten sich gleich für den nächsten Tag. Jonas hätte – natürlich! – gern die Nacht mit Cordelia verbracht, aber er wusste instinktiv, dass er ihr noch Zeit lassen musste, und drängen wollte er sie auf keinen Fall. Also schwang er sich glücklich und ziemlich durcheinander auf sein Fahrrad, um nach Hause zu fahren. Ein bisschen schlecht war ihm auch, wegen des vielen Zuckers – und weil sie nach dem ersten Cappuccino noch drei weitere getrunken hatten.
Auf dem Weg kam er an dem Fahrradladen vorbei, den er einige Jahre zuvor mit seinem Freund Clemens Wiemer gegründet hatte. Sie reparierten Fahrräder, einige wenige Modelle verkauften sie auch. Der Laden war, man konnte es nicht anders sagen, eine Goldgrube. Zwei Angestellte hatten sie, und sie waren tatsächlich rund um die Uhr beschäftigt. Clemens kümmerte sich vor allem um die Finanzen, Jonas war für die Organisation zuständig.
Am Anfang hatten sie Tag und Nacht Fahrräder gewartet und repariert, zu zweit – das war eine harte, aber auch schöne Zeit gewesen. Schon nach dem ersten Jahr hatten sie Mehmet Usal eingestellt, ein weiteres halbes Jahr später war Tina Prange dazugekommen.
Zwei Fahrradverrückte, die alles wussten, was man über Fahrräder wissen konnte. Wenn sie ein Rad nicht reparieren konnten, konnte es niemand.
Seit einiger Zeit schon halfen Jonas und Clemens in der Werkstatt nur noch aus, wenn den beiden anderen alles über den Kopf wuchs. Sie hatten auch so genug zu tun, zumal sie seit einiger Zeit auch immer mehr Fahrräder verkauften.
Als Jonas Licht sah, bremste er. Das konnte eigentlich nur Clemens sein. Aber um diese Zeit? Er betrat das Büro, das gleich neben der Werkstatt und dem Laden lag. Tatsächlich, Clemens saß am Schreibtisch.
Er fuhr zusammen, als Jonas fragte: »Was machst du denn hier um diese Zeit?«
»Meine Güte, hast du mich erschreckt!«
»Tut mir leid, das wollte ich nicht. Ich kam vorbei und habe das Licht gesehen …«
Clemens schob die Papiere auf dem Schreibtisch zusammen und stand auf, nachdem er einen Blick auf die Uhr geworfen hatte.
Er war ein langer schlaksiger Blonder mit offenem Gesicht und blauen Augen.
Er sah unschuldig aus, aber Jonas wusste es besser: Clemens konnte knallhart rechnen und verhandeln, er war ein sehr guter Geschäftsmann. Zum Glück, sonst wären sie mit ihrem Laden vermutlich auch nicht so erfolgreich. »Ich habe die Zeit vergessen«, gestand er. »Ich wollte noch einmal durchrechnen, ob es sich für uns lohnt, noch ein weiteres Modell zum Verkauf anzubieten.«
»Wir haben zu wenig Platz«, gab Jonas zu bedenken.
»Ja, das ist ein Problem. Wenn wir dieses Haus kaufen könnten, wären wir unsere Sorgen los.«
»Dieses Haus kaufen? Bist du größenwahnsinnig geworden?«
»Überhaupt nicht«, erklärte Clemens ungerührt. »Immobilienkredite sind so günstig wie lange nicht mehr. Wir hätten Mieteinnahmen, würden gleichzeitig die Miete für den Laden sparen, könnten ihn erweitern – und nebenbei bequem die Tilgungsraten bedienen.«
»Ein Haus hat auch laufende Kosten, und wir müssten uns dann auch noch darum kümmern. Wir haben doch auch so schon genug Arbeit.«
»Das stimmt, aber wir müssen auch an später denken. Jetzt läuft alles wunderbar, aber der Laden soll uns ja noch möglichst lange ernähren, oder?«
»Das Haus steht doch gar nicht zum Verkauf, soviel ich weiß.«
Clemens lächelte. »Das kann sich aber bald ändern«, sagte er. Er wurde wieder ernst. »Es sind nur Überlegungen, Jonas. Wir verdienen hier im Augenblick sehr gut, und wir müssen mit dem Geld, das übrigbleibt, etwas Vernünftiges anfangen, weil es ja vielleicht nicht immer so gut läuft wie heute.«
»Ich hatte keine Ahnung, dass so viel übrigbleibt, dass wir über den Kauf eines Hauses nachdenken können.«
»Das hättest du normalerweise auch erst erfahren, wenn ich mit meinen Überlegungen etwas weiter bin. Dann hätte ich dir ein ordentlich durchdachtes Konzept vorgelegt. So hast du mich überrascht, und ich habe dir von meinen Überlegungen erzählt, obwohl sie noch unausgegoren sind.«
»Das heißt, wir sind wohlhabend?«, fragte Jonas. »Komisch, mir war schon klar, dass wir gut verdienen, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass wir uns vielleicht ein Haus leisten könnten.«
»Wohlhabend sind wir noch nicht, aber wir können es werden.«
»Wahnsinn«, sagte Jonas. »An den Gedanken muss ich mich erstmal gewöhnen.«
»Es kann auch sein, dass ich zu dem Ergebnis komme, wir lassen das mit einem möglichen Hauskauf besser. Ich will jetzt auch keine falschen Hoffnungen wecken, aber ich denke schon, dass ein bisschen Vorsorge für die Zukunft nicht schaden würde. Viele leben von der Hand in den Mund, so wie wir ganz am Anfang auch, aber so sollte es nicht bleiben.«
»Wir haben doch auch noch Schulden, oder?«
»Nicht mehr viel, leider, Schulden sind nämlich gut für uns, dadurch zahlen wir weniger Steuern.«
Jonas winkte ab. »Davon verstehe ich nichts, wie du weißt. Ich kann Fahrräder reparieren und unseren Laden organisieren, aber alles, was mit Geld zu tun hat, wird mir wahrscheinlich für immer unverständlich bleiben.«
Wieder lächelte Clemens. »Gib mir noch ein paar Wochen Zeit zum Rechnen und Überlegen, dann weiß ich mehr.«
Er verstaute die Papiere in seiner Tasche, gemeinsam verließen sie das Büro.
»Wo bist du eigentlich jetzt hergekommen?«
Jonas lächelte versonnen. »Ach«, sagte er, »ich habe eine Frau kennengelernt …«
*
»Fünf Stunden?«, fragte Cordelias Freundin Svenja Marx ungläubig. »Worüber kann man sich denn fünf Stunden lang mit jemandem unterhalten, den man überhaupt nicht kennt?«
»Das hat sich ja dann geändert«, erklärte Cordelia. »Je länger wir miteinander geredet haben, desto besser haben wir uns kennengelernt, das ist doch logisch.«
Svenja schüttelte den Kopf, so dass ihre zurzeit pechschwarzen Haare flogen. Sie wechselte die Farbe häufig, je nach Stimmung. Vor drei Wochen war sie noch blond gewesen. Wer sie nach ihrer natürlichen Haarfarbe fragte, erntete ein Achselzucken und die Antwort: »Keine Ahnung, sie war jedenfalls uninteressant.«
Cordelias Erklärung hatte sie noch nicht überzeugt. »Man lernt sich doch nicht allein durchs Reden kennen, Delia! Und überhaupt: fünf Stunden! Ist das nicht irgendwann langweilig geworden?«
»Überhaupt nicht, nicht eine Sekunde.«
»Und weiter ist nichts passiert? Ihr habt nur geredet?«
»Zum Abschied haben wir uns geküsst.«
»Mehr nicht?«
»Mehr nicht.«
»Du bist schon eine komische Nummer, aber er ist ja offenbar auch eine. Hat er nicht versucht, dich ins Bett zu kriegen?«
»Nein, hat er nicht.«
»Dann ist er schwul.«
»Ist er nicht.«
»Und woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es eben.« Der Abschiedskuss, fand Cordelia, war ein ziemlich eindeutiger Hinweis gewesen, aber das wollte sie ihrer Freundin jetzt nicht auch noch erzählen. Das war ein intimes kleines Detail, das sie unbedingt für sich behalten wollte. Es war ein sehr zärtlicher und sehr langer Kuss gewesen, der ihr noch jetzt, wenn sie daran dachte, einen wohligen Schauer über den Rücken jagte. »Wir sind heute Abend wieder verabredet, er holt mich hier ab.«
»Und wann lerne ich ihn kennen?«
»Kannst du dich noch ein paar Tage gedulden?«
Svenja grinste. »Wenn’s sein muss!« Sie bezahlte ihren Milchkaffee und das Hörnchen – darauf bestand sie – und wandte sich zum Gehen. Svenja arbeitete im Friseursalon nebenan, sie kam jeden Morgen vor der Arbeit, um bei Cordelia zu frühstücken, wie sie es nannte. »Bis später, meine Süße. Überleg dir schon mal, ob es nicht doch noch ein paar interessante Einzelheiten gibt, die du mir bis jetzt verschwiegen hast.«
Cordelia sah ihr lächelnd nach. Svenja und sie hatten, seit sie sich kannten, schon vieles miteinander geteilt, schöne und weniger schöne Erfahrungen. Sie hoffte, dass das noch lange so blieb.
Das Türglöckchen bimmelte, eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern kam herein, die aufgeregt durcheinandersprachen und auf dieses und jenes zeigten, was ihre Mama ihnen unbedingt kaufen sollte.
Cordelia richtete sich auf einen längeren Entscheidungsprozess ein, es ging dann aber überraschend schnell.
Ihre Kundin entschied sich für einen Schokoladenkuchen, und sie erklärte ihren Kindern, sie dürften jetzt ein kleines Stück davon probieren, aber ein etwas größeres Stück bekämen sie erst nachmittags, nach dem Kindergarten.
Es gab noch ein wenig Protest, der aber sofort erstarb, als die Kinder ihre kleinen Kostproben in der Hand hielten und ganz glücklich damit den Laden verließen.
Von da an hatte Cordelia durchgehend gut zu tun, so dass sie froh war, als gegen elf Miriam Feldmann erschien, ihre Angestellte. Zuerst war es ihr seltsam erschienen, eine Angestellte zu haben, die mehr als doppelt so alt war wie sie, aber dieses Gefühl war längst verflogen. Miriam und sie, das hatte von Anfang an gepasst.
Miriam sah rund und rosig aus, hübsch und gepflegt mit ihren blonden Haaren und den immer geröteten Wangen. Und sie war ausgebildete Konditorin, hatte allerdings den Beruf bald aufgegeben, um ihre drei Kinder großzuziehen. »Außerdem hat mein Mann genug verdient, weißt du, und es war natürlich gut, dass ich genug Zeit für die Kinder hatte. Und ich habe ja immer gern gekocht und gebacken, mir hat das Spaß gemacht, für die Familie zu sorgen.
Aber mit diesem Modell waren wir irgendwann ziemlich allein, alle anderen Frauen in meinem Bekanntenkreis haben gearbeitet oder sind nach der Geburt ihrer Kinder so schnell wie möglich wieder in den Beruf zurückgekehrt. Na ja, als unsere Kinder mehr oder weniger flügge waren, ist mir dann auch die Decke auf den Kopf gefallen.«
»Zum Glück, sonst wärst du nicht zu mir gekommen!«
Miriam hatte schon einiges zum Sortiment des Ladens beigetragen. Es kam vor, dass sie sagte: »Mir ist da heute Nacht eine neue Pralinenfüllung eingefallen …« – und die wurde dann ausprobiert. Sie stellten nicht alles selbst her, was sie verkauften, aber doch das meiste.
Als die Türglocke erneut bimmelte, war Cordelia auf dem Weg in die Backstube, aber sie wandte noch einmal den Kopf, um zu sehen, wer kam.
»Hallo«, sagte Jonas, und dann, an Miriam gewandt: »Guten Morgen.«
»Guten Morgen«, erwiderte Miriam, die die Situation sofort erfasste, ein Blick in Cordelias Gesicht hatte ausgereicht. »Ich sehe mal schnell nach, was unsere Butterplätzchen machen, Delia.«
Mit diesen Worten drückte sie sich an Cordelia vorbei und verschwand in der Backstube.
Es gab keine Butterplätzchen, nach denen sie sehen konnte, denn die hatten sie bereits am Tag zuvor gebacken. Das wusste Cordelia, aber der gutaussehende junge Mann im Laden wusste es natürlich nicht.
»Ich … ich dachte, ich sage dir noch schnell ›guten Morgen‹, wo ich ja sowieso beinahe hier vorbeikomme auf dem Weg zu unserem Laden.«
Cordelias Herzschlag beruhigte sich langsam wieder.
»Guten Morgen«, erwiderte sie. »Das ist schön … ich meine, dass du vorbeigekommen bist.«
»Es war schön gestern Abend mit dir«, sagte er leise. »Und ich bin froh, dass wir für heute wieder verabredet sind.«
Sie sah zwei Kundinnen über die Straße eilen, gleich würden sie hereinkommen.
»Ich bin auch froh«, sagte sie hastig. »Sehr froh, Jonas.«
Er wollte noch etwas erwidern, aber da klingelte die Türglocke bereits, und so beschränkte er sich darauf, Cordelia einen letzten verliebten Blick zuzuwerfen, bevor er sich verabschiedete.
Miriam kehrte aus der Backstube zurück, sie bediente die eine Kundin, Cordelia die andere. Als sie wieder allein waren, sagte Miriam: »Süß.«
»Wen meinst du?«, fragte Cordelia.
Miriam lachte. »Unsere beiden Kundinnen jedenfalls nicht! Du weißt genau, wen ich meine. Seit wann läuft das denn schon mit euch? Und wieso weiß ich davon nichts?«
Cordelia war froh, dass der Laden lange genug leer blieb, um Miriam wenigstens das Wichtigste zu erzählen.
*
»Was ist mit dir los?«, erkundigte sich Tina Prange gegen Ende des Vormittags bei Jonas. »Hast du im Lotto gewonnen?«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Du summst und pfeifst schon den ganzen Morgen vor dich hin, hast du das gar nicht gemerkt?«
Er hielt inne. An diesem Morgen stand er selbst in der Werkstatt, weil er gesehen hatte, dass Tina und Mehmet die Arbeit allein kaum bewältigen konnten.
Clemens war unterwegs, er hatte einen Banktermin, aber er hatte versprochen, nach seiner Rückkehr ebenfalls ein paar Stunden in der Werkstatt mitzuarbeiten, so dass sie die anfallenden Arbeiten bis zum Abend hoffentlich erledigt haben würden.
Es gab solche Wochen, in denen alle auf einmal auf die Idee zu kommen schienen, ihre Räder entweder warten oder längst fällige Reparaturen an ihnen vornehmen zu lassen. Dies war offenbar eine davon, sie wussten kaum mehr, wo sie all die Räder lassen sollten. Je eher die Kunden sie wieder abholen konnten, desto besser.
»Ich summe und pfeife nicht!«, erklärte Jonas.
»Doch, tust du! Mehmet ist mein Zeuge. Mehmet?«
»Er ist verliebt«, sagte Mehmet. »Das habe ich heute Morgen sofort gesehen. Dieser verräterische Glanz in seinen Augen …«
Jonas wandte sich ab. Er neigte zum Erröten, und er hatte keine Lust, den beiden noch mehr Grund zu geben, ihn aufzuziehen. Aber er hatte zu spät reagiert.
»Du bist rot geworden!«, rief Tina triumphierend. »Ich hab‘s genau gesehen. Es stimmt also?«
»Es stimmt, dass ich eine Frau kennengelernt habe, aber so schnell verliebt man sich nicht …«
»Innerhalb von Sekunden«, sagte Tina. »Wusstest du das nicht? Das geht blitzschnell. Mensch, darauf hätte ich auch selbst kommen können. Gratuliere zu deiner Beobachtungsgabe, Mehmet.«
»Das hat was mit Lebenserfahrung zu tun«, erklärte Mehmet. »Ich bin drei Jahre älter als du, da weiß man einfach, wie ein Verliebter aussieht.«
Tina verdrehte die Augen. Sie war zwanzig, sah aber jünger aus, weshalb schon einmal ein Kunde gefragt hatte, ob sie nicht wüssten, dass Kinderarbeit verboten sei. Sie hatten ihn nur überzeugen können, indem Tina ihm ihren Ausweis gezeigt hatte. Sie trug ihre hellblonden Haare sehr kurz, und sie war grundsätzlich schwarz gekleidet, gerne auch in Leder. Sie hatte gepiercte Ohren und ein Tattoo auf der rechten Schulter – allerdings ein kleines. »Meine Oma hat gesagt, ich soll an später denken, wenn ich mal alt und faltig bin, wie das dann aussieht. Aber ganz ehrlich? Das ist mir ziemlich egal, ich lebe ja jetzt«, hatte sie erklärt, dann aber doch davon abgesehen, sich den Rosenstock auf den Rücken tätowieren zu lassen, den sie eigentlich gern dort gehabt hätte. Sie liebte Rosen.
Mehmet fand Tattoos furchtbar. Er war stolz auf seinen durchtrainierten, schlanken Körper, und anders als Tina trug er seine pechschwarzen Haare sehr lang. So lang, dass er sie oben auf dem Kopf zu einem Knoten zusammendrehte, meistens jedenfalls, denn sonst störten sie ihn bei der Arbeit. Er trug grundsätzlich Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Nicht wenige Kundinnen kamen vor allem seinetwegen. Er ging mit jeder von ihnen freundlich und zuvorkommend um, blieb aber immer auf Distanz. Er hatte eine sehr hübsche Freundin, die er bald heiraten wollte, aber das ging, fand er, die Kundschaft im Laden nichts an.
»Kümmert euch um eure Arbeit, statt mich zu beobachten«, sagte Jonas.
»Wir sind voll auf unsere Arbeit konzentriert«, sagte Tina, »obwohl das schwer ist bei deinem ständigen Summen und Pfeifen.« Sie sah ganz unschuldig aus bei ihren Worten, aber der Schalk blitzte ihr aus den Augen. Jonas tat das einzig Richtige: Er lachte, und dann erzählte er den beiden von Cordelia.
»Fünf Stunden?«, fragte Tina ungläubig. »Und ihr habt nur geredet?«
»Und ein bisschen genascht und Cappuccino getrunken, weshalb ich, ehrlich gesagt, die halbe Nacht wachgelegen habe.«
»Du hast wegen der Frau wachgelegen«, erklärte Mehmet. »Du hast an sie gedacht und sofort Herzklopfen bekommen, da kann man natürlich nicht schlafen.«
»Mehmet hat nämlich viel Lebenserfahrung«, sagte Tina, »deshalb weiß er das alles so genau.«
Sie alberten noch eine Weile herum, dann tauchte der erste Kunde auf – er war mit seinem Rad verunglückt und hoffte sehr, dass sie es retten konnten, obwohl es reichlich verbogen aussah. Zum Glück kamen wenig später drei andere, die ihre Räder abholen wollten, so dass zumindest ein bisschen Platz geschaffen wurde. Und so ging es weiter. Zeit für private Gespräche gab es erst einmal nicht mehr.
Irgendwann tauchte Clemens auf und sah sehr zufrieden auf. »Wie lief’s auf der Bank?«, fragte Jonas.
»Sehr gut, die sind ziemlich beeindruckt von uns und unseren Zahlen«, sagte Clemens.
»Und?«, fragte Tina. »Hilfst du uns jetzt?«
»Wie versprochen«, sagte Clemens. Er zog sich um – für die Bank hatte er sich ›ordentlich angezogen‹, wie sie das nannten, aber nun erschien er, wie Mehmet und Jonas, in alten Jeans und einem fleckigen T-Shirt und machte sich an die Arbeit. Dabei pfiff und summte er vor sich hin, so dass die anderen drei schließlich in Gelächter ausbrachen.
»Ist er auch verliebt?«, erkundigte sich Tina bei Mehmet, während Clemens fragend von einem zum anderen blickte, weil er nicht wusste, worüber sie gelacht hatten.
»Nein«, antwortete Mehmet, »er freut sich nur über seinen Erfolg in der Bank.«
Und dann erklärten sie Clemens, warum sie vorher gelacht hatten.
*
»Das geht ja rasend schnell«, stellte Leon Laurin fest, als er durch die Räume ging, in denen gerade die zukünftige Küche der Kayser-Klinik im Münchener Südwesten entstand.
»Das muss es ja auch«, erwiderte Britta Stadler. Sie war nicht nur die Architektin, die die Küchenräume geplant hatte und nun die Bauleitung durchführte, sie war auch mit Laurins befreundet, besonders eng mit Leons Frau Antonia. Über diesen Punkt hatten sie lange diskutiert, bevor sie sich entschieden hatten, Britta das Projekt anzuvertrauen, denn wenn es Ärger gab, würde dieser Ärger wegen der privaten Bindungen auch in die Familie hineinreichen. Doch allen Bedenken zum Trotz war die Entscheidung zu Brittas Gunsten ausgefallen.
»Herr Burgmüller ist sehr, sehr ungeduldig«, fuhr Britta fort, »er würde lieber heute als morgen anfangen.«
»Und wir würden lieber heute als morgen auf das Essen verzichten, das wir geliefert bekommen«, seufzte Leon. »Die Klagen darüber häufen sich. Die Vermutung, dass sich unser Lieferant weniger Mühe gibt, seit wir den Vertrag gekündigt haben, hat sich leider bestätigt.«
»Wir tun, was wir können«, versicherte Britta, als sie einen weiteren Raum betraten. »Und hier ist das Herzstück des gesamten Komplexes, hier wird gekocht.«
Leon sah sich staunend um. »Man erkennt die Räume gar nicht wieder«, sagte er. »Wenn ich bedenke, wie es hier vorher aussah …«
Er war sehr beeindruckt, auch von Brittas Erklärungen. Sie hatte sich über vieles Gedanken gemacht, was ihm vorher nicht einmal in den Sinn gekommen war: Wie gelangte das Essen auf schnellstem Wege zu denen, die es dann verzehren sollten – es sollte ja unterwegs nicht kalt werden. Wie viele Wagen brauchten sie, um das Essen zu transportieren? Wo würden diese Wagen stehen, wie mussten sie ausgestattet sein? In welchen Zeitabständen mussten sie eine wie große Anzahl von Essen liefern? Wer musste zuerst beliefert werden? Welche Aufzüge standen zur Verfügung – und vieles andere mehr.
Bei der Planung der Küchenausstattung selbst hatte sie nicht nur diese Anforderungen im Kopf haben, sondern auch die Wünsche des ehemaligen Starkochs David Burgmüller berücksichtigen müssen, den Leon zu seinem eigenen Erstaunen für sein Projekt hatte gewinnen können. Simon Daume, der den Laurins den Haushalt führte, hatte David Burgmüller empfohlen. »Er hat natürlich noch nie eine Großküche geführt«, hatte Simon erklärt, »aber er hat selbst gesagt, dass er neue Herausforderungen sucht, und das könnte so eine sein. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, Herr Laurin, dass er Ihnen eine Zusage gibt.«
Simon hatte Recht behalten, und mittlerweile verfolgten auch die Angestellten das ›Projekt Klinikküche‹ voller Spannung, denn hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich Wunderdinge über David Burgmüllers Kochkunst.
Nachdem sie ihren Rundgang beendet hatten, erklärte Britta, sie habe noch einen Termin mit dem Chefkoch. Leon bedankte sich bei ihr und kehrte in sein Büro zurück.
Er hatte schon etliche Neuerungen eingeführt, seit er die Leitung der Kayser-Klinik von seinem Schwiegervater, Professor Joachim Kayser, übernommen hatte. Sein Führungsstil zum Beispiel war anders als der seines Schwiegervaters, er baute mehr auf Teamarbeit und hielt wenig von den früher gern zitierten ›Halbgöttern in Weiß‹. Für ihn mussten Ärztinnen und Ärzte Vertrauenspersonen für die ihnen anvertrauten Menschen sein, sie mussten fähig sein, ihnen Ängste zu nehmen. Es reichte nicht, dass sie in ihrem Fachgebiet hervorragend bewandert waren, sie mussten auch vermitteln können, warum sie diese oder jene Behandlungsmethode vorschlugen. Schon immer hatte er es für unsinnig gehalten, dass Abiturnoten ausschlaggebend dafür waren, ob jemand zum Medizinstudium zugelassen wurde oder nicht. Was nützte das beste Fachwissen, wenn der Mensch, der darüber verfügte, es nicht verstand, dieses Wissen auch zu vermitteln? Oder wenn er kein Mitgefühl mit den Patientinnen oder Patienten hatte, sondern sie eher als eine Art Versuchskaninchen betrachtete?
Außerdem hatte er einen zusätzlichen Flügel anbauen lassen, den die Klinik dringend gebraucht hatte. In diesem Flügel befanden sich zwei Stationen und unter anderem auch die Kinderarztpraxis seiner Frau Antonia, die vor einiger Zeit erklärt hatte, sie wolle wieder arbeiten. Zuerst war er von dieser Idee keineswegs begeistert gewesen, doch längst hatte sich das neue Familienleben eingespielt – unter anderem dank Simon Daume, ihrem jungen ›Haushaltsmanager‹.
Sechzehn Jahre lang war Antonia ihrer vier Kinder wegen zu Hause geblieben, und erst als sie den Wunsch, wieder berufstätig zu sein, geäußert hatte, war ihm klar geworden, was das für sie bedeutet haben musste: Sie hatte aus Überzeugung und Leidenschaft Medizin studiert, genau wie er, hatte aber dann der Kinder wegen darauf verzichtet, dieser Leidenschaft weiter nachzugehen.
Hätte man ihn vor die Wahl gestellt …
Er musste sich eingestehen, dass er sich nicht hätte vorstellen können, für die Kinder anderthalb Jahrzehnte auf seinen Beruf zu verzichten. Gerecht war das nicht. Und dass Antonias Vater nicht einmal darüber nachgedacht hatte, die Klinikleitung seiner Tochter zu übergeben, sprach auch Bände. Nicht, dass sie das gewollt hätte, aber vielleicht, so sah er es heute, wäre sie zumindest gern gefragt worden.
Bei ihnen war das anders. Wenn es bei der jetzigen Planung blieb, würde ihre älteste Tochter Kaja eines Tages die Kayser-Klinik leiten. Aber bis dahin verging noch viel Zeit. Die Zwillinge Kaja und Konstantin waren sechzehn.
Er sah die Post durch, die Moni Hillenberg ihm hingelegt hatte. Heute war er ausschließlich Klinikchef, morgen würde er seine gynäkologische Sprechstunde abhalten, übermorgen standen zwei Operationen auf seinem Terminplan. Wenn man ihn fragte, wie er diese Dreifachbelastung – durch die Klinikleitung und seine beiden medizinischen Fachgebiete – bewältigte, stellte er immer wieder fest, dass er seine drei Arbeitsfelder nicht als Belastung, sondern eher als Bereicherung empfand.
Er war noch immer lernfreudig, es gefiel ihm, so unterschiedlichen Anforderungen gerecht werden zu müssen.
Das würde sich mit dem Alter vielleicht ändern, aber noch war es ihm angenehm, dass er nicht jeden Tag ähnliche Aufgaben hatte, sondern dass sie sich im Gegenteil sogar stark voneinander unterschieden.
Er war noch dabei, die Angebote für die neuen Computertomographen durchzusehen und miteinander zu vergleichen, als es kurz klopfte und Robert Semmler erschien, der lange dürre Pfleger, den alle nur ›Semmel‹ nannten.
»Chef, wir brauchen Hilfe«, sagte er. »Unfall mit drei Motorrädern, praktisch bei uns vor der Haustür, alle drei schwer verletzt, alle drei bei uns.«
Leon war schon beim ersten Satz aufgesprungen und folgte Semmel. Solche Planänderungen kamen vor, sie bedeuteten eine zusätzliche Herausforderung für ihn, der er sich gern stellte.
Sie trafen gleichzeitig mit Leons Freund und Kollegen Eckart Sternberg in der Notaufnahme ein. Timo Felsenstein, der die Station leitete, rief: »Gott sei Dank!«, als er sie sah. »Das werden drei Notoperationen, wenn ihr mich fragt.«
Die Türen der Notaufnahmen wurden geöffnet, drei Teams kamen mit drei fahrbaren Liegen herein, auf denen die Verletzten lagen – es waren, wie sich herausstellte, drei Männer in mittleren Jahren.
Jeder von ihnen übernahm einen Verletzten, und wenig später stellte sich heraus, dass Timo mit seiner Vorhersage Recht gehabt hatte: Es lief auf drei Notoperationen hinaus.
*
Zwei Wochen später saßen Cordelia und Jonas auf Cordelias Balkon und nahmen ein romantisches Abendessen ein. Es war noch immer warm, Cordelia hatte den Tisch schön gedeckt und ein paar Kerzen auf die Balkonbrüstung gestellt, und die Topfpflanzen und Kräuter, die sie auf dem Balkon zog, dufteten unter einem klaren Nachthimmel.
»Du kannst also nicht nur gut backen, sondern du bist auch eine erstklassige Köchin«, stellte Jonas fest, nachdem er sich die erste gebratene Garnele in den Mund gesteckt hatte.
»Erstklassig nicht«, sagte sie, »aber ich kann ein paar Gerichte ziemlich gut, weil ich sie oft mache.«
»Du isst oft Garnelen, wo die doch so teuer sind?«
»Nein, die esse ich sogar sehr selten, aber mit denen kannst du ja nicht viel falsch machen. Sie zu braten ist keine große Kunst, man darf sie nur nicht zu lange in der Pfanne lassen. Den Rest erledigen etwas Meersalz und Knoblauch.«
»Schmeckt jedenfalls köstlich«, murmelte er. Er fing ihren Blick auf. »Es ist toll hier, Delia, auf dem Balkon, mit dir, und dann noch so ein Essen …«
»Deine Wohnung ist auch sehr schön, finde ich.«
»Aber nicht so … gemütlich. Bei mir ist alles viel nüchterner.«
Sie war erst einmal bei ihm gewesen, nur kurz, sie hatte ihn abgeholt und bei der Gelegenheit hatte er ihr die Wohnung gezeigt, auf die sie natürlich neugierig gewesen war. Es stimmte, dass sie ziemlich nüchtern eingerichtet war, aber ihr hatte sie gefallen. Männer und Frauen waren nun einmal unterschiedlich, warum sollten sie ihre Wohnungen dann ähnlich einrichten?
Nach den Garnelen servierte sie ihm Hähnchenbrust mit Blumenkohlsauce, und zum Schluss gab es – was sonst? – zwei köstlich aussehende Törtchen mit einem Klecks Sahne darauf.
»Die Törtchen sind neu«, erklärte Cordelia. »Miriam und ich haben das Rezept gemeinsam entwickelt. Ich finde, es könnte etwas weniger süß sein und vielleicht einen Hauch Zimt vertragen, Miriam findet, der Boden sollte dünner sein.«
Jonas biss in sein Törtchen, ließ sich Zeit und sagte schließlich: »Ihr habt beide Recht. Dünnerer Boden, weniger Zucker, ein Hauch Zimt.«
»Echt?«, rief sie. »Ich hätte dir nicht verraten sollen, was wir beide dazu denken. So habe ich deinen Blick schon in eine bestimmte Richtung gelenkt.«
»Das stimmt, aber dass der Boden zu dick ist, hätte ich auch so gemerkt – und das mit dem Zucker auch. Aber das ist natürlich Geschmacksache, es gibt ja Leute, die es sehr süß lieben. Die Sache mit dem Zimt – darauf wäre ich wahrscheinlich allein nicht gekommen.«
»Wenn du so ein guter Testesser bist, werden wir dich in Zukunft öfter zu Rate ziehen«, beschloss Cordelia.
Nach dem Essen blieben sie noch sitzen, sahen einander an, genossen die Stille, die sich allmählich über die Stadt senkte. In der Ferne hörte man zwar noch den Verkehr, aber mit etwas gutem Willen konnte man, was man hörte, auch für Meeresrauschen halten. Vorher hatten sie sich viel zu erzählen gehabt, doch jetzt dehnten sich die Gesprächspausen aus, und immer länger versanken ihre Blicke ineinander, bis Jonas schließlich aufstand, zu Cordelia ging, ihre Hände ergriff und sie in seine Arme zog. Er küsste sie auf diese langsame Art, die sie so erregend fand und die auch jetzt ihre Wirkung nicht verfehlte. Dieses war der Abend, an dem ›es‹ passieren würde, das hatten sie beide vorher gewusst.
Sie löste sich aus seinen Armen, nahm seine Hand und zog ihn in ihr Schlafzimmer, wo sie das Bett frisch bezogen hatte, was ihm gewiss nicht einmal auffiel.
Jetzt hatten sie es beide eilig. Seit zwei Wochen waren sie jeden Tag zusammen gewesen, hatten geredet und geredet, sich in die Augen gesehen, sich geküsst und auch angefangen, sich zu streicheln, aber weiter waren sie nicht gegangen. Cordelia hatte es Jonas hoch angerechnet, dass er sie nicht bedrängt hatte – eine Tatsache, die ihre Freundin Svenja nicht hatte glauben wollen.
»Er hat noch nicht einmal versucht, dir an die Wäsche zu gehen?«
»Nein, hat er nicht, und ich bin froh darüber. Du weißt, ich lasse mich nicht gern drängen.«
»Mag ja sein, aber er hätte es wenigstens mal versuchen sollen! Und du hast ihn mir immer noch nicht vorgestellt.«
»Sei nicht so ungeduldig, du wirst die Erste sein, der ich ihn vorstelle, versprochen, Svenja!«
Sie halfen sich gegenseitig aus ihrer Kleidung, dann ließen sie sich auf Cordelias Bett fallen. Jonas' Küsse wurden stürmischer und drängender, und nun war es so, dass auch sie es nicht länger erwarten konnte. Sie hatten sich ihr ›erstes Mal‹ so langsam und zärtlich vorgestellt, wie es ihre Küsse bislang gewesen waren, doch jetzt merkte sie, dass sie etwas ganz anderes wollte. Sie drängte sich ungestüm an ihn, zeigte ihm auf diese Weise, dass er nicht länger zurückhaltend sein musste, und er begriff es schnell.
Es wurde ein wilder Liebesakt, der sie beide schnell zum Höhepunkt trug – zu einem Höhepunkt, der für Delia gar nicht wieder enden wollte.
Als sie endlich erschöpft und keuchend in Jonas‘ Armen lag, konnte sie es kaum glauben. War das sie gewesen, die gerade eben noch ihre Lust herausgeschrien hatte? So kannte sie sich nicht, sie war sich beinahe selbst ein wenig unheimlich.
»Wer hätte das gedacht«, murmelte Jonas ihr ins Ohr.
»Was denn?«, fragte sie träge.
»Dass du so wild sein kannst.«
»Ich bin selbst erstaunt«, flüsterte sie.
Schon nach wenigen Minuten fing er wieder an, sie zu streicheln. Wie merkwürdig, dachte sie, wir haben uns doch eben erst geliebt, und jetzt habe ich schon wieder Lust.
Ohne Zweifel hatte auch Jonas schon wieder Lust, und bei diesem zweiten Mal ließen sie es sehr viel langsamer angehen, aber es war deswegen nicht weniger erregend. Vielleicht sogar noch mehr, denn Jonas verstand es, den Höhepunkt immer weiter hinauszuzögern, bis sie ihn anflehte, sie endlich zu erlösen.
Das tat er dann, und sie erlebten ihren zweiten gemeinsamen Rausch.
*
Britta war angespannt, als sie mit David Burgmüller durch ›seine‹ zukünftigen Küchenräume ging. Dennoch schaffte sie es, nach außen hin gelassen zu erscheinen. Sie kannte ihn doch mittlerweile ein bisschen! Sie wusste also, dass er erst einmal brummte und ein verdrießliches Gesicht zeigte, auch wenn er insgeheim zufrieden war. Das war seine Art und Weise, die Leute, die für ihn arbeiteten, unter Druck zu setzen, nahm sie an. Oder ihm war nicht bewusst, dass er durch seine abweisende Miene Druck ausübte – auch das hielt sie für möglich. Er war ein Mensch, der sich nicht gern in die Karten schauen ließ.
Er hatte es bereits in jungen Jahren zum Sternekoch gebracht – und mit Mitte dreißig hatte er vom ›Sternezirkus‹, wie er es nannte, bereits genug gehabt und sich davon abgewandt. Sie nahm an, dass er selbst noch nicht genau wusste, wohin seine weitere berufliche Reise gehen sollte. Vermutlich war ihm Leons Anruf, ob er Interesse daran habe, eine Klinikküche aufzubauen, gerade recht gekommen, weil er zu dem Zeitpunkt noch keine bessere Idee gehabt hatte. Aber würde er dabeibleiben? Eigentlich konnte sie sich das nicht vorstellen. Mit einer Klinikküche wurde man nicht berühmt, und letzten Endes ging es in der Spitzenküche ja wohl darum. Und an Spitzenküche war er zweifellos weiterhin interessiert, das hatte sie vielen seiner Äußerungen entnehmen können. Aber Spitzenküche in der Klinik? Sie konnte es sich nicht vorstellen.
Er blieb überraschend stehen und sah sie an.
»Das heißt, bis auf diese wenigen Arbeiten, über die wir vorhin schon gesprochen haben, sind wir fertig?«, fragte er.
»Ich denke doch, es sei denn, Sie haben Änderungswünsche«, sagte sie.
Er kniff leicht die Augen zusammen. »Es ist alles so, wie wir es besprochen haben«, sagte er. »Was könnte ich da noch für Änderungswünsche haben?«
»Na ja, Sie wären nicht der Erste«, erwiderte sie. »Manchmal sieht man etwas, wenn es fertig ist, mit neuen Augen und stellt fest, dass es anders vielleicht doch besser gewesen wäre. Sie glauben gar nicht, wie oft das vorkommt. Ich würde sogar sagen: Es ist der Normalfall.«
»Und was machen Sie dann?«
»Ich berechne Kosten und Umfang der gewünschten Änderungen. Und manchmal, wenn ich etwas völlig abwegig finde, sage ich meine Meinung.«
»Dann sagen Sie mir bitte, was Sie selbst von diesem Ergebnis halten.« Er machte eine weit ausholende Armbewegung.
»Es gibt etwas, das mir nicht gefällt«, sagte sie. »Und ich ärgere mich darüber, dass ich es nicht früher gesehen habe.«
Er zog die Augenbrauen in die Höhe. »Da bin ich aber gespannt«, sagte er.
»Kommen Sie mit, dann zeige ich es Ihnen.« Sie ging in eine Art Verbindungsflur zwischen Hauptküche und Vorratsraum. »Hier!«, sagte sie. »An dieser Stelle hätte ich unbedingt ein Fenster vorschlagen müssen. Sehen Sie das? Es war einmal eins vorgesehen, aber offenbar wurde es nicht gebraucht. Ein Fenster ist für Küchenpersonal, wie ich mir habe sagen lassen, der Ort für die Zigarette zwischendurch, für ein kurzes Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen, für einmal Luftschnappen nach all der Hitze und den Küchendünsten …«
»Können wir das noch machen?«, fragte er.
»Ja, ich habe schon Erkundigungen eingezogen. Noch mal Dreck und ein paar Tage Verzögerung, dazu natürlich zusätzliche Kosten, aber es ist machbar.«
Er sah sie nachdenklich an. »Wenn ich nicht gefragt hätte – hätten Sie es von sich angesprochen?«
»Ja«, sagte sie, »auf jeden Fall. Der Ärger über mein Versäumnis war einfach zu groß.«
»Sie sind eine erstaunliche Frau«, stellte er fest. »Ich kenne sonst niemanden, der einen Fehler eingesteht, den andere noch nicht einmal bemerkt haben. Zumal es nicht einmal ein Fehler ist. Nur einfach ein … Versäumnis. Oder eine nicht genutzte Chance. Ein Fenster an dieser Stelle wäre das Größte!«
Sie lächelte. »Schön, dass Sie das auch so sehen, dann kümmere ich mich sofort darum. Und Sie? Was gefällt Ihnen nicht?«, fragte sie.