Aus dem Amerikanischen von Elena Helfrecht
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Clown in a Cornfield
erschien 2020 im Verlag HarperTeen.
Published by Arrangement with
HarperCollins Children’s Books,
c/o WRITERS HOUSE LLC, 21 West 26 Street,
NEW YORK, NY 10010 USA
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Copyright © dieser Ausgabe 2022 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Lektorat: Joern Rauser
Titelbild: Arndt Drechsler-Zakrzewski
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-001-4
www.Festa-Verlag.de
Für Jen
Prolog
»Seht ihr mich?«, rief Cole ihnen zu. Er stand barfuß am südlichen Ufer des Stausees, dem Wasser zugewandt, und wirkte nachdenklich. Aber davon ließ sich Janet nicht täuschen. Der konzentrierte Gesichtsausdruck rührte von seinem Versuch her, den Bauch einzuziehen, sodass das Sixpack zur Geltung kam.
»Ich hab dich drauf«, rief Victoria zurück, die den Bildausschnitt um ihren Bruder herum anpasste. Sie benutzte sein Smartphone, was ihr sichtlich Schwierigkeiten bereitete. »Wie zoomt man mit dem Ding ran?«, fragte sie und schlurfte dabei näher auf den Vorsprung zu. Statt auf ihre Füße war sie nur auf Cole konzentriert. Janet konnte Victorias angestrengte Zungenspitze in deren Mundwinkel ausmachen, während sie ihr Bestes gab, das Foto ganz nach den Wünschen ihres Bruders anzufertigen.
»Wenn du live gehst, musst du’s hochkant halten.«
Janet hatte das als freundlichen Hinweis gemeint, aber ausgesprochen klang der Satz wie ein Seitenhieb. Sie wollte keine Zicke sein, konnte aber ebenso wenig dagegen tun. Ihr Tonfall war der Grund, warum sie von den meisten Leuten für ein solches Miststück gehalten wurde. Und dazu kam noch die Tatsache, dass sie irgendwie auch eines war.
Egal – es machte jedenfalls Spaß, die Schäfchen zittern zu sehen.
»Ich, äh«, stammelte Victoria und kippte das Smartphone senkrecht, dann blickte sie unsicher zu Janet und wartete auf deren Bestätigung, dass sie es nun richtig hielt.
»Na … dann, wie du willst«, rief Cole und atmete aus. Die entweichende Luft verwandelte sein Sixpack zurück in ein Fourpack. Cole war heiß, ohne sich anstrengen zu müssen. Wirklich. Und Janet fand, er sah besser aus, wenn er es gar nicht erst versuchte. »Lass es vielleicht einfach Janet probieren, okay?«, rief er frustriert. »Bitte!«
Janet kroch zu Coles Schwester auf den Vorsprung und achtete darauf, nicht auszurutschen. Sobald sie Victoria das Handy abgenommen hatte, passte sie Fokus und Bildausschnitt an. Für ihre Unfähigkeit konnte Victoria nichts, sie war jung und unerfahren. Wie alt war sie eigentlich? Zwölf oder 13? Wie alt waren Achtklässler? Es spielte keine Rolle. Victoria Hill war naiv. Janet hatte die Bauch-rein-Arsch-raus-Selfietechnik perfektioniert, bevor Victoria überhaupt alt genug war, sich ihr eigenes Passwort zu merken.
Auf Janets Signal hin vollführte Cole einen Rückwärtssalto – oder zumindest einen halben –, wobei mehr Wasser aufspritzte, als vermutlich von ihm beabsichtigt war.
Dann zischte hinter ihr eine regelrechte Fontäne aus geöffneten Getränkedosen und Flaschen. Matt musste sein Zeichen gegeben haben, dass die Luft für die Party rein war. Es war Matt Trents Aufgabe herauszufinden, wann seine Kollegen von der Security um den Staudamm patrouillierten. Er musste gesehen haben, wie sie zu ihrem Wachhäuschen an der Einmündung der Einfahrt zurückgelaufen waren. Das hieß, sie hatten noch etwa eine Stunde, bis sie ans Abhauen denken mussten. Genug Zeit für die Fliegengewichte, sich ordentlich volllaufen zu lassen.
Hinter Janet ertönte ein tiefes Grollen, gefolgt von einer vertrauten Stimme.
»Aus dem Weg!«, schrie Ginger Wagner. Ginger war nicht ihr richtiger Name, eigentlich hieß sie Annabeth. In der siebten Klasse hatte sie versucht, ihre Haare aufzuhellen, was auf jede erdenkliche Art schiefgegangen war. Am Ende hatten ihre Haare dieses clownhafte Rot gehabt. Dabei war sie dann geblieben und hatte behauptet, es gefalle ihr so. Seitdem war sie einfach nur »Ginger«.
Janet wandte sich um, wobei sie Coles Smartphone in ihrer Hand kurz vergaß, und sah Ginger auf ihrem Skateboard vorbeirauschen.
»Pass auf, Schlampe!«, rief Janet, als Ginger vorüberrollte. Zur Antwort streckte ihr diese scherzhaft den Mittelfinger entgegen.
Janet lächelte und sah ihr hinterher. Die Räder des Skateboards donnerten laut über den alten, löchrigen Beton.
Janet folgte ihr mit der Handykamera. »Du bist live, Ginger! Mach mal irgendwas«, rief sie. Ginger gehorchte und ließ ihr Board über die kniehohe Betonkante schnellen, die eine Sicherheitsbarriere darstellen sollte. Wie eine Kanonenkugel schoss sie in den Stausee, ihr Skateboard folgte ihr bei dem gut neun Meter tiefen Fall. Pures Live-Content-Gold. Janet machte sich einen Vermerk, die ersten paar Sekunden der Aufnahme in einen Boomerang-Clip umzuwandeln und zu tweeten, sobald sie nach Hause kam.
Die Kinder versammelten sich am Rand des Staudamms und blickten ins Wasser. Die Party stand komplett still, während sie darauf warteten, dass Ginger wieder auftauchte. Niemand öffnete ein Getränk, keiner redete oder lachte.
Matt, der in seinem Security-Shirt komplett fehl am Platz wirkte, war zum Ufer hinuntergeklettert, um Cole dort Gesellschaft zu leisten. Dann zückte er sein Smartphone, ein großes Samsung Galaxy, das vorher seiner Mom gehört hatte. Abgelegte Mom-Sachen, igitt. Janet schüttelte sich. Sie war zwar nicht so reich wie Cole, aber immerhin musste sie nicht ständig mit der Angst leben, ihre Batterie könnte sich überhitzen und explodieren.
»Ähhh, Leute.«
Noch immer warteten sie auf Ginger. Sie hielt ihre Luft nun schon ziemlich lange an …
Matt rief: »Wenn sie ertrinkt, darf ich die Leiche behalten!« Janet wusste nicht genau, was er damit meinte, nahm aber an, es war irgendetwas Ekelhaftes. Auch wenn Matt derjenige war, der ihnen für ihre Partys Zugang zum Staudamm gewährte, war er ein verdammter Arsch – und Janet wusste: Mit dieser Meinung war sie nicht allein.
Sie warteten. Janet spürte die Anstrengung in ihrer Lunge – ihr war nicht einmal aufgefallen, dass sie die Luft angehalten hatte –, aber dann durchbrach Gingers Kopf die Wasseroberfläche. Sie winkte mit ihrem Bikinioberteil. »Der Aufprall hat’s runtergezogen! Kommt rein!«, rief sie. »Das Wasser ist warm.«
Die Kinder brauchten keine zweite Einladung. Der Damm des Anstands brach und alle strömten in Richtung Wasser. Ein paar kletterten zum Ufer hinunter, während sich die anderen für den direkten Weg eines Kopfsprungs entschieden.
Scheiße, wer sind all die Leute?
Janet erkannte die meisten der Kinder aus ihrem Jahrgang, sie kannte alle Juniors. Einige Gesichter kamen ihr vertraut vor, die zugehörigen Namen fielen ihr allerdings nicht ein. Dann waren da noch ein paar kaum erwähnenswerte Seniors. Eine Handvoll davon waren Ältere, die ihren Abschluss schon hinter sich gebracht hatten, aber aus irgendeinem Grund noch auf kein College gegangen waren. Die Älteren verunsicherten Janet ein bisschen, aber andererseits kam von denen vermutlich das meiste Bier.
Nein, die älteren Widerlinge waren nicht das, was sie wirklich störte.
Da waren Unterstufler.
Janet spürte, wie sich ihr vor Entrüstung die Nackenhaare aufstellten. Sie blickte in die jungen Gesichter und sonderte sie anhand der Art, wie sie an ihrem Bier nippten, aus. Die würden ihre Lektion später noch lernen. Vielleicht würde sie Tucker anstiften, sie abzufüllen und draußen in Tillersons Feld auszusetzen. Jedes Jahr landete irgendein betrunkener Frischling vor der Tür der Tillersons und klopfte da an, um das Haustelefon zu benutzen, weil es dort draußen kein Handysignal gab und die kleinen Bengel ihre Mom anrufen mussten, um abgeholt zu werden. Warum also nicht gleich ein ganzer Haufen davon, frisch vom Stausee geliefert?
Nein, es waren nicht nur die Eindringlinge aus der Unterstufe, die sie auf die Palme brachten. Mit Sicherheit würde sie morgen nicht daran denken, der Sache im Detail nachzugehen, aber es nervte Janet, dass irgendjemand aus ihrer Gruppe einfach jeden eingeladen hatte. Die Nacht heute hätte ausschließlich ihnen sechs gehören sollen – sieben, wenn man Victoria mitzählte (was Janet nicht tat).
Dieser Ausflug zum Stausee war für sie allein gedacht.
»Gib das her«, sagte Janet und nahm einem verängstigt wirkenden Freshman das Bier ab. »Wir können doch nicht vor laufender Kamera trinken, du Schwachkopf.« Sie schüttete das halbe Bier aus und warf die leere Dose über ihre Schulter. Der Junge sah ihr dabei zu, und so etwas wie Bewunderung – Verliebtheit? – breitete sich auf seinem Gesicht aus. Janet schubste ihn und befahl ihm, sich zu verziehen. Daraufhin ging es ihr schon besser.
»Hey, Janet«, rief Cole ihr zu. Er war die Treppe halb heraufgestiegen. »Bereit, den Rückwärtssalto noch mal zu probieren?« Mit einem Finger wies er sie an zu filmen.
Richtig, sie hatte immer noch sein Smartphone.
Sie erinnerte sich nicht einmal daran, die Liveübertragung beendet zu haben. Das war gar nicht gut. Sie drückte den Knopf, um die Verbindung wiederherzustellen. Das Smartphone kämpfte eine Weile mit der Verbindung, dann folgte der Fünf-Sekunden-Countdown.
»Schaut runter!«, schrie Tucker Lee, während er mit einem brennenden M-80-Böller in der Hand ins Bild rannte.
»Was zur Hölle …«, hörte Janet sich sagen, aber dann hob Cole die Hand. Sie unterbrach den Stream, bevor er wieder live gehen konnte.
»Was machst du denn?«, brüllte Cole und nahm zwei Stufen auf einmal, um die beiden auf der Aussichtsplattform über dem Stausee zu erreichen.
»Ich hätte ihn ja nicht wirklich geworfen«, erwiderte Tucker. Die Lunte brannte immer noch, aber er schien kein bisschen beunruhigt zu sein. Sie hörte ein lasches, langsames Zischen. Diese Dinger bekam man nur schwer wieder aus. Einmal hatte sie gesehen, wie Tucker eins davon in einen Wassereimer geworfen hatte und es trotzdem explodiert war. Ein M-80 war kein einfacher Knaller; diese Teile hatten ein Viertel der Sprengkraft einer verdammten Dynamitstange.
»Mach’s aus«, befahl ihm Cole.
»Ach, ernsthaft, Mann«, beschwerte sich Tucker, während die Zündschnur noch immer ein kraftloses Zischeln von sich gab.
»Jetzt«, verlangte Cole und baute sich vor ihm auf. Oder zumindest versuchte er das, denn er war gut 30 Zentimeter kleiner als Tucker.
Tucker seufzte, nahm die Lunte zwischen zwei Finger und riss sie von dem Feuerwerkskörper ab, ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl er sich dabei verbrannt haben musste.
»Ein Sechserpack kostet mich zehn Mäuse«, bemerkte Tucker.
»Hier.« Cole zog ein Bier aus der Kühlbox, die während der Diskussion neben ihren Füßen aufgetaucht war. »Sind wir damit quitt?«
»Cream Ale? Echt jetzt?«
»Fick dich«, lachte Cole. »Trink einfach.«
Sobald die Ordnung wiederhergestellt war, nickte Cole Janet zu, worauf sie mit dem Livestream fortfuhr.
»Hey, Jungs und Mädels«, rief Cole mit seiner Youtube-Stimme, und Janet konnte sich das Grinsen nicht verkneifen.
So ein Blödel.
Cole war nicht groß, hatte keine breiten Schultern. Er war schlank und kompakt gebaut. Perfekt proportioniert. Außerdem konnte er gut werfen, aber da hörten seine Gemeinsamkeiten mit einem einfachen Arbeiter auch schon auf. Er würde nie auf den Feldern oder am Fließband von Baypen arbeiten, aber das machte nichts. Dem reichen Jungen war richtige Arbeit vorherbestimmt. »Wir senden hier live von einem geheimen Ort«, fuhr er fort.
Janet konnte sich nicht erklären, warum es nötig war, das geheim zu halten. Jeder würde doch erkennen, dass sie am Staudamm von Kettle Springs waren.
»Für den Weltruhm!«, schrie jemand auf der gegenüberliegenden Seite des Stausees und machte einen schlampigen Salto von einer der beiden Betonsäulen herunter. Die Säulen flankierten die Überlaufwasserfälle des Beckens. Normalerweise waren ein paar mehr Bier nötig, bis die Jungs an ihren algenbedeckten Wänden emporkletterten, aber heute Nacht waren sie offensichtlich alle in Partylaune.
Janet hatte den Salto des Typen im Hintergrund aufgenommen, aber weder zoomte sie heran noch nahm sie den Fokus anderweitig von ihrem Hauptdarsteller. Dieser Moment gehörte Cole allein, den würde sie ihm nicht nehmen.
»Wie ihr sehen könnt«, sagte Cole, während er den Arm schwenkte und Janet bedeutete, es ihm gleichzutun, damit sie den Gehweg hinter ihm besser ins Bild bekam, »hat das Sommerwetter unsere Gastfreundschaft überbeansprucht, und die Crew und ich feiern auf die einzige Art, die wir kennen.« Neben Ronnie blieb er stehen. Das Mädchen schmiegte sich an ihn und legte die Hand auf seinen nackten Bauch, genau oberhalb des Bunds seiner Badeshorts. Ronnie Queen war unfassbar dreist. Und wo hatte sie eigentlich diesen Bikini her? Egal ob online oder im Einkaufszentrum an der Route 70, Janet und Ronnie gingen sonst immer gemeinsam einkaufen. Janet konnte nicht fassen, dass Ronnie etwas so Knappes trug, ohne Janet wenigstens einen Schnappschuss geschickt zu haben, den sie kommentieren und absegnen konnte. Aber wie auch immer, vermutlich war genau das der Grund, warum Ronnie es nicht getan hatte. Mit dem Bikini stieß sie sie bewusst vor den Kopf.
In Ronnies Blick konnte Janet sehen, dass es den gewünschten Effekt hatte: Es fiel Cole auf. Nicht auf die perverse Art – dafür war er zu cool –, aber da entstand schon eine leichte Röte auf seinen Wangen, ein Glanz in seinen Augen, der sein Wissen darüber verriet, wie viele aktive Zuschauer ihm das gerade bescherte.
»Siehst gut aus, Ronnie«, bemerkte Cole.
»Tja, äh, danke, Cole.« Ronnie brachte das nicht halb so geschmeidig über die Bühne wie er, während sie eine Hand auf seinen Unterarm gelegt hatte, nicht etwa um sich abzustützen, sondern um zu flirten.
Träum weiter, Ronnie. Der spielt nicht in deiner Liga. Nicht mal ich komm an ihn ran.
Ronnie war zu Recht nervös. Sie waren erst seit einer Minute und 30 Sekunden live, aber Janet musste nicht einmal aufblicken, um zu wissen, dass der Bikini nicht ausreichte … Ihre Zuschauer klickten längst weiter.
Dieser Mist wurde allmählich langweilig.
»Du siehst echt super aus, Ronnie. Aber ich muss auch sagen …« Cole lächelte in die Kamera. Er war Profi und hatte im Gespür, dass irgendetwas in ihrem Video passieren musste, und zwar schnell. »Du scheinst mir ein bisschen zu trocken zu sein.« Er pfiff durch die Zähne. Tucker tauchte auf, legte sich Ronnie über seine breiten Schultern und warf sie über die Kante. Das geschah ohne viel Dramatik, ohne jeden Spannungsaufbau, aber der Wurf zeigte Wirkung, denn selbst auf dem kleinen Bildschirm konnte man an Ronnies Gesichtsausdruck ablesen, dass sie mit diesem Scherz ganz und gar nicht einverstanden war. Hätte sie das vorher mit den Jungs abgesprochen, dann hätte sie sicher nicht diesen Bikini angezogen.
»Danke, Tuck.« Cole gab seinem Freund einen Klaps auf die Schulter, als Tucker sich schon wieder unter seine Saufkumpane mischte.
Cole blickte an der Kamera vorbei: »Also, Janet, mit einer maximalen Punktzahl von zehn, wie bewerten wir Ronnies Sprung?«
Endlich. Man gestattete ihr zu reden, also das zu tun, was sie am besten konnte. Und nach Ronnies verzweifeltem Bemühen, Coles Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, obwohl sie genau wusste, dass Janet das schon seit Jahren versuchte, löste sich ihre Anspannung auch.
»Ihre Beine waren ziemlich unkoordiniert. Ganz zu schweigen von den wackelnden Oberschenkeln. Ich gebe ihr eine Vier-Komma-Nein«, entgegnete Janet, froh darüber, nun auch endlich in Partystimmung zu sein.
»Nee, mein Mädel ist ’ne Zehn. Selbst als Stoffpuppe«, unterbrach Matt sie, wobei er sich mit dem eigenen Smartphone filmte. Er hatte sich das Oberteil seiner Uniform ausgezogen, aber man musste kein Detektiv sein, um zu sehen, wer sie hereingelassen hatte. Meinte er das ernst? Ihre Zuschauer so zu spalten? Und wer würde schon zu seinem Stream wechseln, wenn man sich stattdessen Coles ansehen konnte? Janet warf ihm einen finsteren Blick zu.
»Wir kriegen grade die ersten Live-Kommentare rein«, holte sich Janet die Aufmerksamkeit zurück und las vom Bildschirm ab. »Dee sagt, du siehst langsam selber ziemlich trocken aus, Cole.«
Cole gab ein schüchternes Lächeln zum Besten und flirtete mit der Kamera, aber Janet konnte sich auf das, was er sagte, nicht konzentrieren.
Auf dem Weg zum Stausee hatte Victoria Hill keinen Badeanzug angehabt. Warum auch? Coles Schwester ging normalerweise nie ins Wasser. Aber jetzt konnte Janet sehen, dass Victoria sich ausgezogen hatte. Nur in Unterwäsche balancierte sie auf der schrägen Ostkante des Damms direkt auf die Säulen zu. Niemand lief direkt über den Damm. Wenn man auf die andere Seite wollte, nahm man in der Regel den langen Trampelpfad, nicht den schmalen Betonrand. Victoria hielt eine halb volle Flasche Erdbeerwodka in der Hand und schwankte, als hätte sie diese bisher allein geleert. Zum zweiten Mal an diesem Abend sah Janet mit angehaltenem Atem zu. Coles Schwester schaffte es jedoch wohlbehalten hinüber. Sie stand sicher auf der anderen Seite, ohne einmal ausgerutscht zu sein, ohne sich Knie und Ellenbogen aufgeschlagen zu haben und ohne ins Wasser gefallen zu sein.
Janet wandte den Blick nicht von Coles Schwester ab. Was immer das auch werden sollte – es war noch nicht vorbei. Nachdem sie einen letzten kräftigen Schluck genommen und die Flasche weggeworfen hatte, tänzelte Victoria auf Zehenspitzen zu der Leiter, die auf die erste Betonsäule hinaufführte.
Weder war das ein Schwimmbad noch waren die Säulen als Sprungturm gedacht, und während Victoria hochkletterte, betrachtete Janet Coles chronisch langweilige kleine Schwester mit neuem Respekt. Was auch immer sie dort trieb, das war alles andere als einfach.
Seelenruhig sorgte Victoria Hill für Dramatik, ohne ein richtiges Drama daraus zu machen.
Janet ignorierte Coles fortlaufenden Kameramonolog und zoomte stattdessen auf den Aufstieg seiner Schwester.
»Filmst du mich eigentlich noch?«, fragte Cole, der die Abwesenheit der Kameralinse endlich bemerkt hatte.
»Schau dir das an.« Janet zeigte darauf. Victoria war die Betonsäule hochgeklettert und ruderte nun mit beiden Armen, entweder um das Gleichgewicht zu halten oder um ihr Publikum weiter anzuheizen. Janet konnte es nicht eindeutig sagen.
»Mach schon! Dein Bruder wird langweilig!«, schrie Tucker, der seinen muskulösen Arm wie einen Schraubstock um den Freshman legte, den er gezwungen hatte, ihm Drinks zu bringen. Mit seiner riesigen Hand drückte er den Jungen eng an sich.
»Spring!«, rief Ronnie von irgendwo aus dem Wasser darunter.
»Ja, spring!«, wiederholte Matt, als hätte er vergessen, dass er dafür bezahlt wurde, für ihre Sicherheit zu sorgen.
»Los! Los! Los!« Die übrigen Partygäste stimmten in den Chor ein. Janet hatte Victoria perfekt im Bild. Das Kamerarauschen und die Entfernung vom Geschehen ließen die Aufnahme echt, spontan und improvisiert wirken – was sie ja auch tatsächlich war.
Worauf wartete Victoria jetzt? Das war doch ihr Moment. Jetzt konnte sie Stellung beziehen, die nächsten Jahre für sich erträglich machen. Beliebt sein. Janet war fasziniert, beeindruckt. Sie selbst hatte sich ihren gesellschaftlichen Aufstieg Sprosse für Sprosse erkämpft, aber Victoria war dazu entschlossen, das alles innerhalb einer Nacht zu schaffen, mit einem einzigen Stunt.
Und dann, endlich, nachdem sie zweimal wie eine Turnerin auf ihren Fußballen auf und ab gewippt war, sprang sie.
Später schwor Janet, dass ihr nichts Schlimmes aufgefallen war, dass der Schlag gegen Victorias Hinterkopf keineswegs gefährlich ausgesehen hatte. Aber sie hatte es bemerkt. Sie sah, wie es passierte. Das leichte Zittern, der Schwung, mit dem sich Victorias Gesicht plötzlich ein paar Zentimeter nach links bewegte, während ihr Hinterkopf auf die Betonkante der Säule knallte.
Janet war vielleicht die einzige Person am Stausee, die den exakten Moment ausmachen konnte, in dem der Sprung zu einem Fall geworden war.
Noch lauter als der Aufprall von Victorias Rücken auf dem Wasser waren die »Ohhh«-Rufe der Schaulustigen gewesen. Ihnen allen musste aufgefallen sein, dass gerade etwas Grauenvolles geschehen war, aber niemand rührte sich. Niemand dachte daran, irgendetwas zu tun. Warum sollten sie auch? Vor Victoria Hill hatten schon Abermillionen von Kindern diesen Sprung gemeistert. Bis auf ein paar blutige Nasen und eingerissene Zehennägel war nie etwas wirklich Schlimmes passiert. Warum also jetzt?
Sie warteten – genauso wie vorher auf das Auftauchen von Gingers gefärbtem Schopf –, aber es dauerte nicht einmal halb so lange, bis Victoria an die Oberfläche trieb. Mit dem Gesicht nach unten und gespreizten Armen.
Janet ließ Coles Smartphone fallen. Für die nächsten zwei Stunden würde es den Himmel filmen, bis die Batterie den Geist aufgab. In der Liveübertragung konnte man jetzt Stimmen hören. Schreie. Man konnte jedoch nicht sehen, wie Cole hinterhersprang. Wie er seine Schwester ans Ufer zog. Wie gesund sie aussah. Als würde sie schlafen, zumindest bis sie hochgehoben wurde und das dünne Blutrinnsal an ihrem Hinterkopf zum Vorschein kam, das ihr nasses Haar scheitelte. Man konnte auch nicht den Bericht des Gerichtsmediziners sehen, in dem er beschrieb, wie die Schädelrückwand von der Säulenkante eingedrückt worden war.
Wer sich dort befand, konnte nicht wissen, was den Zuschauern des Livestreams in den Kommentaren sofort aufgefallen war:
O SCHEISSE, das Mädel ist tot!
1
EIN JAHR SPÄTER
»Warten Sie! Halt!«
Der Umzugswagen ächzte, der Auspuff knallte. Als das Fahrzeug losrollte, knirschte der Asphalt unter den Reifen.
»So können Sie uns hier doch nicht einfach stehen lassen!«
Hilflos sah Quinn Maybrook ihrem Dad dabei zu, wie er sich gegen die Außenwand des Trucks stemmte. Er stützte sich auf dem Trittbrett ab und spannte seine sehnigen Unterarme an, während er den Seitenspiegel umklammerte und nach oben kletterte, um mit zusammengebissenen Zähnen an den Fahrer zu appellieren.
Das hätte sicher eine nervenzerreißende Actionfilmszene ergeben … wäre da nicht die Tatsache, dass sich der Truck kaum bewegte.
Der Fahrer trat auf die Bremse, woraufhin der Truck wieder ruckelte und ächzte, dann kurbelte er das Fenster herunter:
»Hören Sie mal, Dr. Maybrook, Sie haben fürs Liefern und Ausladen bezahlt, aber nicht fürs Reintragen. Wir sind die ganze Nacht hierher durchgefahren, und der Rückweg nach Philly wird den ganzen Tag dauern. Morgen früh haben wir schon den nächsten Kunden …«
»Aber ich …«
»Tut mir leid, aber wir müssen los«, schnitt ihm der Mann das Wort ab und machte sich daran, das Fenster wieder hochzukurbeln. Ihr Dad steckte seine Finger in die Lücke und hängte sich mit seinem ganzen Gewicht ans Fenster.
Der Typ warf ihm einen Blick zu, der sagte: Wenn’s sein muss, dann kurbel ich das Fenster hoch und schneid dir die Finger ab, aber zwing mich bitte nicht dazu, das macht die Lage für alle Beteiligten nur unnötig kompliziert.
Ihr Dad ließ los.
»Bewerten Sie uns nicht auf Yelp!«, schrie der Fahrer und trat aufs Gas. Der plötzliche Ruck schüttelte ihren Dad ab. Er stolperte rückwärts, dorthin, wo Quinn stand, und gemeinsam sahen sie den Truck die Straße entlangbrausen.
Beide seufzten.
Glenn Maybrook klopfte sich den Staub aus den Klamotten und rückte seine Brille zurecht.
»Tja«, sagte er, dann klatschte er in die Hände, als hätte er nicht gerade versucht, einen Truck mit bloßen Händen anzuhalten. »Ich glaube, wir sind da.« Quinn konnte erkennen, dass er kurz davor stand, die Fassung zu verlieren. Er murmelte immer wieder: »Wir sind da, wir sind da …«
»Komm schon, Dad. Ist doch keine große Sache. So viel Kram ist das gar nicht.«
Allerdings hatte sich der Umzug schwieriger gestaltet als erwartet, und nun mussten sie noch alles nach drinnen bringen.
Wäre Mom hier gewesen, hätte sie das schrecklich witzig gefunden. Wenn Mom allerdings noch da gewesen wäre, dann wären sie wohl nie von Philadelphia nach Kettle Springs in Missouri gezogen.
Mom war aber nicht mehr da, und darum waren sie nun hier.
Mitten auf der Straße blickte Quinn zum Horizont, als könnte sie das Comcast-Gebäude zu Hause erkennen, wenn sie sich nur auf die Zehenspitzen stellte. Als ihr Vater sie informiert hatte, wo sie hinziehen würden, hatte Quinn kurz den Ort gegoogelt und war zu dem Schluss gekommen, dass die Stadt im Prinzip ein einziges großes Maisfeld war. Ruhig, verschlafen und langweilig. Aber das war nicht ganz fair, denn immerhin gab es hier mehr, als sie erwartet hatte. Das war auch gut, denn vielleicht würde sie versuchen, die Stadt als einjährigen Boxenstopp zwischen Gegenwart und Zukunft zu betrachten. Es wäre schön, wenn das Jahr wenigstens halbwegs erträglich werden würde.
Mit dem Auto war ihr Haus nur fünf Minuten von der Innenstadt entfernt, die sie auf ihrem Weg hierher durchquert hatten. Die Main Street schien nicht nur die Hauptstraße zu sein, sondern gleichzeitig auch der einzige Weg aus Kettle Springs heraus, was die kleine Stadt in Missouri eher wie eine Sackgasse mit Extras erscheinen ließ. Während sie durchs Stadtzentrum fuhren, fielen Quinn ein Diner im 50er-Jahre-Stil und ein Buchladen auf, der vermutlich nur zerlesene Groschenromanzen und Krimis führte, in denen die Detektive Katzen hatten. Oder Katzen waren. Das war nicht ihr Interessengebiet.
Andererseits gab es dort auch ein zweitklassiges Kino, das ein paar alte Streifen zeigte, und nicht nur einen, sondern zwei Secondhand-Läden, von denen einer geschlossen war. Zu Hause in Philly wären das Kino und die Secondhand-Läden voller Hipster gewesen, aber hier galten sie vermutlich als modernste Unterhaltung. Sie freute sich darauf, ihnen einen Besuch abzustatten.
Ihre neue Straße, Marshall Lane, wurde von je vier Häusern flankiert, die alle bewohnt aussahen. Vor zwei Häusern parkten große grüne John-Deere-Traktoren. Oder waren das Rasentraktoren? Quinn war sich nicht sicher, worin genau der Unterschied bestand. Aber das würde sie schon lernen. Das und noch mehr. Nach Kettle Springs zu ziehen wäre … eine lehrreiche Erfahrung.
Sie blickte zu ihren irdischen Besitztümern am Bordstein zurück. Im frühen Morgengrauen sahen die mickrigen Kartons und Möbelstücke in dem weitläufigen Vorgarten besonders verloren aus.
Außer den Kisten, von denen die meisten Zubehör für Dads neue Praxis beinhalteten, standen dort ein lederner Rollstuhl mit einem gebrochenen Plastikrad; zwei unterschiedlich große Matratzen vom gleichen Hersteller; eine Puppe aus ihrer Kindheit, die sie seit Jahren nicht angerührt hatte (sie konnte nicht glauben, dass sie die überhaupt mitgenommen hatten); zwei Milchkisten, voll mit Dads alten Schallplatten, aber ohne Plattenspieler; ihr Fernseher, den sie in eine ausgefranste Steppdecke gewickelt hatten; ein zusammengeschnürter Stapel alter Ärztezeitschriften, der höchstwahrscheinlich ungeöffnet im Keller landen würde; eine alte Couch, die auf dem Rasen viel älter und hässlicher wirkte als in ihrer alten Wohnung; ein ausgeblichener CRT-Computerbildschirm und eine Posterrolle, die während des Umzugs in der Mitte geknickt worden war – Audrey Hepburns Gesicht war mit ziemlicher Sicherheit für immer zerknautscht.
Und über dieser ganzen Ansammlung ragte drohend das Haus auf.
Die Fassade war brüchig, die Fenster waren trübe, die Eingangstür schrie geradezu nach Sandpapier und einem frischen Anstrich, und nach allem, was Quinn erkennen konnte, sah das Dach genauso aus, wie sich ihre Zähne anfühlten – irgendwie moosig. (Sie hatte sie vor der Abfahrt geputzt, aber auf ihrer langen Reise hatte es jede Menge Tankstellenfraß gegeben.) Das Grundskelett des Anwesens war hübsch – eine reizende Veranda mit Hollywoodschaukel –, aber der Zustand, in dem es sich befand, wirkte mehr als dürftig.
Doch sie hatte keine Zeit, sich um etwas zu sorgen, das sie nicht ändern konnte. Es gab viel zu tun. Alles nach drinnen zu bringen würde den Großteil des Tages in Anspruch nehmen, und sie war fest entschlossen, heute noch damit fertig zu werden. So früh am Morgen hatte sie noch keine Nachbarn gesehen, aber am wenigsten blamierte sie sich, wenn sie alles ins Haus brachte, bevor sie und ihr Dad bei einem umgekehrten Garagenflohmarkt erwischt wurden.
Gott.
Quinn war erschöpft. Nachdem sie das Gerümpel ausgepackt hatten, brauchte sie dringend Schlaf. Morgen war ihr erster Schultag – ihr zweiter erster Schultag, wie sich herausstellte –, und da musste sie ausgeschlafen sein.
Ihr Dad bemerkte ihren Blick, sah, wie sie alles auf sich wirken ließ, und warf die Hände hoch. Er gestikulierte in Richtung ihrer Sachen und machte den Eindruck, als würde er jeden Moment losweinen.
»Mach dir keine Sorgen. So lange dauert das nicht«, sagte sie und beugte sich hinunter, um einen Couchfuß von der Stelle zu heben, wo er ins taufeuchte Gras gesunken war. »Aber komm schon. Allein schaff ich das nicht.«
Auf drei hievten die beiden jeweils eine Seite der Couch hoch. Staub wirbelte durch die Luft und Quinn unterdrückte ein Niesen. Sie hätten das Ding in Philly lassen sollen. Sie hätten eine andere, eine neue Couch kaufen können, eine von diesen untergliederten, mit Becherhaltern, USB-Anschlüssen und beheizten Sitzflächen. Die Möbel auszutauschen wäre noch eine Möglichkeit gewesen, von vorn anzufangen, die ihr Dad geflissentlich ignoriert hatte. Ja, vielleicht waren neue Sachen verschwenderisch, aber ihr Dad war schließlich Arzt und die Lebenshaltungskosten hier draußen waren – wie er betont hatte – unfassbar niedrig. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, ernährte sie sich lieber für einen Monat nur von Reis und Bohnen als mit den muffigen Überresten aus ihrer Vergangenheit leben zu müssen.
Die Couch roch nach Mom. Scheiße, jetzt war sie kurz davor zu weinen. Sie blickte von den Kissen auf und erwischte ihren Vater dabei, wie er sie anstarrte.
»Du bist großartig, Kleines, weißt du das?«
Glenn Maybrook mochte zwar manchmal naiv sein, aber oft genug war er dabei so liebenswürdig, dass er sie dazu bringen konnte, den Schmerz zu verdrängen.
»Ja, ja, ja. Ich bin dein Fels, der Wind unter deinen Flügeln. Lass uns die Couch umdrehen, okay? Ich geh die Vorderstufen zuerst hoch«, sagte sie.
»Nein, nein, ich lauf rückwärts.« Freiwillig die schwierige Richtung zu übernehmen war eine zuvorkommende Geste, aber er machte sich auch was vor. Dr. Glenn Maybrook war nichts als ein Paar knorpelige Ellenbogen, lahme Füße und ein Viererpack Lesebrillen von Costco.
Ihre Mutter war die Athletin in der Familie gewesen – also diejenige, die Quinn zum Sport animiert hatte. Genau wie das bei ihrer Mutter gewesen war, war Volleyball Quinns Stärke. Sie war schnell, hatte lange Arme und Beine. Zwar war sie nicht die Größte im Team, aber ihre Sprungkraft katapultierte sie mit den Schultern bis ans obere Ende des Netzes. Ihre Trainer waren mächtig enttäuscht gewesen, als sie ihnen beigebracht hatte, dass die Schulmannschaft dieses Jahr ohne sie auskommen musste, weil sie nach Kettle Springs zog. Sie hatten versucht, es ihr auszureden – als wäre das ihre Entscheidung gewesen. Mehr noch, sie hatten ihr sogar angeboten, mit ihrem Vater zu sprechen.
Dann war der Umzug jedoch so schnell vonstattengegangen – sie hatte nicht einmal die Gelegenheit gehabt, Nein zu sagen. Dad hatte das Angebot am Montag erhalten und schon am nächsten Freitag zugesagt. Innerhalb einer Woche hatten sie zu packen angefangen. Er hatte sie nicht nach ihrer Meinung gefragt. Stattdessen hatte er es ihr eines Tages nach der Schule erzählt und den Umzug durchs halbe Land dabei als eine Notwendigkeit verpackt. Als hätte er Essen bestellt, ohne sie vorher gefragt zu haben, was sie eigentlich wollte.
Es war ein Pauschalangebot, eine großartige Gelegenheit: die Übernahme der Arztpraxis und ein eigenes Haus. Mit nur einer Schlüsseldrehung konnten sie von vorn anfangen. »Bitte, Quinn«, hatte er sie gebeten, als ihm endlich in den Sinn gekommen war, sie zu fragen. »Wir brauchen wirklich einen Neuanfang.«
Vielleicht hatte er recht.
Für Quinn war das der einzige Anreiz, Philadelphia zu verlassen: ein Neuanfang. Oder wenigstens ein Ort, an dem sie für ein Jahr entgiften, an dem sie zu Kräften kommen konnte, bevor sie sich am Penn oder Temple oder an irgendeinem anderen College in Philly einschreiben konnte.
In Kettle Springs konnte sie untertauchen, das Drama hinter sich lassen. Niemand hier kannte Quinn als das Mädchen, dessen Mutter während der Regionalmeisterschaften auf der Zuschauertribüne zusammengebrochen war und sich zu Tode gekotzt hatte.
Niemand in Kettle Springs wusste, wie Samantha Maybrook gestorben war.
Also konnte Quinn von vorn anfangen.
Sie hievte die Couch über die Schwelle und stellte ihre Seite im Wohnzimmer ab, wo der Gestank von abgestandenem Schweiß und Katzenpisse sie dazu nötigte, loszurennen und die Fenster aufzureißen.
»Mann, was zum Teufel, Dad?«
»Der letzte Bewohner muss wohl ein Katzenliebhaber gewesen sein …«, antwortete er und rieb sich den Nacken.
»Und ein besch… ein verdammter Stubenhocker.«
Dad ließ seine Couchhälfte fallen – wobei er vermutlich zwei weitere halbkreisförmige Dellen in dem sowieso schon ruinierten Holzboden hinterließ – und lief zur anderen Zimmerseite, wo er die restlichen Fenster öffnete, in der Hoffnung auf einen angenehmen Durchzug.
Ist doch egal. Gönn ihm eine Pause von solchen Kleinigkeiten.
In der etwas frischeren, aber keineswegs frischen Luft blickte sich Quinn in ihrer neuen Umgebung um. Sie kamen aus einer dreistöckigen Wohnung in Fairmount. Ein sogenanntes Trinity-Apartment, drei kleine, aufeinandergestapelte Räume, in denen es erst dann Sonntag wurde, wenn man die Nachbarn streiten hörte. Ihr Rasen war ungefähr so groß wie eine Briefmarke und ihre Mom hatte ihn im Scherz ihren »Garten« genannt. Nie zuvor in ihrem Leben hatte Quinn in einem richtigen Haus gewohnt, aber dennoch kannte sie den Grundriss des Anwesens in der Marshall Lane fast instinktiv. Hier um die Ecke befindet sich das Arbeitszimmer. Dort oben sind die Schlafzimmer. Das Bad liegt hinter der zweiten Tür links.
Diese Vertrautheit war irgendwie gemütlich.
Quinn schob die Couch an die gegenüberliegende Wand. Sie bräuchten mehr und neueres Mobiliar, um sowohl von der Weitläufigkeit des Zimmers als auch von dem armseligen und vernachlässigten Eindruck abzulenken, der sich manifestierte, sobald man darin stand. Beim Möbelkauf konnte sie vielleicht auch gleich einen Schweißbrenner und etwas Brandbeschleuniger mitnehmen.
»Ich hol noch ’ne Kiste und schau mir mein neues Zimmer an«, sagte Quinn. »Wollte schon immer auf einem Dachboden wohnen.«
Ihr Dad runzelte die Stirn, aber sie hob die Hand, bevor er sich unnötig entschuldigen konnte.
»Nein, wirklich. Ich mein das ernst. Das Zimmer da oben liegt direkt unter der Dachschräge, oder?«, fragte sie, denn sie erinnerte sich an die Fotos, die ihr Dad ihr gezeigt hatte. Dann rang sie sich etwas mehr Optimismus ab: »Das Haus ist eigentlich ganz cool. Hat … Charakter.«
»Ich bin froh, dass es dir gefällt«, erwiderte er. Bei seiner Bemühung, das letzte Fenster zu öffnen, schien er ihren sarkastischen Unterton zu überhören. Mit der Faust schlug er gegen den Rahmen und löste dabei genug brüchige Farbe ab, um das Fenster ein paar Zentimeter aufzubekommen.
»Man muss ein wenig Arbeit reinstecken, aber es hat Potenzial, nicht?«
Quinn lächelte und nickte. Mit genug Arbeit und Leidenschaft konnte man alles retten.
Na, fast alles.
Die Fliegengittertür fiel hinter ihr zu, sie klang locker, und Quinn sprang die Vordertreppe in einem Satz hinunter, um den nächsten Karton hochzunehmen, auf dem ›Quinns Sachen‹ stand.
Der Grundriss des Hauses war nicht so intuitiv angelegt, wie sie zunächst angenommen hatte, aber nach zwei Wandschränken und dem Bad im Flur fand sie endlich auch die Treppe. Sie war eng, die Stufen wackelig und voller Risse. Sie wirkten irgendwie unvollendet. Sich nachts nach draußen zu schleichen dürfte sich als schwierig erweisen, dachte sie.
Sie kletterte die Stufen hinauf. So ganz ohne Geländer würde sie im Dunkeln vorsichtig sein müssen. Sie stellte die Kiste mitten auf dem grob abgeschliffenen Holzboden ab und machte eine Bestandsaufnahme.
Brrt.
Das war eine Nachricht von Tessa. Sie schrieb: Weg, aber nicht vergessen. Quinn bleibt für immer in unseren Herzen. Es folgte ein Anhang, aber ihr Smartphone brauchte ewig, um ihn herunterzuladen. Der blaue Ladekreis war erst bei einem Viertel.
Der Gestank nach Katzenpisse im Wohnzimmer war das eine Problem, aber ihr Dad beeilte sich jetzt lieber, das WLAN in den Griff zu bekommen.
Von unten erklang ein Knall, worauf Quinn zum oberen Treppenabsatz eilte, um zu lauschen.
»Dad! Alles okay?«
»Ja, ja, ja …«, rief er zurück. Der Klang in dem leeren Haus war irritierend klar. »Aber wir brauchen ein neues Fliegengitter für die Tür.«
Quinn seufzte, dann atmete sie tief durch, ihr Herz schlug noch immer schnell. Glenn Maybrook war schon dabei, das Haus zu demolieren, aber offenbar hatte er sich dabei nicht umgebracht. Immerhin war sie keine komplette Waise, zumindest noch nicht.
Draußen stieg die Sonne höher. Quinn zog die Jalousien des Fensters hoch, das die Marshall Lane überblickte. Das hereinfallende Sonnenlicht erwärmte den Raum sofort.
Sie drehte sich nach der Kiste um, die sie nach oben gebracht hatte, und schlug sich dabei den Schädel an der geneigten Decke an.
Verdammte Dachschrägen.
Quinn murmelte ein Schimpfwort, rieb sich den Kopf und erkannte, dass sie die Nord- und die Südwand ihres neuen Zimmers nur auf Knien erreichen konnte.
Auf einer Raumseite unter der abschüssigen Decke stand ein altmodisches Bettgestell aus Metall, auf dem eine Matratze lag, die wie aus einem Film über den Bürgerkrieg aussah. An der Wand unter dem Fenster in Richtung Marshall Lane stand außerdem ein einfacher Schreibtisch. Dem rötlichen Glanz der Maserung zufolge war das Echtholz, also kein billiger Pressspan.
Vor ihnen hatte das Haus dem ehemaligen Stadtarzt gehört. Glenn Maybrook hatte seine Praxis in der Main Street übernommen. Quinn hatte nicht gewusst, dass ihr Vater das Haus teilmöbliert gekauft hatte, wenn man die Dachbodenausstattung überhaupt so nennen konnte, und nahm an, er hatte es ebenso wenig geahnt. Na, wie auch immer. Diese Matratze würde sie jedenfalls nicht an ihre nackte Haut lassen. Aber schon mal ein paar Dinge hier zu haben würde das Leben einfacher gestalten. Keine Ikea-Ausflüge, falls es die im Mittleren Westen überhaupt gab. Keine nächtlichen Versuche, ein Bettgestell mit nichts weiter als einem Inbusschlüssel und einer schwedischen Anleitung in 27 Schritten zusammenzubauen. Das bedeutete aber auch: keine vegetarischen Köttbullar mit Preiselbeersoße. Es gab eben Vor- und Nachteile.
Quinn warf einen Blick auf ihr Handy. Endlich hatte es den Anhang heruntergeladen. Tessa hatte ihr ein kurzes GIF von sich und Jace geschickt, das sie dabei zeigte, wie sie je einen Apfelsaftkarton in den Mülleimer der Cafeteria leerten. Sie stießen auf Quinn an. Der begleitende Text paraphrasierte irgendein Liedzitat von Boyz II Men, irgendetwas mit end of the road. Quinn lächelte, während sie sich daran erinnerte, wie sie zu dritt laut singend durch Philly gefahren waren.
Sie sah sich den Clip noch ein paarmal an, dann verschwamm ihre Sicht. Es war nicht die Erinnerung an die gemeinsamen Fahrten durch die South Street, die Quinns Herz einen Stich versetzte, sondern das Wissen, dass sie in den kommenden Wochen immer weniger Nachrichten wie diese erhalten würde.
Das tat weh, aber die Freundinnen würden sich wohl zwangsweise auseinanderleben. Sie liebte Tessa und Jace über alles, aber ihr kleiner Spaß war zu nahe an der Wahrheit; schon bald würden sie Quinn vergessen haben.
Sie antwortete mit einem lol und nahm den Vorschlag der Autokorrektur an, ein schräges Emoji, das Tränen lachte. Nein. Sie konnte ihren Tag jetzt nicht damit verbringen, alten Freundinnen zu schreiben. Es gab so viel zu tun. Schließlich musste sie ihr neues Leben beginnen.
Also legte sie das Handy auf den Schreibtisch und spähte aus dem Fenster.
Auf dem Rasen vor dem Haus stand ihr Dad und unterhielt sich mit einem Jungen, der in ihrem Alter zu sein schien. Er hatte kurzes dunkelblondes Haar und trug Jeans zu einem geknöpften Karohemd, das ihn wie einen Holzfäller aussehen ließ. An einer Schulter hing ein tarnfarbener Rucksack, der großteils von Sicherheitsnadeln zusammengehalten wurde.
Er musste auf dem Weg zur Schule sein.
O Scheiße! Dad lernt ihn zuerst kennen.
Ihr Vater schüttelte die Hand, die der Junge ausgestreckt hatte, und lachte über … tja, worüber auch immer Glenn Maybrook da lachte, Quinn konnte es nicht genau sagen.
Dad zeigte auf eine Kiste, und Quinn las ein »Brauchen Sie Hilfe?« von den Lippen des Jungen ab.
Aber ihr Dad schlug sein Angebot aus und sagte etwas, das im Nachhinein wirkte wie: »Keine Sorge, meine Tochter und ich, wir kriegen das schon hin.« Glenn Maybrook machte eine halbe Umdrehung und zeigte zum Fenster hinauf, woraufhin Quinn dem Blick ihres neuen Mitschülers begegnete.
So albern wie immer winkte Glenn Maybrook zu ihr hoch, während der Junge ihr verhalten zunickte. Quinn erwiderte den Gruß nicht; sie machte nur einen großen Schritt zurück in den Dachboden und wünschte sich, komplett mit der Finsternis verschmelzen zu können. Dort stand sie, ohne zu atmen, außer Sichtweite und zählte bis 30. Als sie sich wieder ans Fenster traute, sah der Junge nicht mehr zu ihr hinauf. Er lief die Straße entlang, den Rucksack nun auf beiden Schultern.
Einen Augenblick später hörte sie, wie ihr Dad mit der kaputten Fliegengittertür rang. »Das war unser Nachbar!«, rief er ihr zu. »Keine Sorge, ich hab dich nicht blamiert!«
»Das hast du nicht zu entscheiden«, schrie Quinn aus der Ecke ihres fast leeren Zimmers zurück.
Die Dielen quietschten, als sie den Dachboden durchquerte. Das ganze Haus knarrte, was bedeutete, dass sie nichts vor ihrem Dad würde geheim halten können. Kein langes Wachbleiben und Umhertigern, um bis zum Morgengrauen an ihren Hausaufgaben zu feilen. Das war nervig, denn genau so sah ihre bevorzugte Arbeitsweise aus.
Als sie sich zum gegenüberliegenden Fenster bewegte, das zum Hinterhof hinausging, packte sie die Verzweiflung. Dort waren keine Jalousien, keine Vorhänge. Andererseits gab es dort auch keine Nachbarn.
Der hintere Rasen war unregelmäßig und überwuchert, mit vertrockneten Grasflecken und einem Vogelbad, das so schief aussah, dass fraglich war, wie viele Vögel tatsächlich darin baden konnten.
Die Aussicht umfasste jedoch nicht nur den Rasen. Ihr Grundstück grenzte an ein Maisfeld. Das Getreide erstreckte sich meilenweit. Das hätte Quinn nicht überraschen sollen, schließlich hatte sie das Haus auf Google Maps ja schon gesehen. Die ganze Stadt war vom Mais geradezu eingeschlossen.
Quinn blickte zum Horizont, während sich die Maispflanzen sacht im Wind wiegten. Der Mais sah aus, als würde er ihr zuwinken, als würde er atmen. Als wäre Missouri ein schlafender Riese unter ihrem neuen Zuhause, gigantisch und lethargisch. Der Gedanke daran, auf dem Rücken eines gewaltigen Monsters namens Missouri zu leben, war gleichermaßen tröstlich wie beängstigend. Es kam nur darauf an, für welchen Blickwinkel sie sich entschied.
Der Mais war nicht alles, was Quinn in der Ferne wahrnahm. Draußen auf den Feldern, am Rande des Horizonts, ragte über allem eine große, heruntergekommene Fabrik mit Lagerhalle auf, die sie an ein Mahnmal erinnerte. Selbst so klein am Horizont schätzte sie das Gebäude auf fünf Stockwerke, den Schornstein, der aus dem hinteren Gebäudeteil ragte, noch gar nicht miteingerechnet. Das Dach der Fabrikanlage hing durch wie der gebrochene Rücken eines Tieres.
An der Wand prangte ein Graffiti. In Philadelphia gab es davon eine Menge, ihnen war eine ganze Behörde gewidmet, also wäre das vielleicht eine nette Erinnerung an ihr altes Zuhause. Die Wandmalerei konnte jedoch eine Reinigung vertragen; sie war von der Katastrophe, die das Gebäude zerstört haben musste, schwarz und verrußt.
Sie zückte ihr Smartphone, entsperrte die Kamera und zoomte näher heran.
Dort an der Fabrikmauer prangte ein Clown.
Ein altmodischer Clown mit Porkpie-Hut und roter Knollennase. Die verblichene Theaterschminke am Kinn des Clowns sah wie Bartstoppeln aus und seine früher knallrote runde Nase war von den Brandblasen in der Farbschicht pockennarbig. Sein weiß bemaltes Gesicht war längst ergraut. Die Augen waren jedoch von den Flammen größtenteils verschont geblieben, und irgendetwas an der Art, wie sie gemalt waren, erweckte den Eindruck, der Clown würde Quinn direkt durch das Fenster anstarren.
›Baypen‹ stand quer über dem oberen Teil der Fabrikmauer geschrieben. Das musste der Name der Firma sein, aber Quinn verspürte keinen Drang nachzurecherchieren.
Unter dem Clown prangte ein Schriftzug, der außer dem großgeschriebenen, betont schwungvollen und pseudokünstlerischen Wort ›ALLES‹ völlig unleserlich war. Von dem Clown machte Quinn einen Schnappschuss. Vielleicht würde sie ihn später an Tessa schicken. Ihre Freundin mochte Unheimliches, und der würde ihr sicher gefallen. Tessa konnte Quinns Stimmung darüber, von einem perversen Clown beobachtet zu werden, bestimmt aufhellen. Und dann würde sie Quinn das sagen, was sie längst wusste: dass sie sich dringend einen verfluchten Vorhang zulegen musste.