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Fürstenkinder
– Staffel 4 –

E-Book 31-40

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-474-7

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Eine Mutter findet heim

Aus Liebe hatte sie verzichten wollen

Roman von Birken, Hella

Es war Mai und schon sommerlich warm. Die Luft spann sich wie ein Tuch aus feinster chinesischer Seide über die kleine Stadt an der Rabe, einem Flüßchen, das zwar nur schmal, aber mit ziemlich starker Strömung lustig plätschernd durch den ganzen Ort floß. Nach diesem Fluß hatte man vor mehr als siebenhundert Jahren die Burg benannt und später auch die kleine Stadt, die sich ihr zu Füßen ausbreitete.

Ja, die Rabenhauser waren stolz auf ihre Burg, die, obwohl nur noch eine Ruine, jährlich Tausende von Fremden anlockte. Majestätisch im Ausmaß, mit vier zum Teil verfallenen Türmen, bewachsen von Efeu und Kletterrosen, schlief sie wie Dornröschen ihren tausendjährigen Schlaf.

Die Einheimischen schimpften auf die engen Straßen der Stadt mit ihren alten, schmalbrüstigen Häusern; die Fremden aber waren verzaubert von dem Hauch der Romantik, der sich hier noch erhalten hatte.

Etwas außerhalb der Stadt, umgeben von wundervollem Mischwald, lag das einzige moderne Gebäude: das Krankenhaus. Es genoß weit und breit einen ausgezeichneten Ruf. Es waren nicht die neuzeitlichen Einrichtungen, sondern die hervorragenden Fachärzte, denen dieses Krankenhaus seine Popularität verdankte.

Im Zimmer vierzehn der ersten Etage stand ein hochgewachsener, schlanker Mann am Fenster und sah sinnend auf die kleine Stadt im Tal. Kein Muskel in seinem edel geschnittenen, sehr männlichen Gesicht verriet, was er dachte, aber in seinen auffallend klaren blauen Augen lag eine unendliche Traurigkeit –, Einsamkeit und vielleicht auch ein wenig Furcht vor der Welt da draußen, die länger als ein Jahr keinen Einlaß in sein stilles Krankenzimmer gefunden hatte.

Langsam wandte er sich um, als die Tür sich öffnete und die joviale Stimme des Professors sagte:

»Nun, mein Lieber, es ist soweit.« Doch unerwartet ernst fügte er hinzu: »Ich weiß, das heißt, ich ahne, wie es in Ihnen aussieht. Es ist sicherlich nicht leicht, mit dreiunddreißig Jahren noch einmal anzufangen zu leben. Zu leben mit einem Namen, der Ihnen nicht gehört und einem Beruf, der bestimmt nicht der ist, den Sie einmal erlernt haben.

Und doch, Sie können noch von Glück sprechen, daß Sie organisch völlig gesund sind –, auch geistig. Was zu Ihrem Gedächtnisverlust geführt hat, haben wir ja leider nicht ergründen können…«

Aufgeregt unterbrach ihn der Mann, der mit behördlicher Genehmigung jetzt Dieter Schneider hieß, und fast flehend sagte er:

»Herr Professor, Sie glauben doch nicht, daß ich etwas Unrechtes getan habe, daß ich vor irgend etwas davongelaufen bin?«

»Nein, das glaube ich nicht«, sagte der Professor sehr bestimmt, »und Sie sollten sich darum auch keine Gedanken machen. Wir hatten lange Zeit, Sie zu beobachten. – Sie sind kein Mensch, der zu Gewalttaten neigt, und Sie sind auch viel zu ehrlich, als daß man Ihnen sonstige Unredlichkeiten – Unterschlagungen oder so etwas – zutrauen könnten. Außerdem sind Sie kein Simulant, und das müßten Sie ja sein, wenn Sie Ihren Gedächtnisverlust nur vortäuschen würden.

Nein, nein, in meiner langen Praxis habe ich das alles schon erlebt, so sehr kann ich mich nicht irren. Ich glaube nach wie vor, daß Sie einen Unfall hatten, und ich bin auch sicher, daß die Narbe an Ihrem Kopf, die ja noch sehr frisch war, als Sie zu uns kamen, damit im Zusammenhang steht.

Wenn wir die Ursache wüßten, hätten wir Ihnen vielleicht helfen können, aber so…

Und doch gebe ich die Hoffnung nicht auf, daß vielleicht ein plötzlicher Schock Ihnen Ihr Gedächtnis zurückbringt. Aber solch einen Schock kann man nicht künstlich herbeiführen, leider.

Wie ich hörte, hat die Krankenhausverwaltung Ihnen auch schon ein Zimmer besorgt.«

»Ja, in der Färbergasse.

Herr Professor, ich möchte Ihnen so gern danken – Sie haben so unendlich viel für mich getan, aber es gibt keine Worte, wenn man ein neues Leben geschenkt bekommt…«

»Schon gut, mein Lieber. Wir alle hatten Sie sehr gern. Man hat selten so geduldige Patienten.

Wissen Sie was? Ich bin neugierig wie ein altes Weib und möchte darum gern wissen, wie Sie sich zurechtfinden als Dieter Schneider. Kommen Sie doch am nächsten Freitag zum Abendessen zu uns, meine Frau kennen Sie ja schon. Wir würden uns wirklich sehr freuen.«

Zwanzig Minuten später verließ ein Mann mit einem kleinen Koffer in der Hand, in dem sich nur geschenkte Sachen befanden, das Krankenhaus.

Er sah sich nicht um. Die Klinik war seine Vergangenheit, Rabenhausen, das im Sonnenschein vor ihm lag, seine Zukunft.

*

Das Café Herbst am Markt war ein vielbesuchter Treffpunkt der Einheimischen und auch der Fremden.

Die Besitzer und auch die Einrichtungsgegenstände hatten Wien nie gesehen, und doch hatte es die gemütliche Atmosphäre eines altwienerischen Kaffeehauses.

Angela Winterfeld eilte geschäftig zwischen den kleinen Tischen hin und her. Ihre Füße brannten wie Feuer, trotzdem hatte sie für jeden Gast ein Lächeln und ein freundliches Wort.

Sie wußte, viele der jüngeren männlichen Gäste kamen nur ihretwegen so häufig, aber bisher war niemand darunter, der ihr Herz hätte höher schlagen lassen, und so lächelte sie nur über die manchmal plumpen, manchmal schüchternen Versuche, mit ihr in ein Gespräch zu kommen oder sie zu einer Verabredung zu bewegen.

Heute aber flog ihr Blick immer wieder zu dem Tisch vorn am Fenster, zu dem Mann, der dort schon seit Stunden saß und in seine leere Kaffeetasse stierte. Manchmal hob er den Blick und sah hinaus auf den Markt, aber in seinen Augen glomm kein Interesse, nur Leere.

Sein Anzug war sehr sauber, doch der Schnitt verriet, daß er schon mehrere Jahre alt sein mußte. Der Anzug und auch der etwas geschmacklose, billige Schlips paßten nicht zu diesem Mann, es wirkte an ihm wie eine Verkleidung.

Angela schüttelte über sich selbst den Kopf. Was ging sie dieser Fremde an? Sie würde ihn nie wiedersehen und damit basta.

Bei dem Gedanken, ihn nie mehr zu sehen, beschlich sie ein eigenartig wehmütiges Gefühl, und errötend gestand sie sich selbst, daß sie sich in diesen fremden Mann, von dem sie nichts, aber auch gar nichts wußte, auf den ersten Blick verliebt hatte.

Sie stand an der Kaffeemaschine und füllte ein Kännchen, dann legte sie zwei Stückchen Kuchen auf einen Teller, stellte Milch und Zucker auf das Tablett und brachte es wie selbstverständlich dem Unbekannten am Fenstertisch.

Erstaunt sah er hoch, als sie das Gebrachte vor ihn hinstellte, und schon wollte er protestieren, da sagte Angela schnell:

»Bitte, verzeihen Sie, ich dachte, Sie hätten vielleicht noch gern einen Kaffee gehabt. Natürlich brauchen Sie ihn nicht zu bezahlen, nur… die Chefin braucht es nicht zu wissen.«

Und bevor Dieter Schneider auch nur zur Entgegnung ansetzen konnte, sah er das Mädchen mit dem schwarzen Kleid und der lustig-koketten Tändelschürze auch schon einige Tische weiter mit den Gästen schwatzen.

Er hatte weder Hunger noch Durst, doch um die reizende Spenderin nicht zu kränken, trank er den Kaffee, der wirklich ausgezeichnet war, und aß den Kuchen, dessen Geschmack ihn an etwas erinnerte – er wußte nur nicht, an was.

Dann aber dachte er, während er an sich heruntersah: Mein Gott, sehe ich denn wirklich so abgerissen aus, daß dieses kleine Persönchen glaubt, mir etwas schenken zu müssen?

Er sah sich Angela genauer an, und was er sah, gefiel ihm. Sie war keine große Schönheit, aber sie war apart, und außerdem strahlte sie etwas aus, was man nur mit Unberührtheit bezeichnen konnte.

Angela waren seine Blicke nicht entgangen und sie fühlte sich unsicher. Sicherlich dachte er, sie wollte mit ihm anbändeln.

Wie peinlich! Warum hatte sie das auch nur getan, mit dem Kaffee und dem Kuchen? Weil sie Angst hatte, er könnte gehen, gestand sie sich ehrlich ein. So hoffte sie, er würde bleiben, bis das Café schloß, es war ja nicht mehr lange.

Eilig lief sie und räumte überall das benutzte Geschirr ab, wischte die Tische und den Tresen, damit sie, wenn Feierabend war, schnell fort konnte.

Da ertönte auch schon die unerbittliche Stimme der Frau Herbst: »Feierabend, meine Herrschaften!«

Stühle wurden gerückt, Abschiedsworte flogen hin und her, und dann ging einer nach dem anderen. Nur der Fremde saß wie träumend immer noch an seinem Platz.

Noch einmal nahm Angela ihren ganzen Mut zusammen, und leise sagte sie zu ihm: »Sie müssen jetzt gehen, mein Herr, wir schließen.«

»Wie? Ach ja… verzeihen Sie, ich war ganz in Gedanken.«

Er legte ein viel zu großes Geldstück auf den Tisch und ging, ohne noch ein Wort zu sagen.

Verwirrt und ein bißchen traurig sah Angela ihm nach.

*

Als Angela kurz darauf auch das Café verließ, trat völlig unerwartet der Fremde, an den sie unaufhörlich hatte denken müssen, auf sie zu. Mit sehr warmer, volltönender Stimme sagte er:

»Verzeihen Sie bitte, daß ich hier auf Sie gewartet habe, aber ich habe vorhin versäumt, mich bei Ihnen zu bedanken. Leider wurde mir das erst klar, als ich schon auf der Straße stand, und da wagte ich es nicht, noch einmal zurückzukommen.«

Angela war bis an die Haarwurzeln rot geworden, als sie sich so plötzlich angesprochen sah, und völlig verwirrt stammelte sie:

»Sie haben doch für gar nichts zu danken, Sie haben doch alles bezahlt…«

»So?« fragte Dieter Schneider gedehnt. »Na, das ist sicherlich nur aus Versehen passiert, denn nie würde ich es mir einfallen lassen, ein so aufmerksam serviertes Geschenk zu mißachten, indem ich es bezahle. Wissen Sie, Fräulein…«

»Angela Winterfeld.«

»Ein hübscher Name, und er paßt gut zu Ihnen. Ich heiße Dieter Schneider und bin völlig fremd hier in Rabenhausen. Das ist wohl auch der Grund, warum ich Tagträumen nachhing…« Und als hätte er schon zuviel gesagt, fügte er schnell hinzu: »Wenn Sie gestatten, Fräulein Winterfeld, würde ich Sie sehr gern nach Hause begleiten…«

»Nein, nein«, lachte Angela, »das ist sehr lieb von Ihnen, aber wenn Sie Rabenhausen nicht kennen, dann würden Sie niemals Ihren Weg zurückfinden. Ich wohne nämlich bei Verwandten, ziemlich weit außerhalb.«

Das war gelogen, aber die sonst so ehrliche Angela schämte sich, dem Fremden gegenüber zuzugeben, daß sie bei Onkel und Tante in einer Laube wohnte und daß dort mehr als primitive Zustände herrschten.

Später einmal würde sie es ihm erzählen, aber nicht heute. Als ob es jemals ein Später geben würde –, lächerlich!

Vielleicht dachte er aber nun, daß sie etwas gegen seine Begleitung einzuwenden hätte. Das durfte nicht sein, und so sagte sie völlig gegen die Etikette:

»Wenn Sie aber Zeit haben und gern ein bißchen laufen möchten, dann könnte ich Ihnen ja Rabenhausen ein wenig zeigen. Die Fremden finden es immer sehr hübsch und romantisch…«

»Und wie finden Sie es?« fragte Dieter neugierig.

»Rabenhausen ist wunderschön, und ich liebe es sehr, nur… es ist eben nicht meine Heimat. Doch darüber möchte ich jetzt nicht gern sprechen.«

»Verzeihen Sie«, erwiderte Dieter höflich, »ich wollte keine Wunden berühren.

Ihr Vorschlag, mir Rabenhausen zu zeigen, ist reizend, und ich nehme ihn gern an. Wenn Sie mir dabei auch noch die Färbergasse zeigen würden, wäre ich Ihnen ganz besonders dankbar.

Dort hat man mir nämlich ein möbliertes Zimmer besorgt, und ich würde gern meinen Koffer loswerden.«

»Aber ja, sehen Sie dort drüben die Straße? Das ist schon die Färbergasse. Dort wohnen nur reiche Leute!«

Lächelnd sah Dieter auf das verlegene Mädchen, und ein wenig bitter sagte er:

»Ja, dann gehöre ich da eigentlich auch nicht hin. Ich bin nämlich nur ein kleiner Angestellter. Morgen fange ich an bei der Firma Kramer & Co.«

»Mein Onkel arbeitet dort auch«, sagte Angela eifrig. »Allerdings nur als Portier. Früher war er Schweißer und hat gut verdient: aber dann hatte er einen Motorradunfall und verlor einen Arm. Seitdem sitzt er in der Portiersloge und kommt sich vor wie ein Direktor, weil er das Recht hat, sich die Ausweise zeigen zu lassen und auch mal ein paar passend-unpassende Worte zu sagen, wenn jemand zu spät kommt.«

Die letzten Worte waren gutmütig-spottend gesagt, und doch spürte Dieter Schneider die Resignation, die aus ihnen klang. Instinktiv fühlte er: dieses Mädchen wußte zwar, wer es war, und es hatte Verwandte, und doch fühlte es sich unverstanden und war einsam wie er, der heute das Leben eines Menschen angefangen hatte, der gestern noch gar nicht existiert hatte. Keine Mutter, sondern die Behörden hatten ihn geboren und ihn getauft, und Prof. Herder und sein Ärzteteam hatten sein Alter bestimmt.

Ein Mann mit dreiunddreißig Jahren. Ein Mann ohne Vergangenheit.

Angela musterte ihn mehrmals verstohlen, während sie sich seinen großen Schritten anzupassen versuchte. Er hatte wieder diese Leere, diese Einsamkeit im Blick wie vorhin im Café. Was hatte er erlebt, mit dem er nicht fertig werden konnte?

Plötzlich war er ihr fast ein wenig unheimlich in seinem Schweigen. Sie fühlte, er hatte sie ganz und gar vergessen, und doch sehnte sie sich danach, ihm zärtlich über die Stirn zu streichen, ihm die toten Augen zu küssen, bis sie wieder lachten.

Wenn er lachte, hatte er tausend kleine Fältchen um die Augen, ach, er war überhaupt der bestaussehendste Mann, dem sie je begegnet war, und er war so anders – so, als passe er nicht in diese kleine, etwas spießbürgerliche Welt von Rabenhausen.

Es war auch schwer, sich ihn als Angestellten von Kramer & Co. vorzustellen.

Herr Kramer war zwar der reichste Mann des Städtchens und vielen Bürgern gab er Brot und Arbeit, aber nach Angelas Vorstellung von der Welt, die sie noch nicht kannte, war er kein Herr. Er war viel zu laut in seinem Wesen, er protzte mit seinem Reichtum und er saß viel zu oft im ›Goldenen Engel‹, wo er immer eine Lokalrunde nach der anderen ausgab und alle Zechkumpanen seine Freunde nannte. War unter den Gästen aber einer, der in seiner Firma arbeitete, dann mußte er mit seiner baldigen Entlassung rechnen, denn Herr Kramer liebte es nicht, daß seine Leute, wie er sie nannte, Zeugen seiner Schwäche wurden.

Herr Kramer hatte aber noch eine Schwäche: er liebte die Frauen ein

wenig zu sehr, und das, obwohl er

selbst schon zwei erwachsene Töchter hatte.

Sollte sie diesen Dieter Schneider warnen? Sollte sie ihm sagen, daß er niemals in den ›Goldenen Engel‹ gehen dürfe, wenn er Wert auf eine Dauerstellung legte?

Statt dessen sagte sie: »Hier ist die Färbergasse. Zu welcher Nummer wollen Sie denn?«

Schuldbewußt fuhr Dieter Schneider zusammen, und mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln sagte er:

»Zu Nummer 18.

Verzeihen Sie, Fräulein Angela, daß ich so schweigsam war, aber ich ließ die Atmosphäre des Ortes auf mich einwirken. Schließlich soll ich doch nun hier leben…«

»Wo kommen Sie denn her?« fragte Angela ahnungslos.

Sofort erschien wieder die steile, scharfe Falte über seine Nase, und in abwehrendem Ton sagte er:

»Hübsche junge Damen wie Sie sollten nicht so neugierig sein«, und fast erleichtert fügte er hinzu: »Dort drüben ist die Nummer 18. Gestatten Sie, daß ich meinen Koffer nur schnell abgebe, oder möchten Sie mit reinkommen?«

»Nein, nein, gehen Sie nur! Ich warte hier, man könnte es falsch verstehen.«

Während sie wartend auf und ab ging, dachte Angela: er will nicht sagen, wo er herkommt, er hat etwas zu verheimlichen. Es wird das beste sein, nach Hause zu gehen und diesen Dieter Schneider nie wiederzusehen.

Aber da stand er schon wieder vor ihr, und während er sie jungenhaft unterhakte, sagte er plötzlich in strahlender Laune:

»Das Zimmer ist wunderschön, und die Baronin scheint eine reizende Dame zu sein.

So – und nun, meine schöne Fremdenführerin, zeigen Sie mir meine neue Heimat!«

*

Es war spät, als Angela nach Hause kam, und obwohl sie Angst hatte vor dem Onkel, war sie doch so glücklich wie noch nie in ihrem einundzwanzigjährigen Dasein.

Die Hoffnung, man könnte schon schlafen, erwies sich schnell als falsch – in der Wohnküche brannte noch Licht.

Als sich die Tür öffnete, hob die Frau lauschend den Kopf, und mit sichtlicher Erleichterung sagte sie: »Gott sei Dank, Angela kommt!«

In ihrer Stimme war auch kein Vorwurf, nur Sorge, als sie die Nichte mit den Worten begrüßte: »Kind, wo warst du denn so lange? Wir hatten Angst um dich.«

Schnell bückte sich Angela und küßte der Tante die von frühen Falten durchzogene Wange, und ehrlich betrübt sagte sie:

»Tantchen, das tut mir leid. Bitte, verzeih… aber…«

Und dann plötzlich brach es mit elementarer Gewalt aus ihr heraus: »Aber ich habe mich so schrecklich verliebt.«

Der Onkel gab nur ein unwilliges Grunzen von sich, die Tante aber fragte entsetzt: »Ja, aber Angela, in wen denn? Du hast uns ja noch nie etwas gesagt…«

»Konnte ich ja auch nicht, Tante Friedel. Dieter Schneider ist doch erst heute nach Rabenhausen gekommen. Er wohnt in der vornehmen Färbergasse bei einer Baronin, stellt euch das nur vor! Ja und… morgen fängt er bei Kramer an zu arbeiten.

Er sieht phantastisch aus – wie ein Mann aus der Ritterzeit!

»Hör auf mit diesem Gefasel!« unterbrach sie grob der Onkel. »Woher kennst du den Kerl, und woher kommt er?«

Angela zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Nie würde sie sich, wie die Tante, an die ordinäre Ausdrucksweise ihres Onkels gewöhnen können. Trotzdem sagte sie wahrheitsgemäß: »Ich habe ihn im Café kennengelernt. Woher er kommt, danach habe ich ihn noch nicht gefragt.«

Sie senkte den Blick, weil die letzten Worte gelogen waren, aber es merkte keiner.

Der Onkel grollte weiter: »Geht so ein dummes Ding mit einem wildfremden Kerl bis spät in die Nacht… Ha, wo seid ihr überhaupt gewesen, und woher weißt du denn, wo er wohnt? Warst du etwa mit auf seiner Bude?«

»Max, ich bitte dich, sprich nicht so mit Angela!« mischte sich seine Frau ein, aber er gebot ihr zu schweigen.

»Na los, wird’s bald! Was hat es zwischen euch gegeben –, diesem Halunken und dir?«

Angela zitterte vor Empörung am ganzen Körper, doch scheinbar ruhig sagte sie: »Nichts hat es zwischen uns gegeben, gar nichts. Gleich nach Ladenschluß zeigte ich ihm die Färbergasse und wartete vor dem Haus, bis er seine Wirtin begrüßt und den Koffer abgegeben hatte.

Und dann habe ich ihm Rabenhausen gezeigt. Nur die Stadt, auf der Burg waren wir nicht. Im ›Ochsen‹ haben wir eine Bratwurst gegessen und uns verklönt. Ich war selbst erschrocken, als ich plötzlich feststellte, daß es schon auf Mitternacht zuging. Und auch Herrn Schneider war es sehr peinlich. Er bat mich, euch für ihn um Verzeihung zu bitten, daß es so spät geworden ist…«

»So, so, der feine Herr überläßt dir das Bitten«, höhnte der Onkel, während er sich mit dem Handrücken den Bierschaum vom Munde wischte. »Aber nun will ich dir mal was sagen«, fuhr er fort, »diese Tändelei hört mir sofort auf! Hast du mich verstanden?

Ich habe dich nicht bei uns aufgenommen, damit du die Geliebte irgendeines dahergelaufenen Strolches wirst, du heiratest den Johann Kleiber, und damit basta. Er ist ein braver, arbeitsamer Mensch. Daß er schon zwei Kinder hat, tut doch nichts zur Sache. Sparst du dir wenigstens die Arbeit«, lachte er dröhnend.

»Max, die Angela macht sich doch nun einmal nichts aus diesem Johann Kleiber«, versuchte die Tante zu vermitteln. »Sie ist noch jung, du kannst sie doch nicht zwingen, irgendeinen ungeliebten Mann zu heiraten.

Dieser Herr Schneider gefällt ihr, und wer weiß, vielleicht will er die Angela ja auch heiraten, wenn er sie erst einmal ein wenig länger kennt.«

»Darauf kann man nicht warten«, sagte der Mann störrisch. »Genauso gut kann er ihr einen Tritt geben, wenn er sie erst besser kennt, und wer will sie dann noch heiraten, he?«

»Max, sofort bist du ruhig!« schrie die Frau empört. »Du weißt, ich hasse solche Reden«, fügte sie leiser hinzu. Und zu Angela gewandt, sagte sie liebevoll: »Schlaf drüber, Kind, vielleicht bist du morgen ja gar nicht mehr verliebt.«

Angela drückte ihr mit Tränen in den Augen dankbar die Hand, und leise, nur der Tante verständlich, flüsterte sie:

»Ich bin nicht verliebt. Ich liebe ihn und… und das ist viel schlimmer, nicht wahr?«

Schlaflos lag Angela auf der alten Liege in der Wohnküche, die ihr als Bett diente. Es roch nach Bier und kaltem Zigarettenrauch.

Und wie schon so oft in den letzten sechs Jahren betete sie inbrünstig: »Lieber Gott, bitte mach, daß ich eines Tages dieser Misere entfliehen kann!«

Mitten in ihr Gebet schob sich der markante Kopf von Dieter Schneider. Seine blauen Augen lächelten, und seine warme, zärtliche Stimme, die wie ein Streicheln war, sagte: »Ich werde dich befreien, Angela, aber du darfst mich niemals fragen, wer ich bin.«

Angela wollte dieses Bild halten, doch es entfloh. Es war nur der Mond, der freundlich lächelnd durch das kleine Fenster sah.

»Morgen«, flüsterten ihre Lippen, und selig lächelnd schlief sie endlich ein.

*

Drei Tage wartete Angela vergebens. Dieter Schneider kam nicht.

Am vierten Tag aber wartete er auf sie vor dem Café Herbst. Er entschuldigte sich nicht, er sprach überhaupt nicht. Schweigend, wie selbstverständlich griff er nach ihrer Hand und zog sie mit sich durch die vielen schmalen, winkligen Gassen, bis sie am Ufer der Rabe standen.

Angela war glücklich, und aus Angst, etwas zu zerstören, war auch sie still.

Arm in Arm wanderten sie am Fluß entlang, bis sie zu einer Bank kamen, die ganz im Grünen stand. Dicht nebeneinander ließen sie sich darauf nieder, und nach geraumer Weile sagte der Mann mit rauher Stimme:

»Ich wollte Sie nicht wiedersehen, Angela. Sie werden das nicht verstehen; aber ich hatte wirklich nicht die Absicht, mich gefühlsmäßig zu binden, als ich nach Rabenhausen kam.

Ich wollte erst einmal zu mir selber finden, doch das läßt sich schwer erklären.

Tatsache jedenfalls ist, daß ich Sie nicht vergessen konnte. Immer habe ich an Sie gedacht in diesen drei Tagen, und immer wieder schwor ich mir: nein, du gehst nicht.

Nun, ich bin hier. Sehen Sie jetzt, was für einen festen Charakter ich habe?«

Angela lächelte unter Tränen, und indem sie fast schüchtern über seinen Handrücken strich, sagte sie:

»Auch ich habe unentwegt an Sie gedacht in diesen Tagen und habe mich gefragt, was ich wohl falsch gemacht habe…«

Verlegen stotternd fügte sie hinzu: »Sie müssen nämlich wissen, daß ich mich noch nie mit einem Mann getroffen habe und daher auch nicht weiß, wie man sich richtig benimmt. Im Café habe ich zwar viel gehört, aber mit Ihnen, das war alles so anders. – Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.

Vielleicht hätte ich Sie nicht küssen dürfen? Ein anständiges Mädchen tut das sicherlich nicht am ersten Abend, aber ich hab’ Sie lieb, ich… ich…«

»Angela, sieh mich an!« bat der Mann.

In ihren grau-grünen, jetzt im Sonnenuntergang geheimnisvoll schimmernden Augen fand er nur Liebe und Glauben, und er schämte sich seiner Unaufrichtigkeit. Und doch –, er konnte nicht sprechen.

Was sollte er diesem reinen, lebensunkundigen Mädchen sagen? Genügte es nicht, wenn er selbst auf der Suche nach seinem Ich, nach seiner Vergangenheit war?

Vielleicht würde er es ja nie erfahren, vielleicht würde er als Dieter Schneider weiterleben bis an das Ende seiner Tage. Es müßte schön sein, Angela dabei an seiner Seite zu haben – für immer.

Nein, er durfte sie nicht mit seinen Problemen belasten, es genügte, wenn er daran trug.

Er wußte, daß er sich selbst belog. Er wußte, daß er Angela die Wahrheit sagen mußte, denn was ist eine Liebe ohne Vertrauen? Aber er hatte Angst, Angela zu verlieren. Die letzten Tage waren grausam gewesen in ihrer Einsamkeit…

Tief sah er Angela in die Augen, und zärtlich flüsterte er:

»Hab’ Dank, Angela! Auch ich hab’ dich sehr, sehr lieb. Meinst du, du könntest dich an mich gewöhnen, ich meine für immer?«

Statt einer Antwort schlang sie ihre Arme um den Nacken des Mannes, und wie selbstverständlich kamen ihre Lippen den seinen entgegen, und es dauerte lange, sehr lange, bis sie sich wieder trennten.

Ein zunehmender Mond stand als schmale, gelblich-silberne Sichel am Himmel, als sie den Heimweg antraten.

Am Markt wollte sich Angela von ihm verabschieden, doch plötzlich sagte sie fest: »Nein, bitte, begleite mich bis nach Hause! Es darf keine Lüge zwischen uns stehen. Ich habe dich aber am ersten Tag belogen, als ich dir sagte, daß wir weit draußen wohnen. Das stimmt nicht, es sind nur fünf Minuten von hier.

Ich schämte mich, dir zu sagen, daß ich mit meinem Onkel und meiner Tante in einer jämmerlichen Laube wohne, daß ich in der Küche schlafe und daß mein Onkel ein grober, oft auch ordinärer Mann ist.

Er will auch, daß ich Johann Kleiber heirate –, einen Witwer mit zwei Kindern. Vielleicht ist dieser Kleiber ja ein netter Mann, ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß er mir vollkommen gleichgültig ist und daß ich ihn niemals heiraten werde.«

Und bangend fügte sie hinzu: »Willst du nun nichts mehr von mir wissen, Dieter?«

Einen Moment zögerte der Mann, er wußte selbst nicht warum, dann aber sagte er spöttisch-lächelnd: »Du Schäfchen, ich will doch nicht deinen Onkel heiraten…«

Ungläubig, aber mit strahlenden Augen unterbrach sie ihn: »Du willst mich heiraten?«

»Ja, was hast du denn geglaubt?« fragte der Mann verwirrt.

»Ach, ich weiß nicht«, stammelte Angela. »Du bist so ganz anders als die Männer hier in Rabenhausen –, du bist so, wie ich mir immer einen großen Herrn vorgestellt habe, und solch ein Mann heiratet keine Kellnerin, nicht wahr?«

Für einen kurzen Moment hatte Dieter Schneider das Gefühl, als spräche Angela aus, was er selbst im Unterbewußtsein schon gedacht hatte. Zugleich aber schämte er sich dieses Gedankens, und wie um seine eigene Herzensstimme zu übertönen, sagte er laut:

»Eigenartige Vorstellungen hast du von der großen Welt! Nein, nein, ich bin kein Herr, ich bin nur einer von vielen –, ein Angestellter der Firma Kramer. Und ich besitze nichts außer ein paar geschen… Anzügen…«

»Was wolltest du eben sagen?« fragte Angela irritiert.

»Ich weiß nicht, was du meinst«, log der Mann.

»Ich wollte sagen, ich besitze nichts außer ein paar getragener Anzüge; aber jetzt besitze ich den kostbarsten Edelstein der Welt –, dich. Das heißt, wenn du mich willst.«

Unzählige Küsse und Liebesschwüre waren die Antwort.

Es war schon zu spät, um noch einen Besuch bei dem Ehepaar Lehnhardt zu machen.

Lange noch, nachdem die zierliche Gestalt Angelas schon in der wirklich bescheidenen Laube verschwunden war, stand Dieter Schneider am Zaun und sah auf die geschlossene Tür. Ein Fenster war erleuchtet. Er sah sich bewegende Gestalten, aber er konnte sie nicht erkennen.

Hatte er richtig gehandelt? Durfte er dieses bezaubernde, junge, unberührte Mädchen an sich binden?

Es war keine Leidenschaft, die ihn zu Angela zog; aber eine große Zärtlichkeit. In ihrer Nähe fühlte er sich froh und glücklich.

Angela liebte ihn, daran zweifelte er nicht. Auch er liebte sie, aber es war eine sanfte, beschützende Liebe. Er wollte sie glücklich machen. Sie sollte alles vergessen, was sie bedrückte. Zusammen würden sie einen neuen Anfang finden, dessen war er sicher.

Noch einen letzten Blick warf er auf das kleine Fenster, dahinter er die Geliebte wußte, dann ging er langsam heimwärts.

*

Angela Winterfeld geriet in einen wahren Protest- und Warnungssturm, als sie verkündete, daß sie Dieter Schneider, dessen Vergangenheit niemand kannte, heiraten wollte.

Da war zunächst die Tante, die einerseits froh war, daß die Nichte, die ein ständiger Zankapfel zwischen ihr und ihrem Mann gewesen war, nun aus dem Hause kam, die aber andererseits sich ihrer toten Schwester gegenüber verpflichtet fühlte und darum zu bedenken gab:

»Ich gebe es ja zu, Angela, dieser Dieter Schneider ist eine äußerst imposante Gestalt. Noch nie habe ich in Rabenhausen einen so gutaussehenden Mann gesehen, und seine Art, sich zu bewegen und zu sprechen, ist auch anders als die der Männer hier. Doch Rabenhausen ist natürlich kein Maßstab. In größeren Städten mag es viele Männer dieser Art geben.

Er ist auch höflich und zuvorkommend und besitzt sehr viel Herzenstakt. Wenn ich daran denke, wie dein Onkel sich benommen hat, als Dieter um deine Hand bat, dann schäme ich mich noch heute. Er aber tat, als merke er das überhaupt nicht, als wäre er diesen Ton gewohnt, und dabei bin ich sicher, daß er noch nie an einem Küchentisch in einer Laube Bier aus der Flasche getrunken hat und sich dabei gewöhnliche Redensarten anhören mußte.

Und trotzdem, Angela, was weißt du von dem Mann? Nichts, gar nichts. Er ist sehr verschwiegen über seine Vergangenheit, er sagt nicht einmal, wo er geboren ist oder wo er früher gearbeitet und gelebt hat.

Irgend etwas stimmt doch da nicht. Ich mache mir Sorgen, Kind. Vielleicht gibt es in seiner Vergangenheit einen dunklen Punkt, vielleicht heißt er gar nicht Dieter Schneider… Ach, Angela, ich habe so ein ungutes Gefühl.«

Und dann war da der Onkel, der kurz und bündig sagte: »Dieser Kerl wird dein Unglück, Mädchen. Nie und nimmer ist er der, der er vorgibt zu sein. In der Firma nennen sie ihn auch schon den Grafen, weil er so anders ist.

Er paßt nicht zu uns und damit auch nicht zu dir. Laß ihn laufen, bevor es zu spät ist!«

Frau Herbst aber, ihre Chefin, meinte neidisch: »Der mit seinem feinen Gehabe, geh mir weg! Wenn der dich tatsächlich heiratet, dann freß ich einen Besen. Ich kenne diese Typen aus der Großstadt – Hochstapler sind sie, allesamt.«

Angela wußte, daß die Tante bei aller Härte und Lieblosigkeit, die sie manchmal an den Tag legte, es wirklich gut mit ihr meinte. Sie hatte ja auch recht. Was wußte sie denn wirklich von dem Mann, den sie liebte? Nichts, gar nichts.

Aber sie liebte ihn mit der ganzen Kraft ihres Herzens, und das war ihr genug. Es würde schon alles gutgehen.

Dieter hatte sie von all den Warnungen nichts gesagt. Er sollte doch nicht annehmen, daß sie auch nur ein Wort davon glaubte.

Angela stand am Fenster und träumte. Dort drüben, in der kleinen Georgs-Kirche, würden sie in acht Tagen getraut werden. Zunächst, bis sie eine Wohnung fanden, würde Angela auch bei der Baronin von Wimpfen wohnen. Lieb von ihr, daß sie das erlaubte. Und trotzdem – Angela träumte von der eigenen Wohnung.

Sie brauchte ja nicht groß zu sein; aber ein Kinderzimmer, das hätte sie halt doch gern gehabt…

Bei dem Gedanken wurde ihr ganz heiß, und richtig erschrocken fuhr sie zusammen, als ein Gast sie rief.

Als sie dann dem Stammgast den Kaffee brachte, sagte dieser lächelnd:

»Na, Fräulein Angela, Sie leben wohl schon in den Wolken, was? Ist ja auch ein fescher Bursch, Ihr Verlobter. Ich wünsche Ihnen jedenfalls alles Gute.«

Errötend knickste Angela vor dem alten Herrn. Er war der Direktor des hiesigen Gymnasiums und allgemein sehr beliebt.

Seit dem Tode seiner Frau kam er täglich in das Café Herbst, um wenigstens für ein paar Stunden der Einsamkeit seiner Wohnung zu entgehen, wie er ihr selbst einmal kläglich lächelnd gestand.

Das Café füllte sich, und Angela hatte alle Hände voll zu tun. Aber einmal, als sie schmutziges Geschirr in den Aufzug stellen wollte, hielt sie Frau Herbst an, und mit deutlichem Hohn in der Stimme sagte sie:

»Nun, Engelchen, warum hat Sie der Verlobte denn gestern abend warten lassen, hm? Ich will es Ihnen sagen: er war bei Prof. Herder zum Abendbrot eingeladen, und darüber hat er Sie anscheinend ganz vergessen.

Na ja, er kann der Frau Professor ja auch schließlich keine Kellnerin ins Haus bringen, nicht wahr? Wundert mich nur, woher er den Professor kennt?«

Angela entschuldigte sich hastig und lief in die Küche und von hier aus in den Hof, wo sie erst einmal tief Atem holte.

Das konnte doch nicht wahr sein, was die Chefin da gesagt hatte. Dieter war doch erst ganz kurz in der Stadt, und hätte er wirklich, ohne ihr Wissen, den Professor konsultiert, dann wäre er doch auch nicht gleich zum Abendbrot eingeladen worden.

Der Professor war als sehr stolz bekannt, niemals würde er mit untergeordneten Angestellten der Firma Kramer verkehren…

Nein, nein, es konnte nicht stimmen. Dieter würde ihr heute abend sicherlich eine plausible Erklärung für sein Ausbleiben geben, und dann würden sie beide über das Gerede der Leute lachen.

Angela straffte sich, wischte die letzten Tränenspuren aus den Augenwinkeln und ging mit hocherhobenem Haupt in das Café zurück.

*

Vier Wochen waren seit diesem Sonnabend vergangen.

Die Fenster standen weit offen und ließen den warmen Sommerabend in das früher als Salon dienende Zimmer der Baronin von Wimpfen.

Der Duft, der vom Garten hereinströmte, war betäubend, doch die junge Frau, die da starr und unbeweglich in dem Empire-Sessel saß, schien das nicht zu spüren.

Ihre Gedanken kreisten um den Mann, dessen Namen sie seit drei Wochen trug, in dessen Armen sie jede Nacht glücklich einschlief und der ihr trotzdem immer rätselhafter wurde.

Sie liebte Dieter. Sie wollte, sie konnte ohne ihn nicht mehr leben. Warum aber hatte er kein Vertrauen, was verschwieg er ihr?

Es war schon zehn Uhr und er war immer noch nicht zu Hause. Dort auf dem Schreibtisch aber lag eine auf Bütten gedruckte Einladung zum Sommernachtsball bei Prof. Herder.

Handschriftlich war dazugeschrieben:

»Wir rechnen bestimmt mit Ihrem Kommen, mein Lieber. Sie dürfen meine Frau nicht enttäuschen, die Ihnen schon eine charmante Tischdame zugedacht hat. Bis dahin – Ihr S. Herder.«

Also kannte er den Professor doch, und ihr hatte er damals erzählt, daß er im Betrieb Überstunden gemacht und vergessen hätte, sie zur Zeit zu benachrichtigen. Warum belog er sie? Es war doch keine Schande, namhafte Leute zu kennen und von ihnen eingeladen zu werden, oder?

Und plötzlich kam ihr die Erleuchtung. Herders und vielleicht auch andere wußten nichts von seiner Eheschließung, denn wenn, müßte man sie dann nicht mit einladen? Ja, das gehörte sich so. Hatte Dieter sie verschwiegen, weil er sich ihrer schämte?

Aber warum hatte er sie dann geheiratet?

Weil er sie liebte, dessen war sie gewiß. Aber konnte man einen Menschen lieben und sich seiner gleichzeitig schämen?

Als vom nahen Kirchturm zwölf Glockenschläge verhallten, ging eine völlig verzweifelte Angela ins Bett. Sie glaubte, nicht schlafen zu können und schlief doch sofort ein.

Später, viel später erwachte sie davon, daß Dieter sich vorsichtig neben sie legte. Als er sich ihr zuwandte, stellte sie sich schlafend, sie wollte heute keine Lüge mehr hören. Er hatte getrunken, bei und mit wem wohl?

Er schlief, sie lag wach. Erst als der neue Tag graute, schlief sie ein. Als sie erwachte, war der Platz an ihrer Seite leer.

Dieter war gegangen, ohne sie zu wecken. – Das hatte er noch nie getan.

Hastig zog sie sich an, und ohne das Zimmer zu reinigen, ohne zu frühstücken, verließ sie das Haus.

*

Der Onkel saß in seiner Portiersloge, sie war mit der Tante allein.

Zunächst sprachen sie über gleichgültige Dinge, bis die Tante plötzlich sagte: »Du bist nicht glücklich. Man sieht es dir an.«

Aufschluchzend warf Angela die Arme auf den Küchentisch, bettete ihren Kopf hinein und weinte, daß der Tante, die solche Ausbrüche von ihrer Nichte nicht gewohnt war, angst und bange wurde. Beruhigend strich sie ihr unbeholfen wieder und wieder über das Haar.

Endlich ließ das entsetzliche Schluchzen nach, und Angela murmelte kaum verständlich:

»Doch, Tante Friedel, ich bin glücklich, sehr glücklich sogar. Dieter ist lieb und zärtlich zu mir, und ich glaube wirklich, daß auch er mich liebt und braucht.

Nur, er… er hat nicht genügend Vertrauen zu mir. Prof. Herder hat ihn zum Ball eingeladen, er nennt ihn »mein Lieber«, ich aber weiß gar nicht, daß er ihn überhaupt kennt.

In der letzten Nacht kam er sehr spät nach Hause. Ich weiß nicht, wo er war. Er hat mich nicht einmal angerufen, um mir zu sagen, daß er später kommt, wie er es sonst immer tut.

Heute hat er mich nicht geweckt. Als ich aufwachte, war er fort, und die Einladungskarte, die auf dem Schreibtisch lag, war auch verschwunden. Er muß doch wissen, daß ich sie gelesen habe, sie kam doch im offenen Kuvert.

Ich weiß nicht mehr, was ich davon halten soll…«

Frieda Lehnhart war eine nüchtern denkende Frau, und obwohl ihr Angela leid tat, sagte sie jetzt ohne Umschweife:

»Ich kann dir sagen, wo dein Mann gewesen war. Herr Kramer persönlich hat ihn eingeladen, aber nicht etwa in den ›Goldenen Engel‹, o nein, zu sich nach Hause…«

»Ja aber«, unterbrach Angela die Tante erregt, »das kann doch nicht sein, ich meine, Dieter kannte doch Herrn Kramer persönlich gar nicht. Er hat mir immer erzählt, sein Vorgesetzter wäre ein Herr Dieterle.«

»Das stimmt schon«, bestätigte die Frau, »aber trotzdem war er gestern Hausgast bei Kramers.

Du weißt, in jeder Firma wird viel geredet, und dein Onkel hört doch sowieso immer das Gras wachsen.

Gestern also ist ein Kunde gekommen, ein Engländer, den man dann nach der Besprechung auch durch das Werk führte. Bei dieser Führung, die sich recht schwierig gestaltete, weil weder Herr Kramer noch sein Prokurist englisch sprechen, entdeckte man dann durch Zufall, daß dein Mann ein ausgezeichnetes, akzentfreies Englisch spricht.

So wurde Herr Kramer auf ihn aufmerksam. Dein Mann beteiligte sich dann an der weiteren Führung und wurde später zusammen mit dem englischen Gast von Herrn Kramer eingeladen.

Siehst du, Angela, alles findet eine ganz einfach Erklärung.

Aber sag einmal«, fragte sie ein wenig lauernd, »wußtest du, daß dein Mann Fremdsprachen spricht? Ich meine, mit diesen Kenntnissen hätte er doch überall eine viel bessere Stellung bekommen können…«

»Ja, natürlich«, fiel Angela ein, »das hätte er wohl. Um so erstaunlicher ist es, daß er ausgerechnet nach Rabenhausen gekommen ist…

Es gibt da irgendwo ein Geheimnis in seiner Vergangenheit, und ich werde nicht warten, bis er mir davon erzählt, sondern ich werde ihn fragen, und er wird mir antworten, ich weiß es gewiß«, setzte sie erleichtert aufatmend hinzu.

Die Tante sah sie nur mitleidig an, sagte aber nichts.

Als Angela am späten Nachmittag, sie hatte der Tante im Garten geholfen, wieder nach Hause kam, wartete Dieter schon auf sie und begrüßte sie mit den Worten:

»Mein Gott, Angela, wo steckst du denn den ganzen Tag? Ich bin schon ein paar Stunden daheim.«

»Das konnte ich ja schließlich nicht ahnen«, sagte Angela schnippisch. »Du kommst und gehst ja sowieso, wann es dir paßt.«

Gekränkt sah der Mann sie an, doch sehr ruhig sagte er:

»Du irrst. Die Einladung von Herrn Kramer kam sehr überraschend für mich. Ich versuchte, dich anzurufen, bekam aber keinen Anschluß.

Heute morgen ließ mich Herr Kramer rufen und sagte mir, daß ich mittags schon nach Hause gehen dürfte, weil es gestern so spät geworden ist. Ich dachte, wir könnten vielleicht einen kleinen Ausflug machen, aber als ich dir davon Mitteilung machen wollte, sagte mir die Baronin, daß du schon ganz früh das Haus verlassen hättest. Schade, nun ist es zu spät.«

Angela schämte sich, sie schämte sich ganz entsetzlich, und schüchtern sagte sie:

»Bitte verzeih, daß ich so garstig war; aber ich habe mir gestern so viele Gedanken gemacht, als ich hier den ganzen Abend allein saß und wartete, und heute morgen bist du gegangen, ohne mich zu wecken, ohne dich zu verabschieden… Ich wußte nicht mehr, was ich davon halten sollte, und da bin ich halt zu meiner Tante gegangen. Ich hielt es hier einfach nicht mehr aus, allein mit meinen Zweifeln…

Sag, Dieter, bereust du es, mich geheiratet zu haben?«

Wie ertappt fuhr der Mann zusammen, denn gerade hatte er dasselbe gedacht. Da sah er Angelas wunderschöne, jetzt feuchtschimmernde Augen, und er konnte nicht länger lügen.

Aufstöhnend barg er seinen Kopf in den Schoß der geliebten Frau, und mit vor Erregung rauher Stimme sagte er:

»Ich liebe dich, Angela, und bin unendlich glücklich, daß es dich gibt und doch… ich hätte dich nicht heiraten dürfen, ich hatte kein Recht, dich an mich zu binden… ich weiß doch nicht einmal, wer ich bin… woher ich komme, nichts weiß ich, nur, daß ich dich liebe und brauche…«

Zärtlich preßte ihn Angela an sich und war glücklich wie noch nie.

*

Angela stand vor dem großen Ankleidespiegel der alten Baronin von Wimpfen und konnte es einfach nicht fassen, daß diese Dame in dem apfelgrünen Tüllkleid mit dem weiten Rock und dem tiefen Dekolleté sie sein sollte –, sie, Angela Schneider.

Zum ersten Male in ihrem Leben fand sie sich schön, und sie freute sich darüber. Sie wollte gefallen –, nicht nur ihrem Mann; heute mußte sie die Feuerprobe bestehen, auf dem Sommernachtsball bei Prof. Herder.