Buch
In Bern wird die kunstvoll drapierte Leiche einer Frau gefunden. Als der Profiler Rudolf Horowitz das spezielle Zeichen entdeckt, das der Mörder in der Haut des Opfers hinterlassen hat, fordert er umgehend Maarten S. Sneijder vom BKA Wiesbaden an.
Dieser äußerst exzentrische niederländische Profiler trifft wenig später zusammen mit seiner jungen Kollegin Sabine Nemez in Bern ein. Gemeinsam untersuchen sie Tatort und Leiche, und bald weist alles darauf hin, dass dieser Mord nur der erste in einer Reihe von äußerst blutigen Taten ist und mit einer anderen Serie von Verbrechen zu tun hat, die Sneijder vor Jahren aufgeklärt hat. Damals brachte Sneijder den ebenso intelligenten wie grausamen Serienmörder Piet van Loon nach einer mörderischen Hetzjagd hinter Gitter.
Van Loon sitzt jetzt in einer Haftanstalt auf einer kleinen Felseninsel in der Flensburger Förde ein. Dort soll die junge Psychologin Hannah eine Therapiegruppe leiten, der auch Piet van Loon angehört. Zwischen den beiden beginnt ein intensives Katz-und-Maus-Spiel, das die aktuellen Ermittlungen beeinflusst.
Dort folgen Sneijder und Sabine inzwischen der blutigen Spur des Mörders. Doch um den Täter endgültig zu überführen, fehlt ein letztes Puzzleteil – und das scheint irgendwo in Maarten S. Sneijders Vergangenheit verborgen zu sein …
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Andreas Gruber
Todesmärchen
Thriller
Goldmann
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V009
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für Heidemarie
danke für die letzten
neunzehn Jahre
»Der ärgste Feind ist in uns selbst.«
– SPRICHWORT –
Prolog
… fünf Jahre zuvor
Maarten S. Sneijder stand an den Klippen und starrte aufs Meer hinaus. Die Gischt spritzte so hoch die Felsen herauf, dass er den feinen salzigen Sprühregen im Gesicht spürte. Noch versteckte sich die Morgensonne hinter einer Nebelbank, auch wenn der Wind bereits angefangen hatte, erste Löcher in die graue Masse zu reißen.
Über Sneijder kreischten die Möwen. Irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Er sah zu dem kleinen Hafen hinunter, in dem sich auch der Bahnhof von Ostheversand befand. Soeben kam ein Wagen die enge Klippenstraße entlang, die er vor einer Stunde zu Fuß hinaufgegangen war. Ein Gefangenentransporter. Er beförderte drei Häftlinge, doch Sneijder interessierte sich nur für einen von ihnen.
Er schnippte die Zigarettenkippe über die Klippen. Für einen Moment war der Duft von Marihuana in der Luft zu spüren, danach nur noch der Geruch von Seetang, Möwenkot und den Muscheln, die an den Felsen klebten und vom schäumenden Meerwasser umspült wurden.
Sneijder trat von den Felsen zurück und verbarg sich im Schatten des hohen Gebäudes, das sich hinter ihm befand. Im nächsten Moment war der Transporter auch schon da und hielt mit knirschenden Reifen auf dem Kies vor dem Tor.
Zwei uniformierte Justizvollzugsbeamte kamen aus dem Gebäude. Sie trugen keine Schusswaffen, waren jedoch mit Taser, Pfefferspray und Schlagstock ausgerüstet. In ihren Gesichtern las Sneijder, dass sie – wenn es sein musste – nicht zögern würden, gnadenlos auf die Häftlinge einzuprügeln. Hier gab es keine Touristen, die mit ihren Handys Videos drehten.
Die Tür des Transporters öffnete sich, und zwei uniformierte Männer stiegen aus, gefolgt von den drei Häftlingen in grauen Overalls. Um ihre Fußgelenke lagen Ketten, und zweien von ihnen waren die Arme vor dem Körper mit Handschellen gefesselt worden. Auch dem dritten hatten sie die Hände gefesselt – allerdings hinter dem Rücken. Wegen dieses Mannes war Sneijder hier. Er musste sichergehen, dass er tatsächlich hinter den Mauern dieser speziellen Anstalt verschwinden würde – und zwar für immer: im Hochsicherheitstrakt für geistig abnorme Rechtsbrecher.
Sneijder trat vor, wandte sich an die Beamten und deutete zu Piet van Loon. »Ihm sollten Sie die Handschellen enger um die Gelenke legen, und werfen Sie einen Blick in seinen Mund.«
»Haben wir schon. Wir machen das nicht zum ersten …«
»Ich auch nicht!«, unterbrach Sneijder den Mann. »Kontrollieren Sie seine Backenzähne!« Er hatte bei Häftlingen schon die unmöglichsten Verstecke entdeckt.
»Ja«, seufzte der Mann.
Die Beamten tauschten einige Dokumente aus, dann wurden die Häftlinge zum Tor geführt, an dem sie das Personal der Anstalt empfing.
»Ihr redet nur dann, wenn ihr gefragt werdet. Und ihr bewegt euch nur, wenn es euch jemand befiehlt. Habt ihr verstanden?«, knurrte einer der Beamten. »Und jetzt rein mit euch!«
Keiner der drei Häftlinge nickte, doch zwei von ihnen folgten den Anweisungen. Einer nicht. Piet van Loon.
Geh schon rein!, dachte Sneijder, doch Piet bewegte sich immer noch nicht. Er stand einfach nur da, reckte die Nase in die Luft, blickte aufs Wasser hinaus und atmete tief ein, als wollte er noch einmal den salzigen Duft des Meeres genießen. In diesem Moment riss die Nebelwand zur Gänze auf, und die Sonne brachte das Meer zum Glitzern. Van Loon drehte langsam den Kopf und blickte zu Sneijder. Dabei fuhr ihm eine Windbö durchs blonde strähnige Haar und wehte es in seine Stirn. Er sagte einen Satz auf Niederländisch, den der Wind zu Sneijder herübertrug.
»Maul halten!«, brüllte einer der Beamten. Van Loon wurde an den Oberarmen gepackt und weitergeschoben.
Einmal noch drehte er sich zu Sneijder um und flüsterte ihm kaum merklich etwas zu. Wieder auf Niederländisch. Sneijder konnte nur an den Lippenbewegungen erkennen, was er gesagt hatte. Im nächsten Moment verschwand Piet van Loon hinter dem Tor.
Nachdem auch die Beamten aus dem Transporter die Anstalt betreten hatten und das Tor verriegelt worden war, stieg der Fahrer aus dem Wagen, vertrat sich die Beine und kam auf Sneijder zu. »Sind Sie Maarten Sneijder?«
»Maarten S. Sneijder«, korrigierte er ihn und steckte sich einen weiteren Glimmstängel an.
Der Fahrer griff in die Jackentasche und holte ein schmales Kuvert hervor, das er Sneijder reichte. »Einer der Häftlinge hat mich gebeten, Ihnen das zu geben.«
Der Umschlag war blütenweiß und sauber zugeklebt. Kein Absender, kein Empfänger.
»Welcher?«, fragte Sneijder, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Der große Niederländer mit den breiten Schultern.«
»Danke.«
»Woher wusste er eigentlich, dass Sie hier sein würden?«
»Er wusste es nicht.« Sneijder ließ das Kuvert ungelesen in der Innentasche seines Sakkos verschwinden.
»Wollen Sie es nicht öffnen?«
»Vielleicht öffne ich es nie«, antwortete Sneijder. »Fahren Sie wieder runter? Im Hafen wartet ein Boot auf mich.«
Der Mann nickte. »Mir wurde gesagt, ich soll Sie mitnehmen. Aber Rauchen ist im Fahrzeug nicht gestattet.«
Sneijder starrte in die Glut des Joints. »Was ich rauche, ist nirgends gestattet.«
»Dachte ich mir schon.« Der Fahrer hob die Augenbrauen. »Was hat der Mann zu Ihnen gesagt?«
Sneijder stieß den Rauch langsam durch die Nase aus und kniff die Augen zusammen. »Zwischen uns ist es noch nicht zu Ende«, übersetzte er. »Der Rest ist unwichtig.«
Sneijder schnippte die Zigarette weg und stieg in den Transporter.
1. Teil
BERN … heute
1
Donnerstag, 1. Oktober
Das bleigraue Wasser der Aare floss träge durch die Stadt und kräuselte sich an den massiven Pfeilern der alten Steinbrücken. Sobald sich die Sonne über die bewaldete Schlosshalde geschoben hatte, würde der Fluss türkis funkeln.
Rudolf Horowitz liebte diesen Anblick. Er saß in eine karierte Steppdecke gewickelt vor dem geöffneten Fenster und sah von seiner Wohnung aus auf Bern hinunter. Bis jetzt war der Herbst eher mild gewesen. Aber das würde nicht so bleiben. In den Nachrichten hatten sie von einer heranziehenden Kaltwetterfront berichtet. Dann würden seine alten Knochen wieder zu schmerzen beginnen. Er schlug den Kragen seiner Strickweste hoch und beugte sich näher zum Fenster. Er liebte den frischen Duft des Morgens. Früher war er jeden Tag vor der ersten Tasse Kakao eine Runde gejoggt, doch vor fünf Jahren hatte er damit aufgehört. Nun vertrieb er sich die Morgenstunden anders.
Er griff in die Papiertüte, holte Brotkrumen hervor und fütterte damit die Tauben, die ein Stockwerk tiefer gurrend über das Balkongeländer seines Nachbarn hüpften. Der hasste ihn dafür, was Horowitz freute. Wer eine junge Frau schlug, für den war Taubenscheiße auf dem Balkon noch das Mindeste, was er verdiente.
Horowitz’ Handy klingelte. Er blickte kurz auf das Display, ließ es aber erst einmal weiter läuten. Er kannte diese Nummer. Wenn Berger anrief, war die Kacke am Dampfen. Erst nachdem er noch eine Handvoll Brotkrumen an die Tauben verfüttert hatte, hob er ab.
»Horowitz«, knurrte er.
»Guten Morgen«, sagte Berger. »Ich nehme an, du bist schwer beschäftigt.«
»Wie immer.« Horowitz leerte die Papiertüte aus dem Fenster. Eine neugierige Taube hüpfte sogar auf seine Fensterbank. Horowitz scheuchte sie weg. Unten darfst du alles vollscheißen. Hier nicht.
»Kannst du zur Untertorbrücke kommen?«, fragte Berger.
»Ich bin nicht mehr im Dienst.«
»Ich weiß, aber … wir brauchen dich.«
»Es dauert ziemlich lange, bis ich dort bin.«
»Ein Wagen ist bereits unterwegs zu dir. Ein bequemer großer Van. Deine ehemaligen Kollegen holen dich ab.«
»Ihr müsst es ja ziemlich eilig haben.«
»Sieh es dir an, dann weißt du, warum. Bis später.« Berger hatte aufgelegt.
Horowitz schloss das Fenster, dann fuhr er mit seinem Rollstuhl ins Wohnzimmer und holte Kamera und Diktiergerät aus einem alten verstaubten Koffer.
Die Untertorbrücke war die älteste Steinbrücke Berns und stammte aus dem fünfzehnten Jahrhundert. Sie bestand aus drei massiven, langgezogenen Rundbögen, die sich über die Aare spannten und die Landzunge der Innenstadt mit dem anderen Ufer verbanden.
Die Feuerwehr hatte neben der Brücke eine zwei Meter tiefer gelegene Plattform aus Eisentraversen errichtet, deren Pfeiler im Fluss standen. Die Brücke war gesperrt, und der Verkehr wurde umgeleitet. Auch der Bereich zu beiden Seiten des Ufers war großräumig abgesperrt worden, damit keine Schaulustigen die Arbeit der Kripo störten. Nicht zu vermeiden gewesen war, dass die Menschen aus ihren Fenstern stierten oder auf ihren Dachterrassen standen und mit Feldstechern zu Brücke und Baugerüst hinübersahen. Bestimmt gab es bereits die ersten Videos im Internet.
Horowitz fuhr mit dem Rollstuhl durch die geöffnete Schiebetür des Polizeivans über eine Rampe hinunter und wurde sogleich von Berger begrüßt. Dieser trug Anzug, Krawatte, einen schwarzen Steppmantel und hatte – seit Horowitz ihn das letzte Mal vor fünf Jahren gesehen hatte – graue Schläfen bekommen.
»So schick?«, fragte Horowitz, dem keine Zeit zum Umziehen geblieben war und der immer noch seine Strickweste und eine braune Flanellhose trug.
Berger ignorierte den Kommentar. »Morgen, Rudolf«, sagte er nur.
»Mein Gott, bist du alt geworden«, brummte Horowitz.
Berger hielt sich sichtlich zurück. »Ja, ich freue mich auch, dich zu sehen.« Eigentlich hätte er sagen können, was er wollte, da er als Staatsanwalt des Kantons Bern fast niemandem Rechenschaft ablegen musste. Aber anscheinend hatten ihn die Jahre ruhiger gemacht.
Statt sich also mit Horowitz auf irgendwelche Wortgefechte einzulassen, deutete Berger jetzt auf einen jungen Beamten Anfang dreißig, der an seiner Seite stand und hier offensichtlich die Ermittlungen leitete. »Das ist Kommissariatsleiter Rüthy von fedpol.«
Horowitz kniff die Augen zusammen. fedpol? »Und was ist mit dem kriminaltechnischen Dienst der Kantonspolizei Bern?«
Berger schüttelte den Kopf. »Nicht zuständig. Ich habe gleich fedpol mit den Ermittlungen beauftragt.«
Horowitz nickte. Die Bundeskriminalpolizei von fedpol ermittelte nur dann direkt, wenn wirklich etwas im Argen lag oder wenn die Zeit drängte und die Staatsanwaltschaft sämtliche bürokratischen Amtswege außen vor lassen musste.
Der junge Mann mit den roten Haaren, Sommersprossen und Segelohren trug legere Jeans und eine Windjacke. Er streckte Horowitz die Hand entgegen, die dieser jedoch nicht nahm. »Ich freue mich, Sie kennenlernen zu dürfen und dass Sie sich Zeit nehmen für …«
»Sag dem Jungen, er soll wieder aus meinem Hintern kriechen.«
Berger blickte seinen jungen Kollegen an und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Er mag es nicht, wenn man ihm die Hand gibt.«
»Verstehe.« Rüthy zog die Hand zurück.
Berger wandte sich wieder an Horowitz. »Auch im Ruhestand bist du immer noch der beste Profiler, den es gibt, und kennst die Psyche sämtlicher Serientäter. Deshalb möchte ich dich bitten, ein wenig …«
»Ihr geht von einem Serienmörder aus?«
Berger blickte zur Brücke. »Sieht ganz danach aus. Ich habe schon vieles gesehen, aber so etwas noch nicht. Während das Gerüst aufgebaut wurde, haben die Leute von fedpol und ich den Tatort diskutiert und vom Boot aus jeden Winkel studiert. Aber wir kommen nicht dahinter.«
Horowitz sah ihn fragend an. »Hinter was?«
»Was bezweckt der Killer damit? Warum hier? Warum so? Warum heute? Und warum ausgerechnet … dieses Opfer?«
»Sehen wir es uns an«, schlug Horowitz vor.
Berger steckte die Hände in die Manteltaschen und blickte auf die andere Straßenseite zu seinem Wagen. »Die Spurensicherung hat soeben mit der Arbeit begonnen«, erklärte er. »Ich würde dich ja gern zum Tatort begleiten, aber ich muss zu einer Pressekonferenz.«
»Deswegen?«
»Ja, deswegen. Rüthy zeigt dir alles. Ihr werdet sicher gut miteinander auskommen.«
»Bestimmt«, knurrte Horowitz. »Habe ich freie Hand?«
»Hast du. Ich muss los.« Berger drückte Horowitz kurz die Schulter. »Danke.« Dann warf er Rüthy einen beschwichtigenden Blick zu und wandte sich ab.
Horowitz sah ihm nach, wie er zu seinem Auto lief und bereits nach wenigen Schritten hektisch ins Handy sprach.
»Immer im Stress«, seufzte Horowitz. »Wollen Sie wissen, ob ich diese Arbeit vermisst habe? Nein, keine Minute lang.« Er blickte Rüthy erwartungsvoll an. »Und?«
»Soll ich Sie hinfahren?«
»Nein verdammt, Sie sollen mir einen Becher heißen Kakao holen, mit so viel Milch und Honig, dass der Löffel drin stecken bleibt. Ich brauche Zucker beim Denken.«
»Ich bin nur deshalb freundlich zu Ihnen gewesen, weil Sie eine Legende und ein guter Freund von Staatsanwalt Berger sind, aber ich bin nicht Ihr …«
»Mit viel Milch und Honig«, wiederholte Horowitz.
Rüthy atmete tief durch. »Ich wüsste nicht, woher … Ich meine …«
Horowitz sah sich um. Die Kaffeehäuser hatten noch geschlossen. »Vergessen Sie es«, knurrte er. »Kommen Sie mit.« Er wendete den Rollstuhl, fuhr mit ein paar kräftigen Schwüngen zur Rampe, ließ sich auf die Hinterräder kippen und hievte die Vorderräder schwungvoll auf die Plattform. Unter der Brücke ankerte ein Boot der Seepolizei, auf dessen Heck zwei uniformierte Beamte soeben ein Stativ für Scheinwerfer errichteten.
Mit einem weiteren kräftigen Schwung rollte Horowitz auf das Gerüst zum ersten Rundbogen. Seit er vor fünf Jahren aus dem Dienst scheiden musste, waren seine einst muskulösen Beine im Rollstuhl zu dünnen Ästen verkümmert. Von Anfang an hatte er absichtlich auf den Elektromotor verzichtet, den ihm das Bundesamt für Polizei sicherlich bezahlt hätte. Aber er wollte von keinem Akku abhängig sein oder durch einen Kurzschluss lahmgelegt werden, sondern selbst über sein Schicksal bestimmen. Binnen kürzester Zeit waren seine Arme immer kräftiger geworden, und auf seinen Händen hatten sich harte Schwielen gebildet. Auf diese Weise war er körperlich fitter als so manch anderer Siebzigjährige – zumindest von der Taille an aufwärts.
Horowitz erreichte den ersten Rundbogen aus massivem Stein und stoppte den Rollstuhl. Hier roch es nach brackigem Wasser. Einige Krähen saßen im Gebälk unter der Brücke, andere flatterten aufgeregt herum. Horowitz fuhr über das Metallgerüst in den Schatten der Brücke. Schlagartig wurde es kühler, doch wirklich innerlich erstarren ließ Horowitz erst der Anblick der Leiche. Von ihr ging eine ganz andere Kälte aus, die ihm die Kehle zuschnürte.
Ein Kripofotograf, der Rechtsmediziner und zwei Männer von der Spurensicherung in weißen Overalls arbeiteten bereits vor Ort. Für einen Moment nahm Horowitz das blendende Licht eines Scheinwerfers die Sicht. Ein Mann rollte soeben ein Stromkabel von einer Kabelrolle ab. Hier ging es zu wie auf dem Hauptbahnhof.
»Wissen Sie, was ich mir denke …«, begann Rüthy.
»Wie lange sind Sie schon bei der Kripo?«, unterbrach Horowitz ihn, ohne den Blick von der Leiche zu nehmen.
»Seit drei Jahren und seit einem Jahr bei der Mordgruppe.«
»Sie dürfen sich erst dann etwas denken, wenn Sie zwanzig Jahre lang dabei sind«, schnitt Horowitz ihm das Wort ab. Im Moment brauchte er einen übereifrigen Burschen an seiner Seite so dringend wie einen Pickel in der Arschfalte.
Fasziniert starrte Horowitz auf den Rücken der Toten. Wie hat der Mörder sie an diese Stelle gebracht? Und warum ausgerechnet an diese Stelle?
Eine Krähe glitt im Tiefflug über Horowitz’ Kopf. Beinahe hätte ihn das Tier berührt. Er liebte Tauben, aber er hasste Krähen. Sie waren wie Aasgeier. Offensichtlich hing die Leiche bereits seit den frühen Nachtstunden hier, denn die Viecher hatten bereits einige Teile aus dem Fleisch gepickt.
Horowitz schätzte die nackte Frau auf etwa fünfzig Jahre. Sie hing nur an ihrem langen Haarschopf, der oben an der Brücke festgemacht worden war. Eine Krähe flog von der Schulter der Leiche weg, ließ sie eine langsame Drehung vollziehen, und die Vorderseite der Toten schwang zu Horowitz. Ihre Augen fehlten bereits, die Gesichtszüge hingen schlaff herunter … dieses Gesicht! Verdammt! Er kannte die Frau. Nun wusste er, warum die Kripo unter Zeitdruck stand und jetzt schon eine Pressekonferenz einberufen hatte.
»Scheiße …«, entfuhr es ihm.
»Ich würde gern …«, begann Rüthy.
»Nicht jetzt!« Horowitz rollte näher. Was war das auf dem Bauch der Toten? »Haben Sie eine Taschenlampe?«
»Ja.«
»Her damit!« Horowitz streckte die Hand aus, ohne den Blick von der Leiche zu nehmen. Rüthy gab ihm die Lampe, und Horowitz richtete den Strahl auf den Bauch der Toten.
»Scheiße«, flüsterte er ein weiteres Mal. Ein schreckliches Déjà-vu jagte ihm einen Schauer über den Rücken, und hätte er noch Gefühl in den Beinen gehabt, wäre das Kribbeln bestimmt auch noch in den Zehenspitzen zu spüren gewesen.
»Sagen Sie Ihren Leuten, dass sie sofort die Arbeit einstellen sollen«, befahl Horowitz.
Rüthy bekam große Augen. »Was sollen sie?«
»Herrgott!« Horowitz fuhr zum Geländer des Gerüsts. »He, Sie! Lassen Sie alles liegen und stehen und verschwinden Sie von hier.«
»Was?«, rief einer der Männer.
»Sind Sie taub?«, brüllte Horowitz. »Alle Mann herhören!« Er klatschte in die Hände. »Ab jetzt wird nur noch das angefasst, was Sie hergebracht haben. Sie packen sofort Ihre Stative, Lampen und Kabeltrommeln zusammen und bringen alles wieder in den ursprünglichen Zustand. Dann verlassen Sie den Tatort, haben Sie verstanden?«
»Hören Sie mal«, sagte einer der Männer. »Ich bin der Rechtsmediziner und verantwortlich dafür, dass die Leiche …«
»Ist mir scheißegal, wer Sie sind. Und wenn Sie die Bundespräsidentin wären. Packen Sie Ihren Krempel ein und verschwinden Sie von hier.«
Die Männer starrten ihn an. »Und wer sind Sie?«
»Derjenige, der diesen Fall aufklären wird. Wenn Ihnen das nicht passt, beschweren Sie sich beim Staatsanwalt. Und jetzt hauen Sie ab.« Horowitz beugte sich über seinen Rollstuhl. »Und Sie von der Seepolizei auch«, brüllte er hinunter. »Sofort!« Er wandte sich an Rüthy. »Sie haben doch sicherlich ein Telefon?«
Rüthy nickte nur. Anscheinend war er angesichts von Horowitz’ Ausbruch zu verdutzt, um ebenfalls zu protestieren.
»Berger sagte vorhin, ich sei der Beste.« Horowitz schüttelte den Kopf. »Das ist glatt gelogen. Es gibt einen, der ist besser als ich.« Er holte die Visitenkarte aus seinem Portemonnaie, die er immer bei sich trug. »Buchen Sie ein erstklassiges Hotelzimmer in Bern. Sorgen Sie dafür, dass sich keine Zimmerpflanzen darin befinden und der Rauchmelder ausgeschaltet ist. Und dann rufen Sie diese Nummer an.«
Rüthy nahm die Karte und warf einen Blick auf die Adresse. »Das ist das deutsche Bundeskriminalamt in Wiesbaden.«
»Sie können ja lesen.« Horowitz’ Stimme troff vor Sarkasmus. »Dieser Mann soll sofort herkommen.«
»Maarten Sneijder«, murmelte Rüthy.
»Maarten S. Sneijder«, korrigierte Horowitz ihn.
»Und warum keine Zimmerpflanzen?«
»Die nehmen ihm angeblich den Sauerstoff zum Denken.«
»Und der Rauchmelder?«
»Fragen Sie lieber nicht. Wir brauchen ihn hier. Und solange er nicht eingetroffen ist, sorgen Sie dafür, dass keiner am Tatort herumlatscht und etwas anfasst.«
»Aber wenn er verhindert ist oder nicht herkommen will?«
Horowitz starrte zur Toten. »Schicken Sie ihm ein Foto vom Bauch der Leiche. Dann wird er kommen!«
2
Mittwoch, 23. September
Der Wagon holperte mit einem beruhigenden Ta-tamm–Ta-tamm über die Gleise. Nach jeder Schwelle hüpfte der Koffer im Gepäckfach ein wenig hoch. Insgesamt würde die Fahrt nur zehn Minuten dauern – und die Hälfte lag schon hinter ihr.
Hannah saß am Fenster und blickte hinaus. Zu beiden Seiten erstreckte sich das Meer. Die See war spiegelglatt und der Horizont so eben wie mit einem Lineal gezogen. Die Sonne lag hinter einer weißen Wolkenbank. Angeblich war es so hoch im Norden immer bewölkt, besonders zu Herbstbeginn.
Hannah blickte nach vorne zur Lokomotive. Der Damm machte eine leichte Rechtskurve, in die sich der Zug legte. Eigentlich war die Fahrt ein wenig beängstigend, denn der Damm war schon 1927 errichtet worden, an der schmalsten Stelle nur zehn Meter breit und führte fünf Kilometer vom Festland direkt übers Meer zur Insel Ostheversand. Fast ein Jahrhundert war das nun her, und man gelangte immer noch entweder nur mit dem Zug oder dem Polizeiboot auf diese Insel. Vielleicht war das aber auch Absicht – eine perfekte Sicherheitsmaßnahme.
Die Felseninsel kam in Sicht, und Hannah presste das Gesicht an die Scheibe. Ostheversand bestand aus nichts weiter als schroffem Stein und grünem Moos. Unten, wo das Wasser an die Klippen schlug, war das Gestein dunkel, weiter oben wurde es immer heller. Manche Felsen schimmerten weiß im Sonnenlicht. Als Nächstes kamen der Leuchtturm, der Hafen und der kleine Bahnhof in Sicht.
Hannah erhob sich, nahm ihren Koffer aus dem Gepäckfach und trat aus dem Abteil. Der Zug verließ den Damm und fuhr auf der Insel in den Bahnhof ein.
»Soll ich Ihnen helfen, junge Dame?«, fragte der Schaffner.
»Danke, nicht nötig.« Hannah öffnete die Tür. Diese altmodischen Falttüren, bei denen eine Treppe für die Füße ausfuhr, hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gesehen. Beinahe wirkte der Zug, als stammte er wie die Gleisanlage vom Beginn des vorigen Jahrhunderts.
Hannah betrat den Bahnsteig und ging durch die Wartehalle ins Freie, wo sie ihren Koffer abstellte. So sah sie also aus, die Flensburger Förde, jene schmale Bucht in der Ostsee zwischen Deutschland und Dänemark. Am Horizont konnte sie sogar die Küste Dänemarks erkennen.
Die Möwen zogen ihre eleganten Runden über die Anlegestelle des kleinen Hafens und umkreisten den Leuchtturm, der mit seinen rot-weißen Streifen wie ein weiteres Relikt aus dem vorherigen Jahrhundert wirkte. Hannah fragte sich, ob er in der Nacht immer noch sein Licht über das Meer schickte, und falls ja, ob sie es von ihrem Zimmer aus sehen würde. Boote waren jedenfalls keine unterwegs.
Sie blickte auf die Uhr. Kurz nach acht. Der Zug war pünktlich angekommen. Soeben jagte ein Auto die Straße herunter, legte sich schwungvoll in die Kurve und hielt vor dem Bahnhof. Ein großer schlanker Mann mit breiten Schultern und blonden schulterlangen Haaren stieg aus. Er ließ den Motor laufen, sodass der Wagen, ein alter weißer VW-Käfer, weiter vor sich hin knatterte. Die Hemdsärmel des Mannes waren aufgerollt, und er klemmte sich die Daumen in die Hosenträger. Seine Leinenhose hing ziemlich weit oben und gab einen Blick auf seine Socken preis. Rot-weiß gestreift, passend zum Leuchtturm.
Er wippte auf den Zehenballen. »Sind Sie Hannah Norland?«, rief er.
Wie scharfsinnig. Immerhin war sie die einzige Frau, die mit dem Zug angekommen war. »Ja.«
»Willkommen auf Alcatraz. Ich bringe Sie zu Ihrem Quartier.« Zielstrebig kam er auf sie zu, nahm ihr jedoch, als er bei ihr war, den Koffer nicht ab, sondern sagte nur: »Auf dem Rücksitz ist Platz für Ihren Koffer – bin gleich wieder da.« Ohne weiteren Kommentar marschierte er durch die Wartehalle zum Zug.
Hannah hörte, wie er mit dem Schaffner sprach. Sie ging zum Wagen, klappte den Beifahrersitz nach vorne und verstaute ihren Koffer. Im nächsten Moment kam ihr Fahrer auch schon wieder aus dem Bahnhof. Jetzt trug er einen Postsack über der Schulter, den er zu ihrem Koffer auf die Rückbank warf.
»Der Zug verkehrt nur zweimal täglich und verbindet die Insel mit dem Festland.« Er wischte sich die Hand an der Hose ab und reichte sie ihr. »Ich bin Frenk, nicht Frank, auch nicht Fränk, sondern Frenk mit e. Frenk Bruno.« Er grinste. »Meine Mutter hat mich so genannt. Wollte mir damit wahrscheinlich eins auswischen. Hab sie dann vergewaltigt und ihr den Schädel eingeschlagen. Brauchen aber keine Angst zu haben. Ist schon viele Jahre her, war damals erst fünfzehn. Habe mich seitdem geändert. Jetzt bin ich dreißig.«
Hannah starrte ihn an. Meinte er das tatsächlich ernst? Zumindest wirkte er nicht so, als wollte er sie verarschen. Vermutlich hatte er seine Strafe im Jugendknast abgesessen.
»Und Sie?«, fragte er.
»Ich bin siebenundzwanzig«, sagte sie.
»Nein, ich meine, ob Sie auch jemanden getötet haben?«
»Nein, ich habe niemanden getötet, ich bin … aus einem anderen Grund hier.« Sie musterte Frenk. Das fing ja gut an.
Frenk klopfte auf das Autodach. »Die Insel ist zwei Quadratkilometer groß. Insgesamt gibt es hier nur fünf Autos. Eines gehört dem Leuchtturmwärter, die anderen vier der Anstalt.« Er sprang in den Wagen. »Kommen Sie, der Direktor will Sie sehen.«
Sie stieg in den Wagen und schloss die Tür.
Frenk beugte sich zu ihr und musterte sie scharf. »Haben Sie nicht etwas vergessen?«
Sie blickte ihn fragend an. »Trinkgeld?«
Er sah sie ernst an. »Nein, anschnallen! Der Direktor legt großen Wert auf Sicherheit. Und Bestechungsgelder darf ich nicht annehmen!«
Frenk Bruno legte den Gang ein, drehte eine Runde vor dem Bahnhof und fuhr dann die Straße zur Anhöhe hinauf.
Hannah schnallte sich an. Dieser Mann hatte dringend eine Therapie nötig. Und wenn das schon für den Fahrer galt – wie würden dann erst die Häftlinge sein?
Nach einer Biegung hatten sie einen ungehinderten Blick auf die Anhöhe direkt vor ihnen. Auf der höchsten Stelle der Insel lag Steinfels, das Hochsicherheitsgefängnis für geistig abnorme Rechtsbrecher. Daneben befand sich der Angestelltentrakt. Zwischen den Gebäuden erstreckte sich eine Lindenallee, die – zwischen dem Knast und der freien Welt – wie eine Barriere wirkte. Angeblich waren auch im Angestelltenhaus alle Fenster vergittert, doch das konnte Hannah aus dieser Entfernung nicht sehen. Obwohl das Gebäude sicher schon siebzig Jahre alt war, gab es diese Einrichtung erst seit fünf Jahren. Steinfels war ein Versuchsprojekt.
Hannah hoffte, dass sich ihre Ausbildung bezahlt machen würde. Schließlich hatte sie fünf Jahre lang auf diesen Moment gewartet. Nun musste sie endlich Antworten finden.
3
Donnerstag, 1. Oktober
Sabine Nemez setzte die Sonnenbrille auf und ging an der breiten Glasfassade der Schwimmhalle vorbei. Die Scheiben waren innen von Kondenswasser beschlagen, und zarte Dunstschleier lagen auf der glatten blauen Wasseroberfläche. Innerhalb der nächsten Stunde würden die Trainingseinheiten der Taucher beginnen, und dann war es mit der geradezu idyllischen Ruhe vorbei.
In den Hörsälen daneben war Sabine in den letzten zwei Jahren zur forensischen Fallanalytikerin ausgebildet worden. Sie gehörten zur Akademie für hochbegabten Nachwuchs, mit der das Bundeskriminalamt hier auf dem Wiesbadener Geisberg dafür sorgte, dass ihm die Ermittler nicht ausgingen. Sabines Lehrer und Mentor, der von allen Studenten zu Recht gefürchtete Maarten S. Sneijder, hatte sie während dieser Zeit unter seine Fittiche genommen. Dabei hatte Sabine den Eindruck gehabt, dass er ausgerechnet sie und ihre Kollegin Tina Martinelli härter rangenommen hatte als all seine anderen Studenten.
Sabine erinnerte sich gern an ihre Ausbildung, weshalb sie immer noch in der Kantine der Akademie frühstückte oder zu Mittag aß, wann immer sie Zeit dafür fand. Merkwürdigerweise hatten alle anderen aus dem Modul das Handtuch geworfen: Gomez, Schönfeld und Meixner waren abgesprungen, nur Tina und sie hatten das Programm bis zum Ende durchgezogen.
Sneijder hatte es prophezeit. Es gab eine Durchfallquote von siebzig Prozent. Im Sommer hatten Sabine und Tina ihren Abschluss an der Akademie gefeiert und standen nun seit zweieinhalb Monaten im Außendienst. Tina arbeitete als Spezialistin für Entführungsfälle und Sabine in der Mordgruppe. Ihre Einsätze führten sie quer durch Deutschland und manchmal auch ins Ausland. Sabine hatte kürzlich zwei Fälle parallel lösen können, nachdem sie den Zusammenhang zwischen ihnen erkannt hatte. Sie versuchte, die unschöne Erinnerung so rasch wie möglich zu begraben, denn ab morgen stand nach langer Zeit ihr langersehnter erster Urlaub auf dem Programm. Endlich heim nach München, ihre Schwester und ihre drei Nichten wiedersehen.
Sie betrat den Speisesaal, schob sich die Sonnenbrille ins Haar und holte sich einen Becher Kaffee aus dem Automaten. Damit setzte sie sich an einen freien Tisch und blickte aus dem Fenster. Neben dem beschrankten Parkplatz und der Heckenreihe lag der Helikopterlandeplatz. Mehrmals täglich knatterte hier ein Hubschrauber heran, doch im Moment war es ruhig.
Soeben wurde die Tür zur Kantine aufgestoßen, und einige der neuen Studenten, die im September mit der Ausbildung begonnen hatten, traten ein. Sie nahmen keine Notiz von Sabine und setzten sich an einen Tisch.
»Sneijder ist ein Arsch«, murmelte einer.
»Ein arroganter Kotzbrocken.«
»Meinst du, es macht ihm Spaß, uns zu demütigen?«
»Bestimmt. Das erkennt man gleich an dem berühmten Leichenhallenlächeln, das er aufsetzt, wenn ihm wieder ein Kommentar einfällt, mit dem er uns niedermachen kann.«
Sneijders berühmtes Leichenhallenlächeln! Fast hätte Sabine aufgelacht. Diese Sprüche hatte sie in den letzten Jahren öfters gehört und manchmal sogar selbst ausgesprochen. Doch mittlerweile wusste sie: Sneijders Unterricht hatte Methode. Seine Philosophie war es, seine »Schützlinge« für den Job draußen so gut wie möglich vorzubereiten. Menschenleben hängen von Ihrem Einsatz ab, hatte er ständig betont. Und wenn Sie jetzt aufgeben, brechen Sie draußen erst recht zusammen. Nicht umsonst gab es in Sneijders Modulen diese hohe Durchfallquote. Schönfeld, Gomez und Meixner wären dem Job nicht gewachsen gewesen – und manchmal zweifelte Sabine sogar an ihren eigenen Fähigkeiten.
»Vielleicht denkt Maarten Sneijder, dass …«
»Maarten S. Sneijder«, unterbrach einer der Studenten seine Kollegin mit zynischem Unterton. »Außerdem – Sneijder denkt nicht, er weiß.«
»Wenn er nicht einschlafen kann, zählt er angeblich nicht Schäfchen, sondern die Killer, die er gefasst hat.«
Manchmal fragte sich Sabine, wie sie ihre eigene Studentenzeit durchgestanden hatte. Vielleicht war ihr Vorteil gewesen, dass sie mit achtundzwanzig Jahren erst relativ spät an der Akademie begonnen hatte. Wäre sie zuvor nicht mehrere Jahre beim Münchner Kriminaldauerdienst gewesen, hätte sie bei Sneijders unkonventionellen Unterrichtsmethoden vermutlich ebenso das Handtuch geworfen. Außerdem war es immer ihr großer Traum gewesen, eine Ausbildung beim BKA machen zu dürfen. Nun hatte sie es durchgestanden – sich den erfolgreichen Abschluss zu ihrem dreißigsten Geburtstag im Juni sozusagen selbst zum Geschenk gemacht –, und sie war ehrlich gesagt ein wenig stolz darauf.
»Das ist doch die Nemez …«
Den Rest verstand Sabine nicht mehr. Sie erhob sich, warf den Plastikbecher in den Müll und verließ die Kantine. Auf dem Weg zum Ausgang kam sie an den Hörsälen vorbei. Eine Tür war nur angelehnt, und sie hörte tatsächlich Sneijders Stimme. Sein niederländischer Akzent mit dem gedehnten L war kaum zu überhören, und sie würde diese Stimme unter Tausenden wiedererkennen.
»Sie reden doch ständig von der Seele des Mörders«, hörte Sabine einen Studenten. »Was ist diese Seele? Können Sie mir diese Seele bei einer mikroskopischen Untersuchung des Gehirns zeigen?«
Boah-eh! Der Student hatte einen provokanten Ton angeschlagen. Manche wollten Sneijder herausfordern, doch meist ging das schief.
Unwillkürlich blieb sie neben dem Türspalt stehen und blickte in den Saal. Sechs Studenten saßen in der ersten und zweiten Reihe. Sabine konnte Sneijder nicht sehen, da er vermutlich hinter seinem Pult stand, das von der Tür verdeckt wurde. Sie hörte nur seine gelassene Stimme.
»Warum sind Sie an einem mikroskopischen Beweis interessiert?«
Sabine sah, wie der Student schmunzelte. »Das ist mein Drang nach der Erforschung der Wahrheit. Die Suche nach Fakten, Beweisen und logischen Ursachen.«
»Und dieses Streben nach Wahrheit … Was ist das?«, fragte Sneijder. »Ist es etwas Leibliches und Fleischliches oder etwas Seelisches?«
Der Student zögerte. »Etwas Seelisches.«
»Aha.«
In Gedanken sah Sabine, wie Sneijder sein Leichenhallenlächeln aufsetzte. Sie hörte, wie er das Podest verließ und zur ersten Reihe ging.
Durch den Türspalt sah sie seine hagere Gestalt von hinten. Er war etwas über einen Meter achtzig groß und trug wie üblich einen schwarzen Designeranzug. Er verschränkte seine langen Arme hinter dem Rücken und legte den Kopf schief. Seine Glatze war wie immer käsebleich, als hätte sie schon seit Jahren kein Sonnenlicht mehr gesehen.
»Mit einem Wort«, sagte Sneijder, »Sie suchen nach der Seele, können sie nicht finden, dabei ist sie bei all Ihrer Suche längst schon die Voraussetzung gewesen.«
Der Student schwieg.
Langsam drehte Sneijder sich zur Seite und starrte Sabine an, als hätte er längst geahnt, dass sich jemand hinter dem Türspalt verbarg. Er zwinkerte ihr zu.
Sie nickte lächelnd. Nimm sie ordentlich ran! Da läutete ihr Handy. Sie zog es aus der Tasche und lief den Korridor hinunter zum Ausgang.
»Ja?«
»Frau Nemez, Präsident Hess möchte Sie sprechen. Und zwar vor dem Hauptgebäude – jetzt!«
Es war die Sekretärin des BKA-Präsidenten. Sabine wurde stutzig. »Er will mir doch sicher nicht nur alles Gute für meinen bevorstehenden Urlaub wünschen?«
»Nein, ich fürchte nicht«, antwortete sie. »Er sagte, er habe ein neues Betätigungsfeld für Sie. Und es ist dringend.«