Charlie Lager ist Stockholms beste Ermittlerin – doch sie hat Leichen im Keller …
»Löwenzahnkind«: Gullspång, eine Kleinstadt in Westschweden. Als in einer heißen Sommernacht die siebzehnjährige Annabelle spurlos verschwindet, ist schnell klar, dass Verstärkung angefordert werden muss. Mit Charlie Lager schickt die Stockholmer Polizei ihre fähigste Ermittlerin – doch was die Kollegen nicht wissen dürfen: Die brillante Kommissarin ist selbst in Gullspång aufgewachsen. Und je tiefer Charlie nach der Wahrheit hinter Annabelles Verschwinden gräbt, desto mehr droht das Netz aus Lügen zu reißen, das sie um ihre eigene dunkle Vergangenheit gesponnen hat. Doch die Zeit drängt – sie muss Annabelle finden, bevor es für sie beide zu spät ist …
»Hagebuttenblut«: Nie wieder wollte Charlie Lager in ihren Heimatort Gullspång zurückkehren. Doch die brillante Stockholmer Ermittlerin ist gezwungen, diesen Schwur zu brechen, als sie von einem ungelösten Fall Wind bekommt: Vor dreißig Jahren verschwand die sechzehnjährige Francesca aus Gullspång und wurde nie gefunden. Das große verfallene Herrenhaus ihrer Familie steht seitdem leer. Sobald das düstere Gebäude vor Charlie aufragt, spürt sie, dass ihr dieser Fall alles abverlangen wird – denn sie erinnert sich dunkel an diesen Ort. Und Charlie ahnt, dass sie alles zu verlieren hat: Wenn sie die Wahrheit um Francescas Verschwinden ans Licht zerrt, kann sie ihr eigenes Leben für immer zerstören.
»Mohnblumentod«: In Karlstad wird ein neun Monate altes Baby entführt. Das reiche Elternpaar steht unter Schock, die Medien berichten sensationsheischend über die vergebliche Suche. Eine Lösegeldforderung bleibt aus, vielversprechende Spuren verlaufen im Sand – doch dann erhält die brillante Stockholmer Kommissarin Charlie Lager einen Hinweis, der alles verändert: Der Fall scheint mit ihrer eigenen Familie und ihrer Vergangenheit verknüpft, die sie für immer begraben wollte. Mit jeder Stunde, die verstreicht, werden die Chancen geringer, das junge Leben zu retten. Charlie ist gezwungen, sich nicht nur um Beatrice’ willen bis an ihre Grenzen zu treiben – sondern auch aus Angst um sich selbst.
Lina Bengtsdotter wuchs in der schwedischen Kleinstadt Gullspång auf, die sie zum Setting ihrer beliebten Thriller-Serie um die Ermittlerin Charlie Lager machte. Nach dem sensationellen Reihenauftakt »Löwenzahnkind« stürmte auch »Hagebuttenblut« sofort die SPIEGEL-Bestsellerliste. Mit »Mohnblumentod« schreibt sie die einmalige Erfolgsgeschichte fort. Lina Bengtsdotter lebt inzwischen in Stockholm.
Lina Bengtsdotter
Die Charlie-Lager-Reihe
Drei Romane in einem Band
Löwenzahnkind
Hagebuttenblut
Mohnblumentod
Aus dem Schwedischen
von Sabine Thiele
Lina Bengtsdotter
Thriller
Aus dem Schwedischen
von Sabine Thiele
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»Löwenzahnkind«
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»Hagebuttenblut«
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»Mohnblumentod«
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Redaktion: Maike Dörries
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Lina Bengtsdotter
Thriller
Aus dem Schwedischen
von Sabine Thiele
Lina Bengtsdotter
Thriller
Aus dem Schwedischen
von Sabine Thiele
Für meine Töchter Ebba, Edit und Ingrid
It was many and many a year ago,
In a kingdom by the sea,
That a maiden there lived whom you may know
By the name of Annabel Lee;
And this maiden she lived with no other thought,
Than to love and be loved by me.
Aus »Annabel Lee« von Edgar Allan Poe
Nebel stieg über den Wiesen auf, Grillen zirpten am Wegesrand. Das Mädchen wankte den Schotterweg entlang. Zwischen ihren Beinen pochte es, etwas floss aus ihr heraus. Sie hätte weinen sollen, doch die Tränen wollten nicht kommen.
Wie spät war es? Elf? Zwölf? Sie holte ihr Handy aus der Tasche. Fast halb eins. Mama würde ausflippen. Sie würde sie in der Haustür abpassen, an den Schultern packen und schütteln und sie anbrüllen, wo sie gewesen sei. Dann würde sie die Kratzer sehen, das Blut, das zerrissene Kleid. Wie sollte sie das nur erklären?
Sie war so in Gedanken versunken, dass sie die Gestalt vor sich erst bemerkte, als diese nur noch wenige Meter entfernt war. Zuerst schrie sie laut, doch als sie das Gesicht erkannte, atmete sie erleichtert auf.
»Ach, du bist es«, sagte sie undeutlich. »Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt.«
Es war Anfang Juni, und nachts wurde es nicht mehr richtig dunkel. Fredrik Roos saß im Auto und blickte über die nebligen Wiesen. Er wusste, dass Annabelle hier gerne den Weg abkürzte, dass sie bereits ihre eigenen Trampelpfade im hohen Gras angelegt hatte. Nora hatte ihr natürlich verboten, sich nachts dort herumzutreiben, aber Fredrik wusste, dass sie es trotzdem tat, und er hatte Verständnis dafür. Bei Noras strengen Ausgangsregeln war jede Minute wertvoll. Er hoffte, dass seine Tochter bald durch das hohe Gras auf ihn zukommen würde, in dem dünnen blauen Kleid, das sie aus dem Schrank ihrer Mutter genommen hatte. Nora hatte sich fürchterlich aufgeregt, als sie es entdeckt hatte. Er dachte an seine Frau, ihre aufbrausende Natur und die innere Unruhe. Sie war schon immer labil und ängstlich gewesen. Als sie sich kennengelernt hatten, war es irgendwie faszinierend gewesen, wie sie aus ganz alltäglichen Ereignissen wahre Horrorszenarien entwickelte. Doch mit den Jahren war die Faszination gewichen, Irritation und Ärger hatten ihren Platz eingenommen. Als er jetzt im Auto saß, wieder einmal von Nora ausgeschickt, um Annabelle nach Hause zu holen, merkte er, dass er bald keine Kraft mehr hatte.
Man kann sie nicht vor allem beschützen, sagte er immer wieder, auch wenn er wusste, dass Nora nichts mehr auf die Palme brachte. Dass man sie nicht vor allem beschützen konnte, war schließlich kein Argument dafür, es nicht wenigstens zu versuchen. Das Problem war nur, dass sie unterschiedlicher Auffassung waren, wie weit sie dabei gehen sollten. Fredrik fand es in Ordnung, wenn Annabelle allein von ihren Freunden nach Hause ging, selbst nachts. Er hielt nichts davon, dass sie ständig anrufen und Bescheid geben sollte, falls sich ihre Pläne spontan änderten. In seiner Jugend war er gekommen und gegangen, wie er wollte. Er wäre wahnsinnig geworden, hätte jemand versucht, ihn so zu kontrollieren, wie Nora es mit Annabelle tat. Kein Wunder, dass Annabelle gegen ihre Regeln aufbegehrte. Nicht die lockeren Zügel sind das Problem, dachte Fredrik, sondern Noras extremes Kontrollbedürfnis.
Das Gebäude, das einmal einen Dorfladen beherbergt hatte, lag auf der anderen Seite des Ortes. Es stand seit Jahren leer und wurde als Treffpunkt von den Jugendlichen der Gegend genutzt. Fredrik wusste, dass viele Einwohner dafür waren, das alte Haus abzureißen. Er selbst hatte bei einer dieser Unterschriftenaktionen unterzeichnet, wenn auch nur wegen des äußeren Scheins. Ihm war klar, dass die Jugendlichen zum Feiern einfach irgendwo anders hinziehen würden, wenn das Gebäude abgerissen wurde. Wahrscheinlich noch weiter außerhalb.
Er parkte vor dem Eingang. Im großen Schaufenster klebten immer noch alte Titelblätter. Ein dumpfer Bass dröhnte aus dem Haus. Fredrik nahm das Handy, um Nora anzurufen und zu fragen, ob Annabelle in der Zwischenzeit nach Hause gekommen war. Er hatte keine Lust, in eine Teenagerparty zu platzen, wenn es sich vermeiden ließ. Er tippte gerade ihre Nummer, als Nora ihn anrief und fragte, ob er schon dort sei.
»Ich bin gerade angekommen.«
»Ist sie da?«
»Ich bin eben erst aus dem Auto gestiegen.«
»Dann geh schon rein.«
»Bin auf dem Weg.«
Die verwilderten Beete entlang der Hausfassade waren voller Bierdosen, Zigarettenkippen und Flaschen. Er ging durch die Tür in den großen Raum, in dem sich früher das Geschäft befunden hatte. Ein Geruch nach Verlassenheit schlug ihm entgegen. Eine Weile stand er da und betrachtete den schmutzigen Boden, den Tresen mit der alten Registrierkasse und die leeren Regale an den Wänden. Über ihm hämmerte der Bass. Er ging zu der Tür, die zu der Wohnung über dem Laden führte. Abgeschlossen. Er ging wieder nach draußen und auf die Rückseite des Hauses. Auf der Veranda an der Schmalseite des Gebäudes schlief ein Junge mit der Hand unter dem Hosenbund. Fredrik musste über ihn hinwegsteigen, um zur Hintertür zu gelangen.
Im Flur roch es süßlich. Er folgte der Musik eine lange, geschwungene Treppe hinauf. Ebba Grön, »800°«, das kannte er noch.
Warme Kleider und trotzdem Gänsehaut.
Kein Wunder, ich seh um mich rum nur Idioten.
Achthundert Grad, du kannst mir vertrauen, du kannst mir vertrauen.
Fredrik sah gerade noch rechtzeitig zu Boden, um zu merken, dass die nächste Treppenstufe fehlte. Dass hier noch keiner zu Tode gestürzt war, dachte er, während er bis zum Treppenabsatz weiterging.
Zwei Jungen saßen in der Küche an einem dunklen Holztisch, der von Aschenbechern, Flaschen, Dosen und Zigarettenpackungen überquoll. Einer hackte ununterbrochen mit einem kleinen Messer auf die Tischplatte ein. Fredrik hatte die beiden schon mal gesehen, hatte aber keine Namen parat. Sie mussten älter sein als Annabelle, sonst hätte er es gewusst. Sie bemerkten ihn erst, als er direkt vor ihnen stand.
»Hallo!«, rief er dem zu, der die Tischplatte mit dem Messer malträtierte, und erkannte im gleichen Augenblick, dass es sich um den Sohn des Sperrholzfabrikanten handelte. Svante Linder.
»Hey, setz dich und nimm dir was zu trinken!«, brüllte dieser zurück. »Und schau ein bisschen fröhlicher, bei der geilen Party hier. Die anderen haben schon alle aufgegeben, aber wir halten durch, bis die Sonne aufgeht.«
»Das ist sie schon längst, Svante«, meinte der Junge neben ihm lachend und klopfte gegen das schmutzige Küchenfenster. »Ich glaube, die ist gar nicht untergegangen.«
»Ist Annabelle hier?«, fragte Fredrik.
»Annabelle?« Die jungen Männer sahen einander an.
Svante grinste, wobei der Tabakpfropfen unter seiner Oberlippe sichtbar wurde, und sagte, er wisse ja, dass Annabelle auf alte Knacker stünde, aber dass sie jetzt auch nicht übertreiben müsse. »Du könntest ihr Vater sein, verdammt noch mal.«
»Ich bin ihr Vater«, erwiderte Fredrik und trat näher an den Tisch heran mit dem kaum zu unterdrückenden Bedürfnis, diesem abfällig grinsenden Kerl eine reinzuhauen.
Die beiden starrten ihn an.
»Oh, shit«, meinte Svante. »Sie sind das.« Er trat gegen einen freien Stuhl am Tisch und entschuldigte sich hastig. Er hatte doch nicht andeuten wollen … er hatte ihn nur nicht erkannt. Sie hatten ein paar Bier zu viel. »Und dann diese verdammte Hitze, man verdurstet ja geradezu. Gib dem Mann was zu trinken, Jonas«, sagte Svante und nickte dem Jungen zu, der ihm gegenübersaß. »Was ordentlich Starkes. Los, beweg dich, Jonte.«
»Ich möchte nichts trinken«, antwortete Fredrik. »Ich will nur wissen, wo meine Tochter ist. Habt ihr sie gesehen?«
»Es waren so viele Leute hier«, erwiderte Svante. »Und wir haben ganz schön gefeiert, um es mal so zu sagen. Wir haben um sieben Uhr angefangen, deshalb sind die anderen schon umgekippt. Aber sie war hier, auch wenn ich glaube, dass sie schon gegangen ist. Oben sind noch ein paar«, er deutete Richtung Zimmerdecke. »Da würde ich mal nachfragen. Über uns sind noch mehr Stockwerke«, rief er Fredrik nach, als dieser zur Treppe ging.
Je höher Fredrik kam, desto lauter wurde die Musik. Im nächsten Stockwerk war ein langer Flur. An einer Wand stand ein Aquarium. Als er näher kam, sah er eine Schildkröte im Wasser herumpaddeln, das voller Zigarettenstummel war. Wer macht so etwas?, dachte er. Kippen in ein Aquarium werfen, in dem eine Schildkröte lebt?
Von dem Flur ging ein Wohnzimmer mit grünen Plüschsofas voller Brandlöcher ab. Auf einem davon lag ein junges Mädchen mit zerzaustem Haar. Fredrik dachte, sie schliefe, doch als er zu ihr ging, sah er ihre weit aufgerissenen Augen.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Total super«, flüsterte das Mädchen. »Danke, dass du fragst.« Dann lachte sie auf einmal und wedelte mit den Händen. Die hat garantiert mehr als nur Alkohol intus, dachte Fredrik. Vielleicht sollte er sie nach ihrem Namen fragen und sie nach Hause bringen. Sobald er Annabelle gefunden hatte, würde er genau das machen, beschloss er.
Wir erfrieren, es ist so kalt. Armes Kind, bald wird es warm.
Die Stereoanlage stand im nächsten Zimmer. Die Musik war ohrenbetäubend laut. Fredrik drehte die Lautstärke herunter. Dann ging er weiter, öffnete eine Tür nach der anderen, doch die anderen Räume auf diesem Stockwerk waren leer. Schließlich landete er in einer kleinen Diele, von der eine schmale Treppe weiter nach oben führte. Wie hoch war dieses Gemäuer eigentlich? Hörte es denn gar nicht auf?
Ganz oben waren zwei Türen. Die linke war verschlossen, die rechte ging auf, als Fredrik die Klinke herunterdrückte.
Das Fenster stand offen, und eine schmutzige Gardine wehte im Wind. Auf dem Bett in der Mitte des Raumes bewegte sich jemand rhythmisch unter einer Decke.
»Annabelle?«, fragte Fredrik. »Bist du hier?«
»Was zum Teufel?« Ein Junge blickte am Fußende des Bettes unter der Decke hervor. »Hau ab, du perverser Sack«, rief er. »Verpiss dich!«
»Ich suche nach meiner Tochter. Ist Annabelle zufällig hier?« Fredrik sah, wie der Junge bei dem Namen zusammenzuckte.
»Nein. Keine Ahnung, wo sie ist.«
»Und wer ist da mit dir unter der Decke?«
»Rebecka«, antwortete der Junge. »Zeig, dass du es bist.«
»Ich bin es«, bestätigte Rebecka unter der Decke. »Ich weiß nicht, wo Annabelle ist. Sie hat gesagt, sie wollte nach Hause gehen.«
»Ich dachte, sie wäre bei dir«, meinte Fredrik. »Nora hat gesagt, ihr wolltet euch bei dir einen Film ansehen.«
»Haben wir auch«, rechtfertigte sich Rebecka, »aber dann hat sich was anderes ergeben.«
»Wann ist sie gegangen?«
»Ich weiß nicht genau. Wir haben ganz schön viel gekippt, und Annabelle … Sie war ordentlich betrunken.«
»Entschuldigung!«, rief Rebecka hinter Fredrik her, als der aus dem Raum stürmte. »Ich hätte mit ihr nach Hause gehen sollen, aber …«
»Sie ist nicht hier, oder?« Svante stand vor der Tür.
»Nein. Rebecka hat es mir gerade gesagt.«
»Als ob die den Überblick hätte.«
»Was ist hinter dieser Tür?«, fragte Fredrik und deutete darauf.
»Da drin ist sie nicht, so viel ist sicher.«
»Wie kannst du das so genau wissen?«
»Weil«, antwortete Svante, »nur ich einen Schlüssel zu dieser Tür habe.«
»Dann könntest du doch kurz aufschließen.«
»Das würde ich echt gern. Aber blöderweise habe ich den Schlüssel verloren. Gestern. Deshalb weiß ich auch genau, dass niemand in dem Zimmer ist. Brauchen Sie Hilfe bei der Suche? Unten steht ein Lastenmofa, das ist höllisch aufgemotzt, damit könnten wir …«
Fredrik blickte in Svantes große Augen. Irgendetwas war seltsam daran. Er wollte wirklich nicht, dass dieser Junge nach Annabelle suchte. In diesem Zustand stellte er eine Gefahr für die Allgemeinheit dar.
»Natürlich helfen wir Ihnen suchen«, fuhr Svante fort. »Ich meine … Ich habe gehört, dass sie abends nicht so lange weg darf und …«
Fredrik musterte das Gesicht des Jungen und dachte, dass es stimmte, was er im Ort über den Fabrikantensohn gehört hatte – dass er ein unsympathischer Mistkerl war.
Als Fredrik zum Auto zurückkam, sah er drei Anrufe in Abwesenheit von Nora auf seinem Handy. Er rief sie an und hoffte, dass Annabelle mittlerweile nach Hause gekommen war, doch am Klang der Stimme seiner Frau hörte er, dass dem nicht so war.
»Bist du noch im alten Dorfladen?«, fragte sie und sprach gleich weiter: »Ist sie dort?«
»Nein«, antwortete Fredrik. »Sie war nicht dort.«
»Aber wo ist sie dann?«
»Das weiß ich nicht.«
»Fahr bei Rebecka vorbei.«
»Rebecka ist im Dorfladen«, erwiderte Fredrik. »Beruhig dich«, sagte er, als Nora zu weinen begann. »Sie ist sicher auf dem Weg. Ich suche auf der Straße nach ihr.«
»Bring sie nach Hause«, sagte Nora flehend. »Bring sie verdammt noch mal nach Hause, Fredrik.«
Charlie wachte bereits um sieben Uhr morgens auf. Nach einer durchzechten Nacht schlief sie nie besonders gut, schon gar nicht in einem fremden Bett. Sie sah zu dem Mann neben sich. Martin, so hieß er doch? Und welchen Namen hatte sie ihm genannt? Maria? Magdalena? Wenn sie einen Typen in der Kneipe kennenlernte, gab sie immer einen falschen Namen und Beruf an. Zum einen, damit niemand sie ausfindig machen konnte, zum anderen war kaum etwas so unerotisch wie Witze über Handschellen und Frauen in Uniform. Das war auch eins ihrer zahlreichen Probleme – sie langweilte sich so schnell.
Martin hatte sie jedenfalls angesprochen und gefragt, warum sie allein in der Bar saß. Ohne ihre Antwort abzuwarten, hatte er sie auf einen Drink eingeladen und dann noch einen, und als der Laden schloss, gingen sie zu ihm nach Hause. Das wäre sonst nicht seine Art, gleich am ersten Abend jemanden mit nach Hause zu nehmen, hatte er gesagt, als er mit dem Schlüssel zu seiner Wohnung kämpfte. Charlie hatte darauf erwidert, ihre schon. Sie war so jemand, der gleich am ersten Abend mit jemandem mitging. Martin hatte gelacht und gesagt, dass er ihren Humor mochte. Charlie hatte es nicht übers Herz gebracht, ihm zu erklären, dass das kein Witz war.
Vorsichtig richtete sie sich auf. Ihr Kopf schmerzte. Ich muss nach Hause, dachte sie. Meine Kleider finden und nach Hause fahren.
Ihr Kleid lag auf dem Küchenfußboden, auf die Unterhose verzichtete sie. Sie war schon beinahe im Flur, als sie auf ein Spielzeug trat, das »Mary Had A Little Lamb« zu spielen begann. »Verdammt«, flüsterte sie. »Verdammter Mist.« Sie hörte, wie Martin sich in seinem Bett im Schlafzimmer umdrehte. Rasch schlich sie in den Flur, nahm ihre Schuhe in die Hand, öffnete die Tür und lief die Treppe hinunter.
Das Tageslicht überraschte sie, als sie auf die Straße trat, und sie musste sich kurz sammeln, bis sie wusste, wo sie sich befand. Östermalm, Skeppargatan. Mit dem Taxi wäre sie in fünf Minuten daheim. Sie sah sich um, doch als nirgends ein Taxi zu sehen war, ging sie zu Fuß.
Nach zwei Häuserblöcken klingelte ihr Handy.
»Bist du beim Joggen?«, fragte Challe.
»Ja, irgendwie muss man sich ja fit halten. Bist du bei der Arbeit?«
»Ja, wenn man schon in aller Herrgottsfrühe aufsteht, kann man auch zur Arbeit gehen.«
Charlie lächelte. Ihr Chef und sie hatten dieselbe Arbeitsmoral. Ansonsten unterschieden sie sich in vielen Punkten, und wenngleich er es nie vor anderen zugab, schien er im Gegensatz zu gewissen älteren Kollegen nie an ihren beruflichen Fähigkeiten zu zweifeln. Auch wenn es sie wahnsinnig machte, dass er nie ihre Partei ergriff, wenn sie wegen ihres jungen Alters oder Geschlechts dumm angemacht wurde. Doch dann war sie stolz, wenn er sie unter vier Augen seine fähigste Ermittlerin nannte.
Charlie hatte vor zwei Jahren in der Nationalen Operativen Abteilung, kurz NOA, angefangen. Die erste Zeit war hart gewesen. Während ihrer Ausbildung hatte sie viele Gruselgeschichten über die Männerherrschaft unter Polizisten gehört, doch ihr war nicht bewusst gewesen, wie verbreitet die männliche Überheblichkeit war. Der Umgangston, die Sticheleien, die PMS-Unterstellungen, sobald sie jemandem widersprach oder Kontra bot. Der Großteil ihrer Kollegen bei der NOA waren Männer mittleren Alters, die sich seit Jahrzehnten gegenseitig den Rücken freihielten. Schon am ersten Tag hatten sie deutlich gezeigt, dass sie alles andere als begeistert von der Vorstellung waren, in Zukunft mit einer jungen Frau zusammenarbeiten zu müssen, noch dazu auf der Position, die Charlie bekleiden würde. Einer hatte ganz unverblümt gesagt, dass er eine Frau nur im Bett über sich akzeptierte. Charlies Blitzkarriere war dabei völlig unerheblich, ebenso ihr Abschluss in Psychologie, bevor sie ihre Ausbildung an der Polizeihochschule aufnahm. Wie sie das überhaupt geschafft habe?, hatte einer ihrer neuen Kollegen sie gefragt. Wie war es möglich, ein dreijähriges Studium zu absolvieren und trotzdem mit zwanzig Jahren an der Polizeihochschule anzufangen?
Charlie hatte ehrlich geantwortet, nämlich, dass sie in der Schule eine Klasse übersprungen, mit siebzehn Abitur gemacht hatte und dann direkt an die Universität gegangen war. Der Kollege hatte die Stirn gerunzelt und irgendwas gemurmelt von wegen, man solle nach dem Gymnasium nicht gleich studieren, sondern erst einmal reisen und Lebenserfahrung sammeln. Charlie hatte ihn angefaucht, dass sie keinen Sinn darin sehe, herumzureisen und die Zeit zu verschwenden, nur damit man eine Weile unterwegs war. Und Lebenserfahrung hatte sie ja wohl während ihres Studiums gesammelt. Das Leben stand schließlich nicht still, nur weil man an der Universität war. Der Kollege hatte sie mit einem überheblichen Lächeln bedacht, als ob sie zu jung und zu dumm sei, seine Argumente zu verstehen.
Charlie hatte mittlerweile die Hoffnung aufgegeben, dass sich das Verhalten ihrer Kollegen ihr gegenüber mit den Jahren bessern würde. Im Gegenteil, Neid und Misstrauen wuchsen, je höher sie in der Hierarchie aufstieg. Anfangs hatte sie sich verteidigt, diskutiert, aus Protest den Pausenraum verlassen und wütende Mails an ihre Vorgesetzten geschrieben. Doch irgendwann hatte sie es den meisten ihrer weiblichen Kollegen nachgemacht, die es in diesem Beruf zu etwas gebracht hatten: mit tiefer Stimme sprechen und nie lächeln. Danach war wieder mehr Zeit und Energie da, das zu tun, wofür sie bezahlt wurde. Stumpf, feige und egoistisch kam sie sich manchmal vor. Aber sonst hätte sie nicht bleiben und sich weiterentwickeln, Karriere machen können. Und dieser Antrieb war größer als das Bedürfnis, sich mit Idioten herumzuschlagen, die es einfach nicht kapierten.
Natürlich waren nicht alle so. Es gab einige Ausnahmen, und eine davon war Anders Bratt, mit dem sie am engsten zusammenarbeitete. Er war nur wenige Jahre älter als sie und ihr vom ersten Moment an sympathisch gewesen, trotz ihrer völlig verschiedenen persönlichen Hintergründe. Er war ein typischer Oberklassetyp, kam aus reichem Haus mit Segellagern im Sommer und Skiferien in den Alpen im Winter. Er konnte eingebildet, überheblich und nervtötend sein, aber Charlie verzieh ihm das alles, da er über drei Eigenschaften verfügte, die sie an einem Menschen am höchsten schätzte: ein gutes Herz, Humor und die Fähigkeit zur Selbstreflexion.
Anders betonte gern, wie toll er es fand, dass sie zum Team gestoßen war und alles gehörig durcheinandergewirbelt hatte. Sie hatten auch über ihren Namen gesprochen. Am ersten Tag hatte jemand vorgeschlagen, sie einfach Charline zu nennen, um nicht jedes Mal den Nachnamen dazusagen zu müssen, wenn man von ihr oder dem Chef sprach. Charlie hatte abgelehnt. Sie wollte Charlie genannt werden und sonst nichts.
Anders hatte ihr erzählt, dass sich alle darüber amüsiert hatten, dass der Chef sich wegen ihrer Halsstarrigkeit einen anderen Namen zulegen musste. Wer schaffte das schon einfach so?
Charlie trat auf einen Stein und fluchte.
»Was ist los?«, fragte Challe.
»Nichts.«
»Kannst du später reinkommen?«
Kälte breitete sich in Charlies Brust aus. Hatte sie heute Dienst? Hatte sie nur geträumt, dass Challe ihr gesagt hatte, sie solle freinehmen?
»Ich weiß, dass ich gesagt habe, du sollst heute daheimbleiben«, fuhr Challe fort. »Und ich weiß, dass wir gerade eine Hitzewelle haben, aber es ist etwas passiert. Hast du schon die Titelseiten gelesen?«
»Die Titelseiten?« Charlie hatte noch nicht einmal Nachrichten auf dem Handy gelesen.
»In Västergötland ist ein siebzehnjähriges Mädchen verschwunden.«
»Seit wann?«
»Seit der Nacht von Freitag auf Samstag. Die Landeier da unten dachten zuerst, das Mädchen sei freiwillig untergetaucht, und haben deshalb nichts unternommen. Doch jetzt gibt es neue Hinweise, dass ein Verbrechen vorliegen könnte.«
»Was für Hinweise?«
»Das Übliche, sie hat ihr Handy nicht verwendet, ihre Kreditkarte nicht benutzt.«
»Wo in Västergötland?«, fragte Charlie.
»In Gullspång.«
Charlie blieb stehen. Challe erzählte weiter von dem verschwundenen Mädchen, doch sie hörte nicht mehr zu. In ihren Ohren hallte ein Wort wider: Gullspång.
»Charlie?« Challe zündete sich am anderen Ende der Leitung eine Zigarette an. »Bist du noch dran?«
»Ja.«
»Du und Anders fahrt dahin. Tut dir vielleicht ganz gut, mal rauszukommen.«
Charlie konnte sich die Antwort nicht verkneifen, dass Hugo in diesem Fall genauso gut einen Tapetenwechsel gebrauchen könnte. Außerdem war sie mit einem anderen Fall beschäftigt. Challe erwiderte, er würde jemand anders darauf ansetzen, da sich die Ermittlungen noch im Anfangsstadium befanden, und ja, er könnte natürlich auch Hugo schicken, aber Charlie solle das nicht als Bestrafung verstehen, sondern …
Jetzt, dachte Charlie. Jetzt sage ich, dass ich da nicht hinfahren kann.
»Charlie?«
»Okay«, hörte sie sich sagen. »Ich fahre.« Gibt es das Polizeirevier überhaupt noch?, wollte sie noch hinzufügen, doch stattdessen sagte sie, dass sie in einer Stunde da sei.
Nach Beendigung des Gesprächs ging sie in den nächsten 7-Eleven, in dem ihr von den Titelseiten der gängigen Zeitungen ein junges Mädchen mit großen Augen und rotblonden Haaren entgegenstarrte. »Spurlos verschwunden« titelten die Blätter. Charlie rief die Seite von Dagens Nyheter auf ihrem Handy auf und recherchierte den aktuellen Stand der Dinge. Das Mädchen war siebzehn Jahre alt und hieß Annabelle Roos. Der Nachname kam ihr bekannt vor, sie konnte aber kein Gesicht damit verbinden. Wie sollte sie sich auch an alle Familien in dem kleinen Ort erinnern? Sie war nicht mehr dort gewesen seit … War das wirklich schon neunzehn Jahre her?
Charlie hatte noch einige Häuserblöcke vor sich, bis sie zu Hause war. Ein Taxi hatte sie nicht gefunden, und U-Bahn fuhr sie nie. Unter der Erde schien sie keine Luft zu bekommen. Ihre Füße schmerzten in den High Heels, und schließlich streifte sie die Schuhe ab. Der Asphalt war warm unter ihren Fußsohlen. Wer mich jetzt sieht, dachte sie, würde nie erraten, was ich von Beruf bin.
Als sie in ihrer Wohnung in den Flurspiegel blickte, fluchte sie laut. Eine tiefe Schramme leuchtete rot über ihrer linken Augenbraue. Sie betastete vorsichtig die Kruste, die sich mittlerweile gebildet hatte, und erkannte, dass Schminke hier nicht helfen würde. Wie zum Teufel hatte sie das nur wieder geschafft? Dann erinnerte sie sich – die Dusche, wie Martin und sie einander eingeseift hatten, dann war sie ausgerutscht und hatte sich den Kopf angeschlagen … am Duschkopf? Sie wusste nicht einmal, wo sie sich die Wunde zugefügt hatte.
Ich bin die Parodie einer Polizistin, dachte sie, einsam, ohne soziale Kontakte und viel zu trinkfreudig. Dann beruhigte sie sich jedoch damit, dass das ja nur Phasen waren. Im Sommer war es immer am schlimmsten, wenn das Leben ihr Knüppel zwischen die Beine warf.
Sie bedauerte es beinahe, dass sie keinen Mann hatte, den die Kollegen verdächtigen könnten. Jetzt würden alle glauben, dass die Wunde … Ja, was würden sie eigentlich glauben? Im Hinblick auf das letzte Personalfest dachten wahrscheinlich alle an zu viel Alkohol. Challe würde behaupten, sie brauche Hilfe, und sie würde erwidern, dass alles in Ordnung und unter Kontrolle sei.
Aber glaubte sie selbst daran?
Selbstmedikation?, hatte eine Therapeutin sie einmal ernst gefragt, als sie widerwillig von ihrem Verhältnis zu Alkohol erzählt hatte. Sie trinken, um Ihre Angst abzumildern?
Charlie hatte gesagt, darum ginge es nicht.
Und worum ging es dann?
Sich zu entspannen, die Nerven zu beruhigen, die Gedanken zum Schweigen zu bringen. Manchmal brauchte sie einfach ein bisschen Alkohol, damit es ihr besser ging.
Die Therapeutin hatte sie streng angesehen und gesagt, dass genau das der Zweck von Selbstmedikation sei.
Charlie warf ihre Tasche auf den Boden und ging ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch standen Bierdosen und Aschenbecher. So viel zum Thema, dass sie mit dem Rauchen aufhören wollte, dachte sie, als sie eine Plastiktüte für den Abfall suchte. Nachdem das gröbste Chaos beseitigt war, setzte sie sich auf das Sofa und ließ den Blick durch die Wohnung schweifen: die offenen Räume, die Deckenhöhe, der Holzboden. Ohne die vertrockneten Blumen, die Kleiderhaufen und die seit Jahren nicht geputzten Fenster könnte es richtig gemütlich sein. Hier wohnte ganz offensichtlich ein Mensch, der sich keinen Deut um Inneneinrichtung kümmerte. Charlie hätte es gerne schön gehabt, doch sie wusste einfach nicht, wie. Manchmal bildete sie sich ein, ihre Wohnung in ein Zeitschriftenzuhause verwandeln zu wollen. Wie in den Hochglanzmagazinen, in denen sie beim Zahnarzt blätterte. Sie dachte, dass sie in einer völlig weiß eingerichteten Wohnung glücklicher wäre, oder zumindest weniger unglücklich. Weiße Wände, weißer Boden und ein paar strategisch platzierte Antiquitäten, die sie geerbt oder von Reisen mitgebracht hatte. Allerdings hatte sie nichts geerbt, und sie verreiste auch nicht. Außerdem kannte sie viel zu viele Menschen, die in einem schönen Heim lebten und trotzdem unglücklich waren.
Auf der Arbeitsfläche in der Küche lag eine einsame Zigarette. Charlie wollte sie zuerst wegwerfen, überlegte es sich jedoch anders, setzte sich an die Dunstabzugshaube und rauchte die Zigarette bis zum Filter. Jetzt rufe ich ihn an, dachte sie. Jetzt rufe ich Challe an und sage ihm, dass ich nicht fahren kann, dass dieser Ort … dass ich persönliche Gründe habe. Sie nahm das Telefon in die Hand, legte es jedoch wieder hin. Von der Zigarette wurde ihr übel. Sie stand auf und ging ins Badezimmer.
In der Dusche hielt sie das Gesicht in den Wasserstrahl und dachte, dass sie sich einfach professionell verhalten wollte. Dann würde schon alles gut gehen. Oder? Sie hatte getan, was sie konnte, um alles zu vergessen und hinter sich zu lassen. Den Ort zu vergessen, das Haus, die Partys, Bettys Stimmungsschwankungen. Manchmal hatte sie beinahe das Gefühl, dass es ihr gelungen war, doch mit der Zeit hatte sie gemerkt, dass das immer nur vorübergehend war. Auf ruhigere folgten immer düsterere Phasen, und die Erinnerungen holten sie jederzeit hinterrücks ein und brachten sie an den Ort, zu dieser Nacht zurück.
Eine echte Erfolgsgeschichte, hatte es eine Mitarbeiterin des Jugendamtes in Gullspång formuliert, als sie sich einmal zufällig auf der Drottninggatan getroffen hatten. Ein Löwenzahnkind, das es allen Widrigkeiten zum Trotz zu etwas gebracht hatte.
Charlie hatte in das überschwängliche Gesicht geblickt und gedacht: Du solltest lernen, zwischen den Zeilen zu lesen.
Nachdem sie geduscht hatte, begann sie zu packen. Auf dem Nachttisch lagen drei angefangene Bücher. Sie markierte alle mit Eselsohren und legte sie in ihre Reisetasche. Im Schrank befand sich fast keine saubere Kleidung mehr. Sie holte ein paar Kleider, Jeans und Pullover aus dem Korb mit der Schmutzwäsche und dachte, dass Klamotten ihr geringstes Problem sein würden.
»Was hast du denn angestellt?«, war Anders’ erste Frage, als Charlie und er sich im Eingang zum Polizeigebäude in der Polhemsgatan trafen.
»Mich gestoßen.«
»Ja, das sehe ich, aber wie ist das passiert?«
»Ist das wichtig?«
»Wenn du da mal keine Narbe zurückbehältst.«
»Ach, bei mir heilen Wunden gut.«
Sie gingen durch die Empfangskontrolle. Am Aufzug trennten sich ihre Wege, da Charlie immer zu Fuß ging. Es war ihr egal, dass ihre Kollegen sich über ihre Klaustrophobie lustig machten. Das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass der Aufzug stecken blieb, pflegten sie zu sagen, und für den Fall gab es den Notrufknopf. Doch Charlie fand die Vorstellung, zwischen zwei Stockwerken in so einer winzigen Kabine stecken zu bleiben, unerträglich. Sie würde wahnsinnig werden, bevor Hilfe eintraf.
»Challe wartet im Besprechungsraum auf dich«, sagte Anders, als sie sich im dritten Stock vor dem Aufzug wiedertrafen.
»Und wohin gehst du?«
»Ich hole mir einen Tee. Die Nacht war furchtbar.«
Und was soll Tee da helfen?, dachte Charlie.
»Annabelle Roos«, sagte Challe, als Anders mit seinem Tee dazukam und sich auf einen der weichen roten Stühle im Besprechungsraum setzte. »Sie ist am Freitag nach einer Party verschwunden, auf die sie gar nicht gehen durfte. Das Ganze war offensichtlich eine ganz schön feuchtfröhliche Angelegenheit, weshalb aus den Jugendlichen nicht viel herauszubringen war. Irgendwann in der Nacht, schätzungsweise zwischen zwölf und eins, hat sie allein die Party verlassen und ist seither spurlos verschwunden. Ihr Handy wurde nicht gefunden, von ihrem Konto wurde kein Geld abgebucht.«
»Vier Tage also schon«, sagte Anders. »Wieso hat man nicht schon früher nach ihr gefahndet?«
»Sie ist siebzehn«, antwortete Challe, »und ist wohl schon öfter von zu Hause abgehauen. Laut der Polizei da unten hat sie den Ruf, etwas … ausschweifend zu sein.«
»Ausschweifend?«, meinte Charlie. »Was soll das genau heißen?«
»Ich gebe nur weiter, was man mir gesagt hat. Sie brauchen auf jeden Fall Verstärkung, so viel ist klar. Ich habe euch alle bisherigen Informationen gemailt. Es sind dreihundert Kilometer bis da unten, da habt ihr genug Zeit auf der Fahrt, euch mit dem Material zu beschäftigen.«
Anders ging auf die Toilette. Charlie holte ihren Laptop aus der Tasche, fuhr ihn hoch, loggte sich ein, öffnete das Mailprogramm und begann das Dokument zu studieren, das Challe ihnen geschickt hatte. Trotz der formellen und sachlichen Schilderung der bisherigen Ermittlungsergebnisse sah Charlie alles nur allzu deutlich vor sich.
»Du siehst blass aus«, meinte Anders, als sie zum Auto gingen.
»Ich bin nur ein wenig müde«, erwiderte Charlie. »Das ist sicher die Hitze.«
Keiner von beiden saß gerne auf dem Beifahrersitz, weshalb sie bei jeder längeren Fahrt immer diskutierten, wer fahren durfte. Dieses Mal hielt sich Charlie allerdings wegen ihrer Fahne zurück.
Sie klappte die Sonnenblende herunter und betrachtete ihr Gesicht in dem kleinen Spiegel. Anders hatte recht. Sie würde eine Narbe zurückbehalten. Neben dem linken Auge war die helle Narbe von dem Unfall mit der Glasflasche zu sehen, die wie ein umgekehrtes S aussah. Betty hatte gesagt, dass es schon ganz schönes Pech war, so unglücklich zu fallen, aber wenigstens war dem Auge nichts passiert. Es hätte viel schlimmer ausgehen können.
»Spät geworden gestern?« Anders musterte sie.
Charlie nickte.
»Ich verstehe nicht, wie du das schaffst. Und dann wirst du immer noch als Letzte auf die Straße gekehrt.«
»Es ist noch gar nicht so lange her, dass man uns zusammen auf die Straße gekehrt hat.«
Anders seufzte. »Das war in einem anderen Leben.«
Charlie schwieg. Es gefiel ihr nicht, wie Anders sich verändert hatte, seit er Vater geworden war. In den letzten Monaten war er permanent gereizt und angespannt gewesen. Charlie wusste, dass seine Frau auf einer gleichberechtigten Partnerschaft bestand, was für sie bedeutete, dass sich die Eltern nachts abwechselnd um das Baby kümmerten. Dabei war es egal, dass seine Frau in Elternzeit war, beklagte sich Anders regelmäßig, weil sie es genauso anstrengend fand, sich den ganzen Tag um ein Kind zu kümmern, wie einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Wenn er das sagte, wollte er Charlies Zustimmung, doch sie wusste nicht, wie sie dazu stand. Es kam wohl auf die Art der Arbeit an und wie das Kind war.
Anders schaltete das Radio ein. Ein Countrysong ertönte.
»Warte mal«, sagte er, als Charlie sich vorbeugte, um den Sender zu wechseln. »Hör nur, das Lied heißt ›Annabelle‹.«
Anders drehte die Lautstärke hoch.
»Gruselig, dass sie das ausgerechnet jetzt spielen. Ein totes Mädchen mit demselben ausgefallenen Namen wie in unserem Fall.«
»Das ist doch nur Zufall«, meinte Charlie.
»Sagst du nicht immer, dass du nicht an den Zufall glaubst?«
»Da verwechselst du mich mit Challe. Ich glaube nicht an das Schicksal.«
»Ist das nicht langweilig, nur an den Zufall zu glauben? Die meisten Leute, die ich kenne, glauben an irgendeine Form von Schicksal.«
»Weil sie nicht zwischen Schicksal und Zufall unterscheiden können«, entgegnete Charlie. »Und außerdem ist ganz viel Wunschdenken dabei.«
»Ich glaube, die meisten Menschen wollen einfach einen Sinn in dem sehen, was geschieht.«
»Ja. Und deshalb bilden sie sich ein, es gäbe ein Schicksal.« Sie stellte die Musik leiser und wünschte sich, Anders würde aufhören zu reden.