Buch

Die 28-jährige Bonnie Milligan lebt mit ihrem kleinen Sohn Joshua in Dublin. Eines Tages entdeckt sie im Bus ein Bündel handschriftlicher Musiknoten. Spontan fasst sie den Entschluss, den Besitzer ausfindig zu machen. Ihre Nachforschungen nach dem geheimnisvollen Komponisten führen sie an die Westküste Irlands, wo sie in einem malerischen Ort am Meer auf eine Reihe eigenwilliger Charaktere stößt – und ohne es zu ahnen, auf ein lange verborgenes Familiengeheimnis. Der Schlüssel dazu scheint ein Liebeslied für eine unbekannte Frau zu sein, das auf magische Weise auch für Bonnies Leben eine ganz besondere Bedeutung erhält …

Weitere Informationen zu Claudia Winter und zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Claudia Winter

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Ein Lied
für Molly

Roman

Originalausgabe


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Taschenbuchausgabe Mai 2022

Copyright © der Originalausgabe 2022
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Buch wurde vermittelt von der Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

Umschlaggestaltung: buxdesign GbR

Umschlagmotiv: buxdesign | Lisa Höfner unter Verwendung von Motiven von © GettyImages/Rob Tilley, GettyImages/ Roberto Moiola/Sysaworld, Getty Images/Carol Avila/EyeEm, Shutterstock und buxarchiv

CN · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-23613-7
V001

www.goldmann-verlag.de

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Für Moni.
Regentänzerin, Kämpferherz.

Eine gute Geschichte
kann alles ändern.

Claudia Winter

Prolog

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CAMPBELL PARK SCHOOL. DUBLIN, SEPTEMBER 2001.

Robert.

Die Frau war zunächst nur eine Silhouette, die für einen flüchtigen Moment das ohnehin schon spärliche Licht in der Bibliothek verdunkelte. Robert sah auf und blinzelte zu dem vergitterten Fenster, unsicher, ob er nicht über seiner Lektüre eingenickt war und es sich nur um ein Trugbild handelte. Dass sie keine Halluzination war, erkannte er, als das Quietschen des Putzwagens durch den Säulengang hallte, in dem es zu dieser Uhrzeit sonst nur eine Form menschlicher Präsenz gab: die Gedanken großer Männer und Frauen, versteckt hinter ledergebundenen Rücken. Natürlich hatte er die Bücher der Schulbibliothek nie gezählt, doch es waren gewiss an die zehntausend. Penibel sortiert nach Fachbereich und Autor reichten sie über die Galerie hinweg bis zu dem imposanten Tonnengewölbe hinauf, das ihn stets an eine gekenterte Arche Noah denken ließ.

Das Wägelchen rollte unaufhaltsam näher. Instinktiv machte Robert einen Buckel für den ebenso peinlichen wie unsinnigen Versuch, sich hinter dem grünen Glasschirm der Schreibtischlampe unsichtbar zu machen. Insgeheim ärgerte er sich über sich selbst. Er hatte jedes Recht, hier zu sitzen, auch nachdem die Bibliothekarin ihm mit einem mütterlichen Lächeln einen schönen Feierabend gewünscht und hinter sich abgeschlossen hatte, wohl wissend, dass jeder Lehrer einen Zentralschlüssel besaß. Feierabend. Ein Wort aus seiner Heimat, das schon lange nicht mehr für ihn galt. Hatte es nie, wenn er ehrlich war.

Eine geraume Zeit hatte er auf die Tür gestarrt und sich vorgestellt, wie Mrs Finnegan zu ihrem Mann und den Kindern heimkehrte, gedanklich bereits bei den Zutaten fürs Abendessen, auf den Teelöffel korrekt wie die von ihr geführten Verleihlisten. Vermutlich würde es Irish Stew oder irgendwas anderes mit Kartoffeln geben, denn kein Kochtopf in diesem Land kam ohne die heilige Knolle aus.

Sein Magen knurrte, im Gang klapperte ein Plastikeimer, Wasser plätscherte. Wie lange war die Finnegan schon weg? Zwanzig Minuten? Eine Stunde? Die Putzfrau summte beim Wischen vor sich hin. Obwohl sie nicht alle Töne traf, erkannte er den Song sofort. »Ain’t No Mountain High Enough«. Er war ein Fan von Marvin Gaye und ein noch größerer von Diana Ross.

Neugierig setzte er sich auf. Es war eine Frage von Sekunden, bis sie ihn in der Nische hinter der Shakespeare-Büste entdecken würde, oul Will, wie ihn die Kollegen scherzhaft nannten. Aber noch genoss er den Vorteil des heimlichen Beobachters, was ihn nur so lange beschämte, bis er sich ins Gedächtnis rief, dass nicht er hier der Eindringling war.

Sie war ungewöhnlich groß für eine Irin. Schlank, sofern er das unter dem unförmigen Kittel, den sie trug, beurteilen konnte, aber kräftig genug gebaut für die beschwerliche Arbeit. Brandrote Strähnen lugten unter dem blassblauen Tuch hervor, das sie sich als Turban um den Kopf gebunden hatte. Etwas enttäuscht registrierte er ihre elfenbeinfarbene, makellose Haut. Keine Sommersprossen.

»Jesus Christ!«

Er zuckte bei ihrem leisen Schrei zusammen. Hastig schloss er das Buch und erhob sich von dem Holzstuhl, auf dem er eindeutig zu lange gesessen hatte. Wie versteinert klammerte die Frau sich an ihren Wischmopp und starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an. Grün. Sie sind grün, dachte er und zog den Bauch ein, ein Reflex.

Sie öffnete den Mund, ohne dass ihm ein Laut entwich, und fing dann zu lachen an, über ihre eigene Schreckhaftigkeit oder den fremden Mann, der sich auf die Shakespeare-Büste stützte, als sei der gute alte William sein Saufkumpan. Ihr Gelächter war laut, ungeniert und verstörend schön. Es tat ihm beinahe leid, als sie damit aufhörte.

»Meine Güte, haben Sie mich erschreckt!«

»Tut mir leid, Madam. Das lag nicht in meiner Absicht.« Mit einer vagen Geste zum Schreibtisch bemühte er ein Halblächeln, das sich genauso steif anfühlte wie sein Rücken. »Ich habe … gearbeitet.«

Die Pause in seinem Satz war winzig gewesen. Nicht winzig genug, denn ihr Blick folgte seiner Handbewegung. Aufmerksam musterte sie den Buchdeckel des Romans. Der Club der toten Dichter. Sein Herz klopfte.

»›Ain’t No Mountain High Enough‹ stammt aus dem Haus Motown. 1967. Der erste Hit des Labels.« Er wusste nicht, warum er das sagte. Doch diese Frau hatte etwas an sich, das ihn glauben ließ, er müsse davon ablenken, dass er die Buchvorlage eines Hollywoodfilms inspirierender fand als die Fachwälzer, zwischen denen er den Roman entdeckt hatte. Da das Buch keine Registernummer trug, musste es jemand an Mrs Finnegans Argusaugen vorbeigeschmuggelt haben. Ein Seelenverwandter, ein Schüler vielleicht, oder jemand, der unerkannt zwischen den biederen Gestalten im Lehrerzimmer saß. Einer, dem die verstaubte Gesinnung der katholischen Privatschule genauso gegen den Strich ging wie ihm selbst.

Er schnaubte. Trotz der beruflichen Neuausrichtung war und blieb er Musiker, eine kreative Seele. Ihm grauste vor Regelwerken. Das hatte der Schuldirektor gewusst, bevor er ihm den Anstellungsvertrag über den Schreibtisch geschoben hatte, in der Hoffnung, ein ehemaliger Konzertpianist könnte etwas Glitzer auf die bröckelnde Fassade der Campbell Park School stäuben. Das Problem war nur, dass Robert Brenner längst nicht mehr glitzerte.

Die Putzfrau hob eine Braue. Nicht verwundert oder pikiert, nur abwartend. Das spontane Bedürfnis, sich ihr wegen des Buchs zu offenbaren, verwarf er dennoch. Wenn zum Lehrerzimmer durchsickerte, dass er sich von derartigem Stoff inspirieren ließ, würden sie ihn demnächst mit »O Captain! My Captain!« begrüßen und sich grölend auf die Schenkel klopfen. Die Iren lachten gern. Vor allem über andere.

»Der Song, den Sie da vorhin gesummt haben«, erklärte er hastig. »Wussten Sie, dass er …«

»Haben Sie ihn gesehen?«, fiel sie ihm ins Wort. Sie hatte den Mopp in die dafür vorgesehene Halterung am Wägelchen gesteckt und kam näher. »Den Film zu diesem Roman, meine ich. Er ist wunderbar.«

Sie trocknete sich die Hände am Kittel und nahm das Buch vom Tisch. Ihm rutschte das Herz in die Hose, als sie die von ihm mit einem Eselsohr markierte Seite aufschlug.

»Nein, ich kenne den Film nicht. Aber der Roman ist interessant.« Nervös musterte er die senkrechte Falte, die beim Lesen auf ihrer Stirn erschienen war. »Ich gehe nicht oft ins Kino.«

»Sie sind Deutscher, oder?«, murmelte sie, die Augen fest auf eine Textpassage gerichtet, die er frevelhaft mit Bleistift unterstrichen hatte:

Die meisten Menschen führen ein Leben in stiller Verzweiflung. Finden Sie sich nicht damit ab. Brechen Sie aus. Stürzen Sie nicht in den Abgrund wie die Lemminge. Haben Sie den Mut, Ihren eigenen Weg zu suchen.

»Deutscher, ja. Ich stamme aus Freising«, antwortete er unbehaglich. »Das liegt in der Nähe von München.« Er war nicht gut darin, mit Leuten, die älter als fünfzehn waren, Small Talk zu betreiben. Nicht spontan. Und schon gar nicht mit hübschen Frauen, denen man spätabends in einer Schulbibliothek begegnete.

Schweigen kroch über den feuchten Steinboden, dickflüssig und schwer verdaulich wie der Lammeintopf, der in diesem Moment vermutlich auf Mrs Finnegans Herd vor sich hin köchelte. Was sollte er jetzt tun? Die Frau machte keine Anstalten, mit der Arbeit fortzufahren. Stattdessen musterte sie ihn neugierig, das Licht der Schreibtischlampe sprenkelte Gold in ihren Blick. Sie war höchstens Mitte dreißig. Rund fünfzehn Jahre jünger als er.

»Haben Sie es getan? Sind Sie ausgebrochen?«, fragte sie unvermittelt und tippte auf die Textstelle.

»Nun, ich bin in Irland, Madam«, entgegnete er und beschloss, die Herausforderung zu diesem erstaunlichen Gespräch anzunehmen. »Wie sieht es mit Ihnen aus?«

»Ich bin Irin, Sir.« Um ihre Augen bildeten sich Fältchen. »Wir gehören zur ersten Sorte in dem Zitat. Wir führen ein Leben in stiller Verzweiflung und finden uns damit ab. Could be worse. Könnte schlimmer sein.«

»Could be worse. Das habe ich in den letzten Monaten öfter gehört.«

»Der Spruch passt zu allem«, erwiderte sie achselzuckend. »Zum Regen, dem verspäteten Bus … Im Zweifelsfall sogar zu einer Beerdigung.«

»Zu einer Beerdigung?«

»Solange man nicht selbst in der Kiste liegt und es zum Leichenschmaus genügend Guinness gibt?«

»Verstehe.«

»Nein, das tun Sie nicht«, erwiderte sie sanft. »Ich habe gehört, Sie sind erst vor Kurzem nach Irland gekommen. Aber wenn Sie erst eine Weile in unserem Land sind, werden Sie es bestimmt selbst erleben. Bis dahin sollten Sie genau dort weitermachen, wo Sie aufgehört haben.« Mit dem Daumen glättete sie das Eselsohr, ehe sie das Buch auf den Schreibtisch zurücklegte. Aufgeschlagen dort, wo seine Bleistiftmarkierung war. Eine Aufforderung. »Tut mir leid, dass ich Sie bei der Arbeit gestört habe, Professor.«

»Aber Sie haben mich überhaupt nicht gestört.« Zu viel Atem, zu viele Pausen im Satz. Sein Protest überzeugte kaum, das wusste er schon, bevor sie sich mit einem wissenden Lächeln dem Putzwagen zuwandte. Dabei hätte er eigentlich froh sein müssen. Das Gespräch fand ein Ende, bevor er sich hinreißen ließ, mehr über sich und seine Beweggründe, Deutschland den Rücken zu kehren, preiszugeben. Einzuräumen, dass er keinen Professorentitel besaß, die falsche Anrede aber nie korrigierte, weil sie ihm schmeichelte.

Er überlegte, wie er das Gespräch wieder aufnehmen könnte, während die Frau den Wischmopp routiniert aus der Verankerung löste und fortfuhr, den Boden zu wischen. Verflixt, ich weiß nicht mal, wie sie heißt, dachte er, ehe er, vollkommen entgegen seiner Natur, das Denken einstellte. Er drückte sich an oul Will vorbei und trat, den bohrenden Blick des Dichters im Rücken, in eine Pfütze aus Seifenlauge.

»Ich bin Robert«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Robert Brenner. Der neue Musiklehrer.«

Sie hielt inne, sah aber nicht auf. »Oh, ich weiß, wer Sie sind, Professor Brenner. In dieser Schule sprechen sich Neuigkeiten schnell rum. Sogar bis in die unteren Ränge.«

Sprachwitz. Selbstironie. Er öffnete den Mund, doch es kam nichts heraus, weshalb er ihn rasch wieder zuklappte, damit er nicht aussah wie ein Karpfen. Weiß Gott, er erinnerte sich nicht daran, wann ihn ein Mensch zum letzten Mal überrascht hatte. Er wollte, nein, er musste diese Frau näher kennenlernen.

»Ich heiße Molly.«

Ihre Finger waren feucht vom Wischwasser, ihr Händedruck fest. Kein Ehering, was ihn mit einer kindischen Freude erfüllte.

»Molly. Und weiter?«

»Nichts weiter. Einfach Molly.« Ihre Augen funkelten. »Das muss für die erste Viertelstunde genügen, Robert.«

Sein Herz klopfte, während er ihr nachsah. Die Campbell Park School war nicht besonders groß, und Molly gehörte zum Reinigungspersonal. Es lag in der Natur der Sache, dass sie einander erneut über den Weg laufen würden – vorausgesetzt, er machte es sich zur Gewohnheit, den Feierabend in der Bibliothek zu verbringen. Warum auch nicht? Zu Hause warteten ohnehin nur ein paar ungeöffnete Umzugskartons auf ihn. Er lauschte dem gleichmäßigen Wischgeräusch im Gang. Draußen war es dunkel geworden, Regen rauschte, das Licht der Schreibtischlampe reichte kaum drei Regalreihen weit.

»Sehen wir uns morgen wieder? Um die gleiche Uhrzeit?« Seine Frage hallte durch den Saal wie eine falsch gestimmte Violinsaite. Früher wäre er nie auf die Idee gekommen, bei einer Frau den ersten Schritt zu machen. Es war schlichtweg nie notwendig gewesen.

»Gut möglich, Professor Brenner«, kam es fröhlich aus dem Halbdunkel.

Ihr Name ist Molly. Und ich werde sie morgen wiedersehen.

Er zog den Tweedmantel an und verstaute den Roman zusammen mit dem Federmäppchen in seiner Tasche. Beim Hinausgehen – er beherrschte sich, sich nicht nach ihr umzudrehen – fühlte er sich ungewöhnlich beschwingt.

Eine Viertelstunde. Das waren läppische fünfzehn Minuten. Oder neunhundert Sekunden, wenn er die Begegnung mit Molly-nichts-weiter auf ein paar Atemzüge herunterbrach. Ein lächerlich kleiner Zeitraum, gemessen an den zwei Dritteln Lebenszeit, die hinter ihm lagen. Als die Glastür in seinem Rücken ins Schloss fiel, lächelte er.

Gott wusste, dass er kein schicksalsgläubiger Mensch war. Aber in diesem Augenblick war er davon überzeugt, dass fünfzehn Minuten genügen konnten, um die Dinge auf Anfang zu stellen.

1. Kapitel

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DUBLIN. SEPTEMBER 2019.

Bonnie.

Das Wasser lief aus der Wand. Im ersten Augenblick war sie fasziniert. Ungläubig, dass so etwas überhaupt möglich war, trat Bonnie näher an die Flurwand und streckte die Hand aus. Ma’s geliebte Rosentapete. Sie war warm und fühlte sich merkwürdig aufgebläht an. Stellenweise löste sie sich bereits vom Mauerwerk.

»Ach du heilige Scheiße«, murmelte sie.

»Ich hab’s dir ja gesagt. Ist ein Desaster.« Sheila, die kaugummikauend am Türrahmen lehnte, deutete mit dem Kinn auf das Linoleum. »Das Wasser kam schon unter der Tür raus. Reiner Zufall, dass ich grad den Müll rausgebracht hab, sonst hätte ich dich früher angerufen. Nachbarschaftshilfe und so, is doch klar.«

»Danke, Sheila, ich …« Die Blütenranken bewegten sich, als würden sie Atem holen. Mit einem entkräfteten Seufzen blätterte eine Tapetenbahn ab. Ihr Herz zog sich zusammen, während Sheila ungerührt weiterplapperte.

»Unglaublich … Das wird ein Scheißgeld kosten … Wenn du willst, kann ich … Igitt! Haben die damals die Tapeten mit Spucke festgeklebt, oder wieso kommen die runter?«

Benommen starrte Bonnie auf die entblößte Steinwand. Sie war dunkel vor Nässe und von Stockflecken übersät.

»Mam? Was ist hier los?«

Joshs zittrige Stimme holte sie sofort in den Hausflur zurück. Seine Augen wirkten ohnehin schon riesig hinter den dicken Brillengläsern, jetzt schienen sie sein Gesicht geradezu auszufüllen. Erschrocken sah ihr Sohn zu, wie das Wasser über seine roten Sneaker schwappte. Im ersten Moment schien er nicht zu wissen, ob er besorgt oder entzückt wegen der Überschwemmung sein sollte, die ihr Haus in den Drehort eines Katastrophenfilms verwandelte. Ein übel gelauntes Maunzen aus der Küche signalisierte, dass Sir Francis das Entzücken keinesfalls teilte. Das arme Tier.

Bonnie atmete aus und zog die Mundwinkel hoch. Ungeachtet des dampfenden Wassers, das ihre Knöchel umspülte, ging sie in die Hocke und musterte das blasse Kindergesicht, das ihrem eigenen so unglaublich ähnlich sah: eine spitze Himmelfahrtsnase, darunter ein schmaler Mund, in dem die unteren Schneidezähne fehlten, die hohe Stirn, die für einen Sechsjährigen viel zu oft knitterte. Nur seine tintenblauen Augen gehörten zu einem anderen Menschen, der schon lange aus ihrem Leben verschwunden war.

Josh zwinkerte rasch hintereinander. Das tat er oft, wenn er verunsichert war. Dagegen half nur ein Abenteuer.

»Bereit für die Mission?«, flüsterte sie und beugte sich nach unten, um Joshs Hosenbeine hochzukrempeln. »Klingt, als bräuchte unser Smutje dringend Hilfe. Traust du dir zu, Sir Francis aus der Kombüse zu retten, bevor unser Schiff untergeht? Die Katzenbox ist in der Besenkammer.«

Kurz wirkte Josh unentschlossen, ob er sich auf das Spiel einlassen sollte, doch dann nickte er heftig und salutierte.

»Aye, aye, Sir! Bin schon unterwegs.« Er überlegte und fuhr dann feierlich fort: »Falls uns die Haie fressen, war es Smutje Francis und mir eine Ehre, unter Ihnen gedient zu haben, Captain.«

»Die Ehre ist ganz meinerseits, Erster Offizier Milligan. Ich bin mir sicher, dass wir uns unversehrt wiedersehen, sobald ich das Leck gestopft habe. Dieser dämliche Eisberg.«

»Dieser dämliche Eisberg!«, echote Josh mit leuchtenden Augen.

»Soll ich vielleicht ein Schlauchboot und eine Pfeife besorgen? Oder Schwimmflügel?«, kam es belustigt von der Tür, dann imitierte Sheila mit hoher, zittriger Stimme aus dem Film Titanic: »Jack! Jack, da ist ein Boot! Jack!«

Bonnie schnappte nach Luft, um ihre Nachbarin in die Schranken zu weisen, doch ihr Sohn war schneller.

»Ich kann doch schon schwimmen! Mam hat’s mir letzten Sommer beigebracht, im Schwimmbad.« Er verzog den Mund, als habe sie eine wirklich dumme Bemerkung gemacht. »Schwimmflügel sind was für Babys.«

»Natürlich sind sie das«, erwiderte Sheila seufzend. »Kann ich sonst etwas tun?«

Sheila vergötterte Josh. Trotzdem sprach ihr Blick Bände, als der Junge, armrudernd und Dampfergeräusche nachahmend, in die Küche watete.

»Es wäre lieb, wenn du Eimer und Lappen besorgen könntest.« Bonnie drehte Sheila den Rücken zu, bevor sie weiterstichelte. Ihre Nachbarin meinte es gut und war bestimmt eine großartige Verkäuferin. Allerdings reichte ihr Feingefühl höchstens bis in die betonierten Vorgärten ihrer Kundinnen, denen sie ihre Tupperdosen aufschwatzte. »Und einen Schrubber«, warf sie über die Schulter zurück, bevor sie die Tür aufstieß und mitansehen musste, wie ihre grimmige Entschlossenheit zusammen mit dem Wasser die Kellertreppe heruntergespült wurde.

Als ob ich nicht selbst wüsste, dass das Leben kein Spiel ist. Es ist eine Ansammlung kleiner und großer Katastrophen, von denen man nie weiß, welche als Nächstes kommt. Und das liegt nicht nur daran, dass wir in Finglas wohnen. Es ist nicht das Viertel und auch nicht das Haus, sondern die verzwickte Gesamtsituation, in der wir stecken, seit Ma nicht mehr da ist.

»Bonnie?«

»Ja?« Sie drehte sich nicht um. Wenn sie Sheila jetzt ins Gesicht sah, würde sie sich nicht mehr beherrschen können. Aber Tränen halfen niemandem. Sie musste das Desaster rational angehen, sich sammeln, die klatschnassen Sneaker auf die Erde drücken. Schleunigst den Hauptwasserhahn abdrehen und beten, dass der Schaden nicht allzu groß war.

»Der Kumpel von meinem Cousin Nathan ist Klempner. Er ist ein elender Halsabschneider, aber ich kann dafür sorgen, dass er direkt vorbeikommt. Soll ich ihn anrufen?« Sheilas heisere Raucherstimme klang ungewohnt sanft und goss etwas Warmes in ihr Inneres. Sie schloss die Augen und gab sich für einen Moment dem tröstlichen Gefühl hin, doch nicht ganz allein zu sein.

»Das ist der erste vernünftige Satz, den ich heute von dir höre, Sheila.«

Ihre Nachbarin erwiderte ihr Lächeln, und zum ersten Mal fiel Bonnie auf, wie müde sie unter dem blondierten Pony aussah. Zuerst schien sie etwas Aufmunterndes hinzufügen zu wollen, aber in Finglas war Trost etwas, mit dem man unter Erwachsenen sparsam umging. Jeder in diesem Viertel hatte eigene Sorgen, und wenn nebenan eine Schüssel zu Bruch ging, redete man dem anderen nicht ein, sie habe bloß einen Sprung. Man stellte sich dem Offenkundigen – besonders wenn Tapeten von Wänden abpellten wie Mandarinenschalen.

»Freu dich nicht zu früh, Kleines.« Sheila bohrte ihren mit Strasssteinen verzierten Fingernagel in eine aufgeweichte Rosenknospe und verzog angewidert den Mund. »Das da braucht vermutlich mehr als einen Klempner, der dich finanziell bis auf den Schlüpfer auszieht. Mach dich also besser auf in den Keller zum Haupthahn, bevor wir tatsächlich ein Schlauchboot organisieren müssen, um deinen Sohn aus der Küche zu fischen.«

***

Ian Mahony war Ende dreißig, trug einen Trainingsanzug und einen Dreitagebart, der unter seinem Kinn mit einem Tribal-Tattoo verschmolz. Er war mit zwei Kollegen in einem klapprigen weißen Van ohne Firmenlogo aufgekreuzt, der jetzt mit heruntergelassenen Fensterscheiben und aufgedrehtem Radio auf dem Gehsteig parkte. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Bonnie sein Gangsta-Gehabe amüsiert, aber die Flüche, die er beim Betreten ihres Hauses ausgestoßen hatte, hatten ihr verdeutlicht, dass es überhaupt nichts zu lachen gab.

Nachdem sie die Überschwemmung mit Schrubbern und Bodenabziehern aus dem Haus gekehrt hatten, rissen die Männer auf der Suche nach dem Leitungsleck den Flur auf und meißelten sich wie Drogenspürhunde an der Küchenwand entlang in den ersten Stock, wo sie ihr zerstörerisches Werk fortsetzten. Bonnie flüchtete unter dem gestammelten Vorwand, den Männern einen Tee kochen zu wollen, nach unten. In der Küche stellte sie den Wasserkessel auf den Herd und schmierte Erdnussbuttersandwiches, während über ihr die Fliesen zu Bruch gingen, die Ma und sie angebracht hatten. Sie machte zu viele Sandwiches, aber die Tätigkeit war so beruhigend alltäglich, also fuhr sie fort, bis das Erdnussbutterglas leer war.

Danach stand sie am Fenster und starrte auf den gepflasterten Vorgarten, in dem außer Fugenunkraut nichts blühte, und versuchte sich daran zu erinnern, dass es genügend gute Dinge in ihrem Leben gab. Das Wetter war für den Dubliner Herbst zum Beispiel ungewöhnlich mild. Sie waren trocken zur Haltestation gekommen, und der Bus war pünktlich gewesen. Sie hatten ein Zuhause, und der Job in O’Driscolls Fish-’n’-Chips-Imbiss brachte sie einigermaßen über die Runden. Ihr Chef Paddy erlaubte ihr sogar, Josh mit zur Arbeit zu nehmen, weil sie sich derzeit keine Kinderbetreuung leisten konnte. Sheila nicht zu vergessen, die sich bei aller Kaltschnäuzigkeit trotzdem um ihr Wohlergehen scherte, obwohl sie sich vorhin unter einem fadenscheinigen Vorwand davongemacht hatte, als es ans Aufwischen ging. Und dann war da natürlich noch ihr kleiner Jackpot, der in diesem Augenblick mit der Katzenbox auf dem Schoß auf der Grundstücksmauer hockte und dem fauchenden Kater einen Vortrag über seenotrettungstaugliches Verhalten hielt.

Wie erwartet war ihr Ablenkungsmanöver erfolgreich gewesen. Es zählte nicht, dass Sir Francis die Katzenbox hasste und das sinkende Schiff für Bonnie gallebittere Realität war. Ihr Sohn genoss einen glückseligen Kindheitsmoment, und sie konnte sich einreden, es sei ganz normal, dass sein einziger Spielgefährte ein einäugiger Streuner aus dem Tierheim war.

»Miss?« Ein gekünsteltes Räuspern in ihrem Rücken signalisierte, dass Mahony bereit für den geschäftlichen Teil des Gefallens war, den er Sheila schuldete.

»Auf dem Tisch steht was zu essen, in der Kanne ist Tee. Bedienen Sie sich ruhig.« An den Fenstersims gelehnt beobachtete sie, wie Mahony sich ein Sandwich nahm. Der andere Teil ihrer Aufmerksamkeit blieb bei den beiden heranschlendernden Jugendlichen hängen, deren Gesichter ihr nicht fremd waren. Der eine trug das grüne Trikot der Irish Rugby Football Union, sein Kumpan steckte in einer überweiten Jogginghose, in die locker zwei von ihm reingepasst hätten. Sie presste argwöhnisch die Lippen zusammen, aber an diesem Tag schienen die beiden Taugenichtse sich ausnahmsweise einmal nicht für den kleinen Freak aus der 59 Berryfield Road zu interessieren. Umso neugieriger beäugten sie Mahonys Van.

»Sie haben hoffentlich keine Wertsachen auf dem Beifahrersitz gelassen«, murmelte sie und bemerkte zu spät, dass der Handwerker neben sie ans Fenster getreten war – zu nah, als angenehm gewesen wäre. Nicht mal die Erdnussbutter überdeckte seine süßlichen Ausdünstungen, typisch für einen Kiffer. Überwältigt von einem Bild aus der Vergangenheit, an das sie sich eigentlich nie wieder erinnern wollte, rückte sie von ihm ab.

»Also, Mr Mahony. Wie schlimm ist es?«

»Auf ’ner Skala von eins bis zehn?«, entgegnete Mahony kauend und winkte den beiden Halbstarken zu, die einen überraschten Blick wechselten. »’ne glatte Zwölf, würd ich sagen.«

»Und das bedeutet?«

Mahony sah sie aufmerksam an. Sie kannte diese Art von Blick. Er checkte sie ab, versuchte herauszufinden, ob er eine Frau vor sich hatte, die man über den Tisch zog oder besser gleich dort flachlegte. Sie klebte ein Lächeln auf ihr Gesicht, woraufhin Mahony zurück zum Tisch schlenderte und sich Tee einschenkte. Offenbar fand Mr Gangsta es spaßig, sie zappeln zu lassen.

»Wir haben das Leck gefunden, und das war’s mit den guten Nachrichten. Handelt sich um ’ne verrostete Wasserleitung, oben im Bad.« Mahony klaubte ein weiteres Sandwich von der Platte. »Hinter dem Waschbecken ist ’ne Menge Wasser ausgetreten. Boden, Wände … Sieht übel aus. Man müsste das Haus trockenlegen und danach das komplette Leitungssystem erneuern.« Er zeigte auf die hässlichen Wunden, die seine Jungs der Küchenwand zugefügt hatten. »Sonst haben Sie nächste Woche das gleiche Problem woand…«

»Wie viel, Mr Mahony?« Bonnie zog die Schultern hoch und drückte die Fingerkuppen so fest in die Oberarme, dass es sicher blaue Flecke geben würde.

»Zehn, sollten Sie eine Rechnung für die Versicherung brauchen. Neun, wenn ich’s schwarz mache«, kam es wie aus der Pistole geschossen zurück.

Neuntausend Euro! Ein glatter Bauchschuss, nur mühsam gelang es ihr, nicht nach Luft zu schnappen.

»Ich habe keine Versicherung«, erwiderte sie leichthin, während die Gedanken in ihrem Kopf umherflitzten wie Kugeln in einem Flipperautomaten. Sie hatte die Hausratversicherung gekündigt. Ebenso wie die Lebensversicherung, den Festnetzanschluss und das Zeitungsabo. Eine Beerdigung war teuer.

»Dann kennen Sie jetzt den Preis. Neuntausend, und Sie kehren in drei Wochen in ein nagelneues Haus zurück.« Ian Mahony beäugte die bunt zusammengewürfelte Kücheneinrichtung, die kein einziges Möbelstück ohne Kratzer oder abgeschlagene Kanten vorzuweisen hatte. »Na ja, so gut wie.«

Drei Wochen. Es dauerte, bis die Information bei ihr ankam, nachdem sie die schwindelerregende Summe verdaut hatte. Jetzt würde also ihr Sparbuch dran glauben müssen. Siebentausendvierhundert Euro und einundzwanzig Cent hatte sie gespart, das Geld war eigentlich für Josh gedacht gewesen. Für die Reparatur reichte es trotzdem nicht, selbst wenn sie Mahony um einen Tausender runterhandelte. Von den zusätzlichen Kosten für ein Hotel- oder Pensionszimmer ganz zu schweigen.

Bonnie schluckte schwer. Wo sollten sie drei Wochen lang unterkommen? Sie hatten keine Familienangehörigen, ihre ehemaligen Schulfreundinnen waren nach und nach in bessere Gegenden gezogen. Bedingt durch Ma’s Krankheit und wegen des Schichtdiensts im Imbiss war es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis ihre losen Kontakte schließlich ganz abgebrochen waren. Das war die traurige Wahrheit. Es gab niemanden, den sie um Hilfe bitten konnte.

»Können wir während der Sanierung nicht hierbleiben?« Sie wunderte sich, wie gefasst sie klang. Sozialfürsorge, Mutter-Kind-Heim, Obdachlosenunterkunft. Manche Wörter juckten wie Ausschlag auf der Haut.

»Miss.« Jetzt schaute Mahony mitleidig. »Mal ganz davon abgesehen, dass wir vom Wasser bis zur Elektrik alles abstellen müssen … Hier werden Trocknungsgeräte und Ventilatoren vierundzwanzig Stunden lang den Krach von Laubbläsern machen. Glauben Sie mir, das wollen Sie weder sich noch Ihrem kleinen Jungen antun.«

»Aber ich kann nicht drei Wochen …«

»Sie zahlt siebentausend und keinen Cent mehr!« Sheilas Stimme ließ die ohnehin schon arg mitgenommene Küchenwand erzittern. Mahony schrak zusammen, als ihre Nachbarin mit langen Schritten auf den Handwerker zumarschierte.

»Hi Shee.« Er lächelte. Nicht besonders erfreut, sondern eher so, als müsse er einen knurrenden Pitbull beschwichtigen.

»Ian Thomas Mahony!« Ihr Zeigefinger berührte fast Mahonys Stirn. »Muss ich dich wirklich daran erinnern?«

Mahony bereitete es sichtlich Schwierigkeiten, den letzten Bissen des Erdnussbuttersandwiches herunterzuschlucken.

»Logo. Siebentausend sind ein fairer Preis«, stammelte er und wich Bonnies Blick aus.

»Das will ich meinen. Deine Jungs können gleich loslegen. Und du …«, Sheilas Ton wechselte übergangslos von Minusgraden in Frühlingstemperatur, als sie Bonnie ansprach. »Du und Josh, ihr kommt vorläufig zu mir. Bequem wird’s nicht, aber für ein paar Nächte wird die Wohnzimmercouch schon reichen – bis wir eine andere Lösung gefunden haben.«

»Die findet sie bestimmt«, versetzte Mahony. »Mrs Doyle versteht sich nämlich meisterhaft darauf, andere genau dorthin zu bringen, wo sie garantiert nicht sein wollen.«

»Halt die Klappe, Ian, sonst steck ich dem alten Hugh O’Neill, wer damals seinen Kiosk ausgeräumt hat.«

»Das ist zwanzig Jahre her!« Mahony lief rot an. »Nate und ich waren halbe Kinder und … Herrgott, die Sache ist doch längst verjährt.«

»Mal sehen, ob Hugh das auch so sieht.«

»Schon gut.« Seine Schultern sanken herab. »Ich sag den Jungs, sie sollen die Entfeuchter aus dem Van holen.«

»Das ist der erste vernünftige Satz, den ich heute von dir höre, Ian.« Sheila grinste sie triumphierend an, und erstaunlicherweise – trotz allem, oder vielleicht gerade weil die ganze Situation zum Verzweifeln war – fiel Bonnie in das heisere Gelächter ihrer Nachbarin mit ein.

Mahony verdrehte die Augen und stiefelte nach draußen. Durchs Fenster beobachteten sie, wie er den Männern händefuchtelnd Anweisungen gab. Die Teenager hatten sich getrollt, vermutlich suchten sie auf dem nahen Sportplatz ein anderes Opfer, dem sie das Taschengeld abnehmen konnten. Josh sammelte Kieselsteine im Hof. Diejenigen, die ihm gefielen, steckte er in die Brusttasche der Latzhose, die anderen warf er Sir Francis hin, den er inzwischen aus der Box befreit hatte. Ob er das Ausmaß der Katastrophe begriff, die ihrem Spiel eine traurig reale Kulisse bescherte? Plötzlich wünschte sie sich brennend ein kleines Stück seiner Unbekümmertheit. Was auch geschah, er war stets felsenfest davon überzeugt, dass seine Mam alles in Ordnung brachte. Es mochte komisch klingen, aber das Urvertrauen ihres Kindes hatte ihr im letzten Jahr viel Kraft gegeben.

Entschlossen straffte sie die Schultern. Sheila hatte recht. Sie würde eine Lösung finden, und bis dahin würde sie so tun, als sei ihr Leben lediglich ein bisschen in Schieflage geraten. Nichts Wildes, nichts, worüber ein Sechsjähriger sich Gedanken machen musste.

»Okay, Kleines. Packst du ein paar Sachen und kommst nachher mit Josh rüber? Ich hab Shepherd’s Pie für meine Jungs gemacht und mich mal wieder mit den Mengenangaben vertan.« Sheila zog eine Grimasse. »Wär cool, wenn ich behaupten könnte, ich hätte absichtlich für ein halbes Rugbyteam gekocht.«

»Dienstag«, murmelte Bonnie mit einem abwesenden Blick auf die Wanduhr über der Spüle. »Heute ist Dienstag.«

Es dauerte einige Augenblicke, bis sich Verstehen auf dem Gesicht ihrer Nachbarin zeigte, dem sie durch pfundweise Make-up und grellbunten Lidschatten ein paar Jährchen Jugend abtrotzte.

»Stimmt, heute ist Dienstag.« Die Finger auf ihrem Arm waren kühl und unbeholfen, aber das machte nichts. Sheilas Stimme war voller Zuneigung. »Wir werden mit dem Essen auf euch warten.«