Impressum

Volker Ebersbach

Tiberius

Erinnerungen eines vernünftigen Menschen

Historischer Roman

 

ISBN 978-3-96521-642-6 (E-Book)

 

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1991 im Mitteldeutschen Verlag GmbH

 

Für Schneewittchen

 

© 2022 EDITION digital
Pekrul & Sohn GbR
Godern
Alte Dorfstraße 2 b
19065 Pinnow
Tel.: 03860 505788
E-Mail: verlag@edition-digital.de
Internet: http://www.edition-digital.de

ERZÄHLERISCHE STECKBRIEFE

Wiederum führte ihn der Teufel mit sich auf einen sehr hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit und sprach zu ihm: Das alles will ich dir geben, so du niederfällst und mich anbetest. Da sprach Jesus zu ihm: Hebe dich weg von mir, Satan!

Evangelium des Matthäus IV, 8 - 10

 

I Da der erfahrene Leser jede Nachbemerkung zuerst liest, sei diese vorausgeschickt: Was Tiberius hier berichtet, kann man ihm weitgehend glauben. Mangels genauerer Überlieferung nahm sich der Verfasser das Recht, ihm einiges hinzuzuerfinden und manches Bruchstückhafte, im besten Sinne des Wortes nach Gutdünken, neu zu verknüpfen. Die zuständigen Geschichtsschreiber Tacitus, Sueton, Velleius Paterculus und Cassius Dio wurden gründlich und kritisch befragt. Tacitus verbürgt sich für einige wörtliche Aussagen des Tiberius. Die Erinnerungen, die der Kaiser auf Capri wirklich geschrieben haben soll, gingen verloren. Auch zeitgenössische Werke der Dichtkunst und der Fachliteratur sowie Reste der bildenden Kunst und der Architektur gaben Auskunft. Die Wertungen der Geschichtswissenschaft erwiesen sich als hilfreich.

Gegen einen Verdacht allerdings, dem sich alle Rhetoriker aussetzen – und die Römer kennen wir als die größten – ist auch ein Tiberius nicht erhaben: Gut gesagt ist halb gelogen! Er würde natürlich glatt entgegnen: Bei Minerva, das ist gut gesagt! Wie glaubwürdig er ist, wenn er Gedanken vorträgt, Gefühle schildert, sein Selbstverständnis darlegt, wenn er Urteile fällt, bleibe dem aufmerksamen Leser dieses ihm sehr fernen Zeitalters überlassen. Der Machtmensch erlebt sich bis zuletzt als schicksalhaftes Geflecht aus Opfer und Täter. Für die Ergreifung des Täters winkt ein Lesevergnügen.

2 Man hielt sich im alten Rom, besonders in der Kaiserzeit, gern ein Kräutergärtlein. Darin standen, weil man sie nicht voneinander trennen konnte, Arzneipflanzen und Giftkräuter traulich beisammen. Es gab Rezepturen, nach denen man die Säfte von Bilsenkraut, Nieswurz, Schierling, Akoniton und Dorycinum gewann und durch Kochen oder Trocknen bis zur gewünschten, möglichst schwer nachzuweisenden Wirkung eindickte.

Weit verbreitet war auch ein Wissen darüber, wie Grünspan, Bleiweiß, Arsen, Mennige, Zinnober, Quecksilber und andere übelberüchtigte Stoffe in unauffälligen und dennoch tödlichen Mengen zu verabreichen seien.

Die Kunst der Gegengifte entwickelte sich von so einfachen Mitteln wie Zitrone, Quitte, Tausendgüldenkraut über gedörrte und zerstoßene Schlangen, Kröten und Eidechsen bis zu dem geheimnisvollen Theriak, das in einer genauen Mischung aus hundert Bestandteilen angeblich vor allen gängigen Giften schützte. In der Zeit nach Tiberius wurde es bald allmorgendlich von der kaiserlichen Familie und ihr nahestehenden Personen eingenommen, mit Ausnahmen, die meist verhängnisvoll endeten. Sklaven dienten als Vorkoster. Aber sie konnten mit List umgangen werden.

Die Mutter genoss in der römischen Familie höchste Verehrung. Nicht nur Livia war eine Übermutter. Den Schritt, eine solche umbringen zu lassen, tat Nero.

PROOEMIUM

I Mancher, dem es der Mühe wert schien, seinen Lebensbericht zu verfassen, schrieb wie ein Mann, der die Welt und sich selbst durchschaute. Entweder wollte er noch über die eigene Asche hinaus die Welt belügen, oder er kannte sich weniger, als er annahm. Denn wer wirklich die Welt und sich selbst durchschaut hätte, fände keinen Lebensbericht, wie wahr er auch sei, einer Mühe wert. So sicher, wie er wüsste, was er sagte und wovon er spräche, müsste er auch erwarten, dass ihm andere entweder den Glauben oder ihr Einverständnis verweigern. Wer also hätte von ihm noch etwas zu erfahren? Nicht einmal die Wahrheit wäre denen willkommen, die ihn überleben. Solange das Herz eines Menschen schlägt, folgt er Täuschungen, jeder Herzschlag nährt sie, denn keine Kraft, die sich ihrer selbst bewusst wird, will vergebens gewirkt haben. So weigern wir Menschen uns, blindlings dahinzuleben wie Tiere, und häufen, in der Hoffnung, den unsterblichen Göttern ähnlich zu werden, zu den Jahren, die uns vom Tod noch trennen, ein Wissen, das uns von seiner Unvermeidlichkeit ablenken soll. Zu spät begreifen wir, dass die Jahre schwinden und mit sich den Wert dieses Wissens dahinraffen, bis nur noch eins bleibt, das Wissen um den Tod. Mit Reichtümern verhält es sich ebenso wie mit dem Wissen, das ich nur zuerst nenne, weil es mir früh am Herzen lag. Und ich gehörte zu den wenigen, denen Macht dasselbe bedeutete, weil ich ihr immer nahestand. Doch als ich sie zu fassen bekam, war ich bereits so reich an Wissen, an Gütern und an Jahren, dass ich auch sie nur noch gering schätzen konnte.

2 Ich habe viele Täuschungen zerrinnen sehen bis an den Beginn dieser Zeilen, und wenn ich an ihr Ende gelange, das zwischen meinem Leben und einem Dahindämmern ins Reich der Schatten stehen wird, sollen es noch mehr sein. Durch Jahrzehnte bin ich zwischen Selbsttäuschung und Selbstzweifel hin und her gehastet, und noch im Zweifel muss die Täuschung überwogen haben, sonst lebte ich nicht mehr. Jetzt, da es mich weder ängstigt noch beglückt, meinem Tod ins Auge zu schauen, habe ich auch den ruhigen, klaren Blick für mein Leben. Aber wem erzähle ich es? Ich habe keinen Sohn mehr, dem ich damit helfen könnte. Dem, der wohl mein Nachfolger werden muss, ist nicht zu helfen, weder mit gesprochenem noch mit geschriebenem Wort. Meinen Enkel Tiberius Gemellus, den einsamen Zwilling, wird man umbringen, sobald meine Asche verraucht ist, das weiß ich, denn ein Zwilling überlebt den anderen niemals lange, und kein Mächtiger duldet einen Heranwachsenden, der mehr Anspruch auf die Macht mitbringt. Die geistigen und körperlichen Gaben dieses Jünglings sind auch nicht so beschaffen, dass sie mich zu dem ohnehin nutzlosen Versuch bewegen könnten, zu ändern, was ihm die Sterne bestimmt haben.

Für das, was ich hier niederlege, hat weder Zustimmung oder Ablehnung noch der Nutzen anderer irgendeine Bedeutung. Wenn es einen Leser findet, werde ich, der einzige, der etwas hinzufügen, wegnehmen oder ändern dürfte, nicht mehr sein. Ich habe weder den Menschen, die mit mir leben, noch ihren Nachfahren etwas zu sagen. Möglicherweise werde ich, wenn Rom einmal eine große Stadt unter vielen ist – im volkreicheren Alexandria lebt man schon jetzt bequemer –, dereinst, wenn die Menschen maßvoller, umsichtiger, friedfertiger, unbefangener, vernünftiger miteinander umgehen und so weit fähig sind, über sich selbst zu bestimmen, dass sie keines Herrschers mehr bedürfen, in dir, Bürger eines fernen Zeitalters, einen geneigten Leser finden, der mich versteht. Ich werde Dinge sagen, die Römern, wie ich sie kenne, teils ungeheuerlich, teils einfältig klingen müssen. Gemüter, die sich makellos und lauter fühlen, sehen mich als schamlosen Verbrecher. Schurken, die sich nichts vormachen, halten mich für einen linkischen Schwärmer. Beiden hielt ich immer zugute, dass sie in ihren Urteilen keine Wahl hatten. Erst im Abstand von Äonen verliert sich dieser Zwiespalt, dem ich nicht zum wenigsten selbst unterliege.

4 Aber ich fürchte, auch damit verspreche ich mir zu viel. Ich stelle mir, geneigter Leser, dein fernes Zeitalter, das sich für klüger als andere halten wird, keineswegs glücklicher vor als meines, bequemer allenfalls, aber, wie Alexandria, auch betriebsamer, kenntnisreicher gewiss, aber auch großmäuliger, volkreicher wohl, und dennoch zugleich anspruchsvoller. Der Zweifel, ob Menschen je geneigt sind, aus freien Stücken das Gute und Rechte zu tun, wird fortdauern, begründetermaßen, und gleichwohl sehe ich jedermann heftiger danach verlangen, zu tun und zu genießen, was ihm beliebt, weder maßvoll noch umsichtig, weder friedfertig noch unbefangen. Umgetrieben in Vorurteil und Unvernunft, sehnt sich bald jeder nach einem großen, verständigen und tatkräftigen Mann, der sich mit weisen Ratgebern versieht, dem man gern widerspruchslos gehorcht, um möglichst eigener Verantwortung ledig zu bleiben. Stets findet sich dann nicht nur einer, der sich zutraut, dem Sehnen der Menge zu entsprechen, der glaubt, andere niederwerfen zu dürfen, weil er sich für den Besseren hält. Ich will dir, ferner Sinnesverwandter, erzählen, worauf du dich einlässt.

5 Selbst wenn ich niemanden erreiche – ich muss sprechen! Was ich weiß über mich und die Welt, liegt mir so bitter auf der Zunge, dass sie es von sich stößt. Darum erübrigt es sich für mich, am Beginn meines Werkes Götter oder Musen um Beistand anzurufen, wie es üblich ist. Und das im Lauf der Gestirne vorgezeichnete Schicksal wäre nicht die Allgewalt, der auch die Götter, wenn es sie gibt, unterworfen sind, ließe es sich umstimmen. In den schwierigsten Lebenslagen habe ich mich gern zu der Hoffnung verstiegen, ich könne mein Schicksal überlisten. Früh musste ich lernen, mich vor meinen Mitmenschen zu verstellen. Nicht lange, und ich ertappte mich dabei, dass ich mich vor mir selbst verstellte und damit fürs erste manchem Schmerz die Spitze abbrach. Schließlich glaubte ich, meinem Schicksal zu entkommen, indem ich mich ihm zum Schein beugte. Ich sah, dass es die Spaltung in Stoffliches und Unstoffliches sei, die uns Menschen zur Verstellung befähigt, und schloss, dass eine Allmacht, welcher Art sie auch sei, welches Wesen ihr auch zukomme, derlei nicht einmal kenne, weil sie bis in alle Ewigkeit ein Ganzes bleiben müsse. Dem Wesen aber, das sich einmal spalten ließ, traute ich die Fähigkeit zu, sich ins Unendliche fortzuspalten und ständig eins für das andere auszugeben, sich also unausgesetzt in jeglicher Richtung zu verstellen, jede Entlarvung in Täuschung zu verwandeln und selbst mit der Wahrheit zu täuschen. Ich stellte nicht nur Unwahres als wahr hin, sondern hüllte auch Wahrheit in unglaubliche Gewänder, so dass sie wie eine Lüge daherkam. Ich beteuerte nicht nur Lauterkeit, um mich desto sicherer zu verstellen, sondern bekannte mich auch zur Verstellung, damit mir niemand traute, wenn mir die Wahrheit entschlüpfte. Ich bin dessen nun nicht nur müde, ich sehe auch keinen Sinn mehr darin. Dennoch wollte ich keine Mühsal des Grübelns scheuen und solche Listen in diesen Aufzeichnungen fortsetzen, wenn es mir ein einziges Mal gelungen wäre, mich vor meinem Schicksal zu verstellen. Richte ich meinen Blick auf das unverrückbare Gitter der Sphären, aus denen der große Himmelsglobus in der Mitte meines Arbeitszimmers besteht, erweist sich dies alles als eitel.

6 Anfangs glaubte ich, meinem Schicksal zu begegnen, sobald ein fremder Wille dem meinen zuwiderlief. Ich habe dann sowohl mein Aufbegehren als auch meine Unterordnung nur geheuchelt, aber nicht in böser Absicht, sondern aus dem Entsetzen heraus, ich wäre des Todes, sobald sich das Schicksal von mir erkannt fühlte. Nur eine zur Schau getragene Ahnungslosigkeit schien mir eine Gewähr für mein Überleben. Noch jetzt kann ich eine geheime Furcht nicht ganz abschütteln, eine höhere Gewalt werde jeden Augenblick meinen Redefluss abbrechen, nur weil er der Wahrheit zu nahe kommt. Nach einer schlaflosen, kalten, stürmischen Nacht hat dieser Januartag grelles Winterlicht über das dunkle Meer, die rosa und taubenfarben gestuften Felsen, die bräunlich-grünen Haine und gelben Grashöhen der Insel Capreae gebreitet wie ein Zelt aus blassblauer, golddurchwirkter Seide. Plötzlich ist der Himmel wieder gewitterschwer. Augustus, den sie den Vergöttlichten nennen, verkroch sich bei Gewitter, denn er war davon überzeugt, Jupiter am nächsten zu stehen und das vornehmste Ziel seiner Blitze zu sein. Ich habe diese ängstliche, dem schlechten Gewissen geschuldete Rückkehr eines im Alltag so nüchternen, skrupellosen Gewaltmenschen in den kindlichsten Götterglauben immer im Stillen belächelt. Denn früh wusste ich, das Schicksal, das auch über den Göttern waltet, kennt weder Lohn für das Gute noch Strafe für das Böse, sondern nur Willkür. Darum bleibe ich jetzt auch ruhig, denn es entspräche dem Wesen der Willkür nicht, wenn es das Paradigma, mit dem man Kinder erzieht, lediglich umkehrte.

7 Ich übte mich in der Kunst der Verstellung schließlich mit dem Ziel, möglichst vieles, möglichst alles, auch das Letzte und Allerletzte über die Welt und die Menschen, über mich und unser Schicksal zu erfahren. Ich ließ mich vom Schicksal lenken, damit es sich unbeobachtet glaubte. Ich bemerkte, dass Auflehnung mir den Blick dafür trübte, wie die Dinge wirklich lagen. Ich verwandelte für mich selbst Gehorsam und Anpassung in die höchste Stufe des Widerstandes. Das Schicksal sollte in mir einen Arglosen sehen, damit meiner Beobachtung nichts entging. Vor den Menschen wird diese Maske nie mehr fallen, denn sie verwuchs mit meinem Gesicht. Aber mir bleibt der einsame Schauder, jetzt, da ich nichts mehr zu fürchten habe, das Schicksal aufs freventlichste und empörendste zu reizen, indem ich alle meine Beobachtungen darlege. Wenn ich mich prüfe, habe ich mein Leben lang immer nur das gewollt. Ich meinte es nie böse, wenn ich Menschen verriet. Ich tat es allein mit dem Vorsatz, ihr Schicksal zu durchschauen und in meiner letzten Frist an sie zu verraten. Auf den Dank kommt es mir nicht an. Denn auch dies gehört zu den Arten des Selbstgenusses, den Epikur uns lehrte. Und da mein Leben hinter mir liegt, darf ich behaupten, dass ich das Höchste erlebe, was Menschen zuteil werden kann.

8 Aber je älter ich wurde, desto öfter sagte ich mir: Du hättest beim ersten Verdacht, dass es ein überlegenes Schicksal gebe, dein Leben aufs Spiel setzen sollen! Kein einziges Mal habe ich das Schicksal mit meinen Verstellungskünsten wirklich gestellt. Und wenn man es nie besiegen kann, frage ich, lohnt sich dann das Überleben? Man muss allerdings alt werden, um dies zu begreifen. Denn wer setzt sein Leben aufs Spiel wegen eines Verdachts? Und ist ein Leben, aufs Spiel gesetzt angesichts eines überlegenen Gegners, nicht hingeworfen und verloren? Solange man sich an einem Spiel nicht beteiligt, sind weder Regeln noch Einsätze von Wert. Je jünger man ist, desto beharrlicher hält man das Leben, das man vor sich wähnt wie eine lange, gewundene, hinter jeder Biegung Überraschungen und Geheimnisse bereithaltende Straße, für unveräußerlich. Das Alter, die Nähe des Todes bewahrt davon nur eine schöne Erinnerung und das Lächeln über einen liebenswerten Irrtum, dem niemand entrinnt.

9 Ich schicke diese Zweifel voran, weil ich es unternommen habe, meine Erlebnisse und Erfahrungen und die daraus gewonnenen Meinungen niederzuschreiben, als wäre ich ihrer völlig sicher. Ohnehin habe ich immer nur Meinungen gehört und Meinungen geäußert. Ob uns Menschen Erkenntnisse möglich seien, ist mir bis heute verborgen geblieben. Was ich zu erkennen glaubte, behielt ich, je älter ich wurde, desto entschlossener für mich. Ich bin es mit den Jahren müde geworden, in Gesichter zu sprechen, die sich nichts merken können, die zu jedem meiner Sätze dreinschauen, als beschriebe ich das Wetter in einer fernen, unerreichbaren Welt. Für weit verhängnisvoller als seine mangelnde Fähigkeit zu Erkenntnissen halte ich die Vergesslichkeit des Menschen. So manches sah ich geschehen, das nicht geschehen wäre, hätte er ein Gedächtnis. Auch an mir selbst habe ich das Erlahmen des Willens, mich genau und schonungslos zu erinnern, verfolgen müssen. Was der Mensch nicht vergisst, das verklärt oder verhässlicht er. Die Verklärung hilft, einer trüben Gegenwart trotzig zu antworten: Ich habe bessere Tage gesehen! Etwas Vergangenes in aller Hässlichkeit zu bewahren, eignet sich, dieselbe Gegenwart zu beschönigen. Die Hoffnung, noch ein Weilchen dazubleiben und es schön zu haben, ist unaustilgbar. Kein Bestreben schien mir daher je so lächerlich wie das, in den Menschen Hoffnungen zu wecken und zu nähren. Hoffnungsvolle Gefühle und Gedanken unterliegen unserem Willen ebensowenig wie Furcht, wie Todesangst. Das Begehren unseres Körpers weiterzuleben bringt sie wieder und wieder hervor, zwanghaft wie der Same das Pflänzchen, das Pflänzchen den Stängel, die Blätter, Blüten, Früchte, den Samen und wieder das Pflänzchen. Die tierhafte Lust unseres Fleisches, zu leben und sich fortzuzeugen, schickt uns Hoffnung auf Hoffnung, listenreich und unabweisbar, auch wenn unser Verstand schon hundertmal die Sinnlosigkeit unseres Daseins erkannt hat. Wo keine Hoffnung mehr keimt, tritt der Tod sein Recht an. Wenn die Lebenslust erloschen ist und der Mensch die ihm einzig mögliche Erkenntnis, dass es nämlich keinerlei Sinn für ihn gebe, nicht wieder preisgibt, hat sie auch ihren Schrecken verloren.

10 Die Griechen, deren Weisheit ich früh schätzenlernte und in freiwilliger Verbannung auf Rhodos ganz in mich aufnahm, schreiben dem Schicksal das weibliche Geschlecht zu. Ich weiß nicht, ob es mir darum mit Venus verschmolzen ist. Als ich Kind war, glich es der schönen, angebeteten Mutter, die sich mir um eines fremden Mannes willen entzog: Venus Genetrix. Als ich Mann wurde, verwandelte es sich in die unerreichbare Geliebte, von der mein Herz niemals loskam: Venus Victrix. Venus bleibt Siegerin über jeden von uns selbst dann noch, wenn ihre Huld schwindet. Mir blieb zuletzt die unverhüllte, unvergleichlich süße und schmeichlerische Einsamkeit, auch sie eine Verweiblichung meines Schicksals. Wer nicht für die Einsamkeit geboren ist, erfährt sie nie, und wer sie erfährt, hat ihre Wonnen ein Leben lang erahnt und sie in allem, was ihm süß schien, nur sie, gesucht. Denn die Einsamkeit nimmt dem Tod seinen Schrecken und dem Leben seine ebenso trügerischen Verlockungen. Wer anderen Menschen bereits gestorben ist und dennoch mit einigen wachen Sinnen die Dinge dieser Welt und sich selbst genießt, wie es ihm beliebt, ohne Genüssen nachzutrauern, für die ihm die Kräfte schon fehlen, schließt untrüglich wie ein Weiser, dass wir mit unserem Leben nichts verlieren werden und weder vor unserer Geburt noch an Orten, wo wir nicht sein konnten, irgendetwas versäumt haben.

11 Die verstreuten Aufzeichnungen, die ich aus meinen römischen Archiven kommen ließ, vergewissern mich schon, dass mein Lebensbericht niemanden unter den Lebenden erfreuen wird. Unsicher also bleibt es, ob er dir, Bürger eines fernen Zeitalters, unter die Augen gelangen kann. Wenn es mir nicht gelingt, diese Schriftrollen geheimzuhalten und gut zu verbergen, werden sie schon mit meinem Leichnam in die Flammen geworfen. Nicht nur dem Zugriff meiner zahllosen Feinde habe ich sie zu entziehen, sondern auch dem meiner wenigen Freunde. Selbst eine wohlwollende oder gar ehrfürchtige Art der Aufbewahrung würde sie verfälschen. Ich höre schon all die bevormundenden Kommentare, in die man sie sperren will, sobald mir der Tod die Macht genommen hat, mich schützend davorzustellen. Während die einen gleich Leichenschändern ihre Wut, die sich an meiner Person entzündet hat, an meiner wehrlosen Hinterlassenschaft austoben, werden andere voller Entrüstung rufen: Seht! So war er immer! Boshaft, selbstisch, kalt, bitter, besserwisserisch, dünkelhaft, herrschsüchtig – ein Menschenfeind! Weder meine Zunge noch mein Griffel soll denen je widersprechen. Aber diejenigen, die sich in einer vermeintlichen Verwandtschaft einem Verständnis meines Innersten am nächsten glauben, verfehlen es am sichersten. Gründlicher als Mordbrenner und Verleumder werden die Wohlmeinenden mein Werk vernichten, die zu den ungeheuerlichsten meiner Sätze, ihre Entrüstung niederringend, flöten: Er hat es nicht so gemeint.

12 Ihnen zum Trotz bekenne ich feierlich: Doch! Ich habe es so gemeint! Ich habe alles so gemeint, wie es geschrieben steht. Ein Dummkopf, wer daran zu deuteln versucht, wert, von Vernünftigen verachtet zu werden. Ich selbst verachte die meisten. Vernünftige Menschen sind zu dünn gesät, als dass sie sich auf Dauer der Geschicke der Menschen bemächtigen oder aber der Macht, die ihnen das Schicksal zuspielt, je froh werden könnten.

Doch ich beklage mich nicht. Ich stelle nur fest.

ERSTES BUCH

Wenn man die Herzen der Tyrannen aufschlösse, würde man Wunden und Hiebe entdecken.

Platon, Gorgias