ÜBER DAS BUCH

Für Maddy wird ein Traum wahr: Sie nimmt an einem neuartigen Fernsehexperiment teil, in dem acht Fremde auf einer einsamen schottischen Insel überleben müssen, ein Jahr lang, mit nur minimaler Ausrüstung und ohne Kontakt zur Außenwelt.

18 Monate später ist Maddys Traum zum Albtraum geworden. Die Behörden greifen die junge Frau in einem Fischerdorf auf dem Festland auf. Verzweifelt berichtet sie, wie das Boot, das die Teilnehmer nach einem Jahr abholen sollte, nicht kam. Und davon, wie in den folgenden Wochen einer nach dem anderen starb, nicht durch Hunger oder Krankheit, sondern durch menschliche Hand. Doch was verschweigt Maddy? Und wie schaffte sie es, die Insel lebend zu verlassen?

ÜBER DIE AUTORIN

Sarah Goodwin ist Engländerin. Stranded – Die Insel ist ihr erstes Buch. Neben der Schreiberei liebt sie es, sich mit Büchern kritisch auseinanderzusetzen, und betreibt einen Podcast. Sie lebt im ländlichen Hertfordshire.

S A R A H  G O O D W I N

STRANDED

THRILLER

DIE
INSEL

Aus dem Englischen übersetzt
von Dr. Holger Hanowell

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Meinen Eltern,

da sie immer daran geglaubt haben,

dass mir alles gelingt. Insbesondere dann,

wenn ich anderer Meinung war.

PROLOG

Bis auf die Knochen durchgefroren, stolpere ich aus dem Boot und schaue mich um, vor mir das Dorf. Nicht Creel, sondern ein Ort, der genauso aussieht. Die Häuser scheinen wie Felsbrocken hinab in die hungrige See zu stürzen. Fischerboote und aufgeplatzte Asphaltdecken. Ich stehe da, taumele noch leicht von dem Schaukeln des Boots, das ich zurückgelassen habe. Aus Richtung der Häuser dringt kein Laut an meine Ohren, alles ist ruhig.

Obwohl ich es bis hierhergeschafft habe und so viel hinter mir liegt, lässt mich die Vorstellung erstarren, an eine der Türen zu klopfen und vor einem Fremden zu stehen. Was erwartet mich wohl in diesen Häusern? Ist dort überhaupt irgendjemand?

»Alles in Ordnung, Schätzchen?«

Ich wirbele so schnell herum, dass ich fast das Gleichgewicht verliere. Auf der Türschwelle eines der kleineren Cottages steht eine alte Frau, sie trägt ein Wollkleid und flauschige Hausschuhe. Sie sieht mich mit großen Augen an, in einer Hand hält sie ein Tragegestell für Milchflaschen; sie ist im Begriff, die Flaschen abzustellen, steht schon leicht gebeugt da.

Als ich mich der Frau zuwende, fällt ihr Blick auf den Riemen meines Gewehrs. Plötzlich lässt sie die Flaschen fallen. Sie zerspringen, Glassplitter fliegen über die steinerne Stufe vorm Eingang. Furcht gräbt sich in ihre Miene, als ich das Gewehr von der Schulter nehme und auf den Boden lege.

Ich richte mich wieder auf, schaue an mir herab, sehe meine zerrissene, verdreckte Kleidung, die mir vom dürren Körper hängt. Mühsam spreche ich durch salzverkrustete Lippen.

»Ich muss zur Polizei.«

1. KAPITEL

»Maddy?«

Ich blinzelte. Mit einem Mal machte ich mir bewusst, dass die Frage, die ich beantworten sollte, schon länger in der Luft hing. Ich rückte den Laptop auf meinen Knien zurecht und sah mein Gesicht in dem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Im Neonlicht der Küche verlieh mir die billige Webcam einen grünlichen Teint. Und meine Haare sahen bescheuert aus, obwohl ich sie vor dem Skypen noch gebürstet hatte. In letzter Zeit hatte ich zugenommen, daher wirkte mein Gesicht fett wie das einer Kröte. Hätte ich nicht geblinzelt, hätte man mich glatt für tot halten können.

»Sorry«, sagte ich. »Wie ich überhaupt zur Pflanzenkunde kam, hm … Nun, eigentlich über meinen Dad. Er war leidenschaftlicher Gärtner. Das war nicht sein eigentlicher Job, aber wir hatten zu Hause einen Garten – einen richtigen Gemüsegarten.« Ich fing an zu plappern und hasste mich dafür. Die Frau, die das Online-Interview mit mir durchführte, Sasha, hatte ein starres Lächeln auf den Lippen. Sie saß irgendwo in einem verglasten Büro, und ihr steifer, dunkler Blazer zeichnete sich scharf vor der weißen Wand ab.

Ich musste mich regelrecht zwingen zu atmen. »Mein Dad und meine Mutter brachten mir zu Hause alles bei. Alles, was ich über Biologie und Pflanzen weiß, habe ich von ihm gelernt. Mein Vater war immer mit seinem Garten beschäftigt.«

»Sie hatten also Privatunterricht zu Hause? Das ist ziemlich ungewöhnlich. Haben Sie je eine … traditionelle Schule besucht?«, fragte sie und umging offenbar das Wort »normal«.

Ich nagte auf meiner Unterlippe. »Hm, ja, schon. Zu Hause wurde ich erst unterrichtet, als ich elf Jahre alt war. Davor besuchte ich die Grundschule bei uns im Dorf. Nach der Zeit gingen alle auf die weiterführende Schule in der Stadt.«

Ich konnte mich noch lebhaft an meinen ersten Tag an der großen neuen Schule erinnern. Wie sie lachten über meine Brotdose mit dem Hundesticker, wie meine Spielgefährtinnen irgendwo in der Menge verschwanden und mich in dem ungewohnten, viel größeren Gewühl allein ließen, in dem wir alle steckten. Mädchen, die viel älter als ich waren und schon Lippenstift trugen, verscheuchten mich aus der Toilettenkabine, weil sie dort rauchen wollten. Auf dem Heimweg heulte ich im Auto. Zu Hause genügte meiner Mutter ein Blick, dann schloss sie mich in ihre mehlbestäubten Arme.

»Siehst du?«, hatte sie zu meinem Dad gesagt. »Habe ich es dir nicht gesagt, diese Schule ist nichts für sie.«

Es dauerte nur wenige Wochen, dann war alles arrangiert, und ich brauchte nicht mehr zur Schule zu gehen. Damals war ich froh, aber später wünschte ich, ich hätte meine Gefühle für mich behalten. Wann immer ich etwas Neues ausprobieren wollte, fort von zu Hause – Pfadfinderinnen, Ballettstunden, Reiten –, erinnerte mich meine Mutter sofort daran, was »letztes Mal« passiert sei. Mit jenem Vorfall hatte sie bei jeder Auseinandersetzung das letzte Wort.

Sasha, die blonden Haare tadellos frisiert, neigte den Kopf leicht zur Seite und runzelte die Stirn. Die Designerbrille rutschte die Nase runter. »Gab es da einen bestimmten Grund? Ich denke, unsere Zuschauer wären sehr daran interessiert, mehr über Ihre Herkunft zu erfahren.«

»Nein, keinen bestimmten Grund«, sagte ich und brachte ein Lächeln zustande. »Meinen Eltern gefiel nur einfach die Schule in unserer Nähe nicht. Da wir weit draußen auf dem Land wohnten, gab es nicht so viele Optionen.«

»Das muss schwer für Sie gewesen sein, Freunde zu finden, nicht wahr?«

Ich spürte die Fallstricke. Um ausgewählt zu werden, musste ich zumindest den Anschein erwecken, verschiedenen Vereinen anzugehören, musste mich als abenteuerlustige Optimistin präsentieren, die »offen ist für neue Erfahrungen und Ideen.« So stand es auf der Website. Ich hatte es mir gemerkt. Aber das hier war kein Gerede von Leuten, die alles Mögliche in ihrer Freizeit machen. Dies war zu nah an der Wahrheit.

»Eigentlich nicht«, sagte ich möglichst unbefangen, »es dauerte ja nicht ewig, bis ich zur Uni ging, und von da an war sowieso alles anders. Eine aufregende Zeit.«

Sie lächelte, doch ich verkrampfte innerlich. Klar, auf der Uni war tatsächlich alles anders gewesen. Ich war auf mich gestellt, und abends saß ich nicht länger gemütlich mit Mum am Kamin, ein Buch in der Hand. Keine langen Spaziergänge mehr mit Dad und den Hunden. Nur Musik und Promis, von denen ich nie etwas gehört hatte. Ich trug Klamotten, die überhaupt nicht meinem Alter entsprachen, und dachte, neun Uhr abends sei es Zeit, ins Bett zu gehen und zu lesen – also keine Shots und halsbrecherischen Spurts zur Bushaltestelle, um noch in die Stadt zu fahren.

»Sie müssen ein enges Verhältnis zu Ihrer Familie haben«, fuhr sie fort, als könnte sie meine Gedanken lesen, ganz so, als wüsste sie, dass ich an einsamen Abenden mit Mum telefoniert hatte. »Werden Sie Ihre Eltern nicht vermissen, wenn Sie fort sind?«

»Nein … Ich meine, klar werde ich sie vermissen, aber … das ist schon okay.« Ich zwang mich, keinen Blick auf die einsame Karte auf meinem Bücherregal zu werfen. Die hängende Lilie und die leicht schielende Taube auf der Karte standen wohl sinnbildlich für das tiefe Mitgefühl meines Managers und meiner Kollegen. »Auf der … äh Website steht, bei der Show geht es um das Ende der Welt – wie wird das Ende aussehen, in der Version, die Sie sich vorstellen? Bricht eine Hungersnot aus? Oder kommt es zum Krieg, und das Land wird bombardiert?«

Sasha lächelte wieder. »Das ist eine der Fragen, die ich eigentlich Ihnen stellen wollte. Wir lassen das Ende absichtlich offen, damit die Kandidaten zu Diskussionen angeregt werden. Im Augenblick geschehen so viele Dinge auf der Welt. Und jeder hat seine eigenen Theorien über das Ende der Welt. Was denken Sie, wie es aussehen wird?«

Ich hatte einen bitteren Geschmack im Mund. Wie es aussah, hatte meine Welt bereits geendet.

»Ich weiß nicht. Vielleicht … Nun, in einem meiner Vorträge geht es um die Gefahren, die von Monokulturen ausgehen. Wenn wir nur einen Pflanzentyp anbauen, diese Pflanze dann aber plötzlich einen tödlichen Befall hat und eingeht, könnte sich das verheerend auf unsere Nahrungsmittelproduktion auswirken.« Ich sah, wie sie die Augenbrauen hochzog, und wünschte, ich hätte etwas gesagt, das weniger auswendig gelernt geklungen hätte. »Aber ich denke, ich sollte es mit Zombies versuchen«, fügte ich hastig hinzu und ließ ein kleines Lachen folgen. »Ich glaube, die meisten Leute wären ziemlich enttäuscht, wenn es zu einer Apokalypse kommt, in der keine Zombies auftauchen.«

Sasha lachte, und ich atmete erleichtert auf, möglichst langsam natürlich, damit man es in der Webcam nicht sah.

»Also, was würde Sie am meisten begeistern, falls man Ihnen eine Rolle in Die Letzte Zuflucht zuteilt?«

Diesmal war meine Antwort authentisch; ich brauchte nicht groß nachzudenken. »Die Flucht.«

Die Flucht vor meinem Leben, meinem Kummer, vor mir selbst.

Ich musste einfach fort von hier.

Als ich die E-Mail bekam und las, dass ich genommen worden war, konnte ich es erst nicht glauben. Dann liefen mir die Tränen über die Wangen, obwohl mein Herz vor Aufregung raste. Ich würde bekommen, was ich mir gewünscht hatte. Was ich unbedingt brauchte. Ich würde den Absprung schaffen.

Schließlich ging ich zu einer neuen Ärztin, die mir attestieren sollte, dass mein Gesundheitszustand es zuließ, an der Show teilzunehmen. Ich bekam die Bescheinigung, ungeachtet der Therapie, die ich abgebrochen hatte, und der Tabletten, die ich nehmen sollte. Aber das brauchte die Ärztin nicht zu wissen. Danach fuhr ich nach London für die offiziellen Interviews, also die Art von Interviews, die im Fernsehen laufen würden, wenn die Show gesendet würde. Eine Frau kümmerte sich um meine Frisur und das Make-up. Sasha stellte mir die Fragen; offensichtlich hatte man noch keinen Moderator engagiert. Ich dachte, das sei ein Versehen, aber was wusste ich schon? Wie auch immer, ich wollte nicht zu viel über das Endprodukt nachdenken. Ich wollte auf der Insel sein. Was danach kommen würde, die Sendungen, die Interviews, die Rückkehr ins Leben – darüber wollte ich mir nicht den Kopf zerbrechen.

Man würde uns in zwei Gruppen auf die Insel schicken, Jungs und Mädchen getrennt. So nannte Sasha uns: Jungs und Mädchen. Als wären wir noch Kids, die ein Abenteuer im Stil der Fünf Freunde erlebten. Natürlich sagte ich dazu nichts. Aus meiner Sicht war Sasha nicht der Typ Frau, die sich an Enid Blyton erinnerte.

An der Glasgow Station traf ich meine drei Reisegefährtinnen. Ich war schon ziemlich erschöpft, weil ich mein Gepäck quer durchs Land schleppen musste. Man hatte uns wissen lassen, dass es Material auf der Insel geben würde, um eine Unterkunft zu bauen, auch Werkzeug und Proviant in Kisten. Erst als ich einige Bücher über Botanik und Rollen Toilettenpapier in meine Tasche packte, merkte ich, wie wenig Gepäck ich eigentlich mitnehmen konnte.

Ein Stück vom Treffpunkt entfernt blieb ich stehen – ein Taxistand unter einer Kunststoffüberdachung. Drei Frauen warteten am vereinbarten Ort. Sie waren ähnlich gekleidet wie ich und hatten ebenfalls prallvolle Rucksäcke dabei. Zwei wirkten älter als ich, die dritte hielt ich für jünger; sie hatte ihr iPhone am Ohr. Instinktiv wollte ich kehrtmachen und weglaufen. Nach meiner langen Reise wären das die ersten Leute, mit denen ich mich unterhalten müsste. Immerhin würden wir uns eine Insel teilen, ein neues Zuhause, und zwar fast ein Jahr lang. Mein Angstlevel ging fast durch die Decke. Ich musste mich zwingen, zu den drei Frauen zu gehen, und hatte plötzlich wieder das Gefühl wie beim ersten Schultag.

»Gehörst du zu uns?«, trällerte eine der drei in meine Richtung. Sie hatte Strähnchen, trug das Haar kurz, den Pony aber fransig. Ihre Haut war stark gebräunt, aber faltig, und als sie lächelte, kam ihr leuchtender, pinkfarbener Lippenstift richtig zur Geltung. Sie gab mir zur Begrüßung Küsschen auf die Wangen. »Wir dachten schon, du würdest gar nicht mehr kommen, nicht wahr, Mädels?«

»Sorry, der Bus kam nicht vom Fleck. Straßenarbeiten.«

»Ah, wir sind mit dem Zug gekommen. Ich bin übrigens Gill – und wie heißt du?«

»Maddy«, sagte ich und hatte schon das Gefühl, als hätte ich die anderen in irgendeiner Weise enttäuscht.

Ich schätzte Gill auf vierzig oder älter, doch sie wirkte viel jünger und lebhafter als ich, obwohl ich bestimmt zehn Jahre jünger als sie war. Sie sprach ziemlich laut und machte sich nichts daraus, dass uns einige Leute angafften. Außerdem ignorierte sie gut gelaunt das »Rauchen verboten«-Schild in dem Unterstand.

»Das sind Maxine und Zoe«, sagte Gill, deutete mit der Zigarette auf die beiden anderen und verteilte die Asche dabei auf dem Rucksack, den ich gerade abgestellt hatte. »Maxine war früher Lehrerin, und Zoe stammt aus Indien.«

»Eigentlich aus dem County Kerry«, stellte Zoe klar und zog eine Braue hoch.

Gill bleckte die Zähne beim Lächeln. »Dann werde ich uns mal ein Taxi organisieren, was?«

Während Gill sich auf den Weg machte, trat Maxine mit einem kleinen Lächeln vor. Ich schätzte sie etwas älter als Gill, vielleicht Anfang fünfzig. Sie hatte glattes graues Haar und trug eine Fleecejacke mit aufgenähten Emblemen. Als sie mir die Hand schüttelte, spürte ich, wie rau ihre Handfläche war, und nahm einen Hauch von Lavendel wahr. Bei dieser Frau musste ich unweigerlich an Mum denken.

»Kalt, oder?«, sagte sie und schaute hinauf zum unfreundlichen, grau verhangenen Himmel. »Ich habe lange Unterwäsche eingepackt, aber ich dachte, die bräuchte ich erst auf der Insel.«

»Am Meer wird es noch kälter sein«, meinte ich. »Aber dann können wir zumindest ein Feuer machen. Geht ja schlecht vorm Bahnhof.«

Zoe lachte schnaufend und ließ ihr Smartphone in ihrer Tasche verschwinden. »Kannst du dir vorstellen, die Marshmallows an der Anlegestelle rauszukramen?« Aus ihrer Tasche holte sie eine Riesentüte mit weißen Marshmallows hervor und schwenkte sie vor meiner Nase. »Einweihungsgeschenk«, sagte sie grinsend. Ich erwiderte das Lächeln.

Sie war ein paar Jahre jünger als ich, vielleicht Anfang zwanzig, und hatte sich ein leuchtendes Tuch aus Seide um den Kopf geschlungen. Sie trug eine Brille mit breiter Fassung und ein Nasenpiercing. Ich vermutete, dass sie Studentin oder Künstlerin war. Sie verstaute die Marshmallows wieder in der Tasche und hielt mir eine mit Henna verzierte Hand hin. Ich schüttelte sie und war schon überwältigt von Zoes lässigem Stil.

Gill tauchte wieder auf, hatte die Hände wie einen Trichter um den Mund geformt und rief uns zu: »Hierher, Mädels! Und bringt mein Gepäck mit!«

Wir latschten zu ihr und sahen, dass sie immer noch mit dem Taxifahrer um den Preis feilschte. Offenbar war der Typ nicht ohne Weiteres bereit, uns zu unserem Zielort zu fahren. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Auf der Karte war das Dorf Creel nichts als ein Klecks und ein Name und lag so weit westlich von Glasgow, wie man ohne Boot fahren konnte. Letzten Endes erklärte sich der Mann doch bereit, uns zu bringen, aber ob es nun an Gills Überredungskünsten gelegen hatte oder an den zerknitterten Banknoten, die wir nach und nach aus unserem Gepäck zauberten? Ich weiß es nicht. Wir stiegen ins Auto und quetschten uns zwischen unsere Rucksäcke. Maxine bot Brausebonbons mit Zitronengeschmack an, und schon ließen wir den Bahnhof hinter uns.

»Wie es wohl sein wird, dadraußen?«, meinte Zoe, nachdem sie ein paar Selfies im Taxi gemacht hatte. »Aber eins sag ich euch, ich habe es schon bereut, dass ich den Bikini eingepackt habe.«

Mir fiel auf, dass Maxine Zoe mit einem Blick taxierte, in dem Überraschung, aber auch Verachtung lagen. Ein Bikini auf einer schottischen Insel – eigentlich nutzlos, es sei denn, die globale Erwärmung würde in den kommenden Monaten so richtig loslegen. Aber Zoe schien sich selbst auch nicht wirklich ernst zu nehmen, als sie ihren Bikini erwähnte.

»Ich möchte wissen, wann wir die Jungs treffen«, sagte Gill. »Wo legt ihr Boot wohl ab?«

»Keine Ahnung«, antwortete Maxine. »Schätze, ein Stück weit die Küste hinauf von dem Ort, von dem wir ablegen. Verstehen tu ich’s nicht. Wir fahren doch alle zu ein und demselben Ort.«

»Ist schon lustig, oder? Nicht zu wissen, wen wir alles treffen werden«, sagte Zoe. »Ich hoffe, die Jungs sind nett. Nicht so übertriebene Machos oder so was in der Art.«

»Anpacken müssen sie schon können, um eine Unterkunft zu bauen«, warf Gill ein. »Ich hab nämlich nicht vor, ein Jahr lang zu zelten.«

»Bist du sicher, dass du dir die richtige Show ausgesucht hast?«, fragte Maxine absichtlich in leicht neckendem Ton.

»Oh, ich bin gern im Freien. Ich liebe die Gartenarbeit und in der Sonne zu liegen, aber gebt mir vier Wände, einen Fußboden und ein Dach über dem Kopf, dann verzichte ich gern auf einen Schlafsack«, meinte Gill.

»Ich zelte gern. War schon viermal beim Glastonbury Festival. Es ist klasse, wenn es einmal nicht wie zu Hause ist – nur Matsch und Glitter und ein Pint Cider.« Zoe kicherte. »Wie ist’s bei dir, Maddy?«

Ich blinzelte, davon überrascht, in die Unterhaltung einbezogen zu werden. Mir hatte es gefallen, einfach nur zuzuhören und die Landschaft draußen vorbeiziehen zu sehen.

»Oh … ich zelte auch gern. Habe ich früher oft gemacht mit meinen Eltern. Man kann eine Menge lesen, wenn man nicht ständig abgelenkt ist.« Wir fuhren immer außerhalb der Ferien in Urlaub, um Geld zu sparen. Und selbst wenn andere Kinder in der Nähe waren, verbot Mum es mir, mit ihnen zum Spielplatz oder zum Pool zu gehen. Sie wollte mich immer um sich haben; kaum auszudenken, was alles hätte passieren können, wenn ich mich allein auf den Weg gemacht hätte.

Die drei quatschten ununterbrochen während der Fahrt. Allmählich wurde es auf der Rückbank des Taxis ganz schön warm, und die Scheiben beschlugen von unserer Atemluft. Der Fahrer stellte alle paar Minuten das Radio lauter, und jedes Mal, wenn er finster in den Rückspiegel sah, schienen die Furchen auf seiner Stirn tiefer zu werden. Ich lehnte mit der Stirn an der kalten Scheibe und schloss die Augen.

2. KAPITEL

»Hier frieren wir uns noch den Arsch ab.« Zoe zog sich ihre viel zu weite Armyjacke enger um die Schultern. »Wo bleibt denn das Boot?«

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Haben die sich verspätet?«

Zoe holte ihr iPhone raus. Die Hülle war mit Sprüchen übersät. »Keine verpassten Anrufe.«

Ich machte ein besorgtes Gesicht und schaute wieder hinaus aufs Meer. Nirgends ein Boot zu sehen, bis zum Horizont nichts als die weite See. Die Produktionsfirma hatte uns in dem Schreiben mitgeteilt, wann wir uns an der vereinbarten Stelle einzufinden hatten, aber inzwischen war eine halbe Stunde vergangen. Mir war kalt bis auf die Knochen, und ich fragte mich, ob die anderen vier voraussichtlichen Inselbewohner schon abgeholt worden waren. Ob sie bereits einen Fuß auf den Küstenstreifen unseres verlassenen Ortes gesetzt hatten?

Ich warf einen Blick auf die anderen drei und sah, dass Gill immer noch eine Zigarette nach der anderen rauchte und nervös mit dem Fuß auf den Boden tippte. Maxine hatte eine brandneu aussehende Thermoskanne hervorgeholt und trank irgendetwas.

Ich stellte mein Gepäck am Metallgeländer der Uferpromenade ab. Als ich mich über das Geländer beugte, um einen besseren Blick auf die aufgewühlte See werfen zu können, fiel mir der Fucus vesiculosus auf, auch bekannt als Blasentang; ein dunkles Seegras mit großen Blasen. Zumindest würden wir nicht verhungern. Aber allein bei der Vorstellung, dieses Zeug essen zu müssen, wurde mir ganz anders.

Wie nicht anders erwartet, schien Creel ein Fischerdorf zu sein. Aber selbst die Bezeichnung »Dorf« war schon übertrieben; fünf wettergegerbte Häuser standen windschief auf einem mit Kopfstein gepflasterten Platz, von dem aus eine Rampe aus Beton hinunter zum Meer verlief. An zwei Häusern hingen in den Fenstern Schilder »Zum Verkauf«, die selbstgemacht aussahen und in der Sonne ausgeblichen waren.

Ich mochte diesen Ort, auch wenn niemand zu sehen war und die Häuser schon bessere Zeiten erlebt hatten; es war ein wilder Ort, den die See halb zurückerobert zu haben schien. Sogar der betonierte Pier unten am Wasser war rissig und aufgeplatzt von Stürmen. Es war, als hätte man diese Häuser und den kleinen Hafen aufgegeben, und nun griff die See wieder danach, mit gierigen Händen und Fingern aus Gischt.

Da ich das Warten satthatte, entfernte ich mich von den anderen, in der Hoffnung, die paar Schritte würden mich aufwärmen. Am anderen Ende des Piers atmete ich tief durch. Endlich fühlte ich mich unbeobachtet und war für mich, eine willkommene Abwechslung nach der stressigen Fahrt mit vielen Leuten. Ich ging auf ein Knie, um meinen Rucksack zu durchwühlen, und kramte eine handgestrickte Mütze hervor, die ich aufsetzte.

Gerade überlegte ich, einen zusätzlichen Pullover anzuziehen, als ein Boot hinter dem Vorsprung des zerklüfteten Küstenverlaufs auftauchte. Es war viel zu klein und konnte nicht das Gefährt sein, auf das wir warteten, denn es war kaum größer als ein Ruderboot. Ich sah, wie es im Wellengang auf und ab dümpelte, die Riemen von einem älteren Mann durchs Wasser gezogen. Sein Gesicht war vom Wind stark gerötet, sein Overall, der bestimmt früher marineblau gewesen war, verblichen und am Kragen grau. Schließlich legte er an, stieg aus dem Boot und zog es ein Stück weit die Rampe hinauf, ehe er einige Reusen aus dem Innern des Boots nahm. Ich sah Krabben darin; Taschenkrebse, die sich wie riesige Spinnen bewegten und zu fliehen versuchten.

»Guten Morgen«, grüßte ich, als er aufschaute und mich wahrnahm.

»Moin«, kam es von ihm, aber selbst das kurze Wort wurde halb vom Wind verschluckt.

Einen Moment sah ich ihm bei der Arbeit zu, bevor meine Bedenken zu groß wurden. Ich ging zu dem alten Mann.

»Entschuldigen Sie, wissen Sie, ob hier heute jemand zur Buidseach Isle ablegt? Ich frage, weil wir um diese Zeit mit einem Boot gerechnet haben.« Ich deutete mit einer Kopfbewegung zu den anderen.

Der alte Fischer richtete sich auf, eine leere Reuse in der Hand, und schüttelte zu meinem Schrecken mit dem Kopf.

»Nich’, dass ich wüsst’«, meinte er. Er hatte einen noch stärkeren Akzent als der Taxifahrer, daher brauchte ich einen Moment, um die Worte im Wind zu entschlüsseln.

»Aber Sie kennen ja sicher Buidseach Isle? Liegt die Insel hier in der Nähe?«, setzte ich nach und fragte mich, ob ich den Namen falsch aussprach.

»Die liegt dort draußen, aber inner Nähe is’ das nich’«, antwortete er und deutete vage hinaus aufs Meer. »Kenn’ kein’n, der da rausfahren tät. Setzt das Boot aufs Spiel. Die Hexe holt’s.«

Ich war mir sicher, dass ich ihn falsch verstanden hatte. »Wie bitte? Die Hexe?«

Er schniefte. »Buidseach bedeutet Hexe. Die Insel heißt nach ’ner Hexe – und es gib’ Geschichten zu dieser Insel, seit ich ’n kleiner Junge war. Dad hat mir imma Angst eingejagt damit. Er meinte, wennde je in die Nähe komms’, Junge, dann biste so weit rausgefahren, dass dich keiner mehr findet, wennde auf die Riffe läufs’. Dann fängt dich die Hexe dort, kocht ’ne Brühe aus dein’n Knochen.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Natürlich glaubte ich nicht an Hexen, aber Riffe und Schiffswracks waren etwas ganz anderes. Mein Magen krampfte sich vor Angst zusammen, und irgendwie musste mir der alte Fischer das Unbehagen angemerkt haben, weil er lächelte und den Kopf schüttelte.

»Bloß Geschicht’n, Mädchen. Mein Dad erzählte sie mir, damit ich Respekt hab vor der See.«

Ich versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, schaute dann aber wieder über das Wasser zum Horizont. Kein Boot, in der Ferne nicht einmal ein Fleckchen Land. Die Insel konnte man vom Festland aus nicht sehen.

Als ich mich wieder dem Fischer zuwandte, sah ich, dass er den Eimer mit Krabben mitgenommen hatte und das Cottage betrat, das mir von meinem Standort als Erstes ins Auge fiel. Ich hatte ihn schon lange genug aufgehalten. Plötzlich zuckte ich zusammen, als mir jemand auf die Schulter tippte. Ich drehte mich um, vor mir stand Zoe, einen Schokoriegel in der Hand.

»Möchtest du einen? Ist ohne Milch, also eigentlich nicht so toll, aber ich bin am Verhungern. Im B&B gab’s kein veganes Essen, daher hatte ich nur einen Toast. Schätze, ich würde sogar meine Oma verkaufen für ein richtig fettes Sandwich jetzt.«

Ich nahm die Schokolade dankbar an. Zuletzt hatte ich etwas an einer Tankstelle gegessen. Nichts, was ich mir freiwillig ausgesucht hätte, aber wenn’s nix anderes gibt … Wäre es nach mir gegangen, hätte ich mir einen Braten mit allen Beilagen gegönnt – einen Braten, wie Mum ihn jeden Sonntag machte –, dazu cremigen Milchreis mit runzliger Haut aus Muskatnuss.

Ich wollte gerade vorschlagen, die Nummer anzurufen, die im Briefkopf stand, als ein Auto hupte und die friedliche Ruhe an dem kleinen Hafen störte. Ein neu aussehender Geländewagen fuhr über die Anhöhe in unsere Richtung. Wieder die Hupe, schließlich konnte ich einen Mann hinterm Lenkrad erkennen, der aufgeregt winkte.

»Sieht aus, als wären das die Leute vom Fernsehen«, meinte Zoe. »Bisschen übertriebener Auftritt, oder?«

Ich nickte. Obwohl ich nicht viel von Autos verstand, konnte selbst ich sehen, dass es ein neues Modell war. Blitzblank, mit greller orangeroter Lackierung. Klar war auch, dass der Besitzer sich noch nicht so recht an das Auto gewöhnt hatte, oder er war einfach nur ein miserabler Fahrer. Jedenfalls bremste er zu abrupt auf dem Kopfsteinpflaster, sodass der Wagen noch etwas über die Steine rutschte. Dann stieg auf der Fahrerseite ein junger Mann im Anzug aus. Zoe und ich gingen zu ihm und stießen auf die anderen.

»Guten Morgen zusammen!«, rief er gegen den Wind an. »Bereit für ein Abenteuer?«

Ich kannte diese Stimme von dem Interview am Telefon, nachdem ich meine Bewerbung eingeschickt hatte. Das musste Adrian sein, Sashas Kollege. Ich schätzte, dass sie irgendwo die Männer mit einer kleinen Ansprache willkommen heißen würde. Hinter Adrian stiegen zwei weitere Männer in Anoraks und Wollmützen aus und fingen an, Gepäck auszuladen.

Wir scharten uns wie Schulkinder auf einem Tagesausflug um das Auto, die Rucksäcke bereit. Adrian war vollkommen falsch gekleidet für die Wetterverhältnisse in seinem dunkelblauen Anzug und dem pinkfarbenen Hemd. Seine spitz zulaufenden schwarzen Schuhe hatten keine geeignete Sohle für das Kopfsteinpflaster, und daher rutschte Adrian ein bisschen, als er auf uns zukam.

»Das Boot ist unterwegs – kleines technisches Problem«, sagte er gut gelaunt. »Also, diese beiden hier sind eure Kameratechniker«, fügte er hinzu und deutete mit einer Hand auf seine Begleiter. Einer hatte sich gerade eine Zigarette angezündet. »Auf der Insel werden sie die verschiedenen Kameras im Freien instand halten, die wir angebracht haben. Natürlich kümmern sie sich auch um eure Body-Cams, falls irgendetwas nicht läuft.«

Die Kameramänner sahen fast identisch aus, beide waren blass und trugen spärliche braune Bärte. Sie hatten müde, rote Augen und gingen auffallend langsam, daher vermutete ich, dass sie eine genauso stressige Fahrt gehabt hatten wie wir. Einer der beiden klappte ein dreibeiniges Stativ auf und befestigte eine Kamera darauf, um unsere Abfahrt zu filmen.

»Eric und Ryan hier werden mit euch auf der Insel bleiben, in einer kleinen Kommandozentrale – aber keine Angst, ihr werdet sie nicht sehen, und die beiden werden euch nicht im Weg sein. Wir wollen, dass dies so authentisch wie möglich wird. Deshalb bekommt jeder von euch eine Body-Cam, damit ihr euch gegenseitig filmen könnt. Die Body-Cams haben eine Solar-Powerbank, die sie am Laufen hält. Wie ihr ja wisst, muss ich eure Handys einsammeln. Nicht, dass sie dort draußen Empfang hätten, aber wir wollen nicht, dass ihr abgelenkt seid, daddelt oder irgendwelche Aufnahmen macht. Ihr bekommt die Handys zurück, wenn wir euch wieder von der Insel abholen. Es gibt aber die Möglichkeit, uns im Notfall über die Unterkunft der Kameraleute zu kontaktieren.«

Er holte einen großen gepolsterten Umschlag hervor, und wir gaben unsere Handys ab. Mir fiel auf, dass Maxines Handy an die zehn Jahre alt war, es war nicht einmal ein Smartphone. Zoe ließ ihr iPhone in den Umschlag fallen, wie ein Kind, das sein Lieblingsspielzeug abgeben muss. Es sah fast süß aus.

»Da ist ja das Boot.« Adrian war sichtlich erleichtert. Auch ich schaute aufs Meer hinaus und sah ein offenes Boot mittlerer Größe mit kleiner Glaskabine, das auf uns zuhielt. Mir sank das Herz. Wir würden in der Kälte und der sprühenden Gischt stehen. Dabei hatte ich gehofft, mich wenigstens für kurze Zeit aufwärmen zu können.

»Wir drehen eine kleine Szene, ehe ihr ablegt. Das wird der Einstieg in unsere erste Episode«, fügte Adrian hinzu und gab den Kameramännern zu verstehen, alles für die Aufnahme bereit zu machen. Während die beiden das Stativ verrückten, beobachtete ich, wie sich das Boot der betonierten Rampe näherte.

Als alles an Ort und Stelle war, begann Adrian mit seiner Ansprache. »Die Welt, wie wir sie kennen, gibt es nicht mehr. Chaos herrscht, das Festland ist nicht länger der sichere und florierende Ort, der er einst war. Ihr stellt die Hälfte eines achtköpfigen Teams tapferer Survivor, die einen intakten Rückzugsort suchen. Gemeinsam werdet ihr eine neue Gesellschaft gründen. Ihr lasst Verwüstung und Ruinen hinter euch und erschafft Utopia. Ihr habt ein Jahr Zeit, um alles in Gang zu bringen, für die Infrastruktur zu sorgen, euch selbst zu verwalten und euch eine Zukunft aufzubauen, aus Treibgut, Strandgut und den natürlichen Ressourcen, die euch zur Verfügung stehen. Wenn ihr versagt, versagt die Menschheit mit euch.«

Ich schaute mich möglichst unauffällig in der Gruppe um. Zoe sah ziemlich ergriffen aus, die beiden Kameramänner warfen einander vielsagende Blicke zu und verdrehten die Augen, und Maxines Gesichtsausdruck verriet grimmige Entschlossenheit.

»Euch allen viel Glück!«, schloss Adrian. »Wir sehen uns dann … im Neuen Jahr!«

Adrian schlitterte auf den trügerischen Kopfsteinen zurück zu seinem Geländewagen, stieg wieder ein und wendete bewusst vorsichtig. Die Kameramänner tauschten erneut Blicke, und einer der beiden ließ irgendeine Bemerkung fallen, bei der sich der andere vor Lachen verschluckte. Schließlich musste er husten und spuckte auf das Kopfsteinpflaster.

Kurz darauf gingen wir an Bord, während sich über unseren Köpfen ein Unwetter zusammenbraute.