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Zum Buch

Jeder von uns verfügt über die Ressourcen, um tiefen inneren Frieden zu empfinden, sich verbunden zu fühlen und ein sinnerfülltes Leben zu führen. Denn Spiritualität ist von Geburt an im Gehirn angelegt. Diese bahnbrechende Erkenntnis verdanken wir Lisa Miller, Neurowissenschaftlerin, Psychologin und Professorin an der Columbia University: Erstmals konnte sie wissenschaftlich nachweisen, in welchem Gehirnareal die Gefühle von Einssein und Erwachen lokalisiert sind, und auf welche faszinierende Weise Gene und Neurotransmitter hierbei zusammenspielen. Ganz praktisch zeigt sie, wie sich dieses Areal aktivieren lässt, um unser ureigenes spirituelles Potenzial voll auszuschöpfen – für Resilienz, Zuversicht und Freude.

Zur Autorin

Lisa Miller ist Professorin für Klinische Psychologie an der Columbia University New York und Direktorin des Spirituality Mind Body Institute. Ihre Forschungen zur Verbindung von Neurobiologie und Spiritualität sind wegweisend für das Fach und eröffnen neue Behandlungsansätze bei Depression und Suchterkrankungen. Einem breiten Publikum wurde sie durch ihren New York Times-Bestseller »The Spiritual Child« bekannt und durch ihren TED Talk, der bis heute 1,7 Millionen Klicks erzielt hat. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Connecticut.

Weitere Informationen unter www.lisamillerphd.com

Lisa Miller

Das
erwachte
Gehirn

Warum Spiritualität
in uns allen angelegt ist

Der neurowissenschaftliche Beweis

Aus dem Amerikanischen
von Andrea Panster

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »The Awakened Brain« bei Random House, USA.

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Deutsche Erstausgabe

© 2022 der deutschen Ausgabe: Arkana Verlag, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

© Dr. Lisa Miller, 2021 

Originally published in 2021 by Random House Inc. US

Lektorat: Ralf Lay

Umschlaggestaltung: ki 36 Editorial Design, München, Daniela Hofner

Umschlagmotiv: Boris SV/getty images

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-25299-1
V002

www.arkana-verlag.de

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Für Phil, in Liebe

Hört niemals auf, wie Kinder vor dem großen Rätsel zu stehen, in das wir mitten hineingesetzt sind.

Nach Albert Einstein

Inhalt

Einführung Alles, was wahr ist, lässt sich zeigen

Kapitel 1  Man hätte nichts tun können

Kapitel 2  Die leere Küche

Kapitel 3  Sterne am dunklen Himmel

Kapitel 4  Zwei Seiten einer Medaille

Kapitel 5  Jemand, der über mich wacht

Kapitel 6  Ein Klopfen an der Tür

Kapitel 7  Wenn Innen und Außen zur Deckung gelangen

Kapitel 8  An alle verlorenen Söhne

Kapitel 9  Das Schloss und die Welle

Kapitel 10  Ein völlig anderes Leben

Kapitel 11  Auf Spiritualität programmiert

Kapitel 12  Zwei Arten von Bewusstsein

Kapitel 13  Integration ist der Schlüssel

Kapitel 14  Erwachte Aufmerksamkeit

Kapitel 15  Erwachte Verbundenheit

Kapitel 16  Erwachtes Herz

Schlussbetrachtung Isaiah und die Gänse

Dank

Anmerkungen

Register

Hinweis der Autorin

Dieses Buch soll hilfreiche Informationen zu den behandelten Themen bereitstellen. Es dient weder der Dia­gnose noch der Behandlung spezieller Erkrankungen. Bitte halten Sie vor allen Entscheidungen, die Auswirkungen auf Ihre Gesundheit haben könnten, Rücksprache mit Ihrem Arzt oder Thera­peuten.

In einigen Fällen wurden die Namen und Angaben geändert, um Rückschlüsse auf die Identität der im Buch genannten Personen zu verhindern.

Einführung
Alles, was wahr ist, lässt sich zeigen

Es war Sommer 2012. Ich eilte den schmalen, von Neonlicht erleuchteten Gang des Instituts für Psychiatrie an der medizinischen Fakultät der Columbia University entlang, in einer Hand balancierte ich den Kaffee und in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Heute sollte unser MRT-Team endlich die Ergebnisse monatelanger Forschungsarbeit zu Gesicht bekommen. Im Flur holte mich unser Statistiker Ravi ein. Er machte große Augen, und auf seinem normalerweise gelassenen Gesicht lag ein erstaunter Ausdruck. In seinen zitternden Händen hielt er einen Stapel Papier.

»Ich habe die Daten mehrmals analysiert«, sagte er. »Das Ganze ist sehr überraschend.«

Unser Team hatte seit fast einem Jahr viele Stunden intensiv an der Entwicklung und Umsetzung einer innovativen Studie gearbeitet, um einen Blick ins Gehirn zu werfen und mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie sich Depressionen verhindern lassen. Ravi hatte am meisten mit den Maschinen und der Statistik zu tun, drückte ununterbrochen irgendwelche Knöpfe, sammelte Daten, modellierte die Ergebnisse und stellte Berechnungen an. Heute würde er uns einen ersten Blick auf die Resultate gewähren, der uns verraten würde, ob die Spiritualität eine Rolle bei der Depressionsprophylaxe spielt. Ich liebe die Wissenschaft und alles, was dazugehört – das Drängen und Locken einer Frage, die Herausforderung und das strenge Vorgehen auf der Suche nach der besten Möglichkeit zu testen, was wahr ist. Aber diesen Aspekt der Wissenschaft, die erste Auswertung der Daten, mag ich ganz besonders. Sie würde uns einen ersten spannenden Eindruck davon vermitteln, in welche Richtung die Zahlen weisen. Wir hofften, er würde uns eine neue Möglichkeit erschließen, psychisches Leiden zu lindern.

Wir leben in einer Zeit nie dagewesenen psychischen Leids. Angst, Depression und Suchtmittelmissbrauch haben weltweit epidemische Ausmaße erreicht. Im Jahr 2017 gaben 66,6 Millionen US-Amerikaner – über die Hälfte der Befragten beim National Survey on Drug Use and Health (etwa »Nationale Erhebung zu Drogenkonsum und Gesundheit«) – an, innerhalb des letzten Monats bis zum Rausch getrunken zu haben, und 20 Millionen erfüllten die Kriterien einer Drogenabhängigkeit.1 31 Prozent der erwachsenen Amerikaner werden irgendwann im Laufe ihres Lebens, 19 Prozent im jeweiligen Jahr eine Angststörung entwickeln.2 Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden 264 Millionen Menschen auf diesem Planeten unter Depressionen.3 Bei den durch Arbeitsunfähigkeit verursachten Kosten steht die Depression an dritter Stelle,4 und jedes Jahr leiden 17 Millionen Amerikaner darunter. Aktuell haben über 16 Prozent der spätpubertären Jugendlichen eine Depression,5 und depressionsbedingte Suizide sind die zweithäufigste Todesursache bei Jugendlichen.6 Nur die Todesfälle aufgrund von Autounfällen kommen dem gleich.

An der Columbia University, an der ich unterrichte, nahmen sich in den Jahren 2016 und 2017 acht Studierende das Leben. Bei einer im Jahr 2019 veröffentlichten Studie mit über 67 000 Studierenden an 108 Studieneinrichtungen in den USA gaben 20 Prozent an, sich selbst verletzt, etwa geritzt zu haben, 24 Prozent berichteten von Suizidgedanken, und neun Prozent hatten versucht, sich das Leben zu nehmen.7

Bei dieser Krise im Bereich der psychischen Gesundheit geht es wirklich um Leben und Tod. Doch viele Menschen leiden auch unter weniger zerstörerischen, aber nicht weniger schmerzhaften Erkrankungen: unter Burn-out und chronischem Stress, Konzentrations- und Kontaktschwierigkeiten, Einsamkeit und Isolation oder einem in vielerlei Hinsicht reichen Leben, das sich trotzdem irgendwie eng, leer und isoliert anfühlt. Selbst wenn wir Erfolg und Befriedigung erleben, haben wir möglicherweise das Gefühl, dass noch mehr zum Glücklichsein gehört, dass das Leben freudvoller, bereichernder und bedeutungsvoller sein könnte.

Es scheint, als hätten alle Menschen, die mir begegnen, Mütter oder Väter, Kinder, Geschwister, Partner oder gute Freunde, die von Angst, Depression, Suchtmittelmissbrauch oder chronischem Stress betroffen sind. Zudem gibt es kaum Hilfsangebote für diejenigen unter uns, die sich um einen geliebten Menschen sorgen oder selbst Probleme haben. Die tragenden Säulen unserer Behandlung von Depressionen sind Psychotherapie und Antidepressiva wie selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Dies ist einigen Menschen zwar eine gewisse Hilfe, liefert bei anderen aber enttäuschende Ergebnisse. Bei lediglich der Hälfte der Behandelten verschwinden die Symptome innerhalb eines Jahres nach Behandlungsbeginn, bei weiteren 20 Prozent gehen sie nur teilweise zurück.8 Darüber hinaus ist die medikamentös erzielte Wirkung nicht von Dauer: Wenn wir die Medikamente absetzen, stellen sich häufig auch die Angst oder die Depression wieder ein.

Ich hoffte, das für diesen Tag angesetzte Meeting aller Beteiligten würde wenigstens die leise Andeutung einer nachhaltigen Lösung für die verheerende Krise im Bereich des Wohlbefindens und der psychischen Gesundheit aufzeigen. Ravi folgte mir in einen Raum voller Menschen, und wir quetschten uns in die letzte freie Lücke an dem langen Konferenztisch. Er trommelte mit den Fingern auf den Papierstapel.

Für gewöhnlich war Ravi bei der Arbeit kühl, abgeklärt und skeptisch. »Wir können die Daten der MRT-Untersuchungen schon auswerten«, hatte er gesagt. »Aber ich zweifle ernsthaft daran, dass wir irgendetwas finden werden.« Myrna, die dienstälteste Kollegin im MRT-Team, die auch die Gelder für diese Studie beschaffte, hatte ihm zugestimmt und gesagt: »Ich wäre schon sehr überrascht, wenn wir irgendeinen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Depression fänden. Aber wir werden sehen.«

Zur damaligen Zeit neigte die Psychotherapie dazu, Spiritualität und Religion als Krücke oder Abwehrmechanismus zu betrachten, als eine Reihe von beruhigenden Überzeugungen, auf die man sich in schweren Zeiten stützen konnte. Die Spiritualität war in unserer Fachrichtung eine kaum studierte und so gut wie unsichtbare Größe. Im Laufe meiner letzten zwanzig Berufsjahre war ich auf überraschende klinische und epidemiologische Beweise gestoßen, dass die Spiritualität eine psychische Schutzwirkung haben könnte. Aber würde es uns gelingen, eine handfeste physiologische Funktion der Spiritualität bezüglich Gesundheit und Entwicklung festzustellen? War die Spiritualität im Gehirn bislang unsichtbar geblieben, weil sie keinerlei Bedeutung für die psychische Gesundheit hatte oder nicht zu messen war? Oder war sie unsichtbar, weil noch niemand danach gesucht hatte?

Myrna räusperte sich und eröffnete die Besprechung.

»Dann nehmen wir uns einmal ein wenig Zeit, um uns die ersten Ergebnisse der MRT-Untersuchungen anzusehen«, sagte sie. »Ich glaube, Ravi hat ein Handout mit den neuen Ergebnissen zusammengestellt.«

Unser Team hatte mit Myrnas mehrere Generationen umfassenden Stichprobe von klinisch depressiven und nichtdepressiven Frauen, ihren Kindern und Enkelkindern gearbeitet. Wir hatten MRT-Aufnahmen von Menschen mit einem hohen und einem geringen genetischen Depressionsrisiko gemacht, um zu sehen, ob es bezüglich der Hirnstrukturen der depressiven und nichtdepressiven Teilnehmerinnen irgendwelche Muster gab, die uns die Entwicklung von gezielteren und wirksameren Behandlungen ermöglichen würden.

Außerdem hatten wir unsere Studie um eine – umstrittene – neue Frage erweitert. Wir hatten alle Teilnehmenden gebeten, eine wichtige Frage zu beantworten, die in der klinischen Forschung dazu dient, das »Innenleben« zu quantifizieren: »Wie wichtig sind Religion oder Spiritualität für Sie persönlich?« Wir wollten nicht nur die Hirnstrukturen der depressiven und nichtdepressiven Probanden vergleichen, sondern auch sehen, wie Spiritualität und Hirnstruktur sowie Spiritualität und Depressionsrisiko zusammenhängen.

Als Ravi seinen Papierstapel herumreichte, wirkte er immer noch erstaunt, und seine Hände zitterten. Ich nahm einen der zweiseitigen Farbausdrucke, das Papier war noch warm vom Drucker. Mein Blick huschte über die Seite und nahm die Ergebnisse auf. Ich suchte nach dem, was Ravi offenbar so sehr erschütterte, und brauchte nur eine Sekunde, um es zu finden.

Auf der oberen Hälfte der Seite befand sich ein schwarzes Rechteck mit der Abbildung zweier Gehirne. Die linke setzte sich aus den Aufnahmen der Teilnehmenden zusammen, die nicht sonderlich spirituell waren – denjenigen, die angegeben hatten, dass Religion oder Spiritualität für sie von mittlerer, geringer oder unwesentlicher Bedeutung sei. Die rechte setzte sich aus den Aufnahmen der Teilnehmenden mit anhaltend starker Spiritualität zusammen – denjenigen, die angegeben hatten, dass Religion oder Spiritualität für sie eine große persönliche Bedeutung habe.

Der Unterschied zwischen den beiden Aufnahmen ließ mein Herz höher schlagen und jagte mir Schauer über den Rücken.

Das linke – wenig spirituelle – Gehirn war mit unregelmäßigen kleinen roten Flecken gesprenkelt. Aber das rechte Gehirn – das die neuronale Struktur von Menschen mit starker und stabiler Spiritualität darstellte – zeigte breite rote Streifen, die mindestens fünfmal so groß waren wie die kleinen Sprenkel auf der anderen Aufnahme. Dieser Befund war so klar und so überwältigend, dass es mir den Atem verschlug.

Das hochspirituelle Gehirn war gesünder und widerstandsfähiger als das wenig spirituelle Gehirn.9 Es war auch in genau den Bereichen dicker und stärker, die bei depressiven Menschen schwinden und verkümmern.

Es war totenstill im Raum.

»Das widerspricht allen unseren Erwartungen«, sagte Ravi.

Rasselnd schaltete sich die Klimaanlage ein, ein lautes Dröhnen in der Stille. Dann kam ein leises Lachen vom hinteren Ende des Zimmers.

Jemand sagte: »Da sieh mal einer an, Lisa.«

Die Kollegen, mit denen ich am engsten zusammenarbeitete und die ich am meisten schätzte, waren skeptisch gewesen. Aber die Daten waren überzeugend. Es hatte den Anschein, als schütze Spiritualität vor psychischen Leiden.

Die Ergebnisse der MRT-Untersuchungen waren ein entscheidender Schritt auf dem Weg zu meiner bahnbrechenden Entdeckung, dass alle Menschen ein erwachtes Gehirn haben. Jeder von uns besitzt die angeborene Fähigkeit, eine größere Wirklichkeit wahrzunehmen und sich bewusst mit der Lebenskraft zu verbinden, die in uns steckt, durch uns hindurchströmt und uns umgibt. Unabhängig davon, ob wir eine spirituelle Praxis haben oder in einer Glaubenstradition stehen, ob wir uns als religiös oder spirituell betrachten, verfügt unser Gehirn über die natürliche Anlage zu spirituellem Bewusstsein und eine Andockstation dafür. Das erwachte Gehirn ist der neuronale Schaltkreis, mit dessen Hilfe wir die Welt ganzheitlicher betrachten und damit das individuelle, gesellschaftliche und globale Wohlbefinden steigern können.

Wenn wir erwachen, sind wir erfüllter und mehr in der Welt zu Hause. Darüber hinaus dient uns eine umfassendere Sicht als Beziehungs- und Entscheidungsgrundlage. Wir bewegen uns von Einsamkeit und Isolation zu Verbundenheit, von Konkurrenz und Spaltung zu Mitgefühl und Selbstlosigkeit, vom gewohnheitsmäßigen Fokus auf die eigenen Verletzungen, Probleme und Verluste zur Faszination für die Reise des Lebens. Wir gehen nach und nach über ein aus »Einzelteilen« bestehendes Identitätsmodell und eine fragmentierte, zersplitterte Sicht unserer Bedeutung füreinander hinaus und entwickeln eine Einstellung, die auf einem Kernbewusstsein der Liebe, der gegenseitigen Verbundenheit, der Führung und Überraschung durch das Leben beruht.

Ich hatte nicht vorgehabt, das Thema »Spiritualität« zu erforschen. Die Entdeckung des erwachten Gehirns folgte aus meinem Wunsch, psychische Widerstandskraft (Resilienz) zu verstehen und Menschen zu helfen, die Probleme hatten. Nach und nach verhalfen mir verblüffende Daten sowie die Geschichten meiner Patientinnen und Patienten von Verletzung und Heilung zu der Erkenntnis, dass die spirituelle Erfahrung ein wesentlicher, aber unbeachteter Bestandteil der Heilung ist.

Was also ist Spiritualität? Viele von uns hatten schon Erfahrungen, die wir als »spirituell« bezeichnen würden: einen Augenblick tiefer Verbundenheit mit einem anderen Lebewesen oder mit der Natur, ein Gefühl von Ehrfurcht oder Transzendenz, eine Erfahrung überraschender Synchronizität – scheinbar »zufälliger« Ereignisse, die ohne erkennbaren ursächlichen Zusammenhang sinnvoll aufeinander bezogen sind – oder eine Situation, in der ein fremder Mensch in unser Leben trat und es mit seinem Handeln veränderte, einen Moment, in dem wir uns von irgendetwas beschützt, inspiriert oder getragen fühlten, was größer war als wir selbst, von einer höheren Macht, aber auch von der Natur oder dem Universum oder gar von einer Welle der Verbundenheit bei einem Konzert oder einer Sportveranstaltung.

Ich bin Wissenschaftlerin, keine Theologin. Glaubenstraditionen haben viel zu Fragen des Seins zu sagen – zur Beschaffenheit der Realität, zum Grund unseres Daseins, zur Existenz und Führung Gottes oder zu einer höheren Macht. Als Wissenschaftlerin beschäftige ich mich nicht mit diesen Themen. Ich sehe mir an, wie der Mensch gemacht ist und wie wir uns im Laufe des Lebens entwickeln.

Dabei entdeckte ich, dass das erwachte Gehirn physiologisch angelegt und von unschätzbarem Wert für unsere Gesundheit und Funktionsfähigkeit ist. Ein erwachtes Gehirn geht mit einer Reihe angeborener Wahrnehmungsfähigkeiten einher, die jeder Mensch besitzt und die es uns ermöglichen, Liebe, Verbundenheit, Einheit und das Gefühl zu erleben, vom Leben geführt zu werden und im Dialog mit ihm zu stehen. Wenn wir diese Wahrnehmungsfähigkeiten aktivieren, also wenn wir unsere Anlagen in vollem Umfang nutzen, verbessern wir die strukturelle Gesundheit und die Vernetzung unseres Gehirns und sichern uns einzigartige psychische Vorteile: Angst, Depression und Suchtmittelmissbrauch lassen nach; positive psychische Eigenschaften wie Charakterstärke, Resilienz, Optimismus, Zähigkeit und Kreativität nehmen zu.

Das erwachte Gehirn ist mehr als nur ein Modell psychischer Gesundheit. Es bietet ein neues Paradigma des Seins, der Führung und des Umgangs miteinander, das uns angesichts der bislang größten Herausforderungen für die Menschheit zu einem klareren und kompetenteren Handeln verhelfen kann. Wir können eine stärker sinnerfüllte Arbeits- und Bildungskultur entwickeln. Wir können unsere Regierungen, Gesundheits- und Sozialeinrichtungen so verändern, dass sie allen Menschen besser dienen und helfen. Wir können unsere Entscheidungen und die Konsequenzen unseres Handelns aus der Perspektive der gegenseitigen Verbundenheit und geteilten Verantwortung sehen. Und wir können lernen, uns in ein größeres Bewusstseinsfeld einzuklinken, was uns den Zugang zu unseren inneren Ressourcen, zueinander und zur Struktur allen Lebens erleichtert.

Dank unserer neuronalen Schaltkreise ist das erwachte Gehirn jedem Menschen zugänglich. Wir müssen lediglich den Entschluss fassen, es zu aktivieren. Es ist wie ein Muskel, und wir können lernen, was ihn kräftigt und was ihn verkümmern lässt. Unsere Probleme in den Bereichen Führung, Bildung, soziale Gerechtigkeit, Umwelt und psychische Gesundheit betrachte ich inzwischen als unterschiedliche Ausprägungen des gleichen Problems: eines unerwachten Bewusstseins. Als eine universelle heilende Kraft, die man weder aktiviert noch fördert, sondern einfach verkümmern lässt. Das Problem liegt in uns selbst. Genau wie die Lösung.

Jeder Mensch kann die angeborene Fähigkeit, im Bewusstsein von Liebe, gegenseitiger Verbundenheit und Wertschätzung für die Entfaltung des Lebens zu leben, vollständig entwickeln. Jenseits des Glaubens, jenseits der Geschichte, die der Verstand uns erzählt, ist das erwachte Gehirn der innere Filter, über den wir Zugang zur wahrsten und allumfassendsten Wirklichkeit erhalten: dass alles Leben heilig ist und wir nicht allein sind. Unser Gehirn ist darauf programmiert, zu erkennen und zu empfangen, was uns erhebt, erhellt und heilt.

Mein jahrzehntelanger klinischer, epidemiologischer, neurowissenschaftlicher und persönlicher Weg hat mich durch unterschiedliches Terrain geführt: von der Psychiatriestation, auf der ein aufgewühlter Patient eine ungewöhnliche Bitte an mich herantrug, bis hin zu den Eltern mittleren Alters, die am Stadtrand lebten und sich mit Untreue und Scheidung herumschlugen; von den Jugendlichen auf dem Land, die im Jugendstrafsystem gefangen waren, bis hin zu den höchsten Führungskräften und Entscheidungsträgern im Pentagon; von breit angelegten statistischen Studien bis hin zu genauesten Untersuchungen des Gehirns mittels bildgebender Verfahren in Echtzeit und der Analyse unserer DNS; vom Wachstum und der Heilung im Leben meiner Patienten und Studierenden bis hin zum verblüffenden Wandel in meinem eigenen.

Dieses Buch erzählt davon, wie ich das erwachte Gehirn entdeckte, warum es von Bedeutung ist und wie wir es Tag für Tag weiterentwickeln können.

Es ist auch die Geschichte menschlicher Möglichkeiten – der vielen verschiedenen Dinge im Leben, die uns zurückstutzen und ausbremsen, sowie der Wege, wie wir wieder heil werden.

Kapitel 1 
Man hätte nichts tun können

Ein leises, langgezogenes Heulen durchbrach die Stille der frühen Morgenstunden auf der Station, gefolgt von einem Schrei. Ich eilte aus dem beengten Büro, in dem wir Praktikanten und die Assistenzärzte Krankenakten ausfüllten, um diesem Menschen in seiner Not zu helfen. Bevor ich den Ursprung des Schreis lokalisieren konnte, huschte eine Schwester um die Ecke. Sie balancierte ein Tablett mit Flaschen und sterilen Spritzen in den Händen und verschwand im Zimmer eines Patienten. Bald darauf war alles wieder still. Die hellbraunen Wände und grauen Linoleumböden warfen gleißend das Neonlicht zurück.

Wir schrieben den Herbst des Jahres 1994. Ich hatte vor Kurzem das Promotionsprogramm an der University of Pennsylvania abgeschlossen und mich für ein psychologisches Praktikum auf einer Psychiatriestation in Manhattan entschieden, die zu einem Netzwerk erstklassiger Universitätskliniken gehörte und sich im Epizentrum der klinischen Fortschritte im Bereich der Psychotherapie und der psychischen Gesundheit befand. Klinischer Ansatz und Behandlungsstandard dürften mit denen in allen anderen großen städtischen Krankenhäusern in den USA vergleichbar gewesen sein, weshalb ich diese Station »Unit 6« nennen werde. (Alle Namen und Angaben, die Rückschlüsse auf die Identität der Patientinnen und Patienten ermöglichen würden, wurden geändert.) Die Patientinnen und Patienten von Unit 6 unterschieden sich sehr im Hinblick auf ihre ethnische Zugehörigkeit und ihr Alter. Viele waren arm, viele hatten ein hartes Leben und erkrankten immer wieder, viele hatten Probleme mit Suchtmittelmissbrauch. Manche wurden gegen ihren Willen von der Polizei in die Notaufnahme des Krankenhauses gebracht, damit sie weder sich noch andere töteten.

Dieses Krankenhaus war zwar nicht die allererste Wahl, und gut versicherte Patientinnen und Patienten gingen oft in andere Kliniken, aber es war auch nicht die Endstation. Wenn man hierherkam, war das keineswegs das Gleiche, wie »aufs Land geschickt« zu werden – die vornehme Umschreibung des medizinischen Personals für die langfristige Unterbringung in einer psychia­trischen Einrichtung im Norden des US-Bundesstaats New York. Dennoch waren alle Patienten, die mir hier begegneten, schon mehrfach hier gewesen, und ihre Akten waren acht bis zehn Zentimeter dick. Ich war eine von vier Psychologinnen und Psychologen im Praktikum. Jeder von uns unterstützte zwei Assistenzärzte und betreute acht Fälle in unserer ambulanten Klinik. Wir begannen jeden Tag um Punkt acht Uhr mit einer Teambesprechung, bei der sich das Personal, bestehend aus Psychiatern, Psychologen, Sozialarbeitern, Krankenschwestern und Pflegehelfern, um einen Tisch versammelte, um die Berichte der vergangenen Nacht zu hören – was die Patienten gegessen, wie ihre Körperpflege ausgesehen, wie sie geschlafen und ob sie sich auffällig verhalten hatten. »Mr Jones roch streng«, berichtete ein Helfer. »Ms Margaret verweigerte das Abendessen.« Die grundlegenden Gewohnheiten bezüglich Gesundheit und Körperpflege lassen sich mit Aspekten der psychischen Gesundheit verknüpfen. Doch ich fand es immer seltsam, dass wir auf einer Station, auf der es um die Heilung innerer Probleme ging, so ausführlich über den physischen Körper sprachen. Die meisten Patientinnen und Patienten trugen keine Straßenkleidung, sondern Flügelhemden, als seien sie wegen einer Operation oder zur Behandlung einer körperlichen Erkrankung hier und müssten deshalb das Bett hüten.

Ich hatte dieses Phänomen schon einmal beobachtet, als ich Mitte der Siebzigerjahre mit ungefähr acht Jahren zum ersten Mal eine psychiatrische Station besuchte. Meine heißgeliebte Oma Eleanor, die den weiten Weg zwischen Iowa und der University of Chicago gependelt war, um Psychologie zu studieren, nahm mich mit zu einer guten Freundin, die in dieses Krankenhaus eingeliefert worden war – jemand, mit dem sie aufgewachsen und über die Jahrzehnte in engem Kontakt geblieben war. Obwohl wir nicht verwandt waren, nannte ich diese Freundin immer »Tante Celia«. Im Krankenhaus stellte ich verwirrt fest, dass sie gar nicht krank wirkte. Soweit ich sehen konnte, trug sie keinen Verband. Sie hing auch nicht an irgendwelchen Maschinen. Sie hatte ein strahlendes Lächeln und einen spitzbübischen Humor. Trotzdem lag sie in einem kleinen Zimmer in einem schmalen Bett, genau wie die anderen Patientinnen und Patienten auf ihrem Stockwerk, denen der Schmerz ins Gesicht geschrieben stand oder deren Blick leer war. Ich war erschüttert von dem Leiden, das ich bei vielen der Patienten spürte, und davon, wie isoliert Tante Celia und die anderen wirkten. Später sollte ich von Oma Eleanors aktivistischem Vermächtnis und ihrer konstruktiven Zusammenarbeit mit den Landeskrankenhäusern erfahren, um den Menschen in Einrichtungen, in denen sie lediglich Spritzen oder Schocktherapie bekamen oder in Zwangsjacken gesteckt wurden, Zugang zur Psychotherapie zu verschaffen. Sie setzte sich auch dafür ein, dass Patienten wie Tante Celia in Seniorenheime verlegt wurden, wo sie eine fortlaufende medizinische Betreuung bekamen und gleichzeitig ein stärkeres Gefühl von Gemeinschaft und Unterstützung erleben konnten.

In den zwanzig Jahren, die seit meinem Besuch bei Tante Celia vergangen waren, hatten sich die Behandlungsstandards im Bereich der psychischen Gesundheit in vielerlei Hinsicht erheblich verbessert. Die 35 Patienten von Unit 6 wurden weder in Zwangsjacken gesteckt noch weggesperrt und vergessen. Wir bildeten eine therapeutische Gemeinschaft, und die Patienten nahmen jede Woche an großen und kleinen psychotherapeutischen Gruppensitzungen sowie jeden Tag an kurzen Besprechungen mit den ihnen zugewiesenen Ärzten teil. Sie konnten sich frei auf der Station bewegen und an Gesprächen oder Aktivitäten im Gemeinschaftsraum beteiligen. Die Beschäftigten waren erstklassig ausgebildet, und die Patienten lagen ihnen sehr am Herzen.

Wir arbeiteten in erster Linie mit einem psychodynamischen Behandlungsmodell. Wir waren darauf geschult, den Patienten dabei zu helfen, ihre Vergangenheit nach Einsichten und Erkenntnissen zu durchforsten, die sie von ihrem gegenwärtigen Leiden befreien konnten. Wenn die Patienten ihre Wut oder die Wunden ihrer Kindheit verstanden, so die Theorie, konnten sie sich davon lösen und wurden nicht mehr davon beherrscht. Der Weg aus dem Leiden bestand darin, sich ihm zu stellen und Einsicht zu gewinnen, schmerzliche Erinnerungen auszugraben und sich unbehaglich zu fühlen, um Bewusstsein zu entwickeln.

Auf der psychiatrischen Ebene wurde auf Station ein pharmakologischer Ansatz gewählt, und man verwendete Arzneimittel, um Symptome zu lindern oder zu beseitigen. Ich war dankbar für die Medikamente, die Patienten in Akutsituationen Erleichterung verschafften. Doch während der ersten Wochen dort fragte ich mich allmählich, ob wir nicht mehr für die langfristige Heilung der Menschen tun konnten, um das ständige Hin und Her zwischen stationärer und ambulanter Behandlung zu durchbrechen (»Drehtüreffekt«).

Nach der morgendlichen Teambesprechung suchten die Praktikanten üblicherweise die von ihnen betreuten Patienten auf. Wir schauten bei ihnen im Zimmer vorbei oder machten sie auf Station ausfindig, um zu überprüfen, wie es ihnen ging. Ich fragte mich, wie es für die Patienten wohl war, die in ihren Vierzigern, Fünfzigern, Sechzigern oder älter und zum sechsten oder siebten Mal hier waren, wenn eine 26-jährige Praktikantin, die seit gerade mal drei Wochen praktizierte, unangekündigt zu einem zwanzigminütigen Gespräch erschien. Die junge Praktikantin trug Berufskleidung, der erfahrene Patient ein am Rücken offenes Fähnchen und wusste, dass alles in sechs Monaten wieder von vorn losgehen würde, wenn der aktuelle Praktikantentrupp zur nächsten Rotation weiterzog. Wussten wir wirklich mehr über das Leiden unserer Patienten als sie selbst? Gab es vielleicht einen anderen Weg? Eine Möglichkeit, weniger zu analysieren und zu pathologisieren – und mehr zu erfahren?

Je mehr sich der Sommer dem Herbst zuneigte, desto mehr frustrierte mich der Ansatz, der bestenfalls nutzlos und schlimmstenfalls eine tragische Sackgasse zu sein schien. Wir konnten unseren Patienten mit Medikamenten eine vorübergehende Atempause von den schmerzhaften Symptomen oder ein geringfügig besseres Verständnis dafür bieten, warum eine Traumatisierung im Kindesalter sie so sehr aus der Bahn geworfen hatte. Doch keines dieser Behandlungsergebnisse versprach echte Heilung. Und wenn sich ein Patient öffnete und einen authentischen Ausdruck zuließ, der nicht so recht in unser psychotherapeutisches Schema passte, schlugen wir die Tür zuweilen wieder zu.

Ich leitete eine wöchentliche Gruppensitzung zusammen mit einem anderen Praktikanten, der eine feste, fast schon starre theoretische Sichtweise hatte. Seiner Ansicht nach bestand das Ziel der Gruppenanalyse darin, die eigenen Projektionen zu deuten und loszulassen. Die Patienten sollten interpretieren, wie sie einander sahen, und verstehen, dass die Art und Weise, wie sie einander verkannten, eine Projektion ihrer verletzten Psyche war. Einmal wich eine als schizophren diagnostizierte Frau von dieser Choreografie ab. »Ich bete gern«, sagte sie. »Aber wenn ich zu beten versuche, während ich Symptome habe, höre ich meine Gebete anders.« Ich wandte mich ihr zu. »Wow«, sagte ich, beugte mich vor und ermutigte sie weiterzusprechen. Aber mein Kollege schnitt ihr das Wort ab. Sie setzte noch einmal an, doch er machte eine ungeduldige, wegwerfende Handbewegung. Im Raum wurde es still. »Das heißt, Sie halten mich wofür?«, fragte er. »Für einen Tyrannen? Haben Sie den Eindruck, ich würde die Kontrolle an mich reißen?« Irgendwie sollte die Patientin dahinterkommen, dass sie ihre Sicht auf ihn als Projektion eines lange zurückliegenden Gefühls oder einer Erfahrung deuten sollte. Bis heute bedaure ich, dass ich mich nicht gegen ihn gestellt und der Patientin Raum gegeben habe; dass ich nicht gefragt habe: »Was wollten Sie über Ihre Gebete erzählen?« Ich beschloss, nie wieder zuzulassen, dass einem Patienten die Tür vor der Nase zugeschlagen wurde – dass ich, wenn jemand eine Tür öffnete, diese Tür offenhalten würde.

Manchmal hatte es den Anschein, als würden wir dafür sorgen, dass es unseren Patienten nicht besser, sondern schlechter ging. Dass wir die Last verstärkten, ihnen eine deterministische Perspektive boten. Dass wir sie lehrten, am Ende würde ihr Leben niemals mehr sein als die Folgen jener furchtbaren und unentrinnbaren Sache, die früher einmal geschehen war, und dass sie bestenfalls darauf hoffen konnten, ein klareres Verständnis davon zu bekommen, wie sie gelitten hatten und wie ihr Leiden den Rest ihres Lebens bestimmte. Der Großteil unserer Patienten kehrte im Laufe der Jahrzehnte mehrmals auf die Station zurück, und eine lange Reihe psychoanalytischer Therapeuten half ihnen dabei, sich immer stärker einzuprägen, dass sie zerbrochen waren an dem, was ihnen als junge Menschen zugestoßen war.

Einer meiner ersten Patienten auf Station hieß Mr Danner, ein Mittfünfziger, dessen Garderobe aus Schlaghosen, Lederjacken und Federhüten bestand, die geradewegs aus der Harlemer Nachtclubszene der Siebzigerjahren stammten, wo er als junger Mann mit Heroin gedealt und selbst abhängig geworden war. Fast alle seine damaligen Freunde waren tot. Er nahm immer noch Drogen. Beine, Arme und Hals waren von oben bis unten mit Narben vom Fixen übersät. In den letzten zwanzig Jahren war er schon so oft wegen aggressiven Verhaltens und psychotischer Anfälle mit Wahnvorstellungen eingewiesen worden, dass seine Akte aus zwei jeweils zwölf Zentimeter dicken Ordnern bestand.

Er war zwar erst 56 Jahre alt, sah aber aus wie 86. Sein Körper war abgezehrt und krumm, seine ausgemergelten Schulterblätter stachen spitz durch sein Hemd. Er benutzte einen Gehstock, und eines seiner Beine war so steif, dass er es kaum bewegen konnte. Sein zotteliges Haar, seine tiefen Augenringe und seine ungewaschene Kleidung verstärkten den Eindruck seines Verfalls noch mehr. Aber sein kantiges Kinn und seine ausdrucksvollen hellbraunen Augen erlaubten mir einen flüchtigen Blick auf den Mann, der er einmal gewesen war, auf sein gutes Aussehen und sein großspuriges Auftreten.

In unserer ersten Sitzung kam er sogleich auf sein Kindheitstrauma zu sprechen. »Es war ein kalter Winter in North Carolina«, begann er. »Ich war vier Jahre alt und starrte in den Sarg meiner Mutter.«

Ich war ergriffen von der Geschichte seines herzzerreißenden Verlusts, davon, wie er nach dem Tod seiner Mutter von einem Verwandten zum nächsten weitergereicht wurde, in seiner frühen Jugend in New York gelandet und Partys und Drogen hinterhergejagt war, als versuchte er noch immer, die Kälte jenes unauslöschlichen Wintertags zu vertreiben.

Bei unserer zweiten Sitzung begann er das Gespräch auf die gleiche Weise. »Ich war vier Jahre alt und starrte in den Sarg meiner Mutter.« Auch bei unserer dritten Sitzung erzählte er die gleiche Geschichte so traurig und ergreifend wie gewohnt, doch es hatte immer mehr den Anschein, als leiere er sie herunter, als erfülle er eine Verpflichtung. Ich sah mir die ersten Einträge in seiner Akte an und entdeckte, dass sämtliche Seiten der klinischen Dokumentation auf die gleiche Erinnerung aus seiner frühen Kindheit verwiesen. Im Laufe seiner jahrzehntelangen Behandlung hatte er diesen Moment der Kälte und des Verlusts immer wieder durchlebt. Es schien, als habe seine Therapie auf der Station in mancher Hinsicht dazu beigetragen, dass er auch weiterhin in dieser Erinnerung lebte. Und bei jeder Runde durch die Drehtür aus Einweisungen und Entlassungen und erneuten Einweisungen hatten ihm alle neuen Praktikanten immer wieder die gleichen Fragen gestellt: wie er jenen Augenblick empfand und welche Einsichten er darüber gewonnen habe. Man hatte ihn darauf trainiert, sich auf diese Erinnerung zu fixieren, doch wenn er darüber sprach, schien sie nicht von seiner aktuellen psychischen Energie erfüllt zu sein.

Ich begann, Fragen zu stellen, die nicht dem psychoanalytischen Schema entsprachen. Ich fragte: »Wie geht es Ihnen im Augenblick?« Oder: »Was ist in dieser Woche passiert? Was gibt es Neues?« Fragen, die ihn in die Gegenwart zurückholten. Dann schaltete er um, richtete sich auf, griff nach dem Gehstock zwischen seinen Beinen, beugte sich vor und sah mir in die Augen.

»Vor ein paar Jahren saß ich in der U-Bahn neben einer Frau mit Pelzmantel«, sagte er in einer Sitzung. »Wir haben uns ein wenig unterhalten, und die ganze Zeit über ahnte sie nichts von der Pistole unter meinem Mantel und davon, dass ich etwas Schlimmes vorhatte.«

Psychoanalytiker lernen, derartige Bemerkungen als Provokation zu betrachten, sich die Kontrolle zurückzuholen und zu sagen: »Versuchen Sie, mich zu provozieren?« Doch jedes Mal, wenn er mir erzählte, er habe etwas Schlimmes getan – und er war grausam, hatte bewaffnete Raubüberfälle verübt und mit seiner Frau geschlafen, ohne ihr zu sagen, dass er HIV-positiv war –, hatte ich den Eindruck, dass er eigentlich fragte: »Kann ich auf Sie zählen? Liegt Ihnen wirklich etwas an mir, oder finden Sie mich verachtenswert?«

Die Psychoanalyse kann zuweilen etwas Amoralisches haben. Eine emotionale Distanz. Es kann vorkommen, dass der Patient Gefühle von Wut oder Hass offenbart und der Analytiker ihn ausdruckslos ansieht und nickt. Oft fehlt jedes Beziehungs- oder lebensbejahende Element. Das Therapiemodell kann zu einer besseren Impulskontrolle beitragen, aber es bringt nicht immer das bestmögliche authentische Selbst eines Patienten zum Vorschein. Ich war jung und unerfahren und sehr darauf bedacht, mich keinesfalls unprofessionell zu verhalten. Aber ich spürte, dass Heilung nicht aus der Distanz geschehen konnte, dass persönliche Fürsorge und Verbundenheit Teil der Gleichung sein mussten. Deshalb wich ich von einem streng psychoanalytischen Ansatz ab. Ich hörte zu, diente als Zeugin und betrachtete es nicht als meine vorrangige Aufgabe, Mr Danners Wunden freizulegen oder ihn zu drängen, dass er die Verantwortung für seine Verfehlungen übernähme, sondern begegnete ihm mit tiefem Respekt und mit Wertschätzung. Heute würde ich sogar noch weiter gehen. Ich würde sagen, dass ich ihm mit Liebe begegnete.

Nach und nach stellte ich Veränderungen fest. Mr Danner fing an, sich regelmäßig zu waschen und ließ sich die Haare schneiden. Er sagte, dass er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus clean bleiben wolle, und in den ersten Wochen der ambulanten Behandlung gelang es ihm auch, die Finger vom Heroin zu lassen. Eines Tages kam er in die Klinik, und sein sonst so schwerfälliger Gang wirkte beinah schwungvoll. »Ich muss Ihnen etwas erzählen«, sagte er. Zum ersten Mal, seit er denken konnte, hatte er seine Invalidenrente abgeholt und war in ein Restaurant gegangen. »Ich habe mich hingesetzt. Der Kellner kam und fragte, was ich gern hätte. Ich habe Steak bestellt. Der Kellner brachte mir das Essen. Ich habe Messer und Gabel genommen. Ich habe mein Steak gegessen. Ich habe die Rechnung bezahlt.« Er richtete sich auf, lächelte breit, und seine Augen strahlten vor Zufriedenheit.

Oberflächlich betrachtet war dies eine simple Angelegenheit gewesen. Mr Danner hatte sich etwas zu essen bestellt und das Essen bezahlt. Aber er erzählte mit so großer Begeisterung und Würde von dieser Erfahrung. Dies war nicht das immer gleiche routinemäßige Abspulen eines alten Traumas. Dies war eine neue Erfahrung, die neuen Selbstrespekt und eine neue Anteilnahme am Leben offenbarte. Er war nach wie vor obdachlos und musste kämpfen. Und er hielt sich gleichzeitig für wertvoll genug, um in einem Restaurant zu essen, um das zu bitten, was er wollte, und sich bedienen zu lassen.

Am Ende der Sitzung stand er hocherhobenen Hauptes auf.

Später sollte ich erfahren, dass er länger clean geblieben war als je zuvor, seit er in seiner späten Jugend oder mit Anfang zwanzig angefangen hatte, Drogen zu konsumieren. Die gute Phase hielt nicht an. Achtzehn Monate nach dem Ende seiner Behandlung bei mir sollte er erneut Drogen nehmen und ein weiteres Mal eingewiesen werden. Zehn Jahre später las ich im Polizeibericht, dass er wegen bewaffneten Raubüberfalls verhaftet worden war. Selbst als idealistische Praktikantin hatte ich mir keine Illusionen darüber gemacht, wie hart sein Leben war und wie schwer es für ihn sein würde, von einer jahrzehntelangen Abhängigkeit und den Begleitproblemen wie Armut und Isolation zu genesen, um nur ein paar davon zu nennen. Doch die positiven klinischen Veränderungen, deren Zeugin ich geworden war, genügten mir als Bestätigung dafür, dass Bindung eine Rolle bei der Heilung spielt, dass der psychoanalytische Rahmen von Projektion, Übertragung, Gegenübertragung, Ego und Wut ein A-priori-Konzept ist, das zwar bis zu einem gewissen Grad hilfreich, aber nicht immer offen für Anregungen zu Wachstum und Genesung ist.

Ich wusste nicht, dass ich mit der Behandlung von Mr Danner den ersten Schritt zur Definition eines neuen Behandlungsmodells gemacht hatte. Aber ich verstand allmählich, dass die von uns angebotene Versorgung ihre Grenzen hatte, und hielt Augen und Ohren nach weiteren Möglichkeiten offen.

An jenem Septembermorgen kehrte nach der Medikamentenausgabe wieder Ruhe auf der Station ein, und mehrere Patienten schlurften in den Flur, um sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum zu machen, wo die täglichen Treffen stattfanden, die für alle Patienten und ihre Ärzte verpflichtend waren. In fast drei Monaten auf Station hatte ich gelernt, dass man sich dabei am besten unter die Patienten mischte. In diesen unstrukturierten Übergangsphasen entschlossen sich normalerweise eher verschlossene oder stille Patienten oft dazu, etwas Wichtiges mitzuteilen. Am Ende des Flurs stand mein neuer Patient Lewis Daniel­son in seiner halb geöffneten Zimmertür.

Lewis war ein schlanker Mann Anfang vierzig. Er hatte dunkles Haar und eine helle Haut. Sein Blick war oft leer und seine Sprache ein wenig verwaschen von den Medikamenten, die er zur Linderung seines Leids verordnet bekommen hatte. An diesem Tag wirkte er ungewöhnlich wach und lebendig.

»Dr. Miller«, sagte er und winkte mich zu sich. »Kommen Sie mal.« Es war so, dass die wichtigsten Gespräche auf der Station in den hintersten Ecken, in den schmalen Winkeln hinter halbgeöffneten Türen stattfanden.

»Dr. Miller«, sagte er noch einmal. Es klang dringend.

Aber als ich bei ihm ankam, erreichte auch eine Schwester auf ihrer morgendlichen Medikamentenrunde sein Zimmer und gab ihm einen kleinen Becher mit einem großen Haufen Pillen darin.

»Ich warte solange, während Sie sie nehmen«, sagte sie.

Lewis warf mir einen schnellen, klaren Blick zu und schaute dann zu Boden, während er systematisch die Tabletten schluckte.

Ich begleitete ihn zum Morgenmeeting in der Hoffnung, dass er mir erzählen würde, was so dringend gewesen war, aber er hielt den Blick weiter gesenkt und schwieg. Wie viele Patientinnen und Patienten auf der Station bekam auch Lewis Medikamente, um Halluzinationen und Wahnvorstellungen zu unterdrücken. Bei den meisten Patienten von Unit 6 war – wie bei Lewis – eine schizoaffektive oder bipolare Störung beziehungsweise eine Depression diagnostiziert worden. Doch die Diagnose von Patienten war oft, als würde man mit Dartpfeilen auf eine Wand werfen – zu gleichen Teilen Spekulation und Zufall. In Ermangelung eines klaren oder wirksamen Behandlungsplans bekamen die Patienten routinemäßig Medikamente, um ihren Schmerz zu lindern und ihr unberechenbares und manchmal auch gewalttätiges Verhalten zu unterdrücken. Der Chef der Abteilung, ein kleiner Mann von Anfang fünfzig mit dunklen Haaren und italienisch-amerikanischer Abstammung, der auf Station für sein aufrichtiges Engagement und sein freundliches Lächeln bekannt war, hatte einmal zu mir gesagt: »Es ist ein Akt der Gnade, dass es Medikamente gibt.« Er hatte recht. Die Medikamente dämpften in der Tat die Beschwerden der Patienten und verhinderten Ausbrüche. Aber sie machten sie auch benommen und träge und beraubten sie manchmal der Kontrolle über die eigenen Muskeln. Oft lief ihnen der Speichel aus dem Mund oder durchzuckten unfreiwillige Spasmen ihre Glieder. Ich fragte mich allmählich, ob unsere Aufgabe eher darin bestand, die Symptome der Patienten zu dämpfen, als ihr inneres Leiden zu heilen.

nichts»

An jenem Abend wartete ich auf die U-Bahn – das »lebende Labor«, wie ich sie nannte. Auf dem Bahnsteig tummelten sich Rudel von Highschool-Kids, die herumgrölten und Witze rissen, erschöpft wirkende ältere Menschen mit Lebensmitteltüten, ein furchtbar dünner Mann mit einem Schild in der Hand: »HIV-positiv. Gerade aus dem Krankenhaus entlassen. Brauche Geld für eine Mahlzeit. Gott segne Sie.« Die Luft war schwül und roch nach alten Reifen und muffigem Keller. Die U-Bahn hielt mit einem Quietschen, und ich taumelte hinein. Ich fand ein freies Plätzchen zwischen den Müttern und Kindermädchen, die mit ihren Buggys ins Abteil drängten und kleine Kinder auf den Schoß hoben, und den gepflegten Herren in prächtigen Wildlederjacken, Nadelstreifensakkos und Seidenkrawatten, die sich einen Platz am Handlauf suchten, während sie nach ihren Zeitungen griffen und darin versunken schienen, aber auch irgendwie ausdruckslos dreinschauten. Aufmerksam betrachtete ich die Gesichter der Menschen um mich herum. Viele litten sichtlich. Die Frau mit den buschigen Augenbrauen und den knallorange gefärbten strohigen grauen Haaren, die schmutzigen Wangen zerfurcht von Falten, die vor sich hin schimpfte und murmelte. Die junge Frau mit der samtigen schokobraunen Haut, die in einem leisen Singsang ihre Bitte durch den Wagen rief: »Meine kleine Tochter und ich brauchen etwas Geld, damit wir heute Abend im Obdachlosenheim unterkommen.« Der Mann im langen, abgetragenen Wollmantel, der immer noch zitterte, weil es so anstrengend für ihn gewesen war, sich hinzusetzen.

Andere Passagiere zeigten keine äußeren Anzeichen von Leid. Sie hatten offenbar ein Zuhause, Geld und wirkten gesund. Sie trugen Aktentaschen oder Kaufhaustüten, aus denen raschelndes Seidenpapier lugte. Ihre Gesichter waren nicht eingesunken vor Anstrengung, Sorge oder Verzweiflung. Und dennoch wirkten sie verschlossen, runzelten die Stirn, vergruben den Blick tief in ihre Zeitungen oder ihren Schoß. Sie wirkten so unzufrieden, angespannt und abwesend, als trügen sie die Last der Welt auf ihren Schultern und als würde etwas Entscheidendes fehlen.

Der Fachbegriff dafür lautet »Dysthymie« – das unterschwellige Gefühl, dass das Leben unbefriedigend ist. Es fühlt sich an wie Leere. Hunger. Ernüchterung. Das Leben ist nicht, wie Sie es sich erhofft hatten. Dies ist eine nicht ganz so ausgeprägte Version dessen, was mir tagtäglich auf der psychiatrischen Station begegnete: Entfremdung, Isolation, Sinnlosigkeit, Dunkelheit.

Ich bemerkte es auch bei meinem Mann und vielen unserer Freunde. Wir waren jung, zwischen zwanzig und dreißig, voller Energie und beruflichem Ehrgeiz und fest entschlossen, mit unserem Leben und unserer Arbeit einen Beitrag zur Welt zu leisten. Doch manchmal empfanden wir die Aufregung und die Hektik unseres Alltags weniger als eine Berufung und mehr als eine Tretmühle. Vor allem die täglichen Fahrten im Aufzug zu der Kanzlei für Unternehmensrecht, in der Phil arbeitete, und die Art und Weise, wie die Zusteigenden die Hand zum Gruß erhoben und dann auf den Boden starrten, waren ihm verhasst. Es war, als befände man sich in der zweidimensionalen Nachbildung einer Bürokulisse. Aus der Ferne wirkte sie ganz passabel, aber aus der Nähe betrachtet war alles eine Attrappe – und furchtbar einsam. Mit unseren Freunden sprachen wir unaufhörlich über Beförderungen und größere Apartments. So gut wie jeder Satz begann mit den Worten: »Wenn ich dieses oder jenes geschafft habe …«, dann komme ich weiter, dann kann ich mich ausruhen, dann kann ich glücklich sein. Unsere Gespräche ließen darauf schließen, dass es auch im Kreis unserer erfolgreichen Freunde, welche die Ausbildung, die Chancen, die Arbeit, die Freunde und die Partner hatten, die sie sich immer gewünscht hatten, noch eine Leere gab. Ein beinah ständiges Verlangen. Das Gefühl, das Leben sei nicht so sinnerfüllt oder freudvoll, wie es sein könnte. Als befänden wir uns auf einer endlos langen Treppe zur Erfüllung und könnten das Glück doch nie ganz erreichen.

Das Leiden auf der Welt schien so allgegenwärtig und unerbittlich. Ich beschloss, dass ich zumindest versuchen würde, Jerry und Bill und den anderen Patienten von Unit 6 irgendwie zu helfen.