Zum Buch:
Die Beichte eines Mörders – erschütternd, radikal ehrlich, beeindruckend – erzählt zugleich die Geschichte eines ganzen Landes. Ah Hock ist ein einfacher, ungebildeter Mann aus einem malaysischen Fischerdorf, der seinen Weg machen will, sich ein Leben in Reichtum und Sicherheit wünscht, wie es allen Menschen in Südostasien versprochen, aber nur wenigen Auserwählten beschert wird. Während die asiatische Gesellschaft um ihn herum sich verändert, bleibt er wie viele andere gefangen in einer Welt schlecht bezahlter Jobs, durch die er sich gerade mal über Wasser halten kann, was ihn aber letztendlich dazu bringt, einen Wanderarbeiter aus Bangladesch zu ermorden. Einer Journalistin, die ihn nach dem Gefängnis in seiner ärmlichen Hütte besucht, erzählt Ah Hock, wie es zu der Gewalttat kommen konnte. Der malaysische Autor Tash Aw zeigt mit diesem ergreifenden und beeindruckenden Porträt eines Außenseiters die Erosionen eines Menschenlebens und die Verwüstungen jeglicher Hoffnung.
»Genau der große Roman über Rassismus heute, auf den wir gewartet haben, ein meisterhaftes Fresko aus Südostasien, einer Region, die in der Literatur schon lange unterrepräsentiert ist, und die großartige Geschichte des sozialen Aufstiegs eines in Armut geborenen Mannes, seiner Träume, ein anderer zu werden, seiner Kämpfe, seiner zerschlagenen Hoffnungen und letztlich seines Niedergangs – eine Art ›Rot und Schwarz‹ unserer Zeit, radikal und modern. Eines der schönsten und intensivsten Bücher seit Jahren.« Edouard Louis, Autor von Wer hat meinen Vater umgebracht
Zum Autor:
Tash Aw wurde als Kind malaysischer Eltern 1971 in Taiwan geboren und wuchs in Kuala Lumpur auf. Er studierte Jura in Großbritannien, veröffentlichte mehrere Romane und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Commonwealth Writers’ Prize und dem Whitbread First Novel Award, und zweimal für den Man Booker Prize nominiert. Sein Werk ist in 23 Sprachen übersetzt. Tash Aw lebt vorwiegend in der Provence und kommentiert u. a. für die New York Times und die BBC Kultur und Politik im südostasiatischen Raum.
Zur Übersetzerin:
Pociao gründete nach längeren Aufenthalten in London und New York Anfang der 70er Jahre einen Vertrieb für experimentelle Literatur aus der amerikanischen Small-Press-Szene für den europäischen Raum. Sie übersetzte u. a. Patti Smith und Paul Bowles und gewann 2017 den DeLillo-Übersetzungswettbewerb des Deutschen Übersetzerfonds und der FAZ.
Zum Übersetzer:
Roberto de Hollanda, geboren in Madrid, aufgewachsen in Südamerika und Europa, Studium in Deutschland, schreibt Drehbücher, macht Dokumentarfilme und übersetzte u. a. Gonzalo Torrente Ballester, José Luis Sampedro, Kent Haruf, Bob Woodward und Almudena Grandes.
Tash Aw
Roman
Aus dem Englischen von
Pociao und Roberto de Hollanda
Luchterhand
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel We, the Survivors
bei Fourth Estate, an imprint of HarperCollins Publishers, London.
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Quellenverweis: Primo Levi, »Ist das ein Mensch? - Die Atempause«. Übersetzt von Robert Picht, Barbara Picht, Heinz Riedt.
© Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München 1987
Copyright © der Originalausgabe 2019 Tash Aw
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022
Luchterhand Literaturverlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: buxdesign | München
Covermotiv: plainpicture/NTBscanpix/Svein Nordrum
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-25163-5
V001
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facebook.com/luchterhandverlag
Für Francis
»Und dort bekamen wir die ersten Schläge.
Das war so neu für uns und so unsinnig,
dass wir keinen Schmerz empfanden,
weder körperlichen noch seelischen.
Nur tiefe Verwunderung: Wie kann man
einen Menschen ohne Zorn schlagen?«
Primo Levi, Ist das ein Mensch?
Sie möchten, dass ich über das Leben spreche, aber bis jetzt habe ich nur über das Scheitern gesprochen, als wäre beides dasselbe oder zumindest so eng miteinander verflochten, dass ich es nicht auseinanderhalten kann, wie die Bäume in den halb zerfallenen Gebäuden von Old Town. Ihre Wurzeln klammern sich an die Außenwände und halten Backsteine, Gemäuer und was immer von der Farbe übrig ist zusammen, ihre Zweige fressen sich durch die Löcher in den Dächern. Manchmal ist vom Dach, wenn man es überhaupt als solches bezeichnen kann, kaum noch etwas übrig, nur Splitter von Tonziegeln oder rostiges Blech, das vom Blätterdach gestützt wird. Ein paar Meilen vor der Stadt, auf der anderen, dem Meer zugewandten Seite von Kapar, gibt es ein Shophouse, um dessen Eingangssäulen sich die Wurzeln eines Feigenbaums winden. Der Baum hat den gesamten Gebäudekomplex verschluckt, so dass der Eingangsbereich jetzt bloß ein dunkler Raum ist, durch den man ins Herz eines gewaltigen Blättergeflechts gelangt. Wo fängt das eine an und hört das andere auf? Welches ist lebendig und welches tot? Immerhin wird es im Erdgeschoss noch Geschäfte geben, Läden oder kleine Betriebe, wo ein alter Mann einem für zwanzig Ringgit die Reifen flickt. Eine Druckerei, die billige Flugblätter herstellt, auf denen der Räumungsverkauf eines Geschäfts im örtlichen Einkaufszentrum angezeigt wird. Oder eine Konditorei mit nur zwei Stücken kuih lapis in der Kühlvitrine, die da schon seit drei Wochen ausliegen. Die Keksschachteln in den Regalen sind von einer Staubschicht aus den nahegelegenen Baustellen bedeckt, wo die neue Trasse oder das neue Einkaufszentrum oder weiß Gott was gebaut wird. Seit zwanzig Jahren haben diese Leute kein ordentliches Einkommen. Sie sind jetzt fünfundsiebzig oder achtzig Jahre alt. Noch leben sie, aber ihre Geschäfte werden von einem Baum übernommen. Stellen Sie sich das vor.
In der Nacht nach dem Mord – oder der fahrlässigen Tötung, die nicht mit Mord gleichzusetzen ist, wie Sie es höflicherweise ausdrücken – lief ich stundenlang durch die Dunkelheit. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange. Ich versuchte, irgendein Gefühl für die Zeit zu bekommen und suchte am Himmel immer wieder nach Vorboten der Morgendämmerung, ging sogar schneller, damit sich jeder Schritt wie eine volle Sekunde anfühlte, wie das Ticken der Uhr dort an der Wand, das in diesem Moment so schnell zu sein scheint. Ticktack, ticktack. Aber in jener Nacht dehnte sich jede Sekunde zu einer vollen Minute aus, jede Minute kam mir vor wie ein ganzes Leben, und ich konnte nichts tun, um die Dinge zu beschleunigen.
Mein Hemd war nass, nicht einfach feucht, sondern klitschnass, und klebte an meinem Rücken wie eine zweite Haut. Nur gehörte diese Haut nicht zu mir, sondern zu einem anderen lebenden Organismus; kalt und schwer drückte sie mich nieder. Während ich mich immer weiter von dem entfernte, was ich inzwischen als Schauplatz des Verbrechens betrachte (anders als damals, da war es nur ein dunkler Fleck am Flussufer, nicht zu unterscheiden von jedem anderen), horchte ich auf die Sirenen der Polizeiwagen, ich meinte, ich müsste sie jede Sekunde hören. Sie kommen mich holen, dachte ich immer wieder, das ist das Ende, die mata wird mich finden und für immer ins Gefängnis stecken. Es ist aus, du bist erledigt, sagte ich laut. Es beruhigte mich, meine eigene Stimme zu hören. Nichts hatte sich jemals so absolut und sicher angefühlt. Die Polizei würde kommen, sie würde mich einsperren, und von da an wären alle meine Tage gleich. Die Vorstellung, bis an mein Lebensende in einer leeren kleinen Zelle zu sein, wo ich mir um nichts Gedanken machen musste, war tröstlich. Jeden Morgen würde ich beim Aufwachen dieselben Wände sehen, die am Abend vor dem Einschlafen auch schon da waren. Nichts würde sich jemals ändern. Was ich anzog, wie lange ich nachts schlief, wie oft ich essen, mich waschen oder aufs Klo gehen konnte – alle Entscheidungen würden mir abgenommen, ich wäre genauso wie alle anderen auch. Jemand würde die Kontrolle über mein Leben übernehmen, und so würde meine Geschichte enden. Irgendwas in mir wünscht sich noch immer, es wäre so gekommen.
Ich lief durch das hohe Gras, das faserig war und scharf und mir bis zu den Knien in die Beine schnitt. Es war heiß, ich trug kurze Hosen, meine Haut brannte. Zwei- oder dreimal überquerte ich eine Brücke und ging auf der anderen Uferseite weiter. Zuerst suchte ich mein Auto, dann wurde mir bewusst, dass ich mich nur so weit wie möglich vom Schauplatz des Verbrechens entfernen wollte. Das einzige Problem war, dass ich mich nicht erinnern konnte, wo es passiert war. Irgendwann spürte ich Schlamm zwischen den Zehen und merkte, dass ich eine Sandale verloren hatte, sie musste im sumpfigen Boden stecken geblieben sein, daher schüttelte ich auch die andere ab und ging barfuß weiter. Es war spät, aber nicht so spät, dass es keinen Verkehr auf den Schnellstraßen weiter weg oder den Brücken über mir gab. Gelegentlich streiften die Scheinwerfer die Wipfel der Bäume, und ich sah kleine Details, Dinge, die mir bei Tag gar nicht aufgefallen wären; Drachen mit ewig lächelnden Vogelgesichtern, die sich in den Ästen verfangen hatten, und Unmengen von Plastiktüten, die wie geschwollene, gespenstische Früchte in den Zweigen hingen.
Manchmal sah ich seltsame Gebilde, die in der Mitte des Flusses trieben. Baumstämme und Büsche, die von den Stürmen flussaufwärts entwurzelt worden waren, hatten sich zu riesigen Flößen verheddert und sahen aus wie mythische Wesen aus Die Reise nach Westen, dieser Unsinn, den Erwachsene Kindern erzählen, um ihnen Angst zu machen, damit sie gehorchen, den aber kein Mensch ernst nimmt, nicht mal Kinder – welches Kind glaubt schon an Käfer mit neun Köpfen? –, bis man eines Nachts allein an einem Flussufer entlanggeht und diese schrecklichen Ungeheuer zur Realität werden. Andere Male sah ich direkt neben mir, im Schilf hängend, ein totes Wesen, einen Körper, der so aufgedunsen war, dass ich nicht mal hätte sagen können, was es war, eine Katze vielleicht oder ein Affe. Wenn ein Körper lange genug im Wasser liegt, geben seine Konturen nach, die Ränder lösen sich auf, bis es unmöglich wird, ein Tier vom anderen zu unterscheiden.
Mein Arm schmerzte, ich ging irgendwie komisch, eine Seite meines Körpers war weniger beweglich als die andere. Dann merkte ich, dass ich noch immer das Stück Holz in der Hand hielt, das mir kurz zuvor so leicht erschienen war, jetzt aber einen Zentner zu wiegen schien. Während der Verhandlung, als die Leute im Gerichtssaal auf die Tatwaffe, die niemals gefunden wurde, zu sprechen kamen, dachte ich an den knapp siebzig Zentimeter langen, feuchten Stock, den ich in jener Nacht bei mir hatte. Es war nur ein abgebrochener Ast. Als ich vor ein paar Stunden damit auf den Mann eingeschlagen hatte, war er mir so harmlos vorgekommen, dass ich es nicht für möglich hielt, damit jemanden verletzen zu können. Ich hatte erwartet, dass er zerbrach und der Mann mich wegen der lächerlichen Wahl meiner Waffe auslachte. Jetzt hatte ich das Gefühl, als schleppte ich einen ganzen Baum mit, als hinge die Last der Welt an seinen Wurzeln. Ich hob den Arm, um ihn in die Mitte des Flusses zu schleudern, musste aber feststellen, dass ich plötzlich keine Kraft mehr im Körper hatte. Er glitt mir aus der Hand und fiel höchstens einen Meter neben mir auf den Boden.
Nach einer Weile wurde mir klar, dass die Polizei nicht kommen würde. Niemand würde kommen, um mich zu holen. Nicht in jener Nacht, nicht am folgenden Tag und vielleicht auch nach Wochen nicht. Am Ende brauchten sie mehr als zwei Monate, um mich zu verhaften, aber das wissen Sie ja. Und auch, warum es so lange dauerte. Wenn das Opfer so einer ist, kümmert sich die Polizei nicht wirklich darum. Ja, so einer. Ein Ausländer. Ein Illegaler. Jemand mit dunkler Hautfarbe.
Aus Bangladesch, Myanmar oder Nepal. Für die Polizei sind sie alle gleich. Selbst Afrikaner. Als kämen alle von demselben großen namenlosen Kontinent. Als ich noch in Puchong lebte, sah ich einmal eine Gruppe von Afrikanern, die sich am Straßenrand versammelt hatte, etwa ein Dutzend Männer. Manche saßen auf dem Pflaster, andere standen daneben, lachten, scherzten, tranken Bier und Schnaps. Ein oder zwei tanzten; sie hatten einen großen Ghettoblaster dabei, und ihre Musik war so laut, dass ich meine eigene kaum hören konnte. Ich hörte Jacky Cheung auf dem Handy; damals hatten wir nur diese kleinen Dinger von Sony Ericsson, auf denen die Songs schepperten, als kämen sie über einen Radiosender aus einem weit entfernten Land. Vielleicht sind Sie zu jung, um sich an diese Handys zu erinnern. Ich stand mit Keong auf der anderen Straßenseite, vor dem 7-Eleven, und aß einen Ramly-Burger. Das ist siebzehn, achtzehn, vielleicht auch schon zwanzig Jahre her. Damals gab es hier noch nicht so viele Afrikaner. Die Leute wussten nichts über sie – aus welchen Ländern sie kamen, wieso sie hier waren. Wenn man damals jemand fragte, woran er bei dem Wort Afrika dachte, antwortete er: Löwen.
Keong starrte auf sein Handy, tat so, als ginge ihn das alles nichts an, als wäre er mit Schwarzen aufgewachsen. Trotzdem konnte er sich seine Kommentare nicht verkneifen. Wahlau, Muhammad Ali hat all seine Freunde mitgebracht! Ich weiß noch, wie ich lachte, obwohl ich es überhaupt nicht lustig fand. Wahrscheinlich machte auch ich irgendwelche Bemerkungen. Es ist lange her, ich weiß es nicht mehr. In jener Nacht ging eine leichte Brise, daran erinnere ich mich. Neben uns schloss gerade ein alter Inder seinen Stand. Das Geschäft lief nicht besonders, es waren nicht viele Menschen unterwegs. »Immer freitagabends«, sagte er. »Jede Woche kommen sie her und machen Ärger. Freitag ist doch ein heiliger Tag, diese Kerle haben vor nichts Respekt.« In Wahrheit sagte er nicht diese Kerle; er sagte, diese mat hitam. Aber das übersetze ich lieber nicht.
»Sie kommen aus Nigeria«, antwortete ich. In der Nanyang Siang Pau hatte ich einen Artikel über nigerianische Studenten gesehen, die nach Malaysia kamen und nach dem Studium so verschuldet waren, dass sie sich die Rückfahrkarte nach Hause nicht mehr leisten konnten. Ich weiß noch, dass ich dachte, man muss ganz schön verzweifelt sein, um zum Studieren hierherzukommen.
»Halt die Klappe«, sagte Keong. »Von wegen Nigerianer. Du hast ja keine Ahnung.«
Während ich sie beobachtete, hatte ich das Gefühl, sie ließen sich durch die Stadt treiben, losgelöst von allem ringsum. Ihre Musik schien ihre einzige Realität zu sein, eine Verbindung zu ihrer Heimat. Deshalb spielen sie sie so laut, dachte ich. Aber sie waren Tausende von Meilen von ihrem Zuhause entfernt, und irgendwas an der Art, wie sie sich unterhielten, ihr lautes Geschrei und Gelächter im Halbdunkel der Straße, das die Musik übertönte, sagte mir, dass sie wahrscheinlich niemals dorthin zurückkehren würden, woher sie gekommen waren. Und da schoss es mir plötzlich durch den Kopf: Ich bin genauso, auch ich lasse mich durchs Leben treiben.
»Verdammt noch mal«, sagte Keong. Seine Stimme klang leicht gereizt. Zwei in der Gruppe hatten sich in die Haare gekriegt, es war kein richtiger Streit, nur das übliche Herumpöbeln von Betrunkenen, ein Handgemenge, bei dem sie bis auf die Straße torkelten. Ein vorbeikommender Wagen musste ausscheren, um sie nicht zu überfahren. Der Fahrer drückte auf die Hupe und ließ sie nicht mehr los, bis er verschwunden war. Es war ein Kancil, und die Hupe klang so schrill und hoch wie ein billiges Kinderspielzeug, das man auf dem Nachtmarkt kauft. Wir mussten lachen. Ein paar Minuten später alberten die Männer wieder herum und unterhielten sich, als wäre nichts gewesen. Wir hörten auf, sie zu beobachten; sie waren nichts Besonderes, sie waren genauso wie wir, hingen mit ihren Freunden ab. Keong schrieb eine SMS an seine neue Freundin und las mir vor, was sie ihm geschrieben hatte. Natürlich übertrieb er dabei. Es war klar, dass sie ihn nicht für den hübschesten Mann auf der Welt hielt. Ich bin sogar sicher, dass sie nicht mal existierte. Trotzdem spielte ich das Spiel mit, so ist es nun mal bei alten Freunden. Man nimmt Anteil an ihrem Leben, selbst wenn sie lügen.
Dann entstand plötzlich ein lauter Tumult, gefolgt von noch mehr Gebrüll. Wir blickten von unseren Handys auf und sahen, wie die Nigerianer von drei Polizeiwagen und drei zivilen Autos umringt wurden. Alle schrien durcheinander. Es waren viele Polizisten, ich konnte sie nicht zählen. Sie drückten einen von ihnen gegen einen Wagen. Ich hörte ihn auf Englisch rufen: Keine Drogen, keine Drogen, ich hab nichts! Trotzdem legten sie ihm Handschellen an und zwangen ihn, sich auf den Bordstein zu setzen so wie das restliche Dutzend seiner Freunde auch. Zuerst wehrten sich die Nigerianer und schrien die Polizisten an. Sie waren hochgewachsen, viel größer als wir, und vielleicht glaubten sie, dass sie davonkommen könnten, wenn sie laut wurden, aber sie hatten keine Ahnung, wie die Polizei ist. Ich konnte nicht sehen, was dann passierte, es standen zu viele Menschen im Weg, aber plötzlich wurde es ganz still, und einer von ihnen lag auf der Straße, einen Arm um den Kopf, den anderen ausgestreckt, als wollte er nach etwas greifen. Er rührte sich nicht. Nach einer Weile fingen einige von ihnen an zu betteln, wir hörten sie von der anderen Straßenseite aus. Ihre leisen Stimmen waren voll und tief, und jedes Mal, wenn sie bitte sagten, wurden sie noch eindringlicher. Bitte. Bei dem Klang dieses Worts hatte ich das Gefühl, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen, als stürzte ich in einen Abgrund. Ich wollte, dass es aufhörte.
»Bezahlt sie«, rief Keong. »Nehmt euer ganzes verdammtes Geld aus den Taschen. Zahlt einfach.« Aber es war klar, dass sie kein Geld hatten, um die Polizisten zu bestechen. Ich bin mir sicher, dass sie das System genauso gut durchschauten wie wir, sie hatten nur das Geld nicht. Keong schüttelte den Kopf. »Aiya cham lor, heute geht ihr in den Bau, Freunde.« Wenn man so aufgewachsen ist wie wir, weiß man, was einem blüht.
Ein großer Polizeitransporter fuhr vor und sammelte alle Nigerianer ein. Während er noch dastand, kam einer der Polizisten über die Straße, um Zigaretten zu kaufen. Wir fragten, was los war. »Die Einheimischen«, sagte er. »Wir mögen hier keine mat hitam.« Dann zündete er sich mit einem silbernen Zippo-Feuerzeug eine Zigarette an. »Wir sind wie die Straßenkehrer, die den Dreck von der Straße fegen.«
Wir lachten, als wären wir seine besten Freunde. Ja, fegt nur. Ich weiß nicht mehr, was wir sonst noch sagten, welche Witze wir machten, damit die Polizisten dachten, wir wären auf ihrer Seite. Wir wussten, dass sie uns in dieser Nacht in Ruhe lassen würden; sie hatten interessantere Opfer gefunden. Ich war noch jung und meinte, ich wüsste, wie die Dinge funktionierten. Doch in dieser Nacht wurde es mir so richtig bewusst, wie der Song eines ausländischen Sängers. Die Melodie kennt man auswendig, aber den Text versteht man nicht richtig, kennt nur das eine oder andere Wort, singt eine Zeile des Refrains mit und kapiert vielleicht vage, worum es geht, bis eines Tages jemand den Text übersetzt und es klick macht. Der ganze Song ergibt plötzlich einen Sinn. Es ist nicht mehr bloß ein netter Ohrwurm, sondern hat eine Bedeutung, und in dieser Nacht wurde mir die Botschaft klar: Wenn du schwarze Haut hast und Ausländer bist, will keiner was mit dir zu tun haben. Wer würde nach dir suchen, wenn du ins Gefängnis von Sungai Buloh kommst? Oder langsam auf den Grund des Flusses sinkst? Niemand würde Fragen stellen. Nicht, bevor es viel zu spät war.
Ich weiß nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. Wahrscheinlich will ich mir nur den Kopf leer machen nach all den Jahren. Darum haben Sie mich doch von Anfang an gebeten. Verschweigen Sie nichts, seien Sie so offen und ehrlich wie möglich. Erzählen Sie einfach, haben Sie gesagt. Niemand wird Sie verurteilen. Also mache ich das. Ich erzähle einfach.
Inzwischen gibt es nichts, worüber ich mich beschweren könnte. Jeder Tag ist gleich, und das ist ein Segen. Heutzutage glauben die Leute, Abwechslung wäre das Einzige, was dem Leben einen Sinn gibt, vergessen aber, dass Routine ebenfalls ein Privileg ist. Keine Unterbrechungen, kein verrücktes Auf und Ab, weder Kummer noch Elend. Das immer Gleiche hat etwas Himmlisches, finden Sie nicht? Es ist ein Geschenk der Götter. Ich habe Glück. Ich lebe von meinen Ersparnissen, dem bisschen Geld aus dem Verkauf meines Hauses in Taman Bestari, wo ich mit meiner Frau lebte. Zu meiner Überraschung war es noch etwas wert, als ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, daher verkaufte ich es und zog in dieses kleinere Haus mit nur zwei Zimmern, etwas weiter außerhalb der Stadt. Zweimal in der Woche besucht mich jemand von der Kirche mit einem Essenskorb – Grundnahrungsmittel und ein paar Extras –, und wenn ich etwas brauche, kann ich immer zur Kirche gehen und da mit jemand sprechen. Meistens geben sie mir ein paar Kekse oder ein bisschen gebratenen Reis, was immer in der Küche übrig geblieben ist. Das Ganze nennt sich Harvest Assembly. Seit fast sechs Jahren gehe ich dahin, seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde.
Abgesehen davon unterstützt mich ab und zu ein chinesischer Wohltätigkeitsverein mit etwas Geld. Sie kennen ihn, es ist die L-Foundation. Das kam durch Vermittlung der Anwälte zustande, die versuchten, von der Strafvollzugsbehörde Schadenersatz für die Verletzung zu erstreiten, die ich während meines Gefängnisaufenthaltes erlitt, vergeblich natürlich. Das hätte ich ihnen gleich sagen können. Wer hat schon jemals von der Polizei oder den Strafvollzugsbehörden Schadenersatz erhalten? Aber aufgrund ihrer Bemühungen erfuhr jemand von meinem Fall, obwohl er nie berühmt wurde und die Zeitungen nicht lange darüber berichteten. Jemand hatte Mitleid mit mir, dabei habe ich weiß Gott keine Sympathie verdient. Und dann bekam ich eines Tages einen Scheck über sechshundert Ringgit. Ihnen mag das nicht viel erscheinen, aber für mich ist es eine Menge. Ich dachte, es wäre eine einmalige Sache und habe mich gefreut, aber die Schecks kommen immer noch – nicht regelmäßig, nur hin und wieder, ohne Ankündigung oder Anlass. Manchmal sind es zweihundertfünfzig Ringgit, manchmal vierhundert. Dann fahre ich mit dem Bus in die Stadt, komme dort an, kurz bevor die alten bak kut teh-Stände zumachen, und genehmige mir ein großes Frühstück, bevor ich in Little India spazieren gehe. Manchmal wandere ich stundenlang durch ein Einkaufszentrum von New Town, meistens das Klang Parade. Ich esse im Texas Chicken und bestelle immer dasselbe: einen mexikanischen Burger und Honey Butter Biscuits. Hin und wieder meine ich, ich sollte abenteuerlustiger sein und etwas Neues ausprobieren, zum Beispiel reizen mich die Jalapeño Bomber. Bomber! Das klingt großartig. Aber dann denke ich, was, wenn sie mir nicht schmecken? Die Vorstellung, etwas Neues zu versuchen, macht mich nervös. Mein Tag soll schön und geruhsam sein, nicht stressig. Alles soll so sein wie immer.
Ich setze mich hin und beobachte, wie sich die Teenager in ihren Schuluniformen eine Portion Brathähnchen teilen und sich gegenseitig Fotos auf ihren Handys zeigen. Die Jungs spielen den großen Macker und benutzen dieselbe Sprache wie ich in ihrem Alter – Sie wissen schon, auf Kantonesisch fluchen, was sich wirklich grob und aggressiv anhört. Hätten Sie mich und meine Freunde in dem Alter gehört, hätten Sie sich vermutlich an einen anderen Tisch gesetzt. Aber diese Jugendlichen sind nicht wie ich, sie kommen aus den neuen Vorstädten, haben anständige Familien. Sie sind vierzehn oder fünfzehn, aber noch Babys, hängen nach der Schule im Einkaufszentrum ab und spielen mit ihren Handys. Selbst nach einem langen Tag in der Schule sehen ihre Schuluniformen frisch gewaschen und gebügelt aus, weder zerknittert noch grau von Schweiß. Man könnte fast meinen, ihre Hemden wären gestärkt. Nichts beschwert sie in ihrem Leben, und seltsamerweise macht ihre Fröhlichkeit mich wieder unschuldig und hoffnungsvoll. Diese Tage in der Stadt sind etwas Besonderes. Ich habe Geld in der Tasche, ich fühle mich unabhängig und frei, auch wenn es nur für ein, zwei Tage ist. Das ist es, was diese Schecks für mich bedeuten, ein Tag in Freiheit. Ich bete oder bitte nicht darum, nicht mal insgeheim, sie kommen einfach. So muss Gottes Werk sein, denke ich. Immer überraschend, immer ein Geschenk.
Wegen der Verletzung im Gefängnis kann ich nicht arbeiten. Wie Sie sehen, humpele ich immer noch leicht, obwohl man es kaum merkt, wenn ich langsam gehe. Man sieht es nur bei raschen Bewegungen, zum Beispiel wenn ich rennen muss, um den Bus zu kriegen, und das Bein nicht so will wie ich. Mein Hirn sagt, schneller, schneller, und ganz kurz denke ich, das schaffe ich, ja, wirklich, ich glaube, ich könnte aufspringen und rennen, um den Bus zu erwischen, dabei kann ich das Bein nur noch hinter mir herziehen. Dann erst fällt mir wieder ein, wie schlimm ich humpele und wie mein Körper von einer Seite auf die andere schwankt. Ich kann auch keine schweren Sachen mehr heben, so wie früher. Dafür war ich bekannt. Die Kumpel in der Fabrik, in der ich als Teenager arbeitete, forderten mich heraus, um zu sehen, wie viele Kisten mit Fisch ich auf einmal stemmen konnte, und ich versetzte sie immer wieder in Staunen, obwohl ich ziemlich klein bin. Aber gerade meine kurzen Beine geben mir Halt. Die Leute meinen, es wäre das Merkmal der Han-Chinesen, unsere Vorfahren brauchten kurze Oberschenkel und Waden, um Reis anzupflanzen oder Tee zu ernten oder was immer diese Menschen vor zweihundert Jahren im Süden Chinas taten, aber wen interessiert das schon? Ich weiß nur, dass meine Beine mir immer gute Dienste leisteten, bis ich ins Gefängnis kam. [Hält inne.] Es ist ein Nerv im Rücken, hat etwas mit meiner Wirbelsäule zu tun, das ich nicht verstehe. Die Ärzte haben mir die Röntgenaufnahmen gezeigt, aber ich sah nur die grauweißen Konturen meiner Knochen. Sie hätten es mit einer Operation in einer Privatklinik in Kuala Lumpur richten können, aber wer kann sich so etwas heutzutage leisten? Im Krankenhaus lachte ich und winkte ab: »Ich bin kein Krüppel, also lassen wir es einfach, okay?« Irgendwer von der Kirche meinte, ich könnte eine andere Arbeit machen, etwas, was keine körperliche Anstrengung voraussetzt, aber für jede Arbeit, bei der man gemütlich in einem Büro sitzen kann, braucht man ein Diplom oder eine Urkunde oder weiß Gott was, und die habe ich nicht. Ich war nie besonders gut in der Schule.
Ein Jahr nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis besorgten mir ein paar Gemeindemitglieder eine Stelle in ihrem Familienunternehmen, einem Handelskonzern, der Güter aus China importierte und sie überall im Land vertrieb. Ich hatte einen schönen Schreibtisch, im Büro gab es eine Klimaanlage, und ich musste keine Telefonanrufe annehmen und auch nicht mit Leuten sprechen, die ich nicht kannte. Ich musste nur Zahlen zusammenrechnen, ein leichter Job; nichts ist sicherer und solider als Zahlen. Ich kümmerte mich darum, dass die Rechnungen stimmten, überprüfte die Einnahmen und so weiter. Ich hatte so eine Arbeit noch nie gemacht, wusste aber, wie man mit Geld umgeht. Trotzdem wurde ich damals sofort nervös, wenn ich jemand begegnete, den ich nicht kannte, oder in eine Situation geriet, die mir nicht vertraut war. Vermutlich lag es an der Zeit, die ich im Gefängnis verbracht hatte. Es war nichts Ernstes, verstehen Sie, ich zögerte nur ein bisschen, wenn mich jemand ansprach, und wegen der Aussetzer zwischen ihren Fragen und meinen Antworten dachten sie, ich hätte psychische Probleme. Fünf oder zehn Sekunden, wer weiß? An ihren Gesichtern sah ich, wie sie zunächst verwirrt, dann besorgt und schließlich verärgert waren. Manchmal frustriert oder sogar wütend. Manche Leute dachten, ich würde das absichtlich machen. Einmal sagte ein Kerl im Büro: »Lunseehai, was für ein arrogantes Arschloch!« Er sagte es mir laut ins Gesicht, ohne eine Reaktion zu erwarten, als würden alle genauso über mich denken, als wäre ich taub und stumm und könnte nicht hören, was er sagte. »Was auch immer dahintersteckt«, erklärte meine Chefin nach ein paar Monaten – sie war sehr nett, sehr verständnisvoll –, »wir sind der Meinung, dass es besser für Sie ist, wenn Sie mit der Arbeit aufhören. Gehen Sie nach Hause und ruhen Sie sich aus.« Bis zu diesem Punkt war mir nicht klar gewesen, wie sehr ich mich in den vergangenen drei Jahren verändert hatte, aber als ich die Stelle verlor, begriff ich, dass ich ein anderer Mensch geworden war. Wie genau, könnte ich Ihnen nicht sagen, aber ich war nicht mehr derselbe. Danach hatte ich noch einige Vorstellungsgespräche, aber sie führten zu nichts.
Deshalb meine ich, dass ich Glück habe. Ich arbeite nicht, aber ich lebe. Meine Tage sind ruhig. Ich würde sogar behaupten, dass ich gesegnet bin.
[Langes Schweigen.]
Manchmal … [Zögert; greift nach seiner Teetasse, trinkt aber nicht.] Manchmal, doch, natürlich denke ich an jene Nacht. Wie könnte ich das nicht tun? Ich denke an die zwei Männer, die dabei waren, Keong und der Bangladeschi. Ich weiß, was Sie von mir hören wollen: dass ich ihre Gesichter sehe und ihr Anblick mich quält, aber so ist es nicht. Ich empfinde nichts für sie, weder Hass noch Mitleid. Vielleicht hätte ich auf Keong wütend sein sollen; vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn er nicht zurückgekehrt wäre und mich angerufen hätte. Er hätte auch andere Möglichkeiten gehabt. Er musste nicht ausgerechnet mich bitten, all das zu tun.
Wenn ich heute an ihn denke, sehe ich nicht mehr den Keong aus jener Nacht. Ich sehe die Version von ihm, die drei Jahre später vor Gericht erschien, als mein Fall in Berufung ging. Sein langärmeliges weißes Hemd, sein gepflegtes Haar, selbst die Art, wie er mit dem Richter sprach, leise und respektvoll, jeder hätte ihn für den Vertreter eines IT-Unternehmens in Petaling Jaya gehalten. Zuerst erkannte ich ihn gar nicht; ich hielt ihn für jemand anders, als hätte die Staatsanwaltschaft den Falschen aufgerufen. Die Anwälte stellten ihm Fragen zu seiner Person, und er versorgte sie mit den nackten Fakten: Sein Geschäft importierte tiefgefrorene Teigtaschen aus China, er hatte ein regelmäßiges Einkommen, besaß einen Toyota Camry und hatte eine Hypothek für ein Haus von der Hong Leong Bank bekommen. Vor kurzem hatte er Urlaub in Australien gemacht und sparte, um seine Tochter dort auf ein Internat schicken zu können, in sieben oder acht Jahren, wenn sie alt genug war, um allein reisen zu können. Im Moment besuchte sie eine Privatschule in Cheras, nicht weit entfernt von zu Hause, so dass er viel Zeit mit ihr verbringen konnte. Sobald er aus dem Büro kam, eilte er zu Frau und Tochter nach Hause, wo sie zusammen zu Abend aßen, die Hausaufgaben ihrer Tochter überwachten und ein bisschen fernsahen. Sie war eine fleißige Schülerin mit einer Vorliebe für Naturwissenschaften.
Er antwortete leise, als wollte er nicht, dass ich hörte, was er sagte. Ich saß auf der anderen Seite des Gerichtssaals und hatte Mühe, ihn zu verstehen. Hypothek. Laptop. Spielplatz. Dem Mann, der da sprach, schien das Leben, das er führte, peinlich zu sein. Wieso sollte sich jemand für ein solches Leben schämen? Erst da wurde mir bewusst, dass es Keong war, derselbe Keong, den ich seit meiner Jugend gekannt hatte, und ich begriff, warum es ihm so peinlich war. Er schämte sich für meine Schande, oder präziser gesagt, er schämte sich, weil er glücklich war, während meine Schmach öffentlich zur Schau gestellt wurde. Als Kinder hatten wir so vieles geteilt. »Es hat keinen Zweck, Ah Hock ein Eis zu kaufen«, hatten die Leute damals gesagt, »er wird die Hälfte diesem kleinen Mistkerl von Keong abgeben.« Doch Zeit – so etwas konnten wir nicht miteinander teilen. Sie konnte nur einem von uns zugutekommen.
Und ich dachte, klar, er hat sich verändert. All die Jahre im Gefängnis, als ich entweder rund um die Uhr schlief oder Tag und Nacht wach lag, Phasen, die Wochen dauerten und mir jegliches Zeitgefühl raubten und am Ende auch die Vorstellung, dass jeder Tag anders sein sollte – in dieser Zeit hatte sich Keong verändert. Jeder hätte in diesen Jahren ein anderer Mensch werden, ein brandneues Leben anfangen können. Er war so stolz auf sein Haar gewesen, die langen Ponyfransen, die er sich kupferorange gefärbt hatte, als er fünfzehn war, und bis zu dem Abend behielt, als wir uns das letzte Mal sahen. Ich hatte ihn damals immer aufgezogen: »Hey, großer Bruder, willst du diesen Gangsterstil auch noch behalten, wenn du Papa wirst?« Er nannte es »blond«, obwohl er damit aussah wie ein Popstar aus Hongkong. Ständig machte er so [fährt sich theatralisch mit der Hand über die Stirn und wirft den Kopf mit einer leicht tuntigen Geste nach hinten]. Ich musste immer lachen. Du bist genauso ein Niemand wie wir alle – das sagte ich ihm jedes Mal, wenn er sich so aufspielte.
Dieses Haar war nun verschwunden, es war kurz geschnitten und hatte wieder seine natürliche Farbe. Ich hatte ihn seit unserer Jugend nicht mehr mit schwarzem Haar gesehen. Er hatte zugenommen, und das ließ ihn jünger aussehen statt älter. Wie ein ehemals pummeliger Teenager, der seinen Babyspeck verloren hatte und zu einem gutaussehenden jungen Mann geworden war. Ich konnte sehen, dass er das Rauchen aufgegeben hatte und sich besser ernährte; sein Teint war glatter, die tiefen Falten zwischen den Brauen, die er von Kindheit an gehabt hatte, waren verschwunden. Glatt gebügelt von den drei Jahren.
Irgendwann fingen die Anwälte an, ihn nach meiner Persönlichkeit zu befragen. Schätzte er mich als impulsiv ein? Hatte er bei mir eine Neigung zur Gewalt festgestellt? Hielt er mich für einen Menschen, dem etwas leidtat, der eine schlechte Tat bereute? Zuerst waren seine Antworten klar und einfach, er äußerte sich, ohne lange zu zögern, ganz wie der seriöse Geschäftsmann, der er geworden war. Er spielte keine Rolle, er war inzwischen tatsächlich so. Sein Englisch und sein Malaiisch waren besser geworden, er wählte seine Worte sorgfältig. Aber je länger die Befragung dauerte, desto sicherer fühlte er sich, er begann, freier zu sprechen, und benutzte manchmal auch Ausdrücke, die man als derb bezeichnen kann. Er erzählte sogar eine kurze Geschichte aus der Zeit, als wir Teenager waren. Einmal hab ich Kekse aus dem Laden geklaut und sie mit ihm geteilt, so viele, dass wir sie nicht schaffen, er sagt, bring sie zurück, bring sie zurück, und ich, niemals, fick dich, aber er zwingt mich, also bringen wir sie am nächsten Tag zurück. Leck mich! Zwingt mich, bis ich mein Gesicht verliere! Aber er sagt, wie kannst du klauen, sie hat auch nichts.
»Okay, okay, Mr Tan. Ich glaube, das reicht.« Als der Anwalt das sagte, musste ich lachen. Auch in seinem neuen Leben konnte Keong sich nicht zurückhalten; er redete einfach zu viel. Während er diesen Vorfall erzählte, an den ich mich gar nicht erinnern konnte, sah ich für einen kurzen Augenblick, wie die Jahre und das überschüssige Gewicht von ihm abfielen. Plötzlich hatte ich wieder den schmalen Jungen mit dem spitzen Gesicht und den Ohrringen vor mir, mit dem ich aufgewachsen war und von dem ich immer dachte, er würde eines Tages im Gefängnis enden. Wir hatten sogar Witze darüber gemacht, als er aus KL wegging, um woanders zu arbeiten. »Du brauchst mir keine Adresse zu schicken«, sagte ich zu ihm. »Ich suche dich im Gefängnis.«
Nachdem der Richter ihn ermahnt hatte, wurde er wieder still, der Ehemann, der anständige Vater, jemand, dem man zutraute, eine Familie zusammenzuhalten. Das ist das Bild, das ich heute hin und wieder von ihm habe. Ein respektabler Mann, über Gefühle wie Hass erhaben.
Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich nur drei Jahre im Gefängnis gesessen hatte. Drei Jahre – das ist nichts! Warum fühlte es sich so lange an, als ich in meiner Zelle hockte? Und wie hatte sich Keong so schnell verändert? Da erst spürte ich die Bitterkeit. Ich hatte nie Groll gegen ihn gehegt, nicht mal, als er nach Klang zurückkehrte und das Böse in mein Leben brachte. Als ich Jahre später mit Gemeindemitgliedern darüber sprach, sagten sie: Du musst ihm vergeben, so wie Gott dir vergibt. Und ich dachte, ich habe nichts zu vergeben; ich fühle nichts für ihn. Aber als ich ihn damals im Gerichtssaal wiedersah und daran dachte, wie schnell er sich verändert hatte, war ich wütend. Er hatte Besitz von der Zeit ergriffen und sie genutzt, ich dagegen hatte mich von ihr vernichten lassen. Es waren bloß drei Jahre, sagte ich mir, bloß drei Jahre – du kannst diese Zeit wiedergutmachen und noch einmal ganz von vorn anfangen. Aber ich ahnte schon, dass ich nicht mehr in der Lage wäre, mein Leben zu verändern. Evolution ist eine komische Sache. Die ganze Zeit glaubst du an die Kraft der Veränderung, an die eigene Fähigkeit, dein Leben in kleinen Schritten zu formen. Selbst beim Kauf eines vierstelligen Lotteriescheins bist du voller Optimismus, als könnten dir diese fünf Ringgit einen Geldsegen von zwanzigtausend bringen und dein Leben verändern. Und eines Tages ist dieser blinde Glaube an die Hoffnung einfach weg, und dann weißt du, dass nichts geschehen wird, selbst wenn du den ganzen Tag mit Beten verbringst. Meine Wut richtete sich gegen mich selbst; ich gab nicht Keong die Schuld. Ihn zu sehen erinnerte mich an den Menschen, der ich nicht mehr sein konnte.
Was den anderen Mann in jener Nacht angeht, sein Gesicht bleibt leer, obwohl es das Einzige sein müsste, woran ich mich erinnere. Zu meiner Verteidigung kann ich nur sagen, dass es sehr dunkel war, als ich ihn zum ersten Mal sah. Obendrein wandte er sich ab, bevor ich den Stock aufhob. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, als ich ihn erschlug.