Wenn alltäglicher Stress sich für uns und unseren Körper wie eine Gefahr anfühlt, ist unser Nervensystem aus dem Gleichgewicht geraten. Die renommierte Therapeutin Deb Dana zeigt, wie wir es mithilfe des Vagus-Nervs, der Informationsautobahn des Körpers, positiv beeinflussen können und wieder zurück zu Sicherheit und Wohlbefinden finden. Sie erweckt die Wissenschaft der Polyvagal-Theorie mit praktischen Übungen und Meditationen zum Leben, sodass wir im Alltag die Beziehung zu unserem Körper verändern können, belastbarer werden und wieder mehr Verbundenheit spüren. So entstehen Momente der Sicherheit, in denen wir uns verankern können.
Deb Dana ist Therapeutin und Beraterin des Traumatic Stress Research Consortium am Kinsey Institute, Autorin des Buches Die Polyvagal-Theorie in der Therapie sowie Mitherausgeberin des Buches Klinische Anwendungen der Polyvagal-Theorie. Deb Dana ermöglicht es, über die Polyvagal-Theorie Lösungen für die Auswirkungen von Traumata in unserem Leben zu finden. Sie hat das Trainingsprogramm Rhythm of Regulation entwickelt, lehrt international und ist darauf spezialisiert, die Möglichkeiten und Erkenntnisse der Polyvagal-Theorie für die klinische Arbeit mit Traumatisierten zu nutzen.
www.rhythmofregulation.com
Deb Dana
Der
Vagus-Nerv
als innerer
Anker
Angst und Panik überwinden,
Ruhe und Stärke finden
Mit einem Vorwort von Stephen W. Porges
Aus dem Amerikanischen von Ursula Bischoff
Kösel
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Alle in diesem Buch veröffentlichten Übungen, Aussagen und Ratschläge wurden von der Autorin und vom Verlag sorgfältig erwogen und geprüft. Eine Garantie kann jedoch nicht übernommen werden, ebenso ist die Haftung der Autorin bzw. des Verlags und seiner Beauftragten für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ausgeschlossen.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel Anchored. How to Befriend Your Nervous System Using Polyvagal Theory bei Sounds True Inc.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2022 Kösel-Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Copyright © 2021 by Deborah A. Dana.
Vorwort © 2021 Stephen W. Porges.
This Translation published by exclusive license from Sounds True, Inc. and by the agency of Agence Schweiger.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlag: Weiss Werkstatt München
Umschlagmotiv: © rolandtopor/Shutterstock.com
Redaktion: Ralf Lay
Fachliche Beratung: Mag. Sandra Teml-Jetter
Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering
ISBN 978-3-641-28767-2
V001
www.koesel.de
Inhalt
Vorwort von Stephen W. Porges
Einführung
1. Grundprinzipien und Schlüsselelemente der Polyvagal-Theorie
2. Die Reise auf den autonomen Vagus-Pfaden
3. Zuhören lernen
4. Die Sehnsucht nach Verbundenheit
5. Neurozeption: Das innere Überwachungsprogramm des Nervensystems
6. Verbindungs- und Schutzmuster
7. Im Zustand der Sicherheit verankern
8. Sanfte Prägung
9. Geschichten neu erzählen
10. Selbsttranszendierende Erfahrungen
11. Der fürsorgliche Umgang mit dem Nervensystem
12. Gemeinschaft herstellen
Fazit
Danksagung
Anmerkungen
Für meine polyvagale Familie
Vorwort
Während ich Der Vagus-Nerv als innerer Anker las, wurde mir klar, dass Deb Dana mit ihrer wirkmächtigen Metapher einen wichtigen Beitrag leistet, der anschaulich macht, wie das Nervensystem seine Ressourcen steuert, um eine neuronale Plattform für soziales Verhalten zu schaffen und die Vorteile der Co-Regulation zu nutzen. In diesem Buch teilt sie ihre tiefgreifenden Erkenntnisse und Einsichten, indem sie die komplexen in die Polyvagal-Theorie eingebetteten Sachverhalte und Beobachtungen in eine Sprache übersetzt, die auch Laien zugänglich ist. Durch die Verknüpfung der Begriffe mit Visualisierungen und die Zuordnung zu den entsprechenden Körperempfindungen gehen ihre Talente weit über die linguistische Kompetenz hinaus, werden Sinnesempfindungen effektiv ins Bewusstsein gerückt und wahrnehmbar. Mithilfe dieser Strategie führt Deb Dana den Lesern die Fähigkeiten vor Augen, die man braucht, um sich sicher und entspannt in den Kokon des eigenen Körpers zurückzuziehen.
Aus der polyvagalen Perspektive führt Deb Dana die Leser virtuos durch strukturierte neuronale Übungen, die das Nervensystem in die Lage versetzen, homöostatische Funktionen wirksamer zu unterstützen; das angestrebte Gleichgewicht fördert Gesundheit, Wachstum und die Wiederherstellung der inneren Balance. Mit anderen Worten: Die von ihr beschriebenen neuronalen Übungen fördern eine Herunterregulierung des körperlichen Spannungszustands in Situationen, die als bedrohlich wahrgenommen werden, und ermöglichen spontane Erfahrungen der sozialen Verbundenheit, eine Kombination, die den Weg für Co-Regulation und eine Verkörperung der neuen Möglichkeiten des Erlebens ebnet. Das Produkt dieser Strategie ist ein widerstandsfähigeres Nervensystem, das sowohl die psychische als auch die physische Gesundheit unterstützt.
Bei der Lektüre des Buches begann ich, mein Augenmerk auf die Parallelen zwischen den Kommunikationsstrategien innerhalb des Körpers und zwischen Menschen zu richten. Hier handelt es sich um voneinander abhängige Co-Regulationsebenen, weil ein reguliertes und ausreichend mit Ressourcen ausgestattetes Nervensystem Defensivreaktionen intuitiv herunterreguliert, während ein Nervensystem in chronischen Bedrohungszuständen die Chancen auf soziales Engagement verringert. Als Säugetiere und soziale Wesen haben wir im Verlauf der Evolutionsgeschichte zum Glück ein Eingangstor zu einem System entwickelt, das Reaktionen auf Bedrohungen durch die neurozeptive Einordnung und Bewertung von Sicherheit dämpft. Doch der Zugang zu diesem Überwachungsprogramm wird weitgehend vom neuronalen Selbstzustand des Einzelnen beeinflusst. Ist das autonome Nervensystem (ANS) gut mit Ressourcen ausgestattet, sind wir resilient und überschreiten eine niedrige Schwelle, um Sicherheitszustände auszulösen, die zu spontanem sozialen Engagement sowie zur Co-Regulation führen. Wenn wir jedoch in einem defensiven Selbstzustand verhaftet sind, ist das Gefühl der Sicherheit unter Umständen nicht so leicht zugänglich.
Das Bild des Ankers im Titel dieses Buches ist eine Metapher, die Deb Dana meisterhaft nutzt, um im Rahmen der persönlichen Ressourcen (beispielsweise das Nervensystem oder unser Selbstbild) einen Raum zu visualisieren, der ein Gefühl der Sicherheit vermittelt. Der innere Anker, der hier gesetzt wird, begleitet uns auf unserer persönlichen Embodiment-Reise, in deren Verlauf wir die Wechselwirkung zwischen Körper, Psyche und Umwelt erfahren, und stattet uns mit Attributen wie psychischer Widerstandskraft, innerer Selbstregulation und Co-Regulation mit anderen aus.
Auf der funktionalen Ebene erfordert die Reise, dass wir uns erstens den neurophysiologischen Regelkreislauf bewusst machen, der mit den Gefühlen der Sicherheit, der Gefahr und der Lebensbedrohung einhergeht. Zweitens gilt es, sich die Macht des neurozeptiven Überwachungsprogramms bewusst zu machen, das Hinweise auf potenzielle Bedrohung und Sicherheit zu entdecken vermag, ohne dass wir sie bewusst wahrnehmen. Und drittens empfiehlt es sich, uns mithilfe von Visualisierungen und experientiellen Erfahrungen die Verlagerungen in den autonomen Selbstzuständen bewusst zu machen. Aus dieser Sequenz lässt sich ein Paket neuronaler Übungen schnüren, die Selbstwahrnehmung, Selbstregulation und Resilienz fördern.
In einer meiner Abhandlungen jüngeren Datums beschrieb ich die Polyvagal-Theorie als wissenschaftliche Extrapolation der stammesgeschichtlichen Reise zur Sozialität, der Abhängigkeit von sozialer Steuerung und Unterstützung, entstanden bei Säugetieren, die sich aus den asozialen Reptilien entwickelten. Im Verlauf dieser Reise erforderte der neurophysiologische Zugang zu der Fähigkeit, sich sozial zu verhalten, einen wirksamen Mechanismus, Sicherheit zu entdecken und Defensivreaktionen reflexartig herunterzuregulieren. Im Wesentlichen ermöglichen die neuronalen Mechanismen, die der Sozialität zugrunde liegen, einen raschen Wechsel von aggressiven oder submissiven Reaktionen auf Bedrohungen zu physiologischen Prozessen, die Chancen für eine Co-Regulation verfügbar machen und fördern. Die von mir wissenschaftlich erforschte und aufgestellte Polyvagal-Theorie und das Narrativ, das sie beschreibt und rechtfertigt, wird stetig weiterentwickelt. Obwohl die Bedeutung dieser Theorie in der Welt der Traumatherapien innerhalb kürzester Zeit erkannt wurde, da sie an die Erfahrungen ihrer Klienten anknüpft, brauchte ich länger, um sie mit der Behandlung von Traumata und anderen Störungen der mentalen Gesundheit in Verbindung zu bringen. Erst die Therapeuten und Klienten machten mich auf den Nutzen der Theorie sowohl in der klinischen Praxis als auch bei der Umgestaltung der autonomen Geschichten von Trauma-Überlebenden aufmerksam.
Deb Dana gehört zu den einfühlsamen und sprachmächtigen Therapeuten und Therapeutinnen, die mich auf die Rolle der Polyvagal-Theorie sowohl in klinischen Verfahren als auch in alltäglichen sozialen Interaktionen aufmerksam machten. Sie begrüßte die Theorie auf Anhieb und trug dazu bei, sie aufgrund ihrer einmaligen Erkenntnisse und Kommunikationsfähigkeit nicht nur für Therapeuten, sondern allgemein für Interessierte zugänglicher zu machen: Sie bietet eine Landkarte, die als Orientierungshilfe dient und zu einem besseren Verständnis unserer persönlichen Rollen in sozialen Interaktionen führt. Sie brachte in ihrer Arbeit klar zum Ausdruck, dass bei Trauma-Erfahrungen nicht die Geschehnisse an sich, sondern vielmehr die Körperempfindungen von ausschlaggebender Bedeutung sind. Ihre Arbeit konzentriert sich auf das zentrale Thema, das den Erfolg polyvagal orientierter Therapien erklärt.
Polyvagal orientierte Therapien verlagern ihren Behandlungsfokus von den traumatischen Ereignissen auf die Körperempfindungen. Hier wurde ein wichtiger theoretischer Transformationsprozess eingeleitet, sowohl im Umgang mit Traumata als auch mit der Einbettung traumatischer Erfahrungen im Nervensystem der Überlebenden. Auf der grundlegenden Ebene betont die Polyvagal-Theorie, dass der physiologische Zustand die intervenierende Kraft ist, die unsere Reaktion auf Hinweise und Kontexte bestimmt. Somit unterstreicht die Theorie, dass wie gesagt nicht das Trauma selbst als überwältigendes Ereignis der entscheidende Faktor für das Ergebnis ist. Ausschlaggebend sind vielmehr die neuronalen Regulationsmechanismen des autonomen Nervensystems, die Bedrohungsreaktionen unterstützen und einer Reorganisation bedürfen. Das schließt die schwerwiegende Bedeutung traumatischer Ereignisse nicht von vornherein aus, berücksichtigt jedoch die erheblichen individuellen Unterschiede im Ergebnis der weit verbreiteten traumatischen Erfahrungen. Die Sichtweise der Polyvagal-Theorie auf Traumata unterscheidet sich vom Fokus der epidemiologischen Forschung, die Maßstäbe wie belastende Kindheitserfahrungen (Adverse Childhood Experiences [ACE]) zugrunde legt und auf den kausalen Zusammenhang spezifischer Ereignisse bei der Konzeptualisierung posttraumatischer Belastungsstörungen (PTBS) verweist. Diese Strategie definiert das Trauma neu und verlagert es von einem inneren auf ein äußeres Ereignis.
Die derzeit vorherrschenden epidemiologischen Modelle gehen davon aus, dass die relevanten Ereignisse bei Traumata, Stress oder Missbrauch anhand eines Kontinuums von Schweregraden quantitativ beurteilt werden können. Die Polyvagal-Theorie verlagert den Dialog vom externen Ereignis auf das intervenierende neuronale System, das sich angesichts einer Bedrohung als verletzlich oder widerstandsfähig erweisen kann. Wenn sich ein Mensch in einem vulnerablen Zustand befindet, können bereits Ereignisse von geringerer Intensität die neuronalen Funktionen stören und das Nervensystem von einem Zustand, der das innere Gleichgewicht unterstützt, in einen verletzlichen Zustand versetzen, der eine autonome Destabilisierung und die sich daraus ergebenden Begleiterkrankungen widerspiegelt. Ist das System jedoch resilient, kann es sogar die Auswirkungen von Ereignissen höherer Intensität abfedern. Die Polyvagal-Theorie weist darauf hin, dass eine tiefgründige Reorganisation des autonomen Nervensystems nach einem traumatischen Ereignis eine adaptive Folgereaktion bei Trauma-Überlebenden ist.
Um diese intervenierende Variable genauer zu erforschen, entwickelten wir einen relativ kurzen Fragebogen (Body Perfection Questionnaire [BPQ]), der die Reaktivität des autonomen Nervensystems bewertet. Die Psychometrie, sprich die Vorgehensweise bei solchen psychologischen Messungen, hat sich bewährt und in mehreren Veröffentlichungen ihren Niederschlag gefunden. (Informationen über den Umfang und das Bewertungssystem finden Sie auf meiner Website stephenporges.com.) Die von meinen Kollegen und mir durchgeführten Studien dokumentieren die tiefgreifende Rolle der autonomen Regulation als intervenierende variable Größe, die damit befasst ist, die Auswirkungen der negativen Vorgeschichte zu mildern. Wenn das autonome Nervensystem von Erwachsenen mit negativer Vorgeschichte auf Bedrohungsreaktionen ausgerichtet war, waren die Folgen gravierender, wie wir feststellen konnten. Das wurde durch zwei unlängst veröffentlichte Studien bestätigt: Die eine konzentrierte sich auf Recherchen zur Sexualfunktion, die andere auf die Erforschung von Reaktionen während der Pandemie, die sich auf die mentale Gesundheit auswirken.
Diese Betonung der Sozialität hat die Polyvagal-Theorie erneuert und ihr eine klinisch relevante Perspektive verliehen. Als die ersten Verfechter vor mehr als 25 Jahren auftauchten, war die medizinische Grundversorgung für die praktische Umsetzung der Theorie von größerer Bedeutung als die mentale Gesundheit. Ich war der Überzeugung, die Theorie würde ihre Zugkraft auch in der Geburtshilfe, Neonatologie, Kinderheilkunde, Kardiologie und in anderen medizinischen Fachbereichen entfalten, die mit atypischen autonomen Funktionen befasst waren. Durch den Austausch mit Deb Dana über ihre Anwendungsmöglichkeiten und Erkenntnisse erhielt die Polyvagal-Theorie völlig neue Bedeutungen, die das Verständnis und die Behandlung von physischen und psychischen Gesundheitsproblemen betreffen. Wenn wir die Kernaussage der Theorie begrüßen, eine soziale Spezies ohne Zugriff auf ihr Erbe als Säugetiere zu sein, wird uns bewusst, dass uns die neuronalen Ressourcen fehlen, die uns ein Gefühl der Sicherheit und die Fähigkeit zur Co-Regulation mit anderen Menschen ermöglichen. Dieses Erbe zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, die nur Säugetieren zu eigen sind: erstens einen neurozeptiven Prozess, der uns erlaubt, Defensivzustände durch die reflexartige Entdeckung von Hinweisen auf Sicherheit herunterzuregulieren, und zweitens einen neuronalen Regelkreislauf, den ventral-vagalen Komplex mit seiner Fähigkeit, sowohl die verkörperten Defensivreaktionen zu reduzieren als auch Hinweise auf Sicherheit über das integrierte System für soziale Verbundenheit (Social-Engagement-System [SES]) bereitzustellen. Dieses Erbe verknüpft Verhalten und psychische Erfahrungen mit definierbaren und messbaren neurophysiologischen Mechanismen, die physische und mentale Gesundheit engmaschig miteinander verbinden und Mythen von ihrer Eigenständigkeit entlarven.
Der Vagus-Nerv als innerer Anker stellt ein ausgeprägtes therapeutisches Problem in den Mittelpunkt, nämlich die Frage, wie es uns gelingen kann, unseren Körper wieder als einen Ort der Sicherheit wahrzunehmen. Es geht darum, uns wieder mit Körperempfindungen vertraut zu machen – ohne die eingeschliffenen, tief verwurzelten Assoziationen mit gefahrvollen Ereignissen. Durch die Entwicklung eines sicheren inneren Ankers könnten wir Gefühle und Empfindungen, die uns anderenfalls aus dem Gleichgewicht bringen würden, unbeschadet erkunden. Der Anker vermittelt uns den stabilen Halt, den wir brauchen, um angstfrei die Verletzungen zu erkunden und nachzuempfinden, die sich noch immer in unserem Körper manifestieren. Dieser Prozess unterstützt den Weg der Heilung, in dessen Verlauf das Nervensystem genug Widerstandskraft aufbaut, um sich mit anderen zu verbinden und auf der Reise durch eine komplexe und oftmals unvorhersehbare Welt wieder Freude und Neugierde zu entdecken, statt überall Bedrohungen zu wittern. In diesem Buch hat Deb Dana eine Sprache gefunden, die allen Lesern ungeachtet ihrer Vorkenntnisse und beruflichen Tätigkeit die Möglichkeit bietet, durch offenkundige Aktivitäten und verborgene Visualisierungen die Wirksamkeit neuronaler Erkundungsübungen zu erfahren, um im übertragenen Sinn dem roten Faden zu einem inneren Gefühl der Sicherheit zu folgen und es fest im Nervensystem zu verankern.
Stephen W. Porges
Einführung
Die Polyvagal-Theorie bietet wissenschaftlich fundierte Erkenntnisse darüber, wie man sich ausreichend sicher fühlt, um sich in das Leben zu verlieben und sich auf dessen vielfältige Risiken einzulassen.
Wir sind darauf programmiert, soziale Bindungen einzugehen. Unser Nervensystem weist eine Struktur auf, die Ausgeglichenheit und Stabilität in sozialen Beziehungen zu anderen Menschen findet. Es lohnt sich, einen Augenblick darüber nachzudenken. Unsere Biologie prägt den Weg, den wir intuitiv einschlagen, um durch das klippenreiche Gewässer des Lebens, der Liebe und der Arbeit zu navigieren. Es gibt gleichwohl eine Möglichkeit, diesen Weg bewusst zu machen und als Ressource zu nutzen, die dem Wohl des Einzelnen, der Familie, der Gemeinschaft und aller Menschen dient. Die Polyvagal-Theorie ist dabei eine Orientierungshilfe. Sie wurde ursprünglich in den 1990er-Jahren von dem US-amerikanischen Psychiater und Neurowissenschaftler Stephen W. Porges entwickelt. Sie erklärt das Phänomen der sozialen Verbundenheit aus wissenschaftlicher Sicht, bietet eine Landkarte des Nervensystems, das uns bei unseren Erkundungen leitet, und weist auf Kompetenzen hin, die wir durch Übung entwickeln und stärken können, um uns selbst und andere in Sicherheit und Selbstregulation zu verankern, wenn Herausforderungen eine Bedrohung für unser inneres Gleichgewicht werden.
Seit 2014 habe ich gemeinsam mit meinem Mentor, Co-Autor, Kollegen und Freund Dr. Porges an der Übertragung der wissenschaftlich fundierten Grundpfeiler der Polyvagal-Theorie in die klinische Praxis gearbeitet. Mit diesem Buch hoffe ich sie noch transparenter zu machen, sodass möglichst viele Menschen Zugang zu ihren Kernkonzepten finden, die zahlreichen Vorteile erfahren und sie als Orientierungshilfe bei der Gestaltung des eigenen Lebenswegs nutzen können.
Eine Grundvoraussetzung ist jedoch die Bereitschaft, sich mit einer neuen Terminologie vertraut zu machen. Begriffe wie Neurozeption, Hierarchie, ventral-vagal, sympathisch und dorsal-vagal mögen auf den ein oder anderen anfangs noch befremdlich wirken. Ich helfe aber dabei, dieses Grundvokabular zu verinnerlichen und sich auf die Sprache des Nervensystems einzulassen. Sie werden in den nachfolgenden Kapiteln sehen, dass ich Fachbegriffe manchmal ersetze oder ergänze, sodass sie leichter zugeordnet werden können: ventral-vagaler Zustand durch Sicherheit, Verbundenheit oder Regulation, sympathischer Zustand durch Mobilisierung oder Kampf-oder-Flucht-Reaktion und dorsaler Zustand durch Dissoziation/Abkopplung, Erstarrung oder Kollaps. Sobald Sie wissen, wie Sie Ihr Nervensystem als Verbündeten gewinnen, steht es Ihnen frei, Ihre eigenen Worte zu finden.
Das autonome Nervensystem des Menschen hat sich im Verlauf vieler Jahrtausende entwickelt, gestützt auf universelle Strukturen, die einen gemeinsamen Nenner quer durch die gesamte Palette menschlicher Erfahrungen haben. Autonom weist in diesem Zusammenhang auf die Funktionsweise eines Systems hin, das auf der unbewussten Ebene an der Regulierung unserer inneren Organe und Körpervorgänge beteiligt ist, Herzschlag, Atemrhythmen, Blutdruck, Verdauung und Stoffwechsel eingeschlossen. Das autonome Nervensystem hat die Aufgabe, Energie zu speichern, zu erhalten und bei Bedarf freizusetzen, damit wir unbeschadet die Herausforderungen unseres Alltags bewältigen.
Die Arbeitsweise dieses Systems ist vorhersehbar, eine mit anderen Menschen geteilte Erfahrung, die uns zusammenbringt. Aus der Perspektive des Nervensystems betrachtet, verstehen wir, dass wir bestrebt sind, uns in einem als sicher wahrgenommenen Zustand zu verankern, der die Verbindung zu uns selbst, zu anderen, zur Welt und zur spirituellen Ebene unterstützt und die Energie bereitstellt, die wir für die Bewältigung unseres Alltags brauchen. Wenn uns die innere Funktionsweise unserer Biologie ein Rätsel ist, haben wir das Gefühl, auf Gedeih und Verderb unbekannten, unerklärlichen und unvorhersehbaren Erfahrungen ausgeliefert zu sein. Sobald wir wissen, wie unser Nervensystem arbeitet, können wir mit ihm zusammenarbeiten. Wenn wir die Kunst beherrschen, uns mit unserem Nervensystem zu verbünden, können wir lernen, dieses auf Lebenserhalt fokussierte System aktiv zu steuern.
Ein reguliertes Nervensystem ist von zentraler Bedeutung, um uns mit einem Gefühl der Sicherheit und inneren Ruhe unseren Weg durch die Welt zu bahnen. Im Verlauf eines Tages werden wir zwangsläufig mit Problemen konfrontiert. Einige lassen sich leichter in den Griff bekommen als andere, doch ungeachtet dessen, wo eine Erfahrung auf einem Kontinuum von milde bis traumatisch verortet ist: Wenn wir die Funktionsweise unseres Nervensystems verstehen, finden wir immer den Weg, der in den Zustand der Regulation zurückführt. Wenn wir lernen, mit unserem Nervensystem zu kooperieren, die Dynamik der verschiedenen Zustände oder Befindlichkeiten nachzuverfolgen und uns in autonomer Sicherheit zu verankern, erscheinen uns die unvermeidlichen Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, nicht mehr ganz so unüberwindlich. Indem wir uns nicht auf das Problem fixieren, sondern unsere Aufmerksamkeit als Erstes darauf konzentrieren, unser System auf den angestrebten Zustand der Sicherheit und Verbundenheit auszurichten, können wir mit einer neuen Sichtweise zu unserem Problem zurückkehren. Fest verankert in einem regulierten System, nehmen neue Optionen und Möglichkeiten Gestalt an.
Wie Sie dieses Buch nutzen können
Unsere Geschichten darüber, wer wir sind und wie wir die Welt sehen, beginnen in unserem Körper. Bevor das Gehirn Gedanken zusammenfügen und sie in Sprache umwandeln kann, leitet das Nervensystem bereits eine Reaktion ein, die entweder zu einer Erfahrung der sozialen Zugewandtheit und Verbundenheit, zu einer mobilisierenden Kampf-oder-Flucht-Reaktion oder zu einer Abkopplung und einem auf den Erhalt des Lebens fokussierten »dissoziativen Shutdown« führt, bei dem wir uns abschotten, dichtmachen, für unsere Umgebung nicht mehr erreichbar sind.
Doch wie gewinnen wir dieses System als Verbündeten? Wie lernen wir, uns darauf einzustimmen, unsere Aufmerksamkeit auf die wichtigen unterschwelligen Informationen unseres Nervensystems zu lenken und diese Hinweise zu nutzen, um aktiv an der Gestaltung unserer Geschichte mitzuwirken? Die achtsame Auseinandersetzung mit dem autonomen Nervensystem beginnt mit dem Verständnis seiner Funktionsweise und der Fähigkeit, uns in jedem Augenblick auf den dynamischen Wechsel zwischen Aktivität, Rückzug und sozialer Zugewandtheit einzulassen. Mit dieser Achtsamkeit können wir nicht nur die Gewohnheit entwickeln, das System sanft und auf neue Weise zu reorganisieren, sondern auch das Gefühl der inneren Ruhe und Gelassenheit genießen. Dieses Gefühl leitet sich aus einem Leben mit einem Nervensystem ab, das flexibel auf die gewöhnlichen – und bisweilen außergewöhnlichen – Herausforderungen reagiert, die uns jeden Tag auf eine harte Probe stellen.
Die Kapitel in diesem Buch bieten überschaubare Schritte an, sodass man sich sukzessive mit seinem Nervensystem vertraut machen kann. Sie bauen aufeinander auf, nach und nach wird sich das Ganze erschließen. Jedes Kapitel enthält praktische Übungen, Erdkundungsübungen genannt, um den theoretischen Teil körperlich erfahrbar zu machen. Viele enthalten einen Vorschlag, wie Sie Ihre Erkenntnisse und Entdeckungen dokumentieren können, um sie besser in Ihrem Gedächtnis abzuspeichern. Dokumentieren bedeutet, dass Sie sowohl Worte als auch Bilder verwenden können. Manchmal finden Sie vielleicht einen Begriff oder mehrere Stichwörter hilfreich, um sich an eine Information zu erinnern, während Sie zu anderen Zeiten vielleicht längere Abhandlungen, Schaubilder und Farben vorziehen, um etwas Wichtiges festzuhalten. Jede Einladung zu einer Dokumentation ist eine Einladung zu entscheiden, wie Sie Ihre Erkenntnisse und Entdeckungen im Gedächtnis speichern und abrufen möchten.
In diesem Buch lernen Sie die wissenschaftlich fundierten Grundprinzipien der Polyvagal-Theorie kennen, die Sie mithilfe der Erdkundungsübungen in Ihren Alltag integrieren und dadurch mit Leben füllen können. Ich hoffe, dass Sie die Welt im Anschluss aus einer neuen Perspektive betrachten und die wirkmächtigen Vorteile genießen, die mit der Entdeckung Ihres persönlichen Wegs zu innerer Ruhe, Gelassenheit und dem Gefühl der Verbundenheit einhergehen.
Dieser Prozess, das Nervensystem als Verbündeten zu gewinnen, stellt eine kontinuierliche Entdeckungsreise dar. Ich erkunde dieses Terrain bereits seit langer Zeit und möchte meine Erkenntnisse und Erfahrungen mit Ihnen teilen. Und genau wie Sie sehe ich mich jeden Tag aufs Neue Herausforderungen gegenüber oder gerate in Situationen, in denen Chaos herrscht und ich meinen Anker im Zustand der »ventral-vagalen Sicherheit und Regulation« verliere. Wenn das geschieht, brauche ich mir nur vor Augen zu halten, wie ich mein Wissen über die Funktionsweise des Nervensystems in die Praxis umsetzen muss, um den Weg zurück zu finden.
Im Rahmen meiner ersten klinischen Schulungen erklärte ich den Teilnehmern, dass sie herzlich willkommen sind in der polyvagalen Familie, die infolge meiner Zusammenarbeit mit Dr. Porges entstanden war. Diese polyvagale Familie hat sich inzwischen zu einer globalen polyvagalen Community ausgeweitet, fühlt sich aber nach wie vor wie eine weit verzweigte Familie an. Ich lade daher alle Leserinnen und Leser des Buches ein, sich dieser wachsenden polyvagalen Familie anzuschließen und eine neue Sprache der menschlichen Verbundenheit zu finden.
1.
Grundprinzipien und Schlüsselelemente der Polyvagal-Theorie
Im Rahmen seiner Arbeit mit frühgeborenen Kindern während der 1970er- und 1980er-Jahre erkannte der US-amerikanische Professor für Psychiatrie Dr. Stephen W. Porges, welche Bedeutung zwei vagalen Leitbahnen im Nervensystem zukommt, die an der Regulierung der Herzschlagfrequenz beteiligt sind und durch ihre Aufzweigungen eine Verbindung zwischen Gesicht und Herz herstellen; über diese Kommunikationskanäle vermitteln wir anderen, was innerhalb unseres Körpers geschieht. Seine Entdeckungen trugen zur Definition der Polyvagal-Theorie bei, die uns eine Möglichkeit bietet, unser autonomes Nervensystem besser zu verstehen und mit ihm zusammenzuarbeiten.
Das autonome Nervensystem könnte man also auch als automatisches Nervensystem bezeichnen, da es die grundlegende Organisation aller Vorgänge in unserem Körper übernimmt (zum Beispiel Atmung, Herzfrequenz, Verdauung), ohne dass wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten müssen. Das Gute daran ist, dass dieses System nicht allein auf ein vorprogrammiertes Umfeld beschränkt ist, in dem es automatisch funktioniert, sondern mithilfe der Polyvagal-Theorie angepasst und justiert werden kann. Voraussetzung ist, dass wir die drei folgenden Grundprinzipien verstehen:
Abbildung 1.1: Drei Bausteine und die daraus abgeleiteten Eigenschaften
Autonome Hierarchie: Die Bausteine des Erfahrens und Erlebens
Im Verlauf des Evolutionsprozesses kristallisierten sich nacheinander drei Bausteine oder Subsysteme heraus: der dorsal-vagale Komplex (Shutdown) vor etwa 500 Millionen Jahren, der sympathische Komplex (Aktivierung) vor rund 400 Millionen Jahren und der ventral-vagale Komplex (soziale Verbundenheit) vor ungefähr 200 Millionen Jahren. Diese entwicklungsgeschichtlich bedingte Reihenfolge, autonome Hierarchie genannt, ist der Schlüssel zum Verständnis, wie sich unser Nervensystem reguliert und auf tägliche Herausforderungen reagiert. Jeder dieser Bausteine hat eine bestimmte Funktionsweise herausgebildet, die über Kommunikationskanäle innerhalb des Körpers unsere Biologie beeinflusst und sich auf unsere Psyche auswirkt, indem sie bestimmt, wie wir die Welt sehen, empfinden und mit ihr in Kontakt treten.
Der ventral-vagale Baustein, der jüngste des Trios, ebnet den Weg zu Gesundheit, Wohlbefinden und einem Platz im Gefüge der Welt, an dem wir unser Leben als steuerbar einstufen. Wir knüpfen soziale Beziehungen und kommunizieren mit anderen, treten vielleicht einer Gruppe bei oder sind auch allein glücklich und zufrieden. Die üblichen Irritationen und Ärgernisse des Alltags fühlen sich nicht überwältigend an, und wenn wir Kaffee verschütten oder auf dem Weg zur Arbeit in einen Stau geraten, reagieren wir nicht mit Wut oder Angst, sondern sind imstande, uns dem Fluss des Lebens anzupassen.
Auf der nachfolgenden Stufe des hierarchisch geordneten Schaltkreises gelangen wir zu Aktivitäten, die vom Sympathikus gesteuert werden, wenn beispielsweise zu viele Dinge gleichzeitig unsere Aufmerksamkeit beanspruchen oder das Leben wie eine Abfolge endloser Herausforderungen erscheint. Dieser Zustand tritt im Allgemeinen im Kontext von Kampf-oder-Flucht-Entscheidungen auf. Wenn es den Anschein hat, als würde unsere To-do-Liste nie kürzer, wenn wir immerzu kämpfen müssen, um finanziell über die Runden zu kommen, oder wenn wir den Eindruck haben, unser Partner sei ständig mit anderen Dingen beschäftigt, verlieren wir sowohl das Gefühl, sicher im Hier und Jetzt verankert zu sein, als auch unsere Fähigkeit, das übergeordnete Bild zu sehen. Dann reagieren wir entweder mit Angriff oder Flucht.
Wenn wir über einen langen Zeitraum das Gefühl haben, in einem Teufelskreis der Herausforderungen gefangen zu sein, ohne einen Ausweg zu entdecken, gelangen wir zur letzten Stufe der Hierarchie, dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Baustein des Nervensystems und einem dorsal-vagalen Zustand, der durch einen innersystemischen Kollaps, Shutdown und Abkopplung gekennzeichnet ist. Herausforderungen wie verschütteter Kaffee, die niemals endende To-do-Liste oder der Partner, der ständig abwesend erscheint, sind für uns nicht länger von Bedeutung. Wir haben begonnen, innerlich zu erstarren und uns von unseren Gefühlen abzukoppeln. Vielleicht erwecken wir noch den Anschein, aktiv zu sein, gehen aber nach Schema F vor, ohne die Energie aufzuwenden, uns wirklich einzubringen. Wir verlieren die Hoffnung, dass sich jemals etwas ändern wird. Und da unser Nervensystem einer vorhersehbaren Sequenz folgt, wenn es sich von einem Baustein zum anderen bewegt, gilt es, den Weg zur Erschließung von Energie im sympathischen System zu finden und gezielt eine Regulation des ventral-vagalen Zustands anzustreben, um den Absprung von dieser Stufe des Zusammenbruchs zu schaffen und zu regenerieren.
Eine gute Möglichkeit, sich mit den drei Bausteinen vertraut zu machen, ist die Erkundung von zwei Aussagen: »Die Welt ist …« Und: »Ich bin …« Wenn Sie die Worte finden, die Ihre Sicht auf die Welt und Ihren Platz darin beschreiben, fokussieren Sie die Aufmerksamkeit auf die Überzeugungen, die in jedem Baustein gespeichert sind. Beginnen Sie im dorsalen Komplex – mit dem Baustein auf der untersten Stufe der Hierarchie –, und spüren Sie der Erfahrung der Abschottung, des Kollapses und des Shutdowns nach. Ergänzen Sie die beiden Aussagen »Die Welt ist …« und »Ich bin …« – Sie stellen vielleicht fest, dass die Welt aus dieser Perspektive abweisend, düster oder nichtssagend erscheint und Sie sich nirgendwo zugehörig, verlassen oder verloren fühlen. Begeben Sie sich nun auf die nächsthöhere Stufe, und erkunden Sie die beiden Aussagen im überwältigenden Fluss der Energie, der den sympathischen Komplex kennzeichnet. Vielleicht kommt er ihnen chaotisch, nicht steuerbar oder erschreckend vor, und Sie haben das Gefühl, in diesem Zustand der Desorganisation und Konfusion keine Kontrolle mehr zu haben, fehlreguliert oder in Gefahr zu sein. Und nun gehen Sie die letzte Stufe hinauf zum Baustein an der Spitze der Hierarchie, in den Zustand der ventral-vagalen Sicherheit und Regulation. Ergänzen Sie auch hier die Aussagen »Die Welt ist …« und »Ich bin …«: Auf dieser Ebene erleben Sie die Welt vielleicht als freundlich, schön und einladend, als eine Aufforderung zu sozialer Interaktion und dem Gefühl, »okay« zu sein, lebendig und rundum zufrieden, erfüllt von dem Wissen um die vielfältigen Möglichkeiten, die Ihnen offenstehen. Wenn wir auf diese Weise mit der autonomen Hierarchie arbeiten, beginnen wir die verschiedenen Erfahrungen zu verstehen, die von jedem einzelnen autonomen Zustand erzeugt werden. Das Nachdenken über die beiden Aussagen »Die Welt ist …« und »Ich bin …« hat eine dramatische Veränderung unserer persönlichen Geschichte zur Folge, während wir von einem Selbstzustand in den anderen, von einem Baustein zum anderen überwechseln.
Neurozeption: Das innere Überwachungsprogramm
Das zweite Schlüsselprinzip der Polyvagal-Theorie, das innere Überwachungsprogramm, wird durch das anschauliche Wort Neurozeption beschrieben. Stephen Porges prägte den Begriff, um zu zeigen, wie das autonome Nervensystem (Neuro-) die Sicherheits- und Gefahrensignale mit allen Sinnen wahrnimmt ([Per]zeption). Stufen wir eine Situation als sicher ein, wagen wir uns in die Welt hinaus und treten in soziale Verbindungen ein. Bewerten wir eine Situation als potenzielle Gefahr, neigen wir zu einem sympathisch gesteuerten Kampf-oder-Flucht-Verhalten, während die Wahrnehmung einer Lebensbedrohung zu einem dorsal-vagalen Kollaps und dissoziativem Shutdown führt.
Der Prozess der neurozeptiven Überwachung folgt drei Wahrnehmungsströmen: dem inneren, dem äußeren und dem interaktiven Wahrnehmungsstrom. Das innere Zuhören ist auf die Geschehnisse innerhalb des Körpers – Herzschlag, Atemrhythmen und Muskelaktivität – und innerhalb der Organe fokussiert, vor allem auf diejenigen, die an Verdauungsvorgängen beteiligt sind. Das äußere Zuhören beginnt in der unmittelbaren Umgebung (am physischen Standort) und dehnt seinen Radius dann auf die weiter gefasste Welt aus, auf die Nachbarschaft, das eigene Land und auf die globale Gemeinschaft. Der dritte Wahrnehmungsstrom, das interaktive Zuhören, ist auf den Austausch des Nervensystems mit anderen Nervensystemen zugeschnitten, entweder auf einer Eins-zu-eins-Basis oder bei Kontakten mit einer Gruppe von Leuten. Diese drei Ströme des verkörperten Zuhörens sind stets aktiv, von einem Mikromoment zum nächsten, jedoch unterhalb der bewussten Wahrnehmungsebene. Das neurozeptive Überwachungsprogramm, das im Hintergrund Regie führt, stößt die autonomen Veränderungen unseres Selbstzustands an, die uns entweder zur sozialen Kontaktaufnahme mit Menschen, Orten und Erfahrungen einladen oder uns von dem Bedürfnis nach sozialer Verbundenheit entfernen und Schutzverhalten wie Kampf, Flucht oder Shutdown fördern. Unsere persönliche Geschichte, wie wir denken, fühlen und handeln, beginnt mit dem neurozeptiven Überwachungsprogramm. Dieses Programm lässt sich nicht willentlich beeinflussen, wohl aber die Reaktion unseres Körpers auf seine Bewertungen. Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf die neurozeptiven Prozesse lenken, rücken wir eine unbewusste, unterschwellige Erfahrung ins Bewusstsein. Wir können mit dieser Erfahrung arbeiten, indem wir sie explizit zur Kenntnis nehmen und unsere Aufmerksamkeit auf den Zustand richten, der sich dabei manifestiert. Wenn wir die Reise auf dem Pfad zum Bewusstsein antreten, verbinden wir uns mit unseren Gefühlen, Überzeugungen, Verhaltensweisen und letztlich mit unserer Geschichte, die uns durch den Tag bringt. Wenn wir lernen, auf unsere neurozeptiven Prozesse zu achten, können wir damit beginnen, unsere Geschichte neu zu erzählen.
Co-Regulation: Das vorprogrammierte Bedürfnis nach Verbundenheit
Das dritte Prinzip der Polyvagal-Theorie spricht das Bedürfnis an, in der Co-Regulation eine sichere Verbindung zu anderen Menschen zu finden. Co-Regulation, die Steuerung affektiver Zustände mithilfe anderer Personen, ist eine unerlässliche Erfahrung, die schlussendlich dem Erhalt des Lebens dient. Wenn wir das Licht der Welt erblicken, können wir noch nicht für uns selbst sorgen und sind in den ersten Lebensjahren auf die Fürsorge anderer angewiesen. In dieser Zeit, in der wir physisch außerstande sind, uns in eigener Regie zu organisieren, Impulse zu kontrollieren und unser Verhalten zu steuern, wenden wir uns Bezugspersonen zu, damit sie sich um unsere überlebenswichtigen körperlichen und emotionalen Bedürfnisse kümmern. Diese ersten Co-Regulationserfahrungen stellen das Fundament dar, auf dem wir aufbauen können, um unsere Fähigkeit zur Selbstregulation zu erproben.
Selbst wenn wir lernen, unsere Emotionen, Impulse und Verhaltensweisen selbst zu steuern, besteht die Notwendigkeit der Co-Regulation fort. Sie ist ein zentraler Bestandteil des Wohlbefindens und eine Herausforderung, die es zu verhandeln gilt. Wir haben das Bedürfnis, uns in Gegenwart eines anderen Menschen sicher zu fühlen, und diesem ergeht es genauso; deshalb müssen beide einen Weg finden, miteinander in Kontakt zu treten, um die autonomen Zustände auf beiden Seiten zu »scannen« und zu steuern. Wir wenden uns Freunden zu, wenn wir jemanden brauchen, der uns zuhört, oder suchen Hilfe bei einem Familienmitglied. Wir verlassen uns auf bestimmte Bezugspersonen in unserem Leben, die über ein starkes Selbststeuerungssystem verfügen und in der Lage sind, uns aufzubauen, wenn wir Unterstützung benötigen.
Obwohl sich die Welt zunehmend auf die Fähigkeit zur Selbstregulation und den Wunsch nach Unabhängigkeit zu fokussieren scheint, bildet die Co-Regulation ein unerlässliches Fundament, um sicher durch das klippenreiche Gewässer unseres Alltags zu steuern.
Wir haben ein ganzes Leben lang das Bedürfnis, zwischenmenschliche Verbindungen einzugehen, und halten Tag für Tag nach Gelegenheiten für eine Co-Regulation Ausschau.
Mit diesen drei Schlüsselprinzipien der Polyvagal-Theorie – autonome Hierarchie, Neurozeption und Co-Regulation – haben wir nicht nur die Möglichkeit, die Rolle der Biologie bei der Prägung unserer Weltsicht zu erkennen, sondern sie auch als Orientierungshilfe auf dem Weg zu physischem und psychischem Wohlbefinden zu nutzen.
Die drei Elemente des Wohlbefindens
Wenn wir die drei Schlüsselprinzipien der Polyvagal-Theorie verstehen – die Bausteine der Hierarchie, das innere neurozeptive Überwachungsprogramm und die Co-Regulation mit anderen Menschen –, haben wir die Chance, unser Nervensystem als Verbündeten zu gewinnen. Als Nächstes fügen wir drei Grundelemente des Wohlbefindens hinzu – Kontext, Wahlmöglichkeiten und Verbundenheit –, die dazu beitragen, unser autonomes Nervensystem in Sicherheit und Regulation zu verankern. Sind diese drei Elemente vorhanden, fällt es uns leichter, den Weg zu finden, der in den Zustand der Regulation führt. Fehlt eines dieser Elemente, haben wir das Gefühl, aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, und fühlen uns unwohl.
Das Wort Kontext leitet sich aus dem Lateinischen contexere her und bedeutet verknüpfen, verflechten
Das zweite unverzichtbare Element für ein reguliertes Nervensystem sind die Wahlmöglichkeiten. Sind sie vorhanden, können wir immer noch entscheiden, ob wir uns auf eine Situation einlassen oder sie vermeiden, auf andere zugehen oder uns zurückziehen sollen, um uns zu schützen. Sind die Wahlmöglichkeiten eingeschränkt oder werden sie uns genommen, haben wir das Gefühl, in der Falle zu sitzen und beginnen irgendwann, nach einem Ausweg Ausschau zu halten. Im Zuge dieser Suche nach Optionen, die letztlich dem Erhalt unseres Lebens dienen, spüren wir vielleicht die mobilisierende Energie des sympathischen Nervensystems, gepaart mit Angst oder Wut, oder wir spüren, dass unsere Energie schwindet, wenn sich ein dorsal-vagaler Kollaps anbahnt. Selbst wenn wir ganz alltäglichen Aktivitäten nachgehen, fühlen wir uns eher in Sicherheit und Regulation verankert, sofern uns mehrere Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Am anderen Ende der Erfahrungsskala fühlen wir uns, angesichts schier unbegrenzter Wahlmöglichkeiten, vielleicht verloren wie ein Schiff auf hoher See, unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Zu viele Optionen können uns überfordern und zur Folge haben, dass wir uns an einen rigiden, zu restriktiven Handlungsrahmen klammern. Wir alle haben einen neuralgischen Punkt, an dem wir unsere Grenzen erreichen und einen Rahmen für unsere Entscheidungen und Routineaktivitäten schaffen, der ein gewisses Maß an Flexibilität einschließt.
Das letzte Element eines regulierten Nervensystems, die Verbundenheit, fördert den Aufbau sozialer Beziehungen. Die Erfahrung der Verbundenheit umfasst vier Bereiche: Verbundenheit mit dem Selbst, Verbundenheit mit anderen Menschen (und Haustieren), Verbundenheit mit der Natur und der Welt, die uns umgibt, und Verbundenheit mit der spirituellen Ebene/dem Universum/ einer höheren Macht. Infolge dieser Verbundenheit fühlen wir uns sicher verkörpert, begleitet von anderen wichtigen Personen auf unserem Lebensweg, zu Hause in unserem Umfeld, in Einklang mit uns selbst und allem, was ist. Wird dieses Gefühl der Verbundenheit brüchig (wenn wir unser Selbstgefühl verlieren, mit einem Fehlverhalten in der Partnerschaft konfrontiert werden, von der Natur abgeschnitten sind oder auf Distanz zur spirituellen Ebene gehen), wird unsere Fähigkeit, uns in Sicherheit und Regulation zu verankern, einem Lackmustest unterzogen, auf den wir mit der Suche nach zwischenmenschlicher Kommunikation und sozialen Beziehungen reagieren. Gerät dieses Gefühl der Verbundenheit über einen langen Zeitraum immer wieder durch Brüche ins Wanken, gehen wir oft aus Verzweiflung auf andere zu, um soziale Kontakte zu knüpfen, bevor wir uns zurückziehen und in Hoffnungslosigkeit versinken.
Da wir nun mit den Organisationsprinzipien der Polyvagal-Theorie und den Schlüsselelementen eines regulierten Systems vertraut sind, können wir uns der Erforschung und praktischen Erkundung der autonomen Leitungspfade widmen; die Erdkundungsübungen dienen dazu, das Nervensystem nachhaltig zu beeinflussen, seinen Beitrag zum Gefühl des Wohlbefindens zu leisten.