Das Lager
Fantasy-Thriller
Deutschland, in den letzten Kriegstagen 1945:
Der Offizier Stefan Preußler wird in das Konzentrationslager Finstertann im Bayerischen Wald versetzt. Er bemerkt früh, dass hier nichts so ist, wie es sein sollte. In den Baracken tauchen immer wieder Menschen auf, die längst tot sind, und im Wald treibt sich eine unheimliche Kreatur herum, die Jagd auf die Soldaten macht.
Stefan wird von dem Kommandanten Manfred Lorenz damit beauftragt, die mysteriösen Vorfälle zu untersuchen. Während seiner Ermittlungen lernt er die Jüdin Rachel Blumberg kennen – und lieben. Gemeinsam mit ihr stößt er auf einen uralten Fluch, der die Toten nicht ruhen lässt und ganz Finstertann zu vernichten droht.
Stefan setzt alles daran, die Häftlinge im Lager zu retten. Er ahnt jedoch nicht, dass sich unterhalb von Finstertann ein weiteres Geheimnis verbirgt. Eines, das ihn an den Rand seiner Vorstellungskraft bringt – und den Krieg entscheidend verändern kann ...
Thomas Paul, Jahrgang 1980, lebt und arbeitet in der Nähe von Stuttgart. Er schreibt nicht nur Fantasy-Romane und Thriller für Erwachsene, sondern auch Jugendbücher.
Mehr Infos über seine neuesten Projekte finden Sie auf seiner Homepage.
E-Mail: thomaspaul-autor@web.de
Internet: thomaspaul-autor.de
Die Soldaten kamen um Mitternacht und holten die Häftlinge aus Baracke 17.
Zum Duschen, dachte Samuel. Doch er wollte nicht duschen. Er war erst neun Jahre alt und verstand nicht allzu viel von dem, was hier vor sich ging, aber er hatte längst erkannt, dass mit den Duschen irgendwas nicht stimmte. Jedes Mal, wenn die Erwachsenen darüber sprachen, tuschelten sie ängstlich hinter vorgehaltener Hand. Sein Freund Joshua war letzte Woche zum Duschen gegangen und seitdem verschwunden, und Samuels Vater musste gestern ebenfalls in diese komische Dusche unter der Erde. Und auch er hatte sich bis jetzt nicht zurückgemeldet. Nein, fand Samuel, mit den Duschen in diesem Konzentrationslager stimmt etwas ganz und gar nicht. Er hatte ja schon immer gewusst, dass Waschen ungesund war!
Die deutschen Soldaten sahen das natürlich vollkommen anders.
Sie schwärmten nahezu von ihrer Dusche und sorgten gewissenhaft dafür, dass die Körperpflege ihrer Gäste nicht zu kurz kam. Warum sonst hätten sie mitten in der Nacht in die Baracke kommen sollen? Sie sprengten mit einem Stiefeltritt die Tür auf und stürmten brüllend ins Innere; schwer bewaffnet mit Gewehren sowie zwei Schäferhunden, die an ihren Ketten zerrten und ein wütendes Gebell anstimmten.
»Alle aufstehen!«, schrie der befehlshabende SS-Offizier. Auf seiner Uniform und der Mütze glitzerten Schneeflocken, und sein Atem dampfte in der Kälte wie der eines menschenfressenden Drachen. »Wird’s bald?«
Gleichzeitig betätigte ein Soldat den Lichtschalter neben der Tür. An der Decke sprangen mehrere Glühlampen an und rissen die Baracke aus ihrer schläfrigen Dunkelheit. Die Frauen und Kinder hatten sich erst vor einer Stunde in die Stockbetten gepfercht, um sich von dem arbeitsreichen Tag auszuruhen, und deshalb hoben die meisten von ihnen im ersten Moment nur müde die Köpfe.
Der Offizier zeigte jedoch keine Geduld mit ihnen. Er trat an das erstbeste Bett heran, packte zwei Mädchen und zog sie ungestüm in die Höhe. »Aufstehen, habe ich gesagt!«
Die Mädchen kreischten und schlugen so hart auf den Holzboden, dass zwischen den Brettern eine Staubwolke emporstieg. Ihr Schmerz schien wie ein Lauffeuer über die anderen Frauen und Kinder zu rasen, denn plötzlich beeilten sich alle umso mehr, aus ihren Betten zu klettern. Hastig schlugen sie die Wolldecken beiseite, streiften sich die Schuhe über, angelten ihre Jacken von den Wandhaken. Trotzdem reagierten sie nicht schnell genug. Der Offizier brüllte pausenlos weiter. Die Hunde kläfften in einer donnernden Lautstärke und die Soldaten verteilten wahllos Faustschläge, um die Frauen und Kinder zu einem noch höheren Tempo anzutreiben.
Samuel bekam von alledem nicht viel mit.
Er lag mit seiner Mutter Judith ganz hinten in der Baracke und konnte nur einzelne Umrisse von den Soldaten erkennen. Vielleicht wäre er sogar wieder eingeschlafen, wenn Judith ihn nicht rigoros aus dem Bett gedrängt hätte. »Mach schon, beeil dich!«, forderte sie, während sie Samuel rasch die Jacke und Schuhe überstülpte. Zum Schluss nahm sie seine blauweiß-gestreifte Mütze und zog sie ihm so weit über den Kopf, dass Samuel kaum mehr etwas sah. Ob sie das wohl mit Absicht tat? Denn in ihren Augen flackerte ein seltsamer Ausdruck; einer, den Samuel nie zuvor bei ihr gesehen hatte, aber der ihn sofort in Unruhe versetzte.
»Kann ich nicht hierbleiben? Ich habe mich doch schon vorhin gewaschen.« Samuel präsentierte ihr zum Beweis alle zehn Fingerchen. »Siehst du? Ich bin ganz sauber.«
Judiths Mundwinkel zuckten. Vielleicht hätte ein Lächeln daraus werden sollen, doch es starb gleich wieder ab. »Ich fürchte, das geht nicht«, sagte sie bedrückt. Gleichzeitig ballte sie ihre Hand fest um die von Samuel zusammen. Nicht, um ihn zu schützen, sondern um Halt zu suchen. Denn ihr Herz klopfte so stark, dass Samuel ihren Puls wie einen leichten Stromschlag auf der Haut spüren konnte. »Komm jetzt, wir dürfen die Soldaten nicht warten lassen.«
Judith drehte sich mit Samuel um.
Die anderen Häftlinge hatten sich inzwischen vor den Stockbetten brav in einer Reihe aufgestellt. Viele Mädchen weinten, einige Jungen zitterten. Die meisten Frauen dagegen blieben stumm und trugen denselben düsteren Gesichtsausdruck, der auch von Judith Besitz ergriffen hatte. Als ob man sich hier mit Reißnägeln duschen müsste, fand Samuel.
Er wandte sich wieder seiner Mutter zu und stellte fest, dass ihre Lippen bibberten. Jene Lippen, die früher so schön rot gewesen waren, aber jetzt in der Kälte so grau und spröde wie ein alter Putz aussahen. Und auch ihr restlicher Körper bebte unter der Jacke so sehr, dass Samuel beinahe ihre Knochen klappern hörte.
Er lächelte aufmunternd. »Keine Sorge, Mama«, sagte er. »Wir müssen doch nur duschen. Ich glaube sogar, dass das Wasser dort warm ist.«
Judith lächelte jetzt ebenfalls. Kurz und wehmütig. »Ja, Schatz«, bestätigte sie. »Ich bin mir sicher, dass wir es gleich warm haben werden.« Sie sah schüchtern nach vorne, lotete die Situation aus. »Hör zu, Samuel. Du musst mir versprechen, dass du deine Augen schließen und dir die Ohren zuhalten wirst, wenn ich es dir sage.«
»Aber warum soll ich ...?«
»Versprich es mir einfach!« Judiths Stimme war nur ein gedämpftes Flüstern, aber so scharf wie ein Messer.
Samuel hatte auch diesen Ton noch nie von ihr gehört, und deshalb antwortete er aus reinem Reflex: »In Ordnung, Mama. Ich verspreche es.«
Judith nickte und lächelte ein zweites Mal, jetzt viel authentischer. »Ich liebe dich. Bitte vergiss das niemals.« Sie beugte sich zu ihm herab und drückte einen Kuss auf seine Stirn. Ihre Lippen kratzten wie ein Stück Schleifpapier.
»Bäh, Mama!«, protestierte Samuel. »Jetzt brauche ich wirklich eine Dusche ...«
»Ruhe da hinten!«, fauchte eine Stimme.
Samuel verschluckte den Rest seiner Worte, und auch sonst wurde es auf einmal drückend still in der Baracke. Niemand schluchzte oder heulte mehr, und kaum jemand zitterte noch. Alle standen nur stocksteif da und machten sich gefasst auf ... nun, was immer gleich passieren mochte.
Allzu lange mussten sie sich nicht gedulden.
Der Offizier erteilte den Häftlingen in der vordersten Reihe einen knappen Befehl, worauf sich diese gehorsam in Bewegung setzten. Die anderen trotteten ihnen im Gänsemarsch hinterher, durch die Tür ins Freie. Sie wurden von der eisigen Kälte empfangen, die das Lager seit Wochen in der Gewalt hatte. Aber sehr viel schlimmer als das war der raue Wind, der durch die Nacht pfiff. Als Samuel aus der Baracke trat, befürchtete er kurz, einer der Schäferhunde hätte ihn gebissen. Denn der Wind fuhr mit hundert spitzigen Zähnen durch seine Jacke und raubte ihm binnen eines Atemzugs jegliche Wärme.
Spätestens jetzt hätten sich die Frauen und Kinder auf eine heiße Dusche freuen und schneller vorangehen müssen. Stattdessen versteiften sie mit jedem Meter ein bisschen mehr, den sie sich von der Baracke entfernten. Die Soldaten sorgten jedoch dafür, dass keiner von ihnen stehenblieb oder unterwegs verlorenging. So viel Fürsorge hätte Samuel den Deutschen gar nicht zugetraut. Normalerweise mochte er sie nämlich nicht. Aber – pst! – das musste geheimbleiben, verstanden? Die Deutschen sahen immer so grimmig drein, waren überaus streng und zwangen Samuel, diese albernen Klamotten mit den Streifen und dem Judenstern zu tragen. Dabei hätte er viel lieber eine schnieke Uniform wie die Deutschen gehabt. Eine, die aus reißfestem Drillich genäht war und am Kragen diese silbernen Totenkopf-Abzeichen besaß. Bestimmt fror man in diesen Uniformen auch nicht so erbärmlich ...
Unterdessen stapfte Samuel mit den anderen über die Hauptstraße des Lagers. Von den Wachtürmen schwenkten mehrere Suchscheinwerfer herum und leuchteten ihnen den Weg. Und aus den Fenstern der anderen Baracken linsten zahllose Häftlinge und sahen ihnen heimlich hinterher. Samuel winkte den Frauen und Männern hinter den Glasscheiben zu, aber keiner von ihnen winkte zurück oder lächelte. Nun denn, dachte er. Offenbar mögen auch sie die Dusche nicht.
»Samuel!«, zischte Judith. Sie zog ihn so ruppig weiter, dass er beinahe ausgerutscht wäre. Auf der Straße hatte sich eine zentimeterdicke Eiskruste gebildet, und von den tiefhängenden Wolken stoben dicke Schneeflocken herab, als würde Frau Holle gerade alle Betten der Wehrmacht ausschütteln. In einer Nacht wie dieser konnte man sich hier draußen sprichwörtlich den Hintern abfrieren. Bloß gut, dass Samuel und die anderen gleich am Ziel waren.
In der Ferne tauchte schon das Backhäuschen auf, in dessen Keller sich die Dusche befand. Samuel zweifelte jedoch seit Tagen daran, ob es wirklich ein Backhäuschen war. Seine Mutter hatte das Ziegelsteingebäude am Rande des Lagers einmal so genannt, als er sie danach gefragt hatte. Aber komischerweise hatte noch nie jemand auch nur einen Laib Brot aus diesem Häuschen gebracht, obwohl es zwei Schornsteine und vier Öfen besaß. Die Deutschen schienen offenbar nicht allzu viel vom Backen zu verstehen ...
Plötzlich ging ein spürbarer Ruck durch die Frauen und Kinder.
Beim Anblick des Häuschens gerieten einige so jäh ins Stocken, dass die anderen hinter ihnen einen Schritt zur Seite weichen mussten, um sie nicht anzurempeln. Eine alte Frau murmelte ein hebräisches Gebet. Eine Mutter schlug ein Kreuz vor der Brust. Und allmählich begannen nicht nur die Mädchen zu weinen, sondern auch die meisten Jungen. Samuel hatte noch immer keine Ahnung, warum sich alle so seltsam benahmen, aber in der nächsten Sekunde wurde er ebenfalls von einer bösen Vorahnung erfasst. Er entdeckte einen Soldaten, der sich eine Gasmaske aufgesetzt hatte und soeben eine Blechdose hinter das Backhäuschen trug. Er hörte die Hunde, die jetzt so heftig an den Ketten zerrten, dass ihre Herrchen alle Mühe hatten, sie zu bändigen. Und er roch die Angst der Frauen und Kinder.
Ja, richtig: Samuel konnte ihre Angst riechen.
Ein saurer, penetranter Gestank, fast wie der einer Leiche.
Irgendwas Unheilvolles musste da vorne auf sie lauern. Etwas, von dem niemand zurückkam. So wie Joshua und Papa. Und allmählich verstand Samuel auch, was der Ausdruck in Judiths Gesicht bedeutete: Es war Panik. Die nackte, ohnmächtige Panik einer Frau, die wusste, dass gleich etwas Furchtbares passieren würde.
Ich will nicht duschen gehen.
Der Gedanke rollte nicht zum ersten Mal durch Samuels Kopf, aber nun konnte er ihn ebenso wenig bändigen, wie die Soldaten ihre Hunde.
Er versteinerte mitten im Schritt.
Judith wollte ihn sofort wieder mit sich zerren, aber diesmal hatte Samuel seine Füße so fest auf dem Boden verankert, dass seine Mutter ebenfalls zum Stehen kam. Als sie den Kopf zu ihm wandte, waren ihre Augen ganz glasig geworden und aus ihrem Gesicht jegliche Farbe gewichen. Trotzdem fauchte sie Samuel garstig an: »Was ist denn nun schon wieder?«
»Ich will nicht weitergehen, Mama.« Samuel sah zu dem Backhäuschen und musterte die Schornsteine, aus denen dunkelgraue Asche stob. »In der Dusche geht irgendwas Unheimliches vor.«
»Unsinn. Und jetzt komm! Bitte«, fügte Judith eindringlich hinzu. Sie bemerkte recht schnell, dass ihre Worte wirkungslos an Samuel abprallten, und so schusterte sie ein weiteres Lächeln zusammen. »Vielleicht triffst du in dem Backhäuschen gleich deinen Freund Joshua wieder? Oder Papa?«
Samuel ließ sich tatsächlich kurz von dieser Hoffnung anstecken. Aber er durchschaute praktisch im selben Moment die Lüge und schüttelte den Kopf.
Judith ballte ihre Hand noch strammer um seine Finger zusammen und spannte ihre Muskeln an. »Du bereitest uns beiden großen Ärger, Samuel.« Sie nickte nach vorne. »Sieh mal, die anderen Mädchen und Jungen sind viel mutiger als du. Willst du etwa, dass sie dich auslachen, weil du wasserscheu bist?«
Samuel spähte an seiner Mutter vorbei.
Tatsächlich.
Die Frauen und Kinder gingen soeben zaghaft weiter, sodass die Lücke zwischen ihm und den anderen mit jedem Schritt größer wurde. So wie der Zorn der Soldaten ...
»Was ist hier los?«, schrie der Offizier. Er stürmte mit ringenden Fäusten auf Samuel und seine Mutter zu. »Warum bleibt ihr stehen?«
Judith wandte sich zu ihm um, aber sie wagte es nicht, ihm direkt in die Augen zu blicken. »Ich bitte gnädigst um Verzeihung, Herr Obersturmbannführer, aber mein Sohn ...«
»Was ist mit diesem Scheißbalg?« Der Offizier hatte sie erreicht und baute sich wutentbrannt vor Judith und Samuel auf. »Setzt euch sofort wieder in Marsch!«
»Jawohl, Herr Obersturmbannführer.« Judith deutete eine Verbeugung an, während sie abermals an Samuels Hand zog. Ohne Erfolg. Samuel sah wie versteinert zu den Frauen und Kindern hinüber, die gerade bei dem Backhäuschen ankamen und sich über eine schmale Treppe hinab in den Keller zwängten. Ein Soldat stand neben der obersten Stufe und notierte sich auf einem Klemmbrett die Nummer jedes Häftlings, der an ihm vorbeiging.
Wozu das alles, wenn wir nur duschen sollen?, stutzte Samuel.
»Wird’s bald?«, keifte der Offizier.
Judith war noch immer bemüht, Samuel mit sich zu zerren. Sie packte ihn nun auch mit ihrer zweiten Hand und rüttelte so stark an seinem Arm, dass ein ziehender Schmerz durch Samuels Schulter ebbte. Aber sie konnte auf dem schlüpfrigen Boden einfach nicht genug Kraft entwickeln, um ihren Sohn auch nur einen lausigen Schritt weit von der Stelle zu bewegen. »Samuel, bitte ... komm schon!«, flehte sie.
Der Offizier gab ihr eine letzte Sekunde Zeit.
Dann riss ihm der Geduldsfaden.
»Weg da!« Er verpasste Judith einen Fausthieb gegen die Schläfe, sodass sie der Länge nach zu Boden flog. »Wenn du deinem Sohn nicht Beine machen kannst, werde ich es tun!«, zürnte er – und schlug erneut zu.
Samuel sah seine Faust auf sich zurasen und duckte sich unter ihr hindurch. Der Offizier war darauf absolut nicht vorbereitet. Er keuchte überrascht, als sein Hieb ins Leere fuhr und er von seinem eigenen Schwung nach vorne gerissen wurde. Samuel ließ ihm jedoch keine Chance, sich wieder zu fangen. Er gab dem Offizier einen Schubs gegen die Hüfte, um ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen; dann warf er sich herum und rannte los.
Seine Schuhe glitten anfangs nur nutzlos über das Eis, und für einen quälend langen Augenblick glaubte Samuel sogar, er würde direkt in die Arme des Offiziers stürzen. Doch dann griffen seine Sohlen endlich in den glatten Boden und katapultierten ihn vorwärts. Er wäre beinahe in den Händen eines zweiten Soldaten gelandet, der geradewegs auf ihn zustürmte, wenn Samuel nicht einen Haken zum Straßenrand geschlagen hätte. Hier lag frischer Schnee, der ihm besseren Halt bot – aber in dem Samuel auch bis zu den Schienbeinen versank.
»Haltet den Bengel auf!«, kreischte der Offizier hinter ihm.
Von links und rechts eilten noch mehr Soldaten herbei. Einer von ihnen ließ seinen Schäferhund von der Kette. Ein zweiter entsicherte sein Gewehr.
»Nein!« Judith raffte sich hoch, obwohl sie von dem Fausthieb noch völlig geschwächt war, und warf sich in die Schussbahn des Soldaten. »Nicht schießen, ich flehe Sie an! Das ist mein Sohn!«
Der Soldat stieß sie mit einem Fußtritt beiseite, zielte auf Samuel – und feuerte! Aus dem Gewehrlauf züngelte eine Stichflamme, die die umliegenden Baracken für einen Wimpernschlag in ein dämonisches Licht tauchte, und der Knall versetzte das Lager endgültig in helle Aufruhr.
Da wurde die Kugel fast zur Nebensache.
Sie hämmerte neben Samuel in den Boden und schleuderte eine Fontäne aus Eis und Schnee in die Höhe. Samuel spürte davon jedoch nicht einmal den Luftzug, denn im selben Moment segelte auch der Schäferhund auf ihn zu. Er tat das einzig Richtige und ließ sich zur Seite fallen, sodass der Hund über ihn hinweg gegen die Wand einer Baracke flog. Rumms! Der Aufprall war so gewaltig, dass sich ein kleines Schneebrett vom Dach löste und den Hund unter sich begrub.
Samuel konnte sich darüber nicht freuen.
Er hatte gar keine Zeit, irgendwas anderes zu tun, außer zu fliehen. Denn im Lager wimmelte es mittlerweile von Dutzenden Soldaten. Und sie alle gaben sich erst gar keine Mühe, ihm nachzulaufen. Sie wollten ihn einfach bloß töten.
Gleich mehrere Männer nahmen ihn ins Kreuzfeuer.
Samuel hatte sich kaum aus dem Schnee gezappelt, da musste er sich auch schon wieder ducken. Zwei Kugel stanzten hinter ihm faustgroße Löcher in die Holzwand der Baracke; eine dritte raste so knapp an seiner Wange vorbei, dass er jetzt sehr wohl ihren Luftzug spürte. Er hob automatisch die Hand und strich sich eine klebrige Feuchtigkeit von der Haut. Samuel konnte jedoch nicht sagen, ob es Blut oder Schweiß war, denn all seine Gedanken rotierten nur um eine einzige Frage: Wohin? Wohin soll ich fliehen, wo es doch gar keinen Ausweg aus diesem Lager gibt?
Die Soldaten legten abermals auf ihn an. Und sie hätten ihn mit Sicherheit auch getroffen, wenn einer der Suchscheinwerfer nicht in ihre Richtung geschwenkt wäre und sie geblendet hätte. Das verschaffte Samuel ein wenig Zeit. Nicht viel – höchstens eine Sekunde –, aber das musste reichen, um zu entkommen!
Er federte wieder hoch und rannte weiter.
Zahllose Kugeln steppten hinter ihm her und zeichneten eine gepunktete Linie in den Schnee. An den Wachtürmen zuckten noch mehr Scheinwerfer zu ihm herum und hefteten sich an seine Fersen. Hunde knurrten. Soldaten brüllten. Irgendwo heulte eine Sirene los. Und Judith kreischte ebenfalls etwas ... bis ein weiterer Schuss ertönte und ihre Stimme schlagartig abbrach. Doch all das waren nur unbedeutende Floskeln, die Samuels Sinne da aus der Umgebung fischten, aber die nicht mehr bis in sein Bewusstsein vordrangen. Denn seine gesamte Aufmerksamkeit galt lediglich dieser einen drängenden Frage: Wohin? WOHIN?
In einem ersten Impuls wollte Samuel zurück in seine Baracke laufen, sich im Bett verkriechen und hoffen, dass die Welt morgen wieder in Ordnung sein würde. Aber noch während er sich an diese Vorstellung klammerte, begriff er, dass es für ihn kein sicheres Versteck in diesem Lager mehr gab. Denn die Deutschen waren erstklassige Jäger und würden ihn überall aufspüren. Und dann würden sie ihn bestrafen. Oh ja, die Deutschen kannten sehr grausame Strafen. Welche, bei denen die Schmerzen noch das kleinste Übel waren ...
Samuel spürte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Sein Puls hämmerte so stark, dass ihm schwindelig wurde, und sein Atem dampfte immer stärker in der Kälte und vernebelte ihm die Sicht.
Vor ihm tauchte Baracke 17 auf. Die Lampe über dem Eingang brannte noch, und die Tür darunter stand einladend offen. Im Inneren marschierte allerdings ein Soldat umher und durchsuchte die Betten. Damit schwand nun auch Samuels letzte Hoffnung, sich an jenem Ort zu verstecken, der in den letzten vier Monaten sein Zuhause gewesen war.
Notgedrungen lief er weiter, an Baracke 18 und 19 vorbei. Auch hinter ihren Fenstern schimmerten die Gesichter etlicher Frauen, die ihn teils mitfühlend, teils aber auch hämisch beobachteten, als wäre er nur ein Hamster in einem Käfig. Samuel erwog, ob er sich bei ihnen verkriechen sollte. Aber er wusste natürlich, dass die Frauen ihm keinen Unterschlupf gewähren würden. Zu groß war ihre Angst, dass auch sie heute Nacht duschen gehen mussten, wenn sie ihm halfen.
Also ließ Samuel die Baracken hinter sich und hetzte auf das südöstliche Ende des Lagers zu. Einer grenzenlosen Verzweiflung entgegen.
Wosch!
Der Lichtstrahl eines Scheinwerfers säbelte so scharf an ihm vorbei, dass Samuel erschrocken nach hinten sprang. Er prallte mit dem Rücken gegen die Wand einer Baracke und genehmigte sich eine kurze Pause. Seine Lungen saugten gierig die eisige Luft ein, und trotzdem schien sein Körper innerlich zu ersticken. Samuel hatte die letzten Tage kaum etwas gegessen, und dieser kurze Sprint hatte ihm all jene Energie aus den Knochen gezogen, die ihm eigentlich noch eine ganze Woche hätte reichen müssen.
Lange konnte er sich jedoch nicht ausruhen.
Denn die Schritte seiner Verfolger knirschten erbarmungslos durch den Schnee. Von links. Von rechts. Von überall.
Samuels Blick jagte durchs Lager. Wohin? Er wohnte nun schon lange genug hier, um sich bestens auszukennen, aber auf die Schnelle wollte ihm einfach kein sicherer Ort einfallen. Also wohin? Ins Lazarett? Zu den Toiletten? Oder soll ich mich unter einem Schneehügel verbuddeln?
Und DANN?, lästerte seine Vernunft. Willst du dort bis zum Frühling ausharren?
In Samuel wuchs die Erkenntnis heran, dass er eine große Dummheit begangen hatte. Doch nun gab es kein Zurück mehr für ihn. Nun hatte er unwiderruflich den Zorn der Soldaten auf sich geladen und konnte bloß noch versuchen, seine Bestrafung so lange wie möglich hinauszuzögern.
WOHIN? Mama, wo soll ich nur hin?
Seine Mutter konnte ihm diese Frage beim besten Willen nicht mehr beantworten, geschweige denn, ihm helfen. Sie war jetzt bei Joshua und Papa. War jetzt im Backhäuschen. Oder bei den Engeln. Wer wusste das schon?
»Ich glaube, er ist da drüben!«
Die Stimme eines Soldaten traf ihn so hart, wie es eine Gewehrkugel getan hätte. Samuel keuchte, stieß sich von der Baracke ab und schleppte sich weiter, hinunter zum Lazarett und schließlich bis zu einem Gebäude, das wie ein Aussätziger ganz am Ende des Lagers stand. Äußerlich sah es nur wie ein weiterer Holzverschlag aus, aber im Inneren besaß es fein gestickte Gardinen an den Fenstern und war mit roten Lichtern geschmückt. Judith hatte Samuel streng verboten, dorthinzugehen. Trotzdem hatte er es oft getan – heimlich, zusammen mit seinem Freund Joshua. Denn tagsüber hielt sich in der Nähe dieses Gebäudes niemand auf, und deshalb war es der ideale Ort für zwei Jungs zum Spielen gewesen.
Und vielleicht auch der ideale Ort, aus dem Lager zu fliehen ...
Eine neue Hoffnung keimte in Samuel auf. Denn er erinnerte sich plötzlich an etwas, das er und Joshua vor einigen Wochen ausgetüftelt hatten – und sich jetzt als seine Rettung erweisen konnte, wenn er es geschickt anpackte. Und so rannte er immer schneller auf das Gebäude zu. Die rot beleuchteten Fenster waberten, als würden alle Zimmer dahinter lichterloh brennen, aber im Gegensatz zu den Baracken zeigte sich in keinem davon ein Gesicht.
Umso besser.
Samuel hetzte so scharf um die Hausecke, dass der Schnee unter seinen Füßen hochspritzte. Mit rudernden Armen hielt er sich noch drei, vier Meter auf den Beinen, dann sackte er vor dem Elektrozaun auf die Knie. In der Dunkelheit fiel es ihm schwer, sich zu orientieren, aber sein Überlebensinstinkt führte ihn sicher zu der richtigen Stelle, nach der er suchte. Samuel rammte beide Hände in den Schnee und begann zu graben. Seine Finger wurden bereits nach kurzer Zeit so taub, dass er sie kaum noch spürte, und die Kälte brannte wie Salzsäure auf seiner Haut. Doch Samuel ignorierte all das und schaufelte eine Ladung Schnee nach der anderen beiseite, bis er endlich auf den grasbewachsenen Boden stieß. Und damit auch auf das kleine Geheimnis, das er und Joshua hier gehütet hatten: eine flache Kuhle, die unter dem Zaun des Lagers hindurchführte. Hinaus in den Wald. Hinaus in die FREIHEIT ...
Dummerweise war die Kuhle noch gar nicht fertig.
Die beiden Jungs hatten im Herbst damit begonnen, sie zu graben. Jeden Tag nur einen knappen Zentimeter, damit es nicht auffiel. Das war Joshuas Idee gewesen. Er wollte unbedingt von hier fort, zu seinen Großeltern nach Regensburg. Aber irgendwann hatten die beiden Freunde die Lust an der Buddelei verloren ... und darum schabte Samuel jetzt immer hektischer mit seinen Fingern über die Kuhle, um sie zu vergrößern. Auch wenn es vollkommen zwecklos war. Schon vor einigen Wochen war der Boden hart und steinig gewesen, doch nun – im tiefsten Winter – hatte die Kälte ihn zu einem Stahlpanzer gefroren. Samuel wollte schon aufgeben, doch die pure Verzweiflung zwang ihn, weiterzugraben.
»Er ist da hinten! Beim Sonderbau!«
Gleich!, trommelte seine Panik. Gleich haben sie dich.
GLEICH WERDEN SIE DICH BESTRAFEN!
Samuel rammte immer rücksichtsloser die Hände in den Boden und riss mit ihnen kleine und große Erdbrocken aus der Kuhle. Noch drei, vier Zentimeter, dann war sie tief genug, dass er sich unter dem Zaun hindurchzwängen konnte. Was für ein Glück, dass Samuel so abgemagert wie eine Fußmatte war und mittlerweile in die engsten Ritzen passte.
Die Schritte der Soldaten knirschten jetzt ganz in seiner Nähe durch den Schnee.
Hör auf zu graben! Flieh endlich!
Samuel dachte nicht länger darüber nach, was er tat. Er nahm die Mütze von seinem Kopf, warf sich bäuchlings in die Kuhle und robbte unter dem Zaun hindurch. Es wurde enger als befürchtet; so eng, dass er nicht einmal mehr atmen konnte, weil sich die Stacheldrähte nur einen Fingerbreit über ihm spannten. Durch jeden einzelnen flossen tausend Volt; genug, dass die Drähte eigentlich wie die einer Glühbirne hätten leuchten müssen. Eine leichte Berührung – und es war vorbei.
Bleib ruhig!, beschwor sich Samuel, während er mit den Fingern und Zehen vorwärts kroch. Nicht atmen. Halt den Kopf unten. Und bete, dass du WIRKLICH so dünn wie eine Fußmatte geworden bist.
Die ersten Soldaten hatten unterdessen das Gebäude mit den roten Fenstern erreicht und stürmten um die Ecke.
Samuel beschäftigte sich jedoch nicht weiter mit ihnen. Er konzentrierte sich bloß darauf, eine Bewegung nach der anderen zu machen. Inzwischen hatte er sich bis zu den Kniekehlen unter dem Zaun hindurchgewunden. Die Panik wollte ihn dazu bringen, seine Füße mit einem letzten Ruck zu sich zu ziehen, aber Samuel konnte diesem Impuls gerade noch widerstehen. Stattdessen robbte er langsam und vorsichtig ein weiteres Stück durch die Kuhle ... und danach noch ein kleines mehr. Erst dann richtete er sich auf und sah sich um.
Freiheit.
Obwohl Samuel nur einen lächerlichen Meter vor dem Zaun stand, war das Gefühl von Freiheit auf dieser Seite so überwältigend, dass sein Herz einen erregten Sprung machte.
Aber deswegen war er noch lange nicht sicher.
Wosch!
Der nächste Scheinwerfer fegte zu ihm herum und traf Samuel mit seiner geballten Helligkeit. Obwohl er sofort sein Gesicht mit den Händen abschirmte, kam es ihm so vor, als würden seine Augen platzen. Er taumelte blindlings los, über einen schmalen, gerodeten Streifen auf den Wald zu. Der Lichtkegel folgte ihm auf Schritt und Tritt und markierte ihn für die vielen Soldaten, die gerade bei dem Zaun eintrafen und Samuel mit den Gewehren anvisierten. Ein Kugelhagel donnerte links und rechts an ihm vorbei. Gleich mehrere Geschosse sprengten tiefe Löcher in den Boden, frästen Kerben in die Baumstämme und würzten die Luft mit Holzspreißeln und aufgewirbeltem Schnee.
Samuel wäre von mindestens einer Salve zersiebt worden, wenn der Boden nicht unter ihm nachgegeben hätte. Der Schnee brach einfach weg, als wäre Samuel auf eine Falltür getreten. Er tauchte unter den Kugeln hindurch und gab einen erstickten Schrei von sich, während er zwei, drei, vielleicht auch vier Meter in die Tiefe stürzte. Seine Hände griffen nach allem, was ihm Halt versprach, doch er konnte es nicht verhindern, mit dem Rücken auf den Boden zu schlagen. Der Pulverschnee dämpfte seinen Aufprall und bettete ihn wie auf Federn. Trotzdem musste Samuel kurz liegenbleiben und seine Sinne ordnen. Vielleicht hätte er sogar die Augen geschlossen, um sich zu erholen.
Aber dieser Luxus war ihm nicht vergönnt.
Der Lichtstrahl des Scheinwerfers sauste über ihm wie eine Schwertklinge durch die Nacht, und am Zaun versammelten sich immer mehr Soldaten. Das Problem daran war nur: Die Männer befanden sich nicht mehr hinter dem Stacheldraht, sondern davor. Denn sie kamen unaufhaltsam näher.
Samuel fluchte, schwang sich auf die Beine und wankte wieder los.
Er war noch keine paar Schritte weit gekommen, da pfiffen neben ihm die nächsten Gewehrsalven vorbei. Samuel machte sich so klein wie möglich, torkelte von einer Seite zur anderen, überschlug sich, kam wieder hoch. Seine dünne Kleidung bot ihm kaum Schutz vor den spitzigen Ästen und schon gar nicht vor den scharfkantigen Felsen, die überall den Boden zierten. Aber Samuel ertrug die Prellungen und Schmerzen, ohne zu klagen. Er wäre tot gewesen, wenn er es nicht getan hätte!
Hinter ihm flackerten mehrere Taschenlampen auf. Ihre Lichtstrahlen glitten immer wieder über Samuel hinweg, doch er konnte ihnen jedes Mal entwischen. Was die Soldaten umso wütender machte. Sie hatten inzwischen das Feuer eingestellt, aber dafür ihre Hunde von den Ketten gelassen, die nun in einem wahnwitzigen Tempo durch den Wald preschten.
Auch das noch!
Samuel warf einen Blick nach hinten. Er konnte nicht genau abschätzen, wann die Hunde ihn einholen würden. Manchmal sah er nur ihre Gebisse aufblitzen oder hörte das Tadamm-Tadamm ihrer Pfoten, doch ein Gefühl sagte ihm, dass sein Vorsprung rapide schmolz. Er beschleunigte automatisch seine Schritte, auch wenn er dadurch nicht wirklich schneller wurde, sondern nur noch öfter in den Schnee flog.
Wohin? Die verhasste Frage begann wieder damit, ihre Runden durch seinen Kopf zu drehen. Wohin soll ich laufen?
Diesmal blieb sie aber nicht unbeantwortet.
Vor Samuel leuchteten plötzlich zwei gelbe, schlitzförmige Lichter auf. Sie waren so breit wie ein Fenster und von einem seltsamen, fast unheimlichen Leben erfüllt.
Augen, dachte Samuel. Sind das Augen?
Er kam nicht dazu, sich über diese Erscheinung zu wundern. Ein Ast klatschte in sein Gesicht und betäubte ihm die Sinne, und nur einen Meter später schrammte Samuel gegen einen weiteren Felsen. Ein bestialischer Schmerz explodierte in seinem rechten Schienbein. Der Knochen darin knackte, und sein Fuß klappte an einer Stelle um, an der es gar kein Gelenk gab. Samuel ahnte, was geschehen war, doch das Schlimmste stand ihm erst noch bevor. Denn die Schwerkraft saugte ihn einen zweiten Abhang hinunter. Samuel schlitterte zehn, zwölf Meter über den Schnee in die Tiefe ... und blieb auf einem Felsplateau liegen.
Er versuchte erst gar nicht, sich aufzurichten.
Sein Bein war die reinste Hölle. Seine Arme fühlten sich tonnenschwer an, und sein Kopf wummerte, als würde er noch immer über den Abhang poltern.
Es ist vorbei.
Samuel wollte heulen, schreien, sterben. Doch er konnte nichts anderes tun, außer reglos auf dem Felsen zu liegen, während die Schmerzen ihn regelrecht zerfleischten. So wie es die Hunde gleich tun würden ...
Sie hatten ihn fast erreicht.
Ihr Knurren geisterte in einem schaurigen Echo durch den Wald und ihre Pfoten lösten überall kleine Lawinen von dem Abhang. Einer von ihnen – ein besonders großer Schäferhund – sprang schließlich zwischen den Bäumen hervor und landete punktgenau auf dem Felsplateau. Sein Atem qualmte wie graues Feuer in der Kälte und in seinen Augen lag ein blutrünstiges Funkeln. Er starrte Samuel für eine zeitlose Sekunde einfach nur an und ließ sein bedrohliches Aussehen auf ihn einwirken. Dann zuckte der Hund vor ... und prallte fast gleichzeitig so jäh zurück, als hätte ihn jemand an einer Leine nach hinten gerissen. Der Hund knurrte abermals. Nur dass dieses Knurren nicht mehr feindselig, sondern ängstlich klang. Gleichzeitig taxierte er irgendwas im Wald. Etwas, das ihm einen solchen Schrecken einjagte, dass er einen zweiten Salto rückwärts schlug – und davonlief! Seine Pfoten fanden auf dem Schnee kaum Halt, und dennoch windete sich der Hund in panischer Hast zwischen den Bäumen hindurch und tauchte irgendwo in der Dunkelheit unter.
Auch die anderen Hunde waren in sicherer Entfernung stehengeblieben. Einige hatten die Schwänze eingezogen. Andere fiepten nervös. Und nur einen Moment später wandten sich alle geschlossen um und flohen ebenfalls zum Lager zurück.
Samuel runzelte irritiert die Stirn.
Was ist denn in die gefahren?
Er konnte sich das Verhalten der Hunde nicht erklären. Er wäre ja schon froh gewesen, wenn er sich wenigstens darüber hätte freuen können. Aber in Wahrheit spürte auch er, dass sich hier irgendwas in der Dunkelheit herumtrieb. Etwas, das noch weitaus tödlicher als die Hunde und Soldaten war ...
Samuel drehte zaghaft den Kopf. Der Wald hinter ihm war leer. Die kahlen Bäume wirkten wie Skelette in der Dunkelheit, und der Wind ließ so manchen Ast knarren. Aber nichts davon war erschreckend genug, um die Hunde in die Flucht zu schlagen. Und trotzdem musste hier irgendwas sein! Eine namenlose Gefahr, die selbst Samuel mit allen Sinnen wittern konnte.
»He, wo lauft ihr hin?«, schrie ein Soldat im Wald. Er pfiff nach einem der Hunde. »Benno, bei Fuß!«
Noch vor einer Minute wäre Samuel bei dieser Stimme wahnsinnig vor Angst geworden. Doch nun konnte er es kaum mehr erwarten, bis die Soldaten ihn endlich von dieser beklemmenden Dunkelheit erlösten. Hilfe!, wollte er schreien. Ich bin hier! Die Luft in seiner Brust war jedoch viel zu dünn geworden, als dass er einen Laut von sich geben konnte. Es kostete ihn schon unendlich viel Kraft, den Kopf wieder nach vorne zu richten; dorthin, wo die Lichtstrahlen der Taschenlampen durch den Wald glitten.
Kurz darauf traten mehrere Soldaten aus dem Unterholz hervor.
»Da vorne!«, schrie einer von ihnen. Er gestikulierte mit dem Finger auf Samuel, als wollte er ihn auf das Plateau nageln.
Keine Sorge, dachte Samuel betrübt. Ich laufe euch nicht mehr davon. Ich KANN es gar nicht.
Während die meisten Soldaten an den Bäumen innehielten und sich damit begnügten, mit ihren Gewehren auf Samuel zu zielen, kletterten zwei Männer vollends bis zu dem Plateau herab. Samuel wimmerte leise, je näher sie kamen. Er hatte seinem Vater versprochen, dass er niemals in Gegenwart der Deutschen heulen würde, doch nun konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten.
Die beiden Soldaten bauten sich unterdessen über ihm auf. Einer von ihnen – ein blonder Arier – untersuchte ihn flüchtig mit dem Lichtstrahl und lächelte abfällig, als er Samuels gebrochenes Schienbein bemerkte. »Da siehst du’s, Jens«, sagte er zu seinem Kameraden. »Die Juden sind brüchig wie ein Zwieback.«
»Bitte ...«, schluchzte Samuel. »Bestrafen ... Sie mich nicht. Es tut mir ... leid, dass ich ... davongelaufen bin. Ich hatte nur Angst vor dem Backhäuschen ...«
Die Soldaten beachteten sein Gestammel gar nicht. Für sie war er nur sprechender Abfall, nicht mehr und nicht weniger. Der zweite Soldat – Jens – rümpfte missmutig die Nase. »So ein Scheiß«, lamentierte er. »Jetzt müssen wir den Bengel den ganzen Hang hinaufschleppen.«
»Müssen wir nicht.« Der Arier richtete sein Gewehr auf Samuels Kopf. »Sollen ihn doch die Füchse und Wildschweine fressen, was meinst du?«
Jens zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Von mir aus. Ich würde aber ein bisschen tiefer zielen.« Er schob den Gewehrlauf mit seiner Stiefelspitze zu Samuels Hals. »Wenn du die Schlagader triffst, wird der Junge vielleicht koscher. So haben’s die Juden doch am liebsten ...«
Die beiden lachten dreckig.
Samuel lag frierend und zitternd da, und wartete noch immer darauf, dass die beiden Männer ihm endlich halfen. Obwohl er natürlich tief im Inneren wusste, dass die Deutschen ihm niemals helfen würden, egal wie viele Tränen er vergoss.
»Schluss damit!«, forderte einer der ranghöheren Soldaten am Berghang. »Knallt den Bengel ab und lasst uns zurückgehen. Sonst wird mein Essen kalt.«
Das Gelächter der beiden Männer stoppte abrupt, als hätte man einen Plattenspieler abgeschaltet. Dann krümmte der Arier auch schon den Finger um den Abzug des Gewehrs.
Ein Schauder lief über Samuels Rücken. Er wird es doch nicht wagen, mich zu erschießen? Einen neunjährigen Jungen! Oder? ODER?
Er suchte in dem Gesicht des Mannes nach einem Funken Mitleid oder ein bisschen Skrupel; nach irgendwas Menschlichem eben, an das er all seine Hoffnungen knüpfen konnte. Aber da gab es nur diesen fanatischen Hass, den Samuel schon oft bei den Deutschen gesehen hatte – und der ihm alles zu verstehen gab, was er wissen musste.
Er schloss die Augen. Wartete auf den Schuss.
Doch es kam kein Schuss. Stattdessen dehnte sich dieses Warten immer weiter in die Länge; wurde zu einer qualvollen Ungewissheit, die Samuel kaum ertragen konnte. Er wäre sogar bereit gewesen, den Soldaten anzuflehen – nun machen Sie endlich! Drücken Sie ab! –, aber gleichzeitig spürte er, dass sich irgendwas im Wald verändert hatte. Es war plötzlich drückend still geworden. Und noch unheimlicher.
Samuel öffnete zögernd seine Augen.
Die Soldaten standen unverändert da. Ihre Gewehre und Taschenlampen zeigten jedoch nicht mehr auf ihn, sondern zuckten unruhig von einer Seite zur anderen. Und in ihre Gesichter hatte sich derselbe nervöse Ausdruck gefressen, den Samuel schon bei den Hunden gesehen hatte.
Gleichzeitig knackte ein Ast im Wald.
Schnee rieselte von einer Baumkrone.
Und da war noch etwas anderes. Etwas, das Samuel anfangs gar nicht glauben konnte, weil es viel zu bizarr war. Der Boden! Der Boden ... atmete!
Samuel und die Soldaten starrten gebannt auf eine Stelle neben dem Felsplateau hinab und beobachteten den Schnee dabei, wie er sich hob und senkte, als würde der Boden nach Luft schnappen. Das war natürlich vollkommen absurd – und noch dazu unmöglich! –, aber genau das passierte. Der Schnee blähte sich immer weiter auf, bekam Risse oder rutschte zur Seite, und darunter kam irgendwas Braunes, Feuchtes zum Vorschein; etwas, das sich mit einer enormen Kraft an die Oberfläche wühlte.
Der Arier wich furchtsam vor diesem Was-auch-immer zurück. Jens blieb einen Moment länger standhaft, bevor er ebenfalls den Rückzug antrat.
Der Boden hob und senkte sich währenddessen ein letztes Mal. Dann explodierte er zu einer Wolke aus Erde und Schnee, und irgendwas Riesiges, Monströses schoss aus der Tiefe empor. Ein Schatten, der sechs, sieben Meter in den Himmel wuchs und sich wie eine Kobra nach vorne beugte.
Unter den Soldaten brach das Chaos aus.
Sie ließen die Taschenlampen fallen, rissen ihre Gewehre nach oben und feuerten. Der aufgewirbelte Schnee glühte in den Mündungsfeuern wie eine Flammenwand, und die Kugeln hämmerten mit einem feuchten Schmatzen in diesen seltsamen Schatten. Er krümmte sich kurz unter den Einschlägen zusammen, bevor er wieder nach vorne zuckte. Genau auf den Arier zu. Der Soldat wirbelte schreiend herum und versuchte zu fliehen. Er kam jedoch höchstens einen Meter weit, ehe der Schatten ihn so brutal am Rücken traf, dass der Arier gegen Jens prallte. Die beiden Männer wurden davongeschleudert und verschwanden irgendwo im Wald.
Die anderen Soldaten schossen unterdessen noch immer aus allen Rohren. Mehrere Salven rasten über den Schatten hinweg und sprengten kleine und große Krater in ihn hinein. Die Männer mussten jedoch schnell einsehen, dass ihre Waffen völlig wirkungslos waren ... und so stürzten sie ebenfalls in panischer Hast davon. Aber auch ihre Flucht war vorbei, bevor sie richtig begonnen hatte.
Womms!
Der Schatten fuhr auf einen weiteren Soldaten herab und rammte ihn wie einen Nagel in den Boden. Der gesamte Wald schien unter dem Aufprall in die Knie zu sacken. Die Bäume wankten, mehrere Felsen zerbarsten zu Steinsplittern, und der Schnee rutschte wie eine weiße Tischdecke vom Berghang ab und spülte die Soldaten zu dem Schatten zurück. Damit er auch sie wie Käfer zermalmen konnte.
Womms! Womms! Womms!
Der Schatten wirbelte trotz seiner Größe blitzschnell durch die Gegend und begrub die Soldaten unter seinem tonnenschweren Gewicht. Manche hoben dabei verzweifelt die Arme, um seinen Schlag abzuwehren. Zwei andere Männer eröffneten noch mal das Feuer und schossen die letzten Kugeln aus ihren Magazinen. Doch auch sie waren dem Tode geweiht. Denn der Schatten kannte kein Erbarmen; zertrümmerte Knochen und Schädel und schmetterte zahllose Körper in alle Richtungen davon, bis nur noch ein einziger Soldat übrigblieb. Es war ein junger Bursche, keine zwanzig Jahre alt, der sich furchtsam an sein Gewehr klammerte. Der Schatten dachte jedoch nicht daran, auch ihn zu töten. Er zeigte lediglich herrisch zum Lager.
Lauf!, bedeutete die Geste. Lauf zu deinen Kameraden und erzähl ihnen, was du gesehen hast. ERZÄHL IHNEN, DASS SIE SICH VOR MIR FÜRCHTEN SOLLEN.
Und bei Gott – das tat der Soldat! Er ließ sein Gewehr fallen und kroch auf Händen und Füßen den Abhang hinauf, ohne sich noch einmal zu dem Schatten umzudrehen oder sich um den Judenjungen zu kümmern.
Der Schatten starrte ihm nach.
Und Samuel starrte den Schatten an. Er war außerstande, noch Angst oder Panik zu empfinden, sich zu bewegen oder auch nur die Augen zu schließen. Selbst sein Herz schien vollkommen stillzustehen, um ja kein Aufsehen zu erregen. Um ja nicht so zu enden, wie all die vielen Fleischfetzen, die eben noch Soldaten gewesen waren. Geh weg!, dachte Samuel. Was immer du bist ... verschwinde! Selbst der Gedanke kam ihm so erschreckend laut vor, dass Samuel ihn gleich wieder abwürgte, nur um sich nicht zu verraten.
Zu spät.
Der Schatten drehte sich auf einmal um und näherte sich dem Felsplateau. Dabei streifte er an mehreren Taschenlampen vorbei, die im Schnee lagen. Ihre Lichtstrahlen wischten die Dunkelheit großflächig von ihm herunter, sodass Samuel erkennen konnte, was dieses Ungetüm war.
Eine Hand!
Vor ihm ragte eine gigantische Hand auf. Allein ihre Finger waren über zwei Meter lang, und die gesamte Handfläche hatte im gestreckten Zustand die Ausmaße eines Zimmers. Sie bestand vollständig aus brauner, schlammiger Erde. Ein paar Grasbüschel wuchsen wie Haare auf ihrem Rücken. Steinplatten klebten wie Nägel an den Fingerkuppen, und am Handgelenk bewegten sich dicke Wurzeln, wie die Zugseile einer Maschine. Es war die Hand eines Riesen. Ein Riese, der tief unter der Erde leben musste. Denn die Hand war mit einem muskulösen Arm verbunden, der aus einem Loch im Boden ragte. Als hätte der Riese nur eben mal kurz in den Wald gegriffen, um sich einen Happen zum Essen zu holen.
Und Samuel würde sein Nachtisch sein.
Die Hand krümmte sich nämlich langsam zu ihm herab, tastete über den Felsen, suchte nach einem neuen Opfer.
Samuel rutschte vor ihr davon und lieferte sich mit der Hand ein lautloses Wettrennen. Er hatte längst vergessen, dass sein Schienbein gebrochen war, und er hatte auch vergessen, dass es höllisch schmerzte. Teufel noch mal, er hätte sogar vergessen zu atmen, wenn seine Lunge ihn nicht regelmäßig daran erinnert hätte!
Irgendwann erreichte er den Rand des Plateaus. Hier war Schluss. Hier würde alles enden, wenn der Riese ihn aufspürte. Um genau das zu verhindern, krümmte sich Samuel zu einer Kugel zusammen. Und tatsächlich: Die Hand bewegte sich zunächst an ihm vorbei, in eine völlig andere Richtung. Kalt. Ganz kalt. Doch plötzlich stoppte sie und drehte sich hin und her, als müsste sie neue Witterung aufnehmen. Schließlich kehrte sie zurück. Wärmer. Ihre Finger ritzten tiefe Kerben in den Fels, während sie zielsicher auf Samuel zukam. Warm. Heiß. Ganz heiß. Die Hand war jetzt nahe genug, dass sie ihn bei der nächsten Bewegung erreichen würde. Samuel bangte und hoffte eine allerletzte Sekunde, dass sie ihn vielleicht doch wieder verfehlte. Dann rollte er sich einfach über die Felskante hinaus und ließ sich in die Tiefe fallen.
Platsch!
Er landete nach nur einem Meter in einer zweiten Riesenhand, die sich unbemerkt aus dem Boden gegraben hatte. Sie fühlte sich klebrig und weich an, und ihre kalte Oberfläche stillte fast augenblicklich die lodernden Schmerzen in Samuels Bein. Trotzdem schrak er sofort wieder hoch, um sich mit einem Hechtsprung in den Wald zu retten. Doch die Hand reagierte schneller. Sie klappte wie eine Bärenfalle um Samuel zusammen und zog ihn unter die Erde.
Hinab in eine Dunkelheit, die noch viel enger und stickiger war, als es die Dusche im Lager je hätte sein können.
Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin. Der Satz war mit Bleistift unter das Fenster des Zugabteils geschrieben worden. Klein genug, dass es kaum auffiel, und dennoch so gestochen scharf, dass man die Buchstaben problemlos entziffern konnte. Stefan Preußler wusste natürlich nicht, wer das getan hatte, aber er kannte zumindest den Urheber dieses denkwürdigen Satzes: Carl Sandburg. Er fand es ungewöhnlich, dass jemand in diesen Tagen einen amerikanischen Schriftsteller zitierte; noch dazu aus einem Buch, das erst kurz vor dem Krieg erschienen war. Aber gerade das imponierte Stefan an diesem Graffiti. Weil es jemand geschrieben hatte, der ihm ähnelte. Ein Gebildeter, ein Intellektueller, ein Bruder im Geiste sozusagen. Jemand, der gute Literatur zu schätzen wusste, ganz gleich, aus wessen Feder sie stammte.
Stefan lächelte.
Er hätte diesen Bruder gerne kennengelernt und mit ihm über die Welt philosophiert. Denn das Unterhaltungsprogramm auf dieser Zugfahrt war äußerst dürftig, und die anderen Fahrgäste nicht gerade redselig. Hinzu kam, dass Stefan vergessen hatte, sein Buch einzupacken. Die Schatzinsel. Ein Klassiker. Er hatte es gestern zufällig in einer Münchner Buchhandlung entdeckt und eigens für diese Reise gekauft. Doch nun lag es unerreichbar fern in seiner ehemaligen Stube in Dachau. Die einzige Lektüre, die er momentan besaß, war die neueste Ausgabe des Stürmers, die ihm einer seiner Kameraden in die Hand gedrückt hatte. Normalerweise las Stefan solche Zeitungen nicht – und noch viel weniger glaubte er an die Propaganda, die sie verbreiteten. Aber auf einer Reise wie dieser waren ein paar schwarze Buchstaben auf weißem Papier durchaus goldwert.
Oder eben ein Zitat an der Wand.
Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Und tatsächlich: Stefan stellte es sich vor. Er malte sich dieses Bild in den buntesten Farben aus, weil es das Ende des sinnlosen Mordens und Tötens wäre, das gerade überall herrschte. Merkwürdig, dass Hitler noch nicht auf diese Idee gekommen war. Vielleicht sollte Stefan es ihm vorschlagen, wenn er ihn das nächste Mal besuchte ...?
Dabei wäre es eigentlich seine Pflicht gewesen, das Zitat von der Wand zu wischen, damit es die anderen Fahrgäste nicht auf rebellische Gedanken brachte. Doch Stefan war innerlich nun mal nicht das, was er durch seine Uniform zu sein schien: nämlich ein Soldat der Waffen-SS. Abteilung Totenkopfverband. Hitlers Leibgarde.
Tausende junge Männer wären stolz darauf gewesen, wenn sie zu diesem elitären Kreis gehört hätten. Stefan war es nicht. Er kam frisch von der Offiziersschule aus Dachau und hatte zwei Jahre militärischen Drill hinter sich. Er hatte gelernt, wie ein SS-Offizier zu denken. Hatte gelernt, blind zu gehorchen. Hatte gelernt, keine Gnade zu zeigen. Und nun bildeten sich seine Vorgesetzten ernsthaft ein, dass er in die Welt hinausziehen und auch wie ein SS-Offizier kämpfen und morden würde.
Aber da irrten sie sich gewaltig!
Denn im Grunde genommen tat Stefan genau das, was an der Wand stand.
Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Nun, es war Krieg. Der wohl schlimmste in der Menschheitsgeschichte. Und Stefan ging nicht hin. Zumindest nicht an die Front, um Soldaten abzuschlachten oder Häuser in die Luft zu sprengen. Ihm war ein anderes Ziel bestimmt: Finstertann. Das berüchtigte Konzentrationslager im Bayerischen Wald.
Ihn überlief ein Schauder, als er daran dachte.
Er wusste nicht viel über Finstertann, das rund dreißig Kilometer östlich von Regensburg lag. Aber es rankten sich viele Geschichten um das Lager – und keine davon behagte Stefan. Finstertann war ein Außenposten von Dachau und in aller Eile aus dem Boden gestampft worden, um das Stammlager zu entlasten. Hier landeten all jene Menschen, für die es keine Zukunft mehr gab, die selektiert worden waren und die man heimlich beseitigen wollte. Denn Finstertann war der perfekte Ort, um Gräueltaten zu begehen, ohne dass es die Öffentlichkeit erfuhr.
Und genau dort würde Stefan seinen Dienst verrichten.
Sein Magen rumorte nervös. Vielleicht hätte er sich doch an die Front melden sollen. Oder erst gar nicht in diesen Zug einsteigen dürfen. Doch nun war es dafür zu spät. Nun würde er bald am Ziel sein.