Digitale Spiele in Familien und der stationären Kinder- und Jugendhilfe
Gefördert durch
Markus Meschik
GAME OVER (?)
Digitale Spiele in Familien und der stationären Kinder- und Jugendhilfe
ISBN (Print) 978-3-96317-301-1
ISBN (ePDF) 978-3-96317-849-8
ISBN (ePub) 978-3-96317-850-4
Copyright © 2022 Büchner-Verlag eG, Marburg
Zugl.: Univ. Diss., Karl-Franzens-Universität Graz 2021
Bildnachweis Umschlag: Illustrationen von Jacqueline Kaulfersch
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www.buechner-verlag.de
Ich bedanke mich aufrichtig bei allen Personen, die mich beim Erstellen dieser Arbeit unterstützt haben.
Besonderer Dank gebührt Univ.-Prof. Dr. Arno Heimgartner und Priv.-Doz. Mag. Dr. phil. Natalia Wächter für die stetige Ermutigung und kompetente Betreuung des Dissertationsvorhabens.
Weiters danke ich den Trägern der Kinder- und Jugendhilfe Lebensraum Heidlmair GmbH, Volkshilfe Wien, SOS Kinderdorf sowie den weiteren beteiligten Institutionen für ihre großartige und tatkräftige Unterstützung. Besonders sei hierbei Jürgen Pils erwähnt, dessen Motivation und Tatendrang eine große Inspiration waren.
Last but not least danke ich allen Interviewteilnehmer*innen für ihre Mitwirkung, Zeit und die Bereitschaft, ihre Erfahrungen zu teilen. Ihre Offenheit hat diese Arbeit erst möglich gemacht.
Dass digitale Spiele als Freizeitbeschäftigung einen zentralen Bestandteil der Lebensgestaltung (nicht nur) österreichischer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener darstellen, ist ein Befund, der sich so oder ähnlich in vielen medialen Berichterstattungen wiederfindet, so wie auch hier in diesem Vorwort. Trotz der recht hohen Frequenz, in der sich besagter Satz finden lässt (oder vielleicht genau deswegen), konnte ich lange den Eindruck nicht abschütteln, dass es sich dabei um eine hohle Worthülse handelt, die das Thema vereinfacht und der Komplexität des Mediums in der Lebenswelt einzelner Akteur:innen nicht gerecht wird. Dieses Buch stellt einen, und ich wage zu sagen, erfolgreichen, Versuch dar, Einblicke in die lebensweltliche Relevanz digitaler Spiele zu gewähren und sich den Fragen hinter dieser Worthülse zu stellen.
Im vorliegenden Buch wird der Umgang mit digitalen Spielen in zwei erzieherischen Kontexten, traditionellen Familiensystemen sowie der stationären Kinder- und Jugendhilfe, untersucht. Darüber hinaus wird der Stellenwert beleuchtet, den das Medium in der Lebenswelt jugendlicher Spielender einnimmt. Dazu wurden in einem theoretischen Teil Daten und Vorarbeiten zur Nutzung digitaler Spiele in Familien und der stationären Kinder- und Jugendhilfe zusammengefasst. Ein Schwerpunkt wurde dabei auf potenziell problematische Phänomene gelegt; im Wesentlichen sind dies Abhängigkeit von digitalen Spielen und spielimmanente Glücksspielelemente (Dieser alleinige Fokus auf problematische Aspekte sei mir bitte verziehen; er nährt sich aus Erfahrungswerten in der Beratung von Familien und Fachkräften in Bezug auf dieses Thema). In einem qualitativen Forschungsansatz wurden insgesamt 30 Leitfadeninterviews mit Familien, Jugendlichen, Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie einschlägigen Expert*innen durchgeführt und ausgewertet.
Es zeigten sich dabei unter anderem eine große lebensweltliche Relevanz digitaler Spiele für vor allem männliche Spielende, für die digitale Spiele auch als Quelle von Anerkennung in ihren Peergroups fungieren. Dies steht in Diskrepanz zum Stellenwert, den das Medium im erzieherischen Alltag vieler Familien einnimmt, wo Umgang mancher Erziehender mit digitalen Spielen von Sorge geprägt ist. Dieser Umgang stellt sich sowohl in Familien als auch bei Fachkräften als heterogen dar. Während in manchen Familien restriktive Maßnahmen im Vordergrund stehen, wird das Medium vor allem bei medienbiographischen Spieleerfahrungen der Erziehenden in den gemeinsamen Familienalltag integriert. In der stationären Kinder- und Jugendhilfe stellt das Wissen über digitale Spiele sowohl eine Ressource in der direkten Arbeit mit Adressat*innen als auch bei der Etablierung adäquater Regeln für das gesamte Team dar.
Da ich mich selbst am Angelpunkt zwischen sozialpädagogischer Praxis und Forschung verorte, ist diese Arbeit fast rein empirisch und lebt auch von der Praxisnähe. Ich hoffe, diesem Anspruch der Praxisnähe gerecht geworden zu sein und mit diesem Buch einen Beitrag sowie eine Inspiration für die Forschung zu digitalen Spielen vor allem im sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Kontext erwirkt zu haben. Über Rückmeldung und Diskurs dazu freue ich mich sehr und wünsche etwaigen Leser:innen viel Vergnügen.
Danksagungen
Vorwort
1.Einleitung
2.Sozialpädagogische Aspekte
2.1 Digitale Spiele als Schutzräume
2.2 Kompetenzumkehr beim Umgang mit digitalen Medien
3.Mediennutzung
3.1 Freizeitaktivitäten von Jugendlichen
3.2 Technische Ausstattung von Jugendlichen
3.2.1 Spielen von digitalen Spielen
3.2.2 Spieldauer
3.2.3 Spielpräferenzen
3.2.3.1 Relevanz von Altersbeschränkungen
3.2.3.2 Geschlechtsspezifische Präferenzen
3.3 Veränderung in den letzten Jahren
3.3.1 Gemeinsames Spielen
3.3.2 Prävalenz von In-Game-Käufen
3.4 Relevanz digitaler Spiele im Alltag
3.5 Zusammenfassung
4.Computerspiele in der Familie
4.1 Stellenwert digitaler Spiele in der Familie
4.1.1 Erste Spielerfahrungen
4.1.2 Rolle der Geschwister
4.1.3 Gemeinsames Spielen
4.1.4 Spielintensität
4.1.5 Kompetenzen im Umgang mit digitalen Spielen
4.1.6 Kommunikation über Spiele
4.2 Funktionen in der Familie
4.2.1 Computerspiele als verbindendes Element
4.2.2 Computerspiele als Familienereignis
4.2.3 Computerspielen als Wettkampf
4.3 Geschlechtsspezifische Präferenzen
4.4 Regeln und Maßnahmen
4.4.1 Zeitliche Beschränkungen
4.4.2 Inhaltliche Beschränkungen
4.4.3 Lose Regulierungen
4.4.4 Konsequenzen
4.4.5 Konflikte
4.5 Zusammenfassung
5.Medien in der stationären Kinder- und Jugendhilfe
5.1 Technische Infrastruktur
5.2 Haltungen der Fachkräfte
5.3 Umgang und Regeln
5.4 Konzeptuelle Verankerung
5.5 Zusammenfassung
6.Problematische Aspekte bei digitalen Spielen
6.1 Sucht bei digitalen Spielen
6.1.1 Begriffsdefinition
6.1.1.1 Definitionen der Begriffe »Internetsucht« und »Computerspielsucht«
6.1.1.2 Internet Gaming Disorder im DSM-5
6.1.1.3 Kritik an der Definition der Internet Gaming Disorder
6.1.1.4 Gaming Disorder in der ICD-11
6.1.1.5 Debatte um die Aufnahme der Gaming Disorder in die ICD-11
6.1.1.6 Alternative Definitionen
6.1.2 Motivationsfaktoren von digitalen Spielen
6.1.2.1 Psychosoziales Moratorium
6.1.2.2 Exkurs: Spiele als Schutzräume
6.1.2.3 Amplification of Input
6.1.2.4 Soziale Faktoren
6.1.2.5 Immersive Faktoren
6.1.2.6 Leistungsfaktoren
6.1.2.7 Sozialer Druck
6.1.2.8 Zusammenhang von Spielmotivation und problematischem Spielverhalten
6.1.2.9 Abgrenzung problematischen Spielverhaltens
6.1.3 Messinstrumente
6.1.4 Prävalenz
6.1.4.1 Österreich
6.1.4.2 Deutschland
6.1.4.3 International
6.1.5 Risikogruppe
6.1.5.1 Alter
6.1.5.2 Genrepräferenz
6.1.5.3 Geschlecht
6.1.5.4 Prädiktoren
6.1.6 Geschlechterverteilung
6.1.7 Herausforderungen in der Praxis
6.1.8 Zusammenfassung
6.2 Konvergenz von Computerspiel und Glücksspiel
6.2.1 Finanzierungsmodelle
6.2.1.1 Flat Fee
6.2.1.2 Add-On/DLC
6.2.1.3 Free-to-Play
6.2.1.4 Pay-to-Win
6.2.1.5 Abonnements
6.2.2 Glücksspiel und Computerspiel
6.2.2.1 Definition von Glücksspiel in Österreich
6.2.2.2 Analogien zu klassischem Glücksspiel
6.2.2.3 Lootboxen
6.2.2.4 Simuliertes Glücksspiel
6.2.2.5 Skin Betting oder Skin Gambling
6.2.3 Prävalenz von In-Game-Käufen
6.2.3.1 Nutzer*innen
6.2.3.2 Geldmengen
6.2.4 Kritische Aspekte
6.2.4.1 Rolle der Herstellerfirmen
6.2.4.2 Rolle der Influencer*innen
6.2.4.3 Sozialer Druck
6.2.5 Zusammenfassung
7.Methode
7.1 Ziele und Forschungsfragen
7.2 Interviews
7.2.1 Familien
7.2.2 Kinder- und Jugendhilfe
7.2.3 Leitfragebögen
7.3 Zielgruppen
7.3.1 Familien
7.3.2 Stationäre Kinder- und Jugendhilfe
7.3.3 Expert*innen
7.4 Auswertungsmethode
7.5 Kategorien
7.5.1 Stellenwert bei Kindern und Jugendlichen
7.5.2 Spezifische Nutzungsart digitaler Spiele
7.5.3 Wissen über digitale Spiele
7.5.4 Erzieherische Zugänge
7.5.5 Wertung von digitalen Spielen
7.5.6 Kommunikation über die Computerspielnutzung
7.5.7 Computerspielverhalten der Eltern
7.5.8 Wertschätzung durch die Eltern
7.5.9 Spielmotivation
7.5.10 Anlaufstellen
7.5.11 Einfluss des Mediums auf den Alltag
7.5.12 Geschlechtsspezifische Unterschiede im Spielverhalten
8.Datenauswertung
8.1 Stellenwert von digitalen Spielen bei Kindern und Jugendlichen
8.1.1 Spielmotivationen
8.1.1.1 Leistungsanspruch und Wettbewerb
8.1.1.2 Gaming als Berufsoption
8.1.1.3 Soziale Motivationsfaktoren
8.1.1.4 Aufbau eines Spielcharakters
8.1.1.5 Spiele als Versuchsraum
8.1.2 Funktionen des Spielverhaltens
8.1.2.1 Veränderte Zeitwahrnehmung
8.1.2.2 Erfolgserlebnisse
8.1.2.3 Computerspielen als Copingstrategie
8.1.2.4 Spiele zur Entspannung
8.1.3 Bedeutung digitaler Spiele für den Alltag der Spielenden
8.1.3.1 Errungenschaften in Computerspielen
8.1.4 Bedeutung in der Peergroup
8.1.4.1 Gespräche über Spiele
8.1.4.2 Kontakt halten mit Freunden und Familie
8.1.4.3 Freundschaften in digitalen Spielen
8.1.5 Zugang zu Spielen
8.1.6 Spielpräferenzen
8.2 Erzieherischer Umgang mit digitalen Spielen
8.2.1 Sicherheitsgefühl
8.2.2 Regeln zum Umgang mit digitalen Spielen
8.2.2.1 Gegenstand der Regulierung
8.2.2.2 Konkrete Regeln
8.2.2.3 Individuelle Lösungen
8.2.2.4 Orientierung bei der Regelsetzung
8.2.2.5 Kontrolle der Regeln
8.2.2.6 Konsequenzen bei Regelbrüchen
8.2.3 Aufteilung der Erziehungsaufgaben
8.2.3.1 Sonderrolle männlicher Bezugspersonen
8.2.3.2 Sonderrolle der Geschwister
8.2.4 Teilhabe am Spiel und gemeinsames Spielen
8.2.4.1 Diskussionen über Spielinhalte
8.2.4.2 Gemeinsames Spielen in Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe
8.2.4.3 Einhalten von Altersbeschränkungen
8.2.5 Kommunikation über Spielnutzung
8.2.6 Belohnung und/oder Bestrafung mit Computerspielen als Erziehungsmaßnahme
8.2.7 Zusammenarbeit mit dem Herkunftssystem
8.2.8 Besondere Situationen und Herausforderungen
8.2.8.1 Spielspezifische Eigenheiten
8.2.8.2 Jugendliche schätzen Regeln
8.2.8.3 Regeln werden umgangen
8.2.9 Konzeptuelle Verankerung
8.3 Wissen über digitale Spiele
8.4 Wertung von digitalen Spielen
8.4.1 Abwertende Haltung
8.4.2 Wahrnehmung des Suchtpotenzials
8.4.3 Wahrnehmung von Monetarisierungsmodellen
8.4.4 Annahmen über positive Auswirkungen
8.5 Spezifische Nutzungsart
8.5.1 Umgang mit Mikrotransaktionen
8.5.2 Rolle von Influencer*innen
8.5.3 Kreativer und produktiver Umgang
8.5.4 Kontakt zu anderen Spielenden
8.5.5 Umgang mit Belästigungen und Hatespeech
8.5.6 Einschätzung des eigenen Spielverhaltens
8.6 Computerspielverhalten der Erziehenden
8.7 Geschlechtsspezifische Unterschiede im Spielverhalten
8.8 Unterstützungsmöglichkeiten
8.9 Reflexion des Forschungsprozesses/Grenzen der Arbeit
9.Zusammenfassung und Ausblick
9.1 Umgang mit digitalen Spielen bei Kindern und Jugendlichen
9.1.1 Motive
9.1.2 Funktionen
9.1.3 Mikrotransaktionen
9.1.4 Zur Rolle von Influencer*innen
9.1.5 Kontakte zu anderen Spielenden online
9.1.6 Geschlechtsspezifische Unterschiede
9.2 Umgang mit digitalen Spielen von Erziehungsberechtigten
9.2.1 Wissen über digitale Spiele
9.2.2 Wertung von digitalen Spielen
9.2.3 Erzieherischer Umgang
9.2.4 Regeln
9.2.5 Kontrolle der Regeln
9.2.6 Konsequenzen
9.2.7 Sonderrolle männlicher Bezugspersonen
9.2.8 Gemeinsames Spielen
9.2.9 Spiele als Gesprächsthema
9.3 Umgang mit digitalen Spielen bei Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe
9.3.1 Wissen
9.3.2 Wertung
9.3.3 Erzieherischer Umgang
9.3.4 Regeln
9.3.5 Kontrolle der Regeln
9.3.6 Konsequenzen
9.3.7 Gemeinsames Spielen
9.3.8 Jugendliche Selbstdarstellung auf sozialen Netzwerken
9.3.9 Spiele als Gesprächsthema
9.3.10 Zusammenarbeit mit dem Herkunftssystem
9.3.11 Konzeptuelle Verankerung
9.4 Befunde
10.Glossar
11.Abbildungsverzeichnis
12.Tabellenverzeichnis
13.Literatur
Als ich im November 2018 eingeladen war, einen Elternabend in einem Wiener Jugendzentrum mit einem Beratungsangebot zum Thema »Digitale Spiele in der Erziehung« zu begleiten, ereignete sich folgende Situation. Ich kam mit einem 9-jährigen Mädchen und ihrer Mutter ins Gespräch, da das Mädchen sich lebhaft mit einer der Spielkonsolen (Nintendo Switch), die ich mitgebracht hatte, beschäftigte. Im Gespräch mit dem Mädchen fragte ich es, ob es zuhause auch spielen dürfe, was sie bejahte. Auf die Frage hin, wie lange sie am Tag spielen dürfe, erntete ich einen verwunderten Gesichtsausdruck und folgende Antwort: »Bis der Akku leer ist.« Das Mädchen konnte die Frage offenbar nicht zuordnen und hatte elterliche Regulierung ihrer Mediennutzung noch nicht erlebt, ihre Mutter, die daneben saß, lächelte mich schulterzuckend an.
Während mich die unerwartete Reaktion des Kindes in der Situation amüsierte, ist diese Anekdote eine, die sich in vielen Variationen in meiner Praxis wiederholt und die sinnbildlich für eine Unsicherheit von vielen Erziehenden im Umgang mit digitalen Spielen in der Erziehung steht. Eine Unsicherheit, die nicht nur Familien betrifft. Im Rahmen meiner Beratungstätigkeit treffe ich regelmäßig auf gut ausgebildete und erfahrene Fachkräfte sozialer Arbeitsfelder, die angesichts des Spielverhaltens ihrer meist jugendlichen Adressat*innen verunsichert, besorgt oder verwundert sind. Fragen nach dem Umgang mit digitalen Spielen scheinen so keinesfalls banal, sondern beschäftigen auch versierte und erfahrene Professionist*innen. Die Fragen, wie es mit dem Umgang mit, den Werthaltungen zu und dem Wissen über Computerspiele bei Erziehenden bestellt ist, beschäftigten auch mich bereits vor diesen Erlebnissen. Dieses Buch stellt einen Versuch dar, Antworten auf diese Fragen zu finden.
Während einschlägige Studien zum Umgang mit digitalen Medien in Familien allgemein bestehen, gibt es kaum Erhebungen, die den Medienbegriff stärker differenzieren und auf ein bestimmtes Medium, wie hier auf digitale Spiele eingrenzen. Dies scheint ob der zunehmenden Differenzierung digitaler Spiele, öffentlicher Diskurse über deren Suchtpotenzial und der steigenden Beliebtheit dieser vor allem bei männlichen Kindern und Jugendlichen aber wünschenswert. Dieses Buch stellt darum einen Beitrag zur Erforschung eines Feldes dar, dem wissenschaftlich bislang wenig Aufmerksamkeit gewidmet wurde: dem Umgang mit digitalen Spielen in der Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Dieser Umgang wird demnach in verschiedenen Kontexten von erzieherischem Handeln beleuchtet. Neben traditionellen Familiensystemen stellt dabei die stationäre Kinder- und Jugendhilfe einen Bereich dar, in dem Erziehung in familienähnlichen Strukturen stattfindet und in dem ein Umgang mit digitalen Spielen gefunden werden muss.
Konkret wurden dazu Erziehende und Jugendliche in zwei Kontexten der Erziehung zu ihrem Umgang mit digitalen Spielen befragt. Einerseits waren dies traditionelle Familiensysteme, andererseits Wohngruppen im Rahmen stationärer Kinder- und Jugendhilfe. Weiters wurde relevante und aktuelle Forschung zu digitalen Spielen, die sich in den letzten Jahren rasant weiterentwickelte, analysiert und aufbereitet. Folgende Inhalte finden sich darum in diesem Buch wieder.
In Form einer Literaturrecherche wurde zuerst die Relevanz des Mediums in der jugendlichen Lebenswelt skizziert. Dabei wurde die Nutzung digitaler Spiele im deutschsprachigen und europäischen Raum sowie Besonderheiten bei der Nutzung dieser anhand aktueller Mediennutzungsstudien zusammengefasst. Weiters wurde der aktuelle Forschungsstand in Bezug auf die Nutzung digitaler Spiele in der Familie und der stationären Kinder- und Jugendhilfe im deutschsprachigen und internationalen Raum zusammengefasst. Außerdem wurden potenziell problematische Aspekte digitaler Spielenutzung wie ein pathologisches Spielverhalten oder spielimmanente Glücksspielelemente erläutert und anhand aktueller Erhebungen auf ihre Relevanz hin untersucht. Dies geschah zum einen aufgrund der politischen Aktualität dieser beiden Themen. Zum anderen sind die Themen Sucht und Glücksspielelemente jene Themen, denen ich sowohl in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als auch im beraterischen Kontext mit besorgten Eltern und Fachkräften bei weitem am öftesten begegne.
Im empirischen Teil wurden leitfadengestützt 30 Interviews mit Familien, Jugendlichen, Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe sowie Expert*innen aus einschlägigen Beratungsinstitutionen geführt und ausgewertet. Dies erfolgte, um folgenden Forschungsfragen nachzugehen:
1)Wie gehen Familien mit digitalen Spielen und dem Spielverhalten ihrer zu Erziehenden um?
2)Wie gehen professionelle Akteur*innen in der stationären Kinder- und Jugendhilfe mit digitalen Spielen und dem Spielverhalten ihrer jugendlichen Adressat*innen um?
3)Wie gestaltet sich der Umgang mit digitalen Spielen bei Kindern und Jugendlichen?
Die Forschungsfragen umfassen die Herausforderungen und Chancen, die von den Akteur*innen erlebt werden, das Wissen und die Werthaltungen dem Medium gegenüber, die Regulierungen, die dabei getroffen werden, die Art der Diskussionen, die diesbezüglich geführt werden sowie Fragen nach dem gemeinsamen Spielen und den Funktionen, die digitale Spiele in der Familie einnehmen.
Dem Titel dieses Buches, »Game Over«, ist ein Fragezeichen nachgestellt. Dies ist zum einen als Hinweis drauf gemeint, dass das Spielerleben selbst sich nicht nur auf das direkte Spielen beschränkt, sondern weit darüber hinaus auch soziale Aspekte der Spielenden mit beeinflusst. Zum anderen ist er als Hinweis darauf zu deuten, dass digitale Spiele zwar zum freudvollen Zeitvertreib einladen, das Spielen in der Praxis aber auch Phänomene bedingen kann, die im erzieherischen Umgang sehr ernst genommen werden und als problematisch wahrgenommen werden können.
Zu den Aspekten, die in diesem Buch als problematische Aspekte genannt werden, sei dabei noch Folgendes erwähnt. Während bei manchen Erhebungen einzelne Persönlichkeitsmerkmale (Geschlecht, persönliche Stressbewältigungsstrategien, Genrepräferenz) von exzessiven Spieler*innen im Vordergrund stehen (vgl. Rehbein 2015b; Yee 2007) und andere Studien die Familie, die sozioökonomischen Hintergründe und die familieninternen Erziehungsstile fokussieren (vgl. Kammerl et al. 2012; Lampert et al. 2012), gibt es meines Wissens nach kaum Studien, die den Umgang mit den Eigenheiten der Spiele selbst untersuchen (beispielsweise deren Finanzierungsmodelle oder deren Potenzial, sozialen Druck auf Spielende zu ermöglichen). Wenn das Thema des problematischen Spielverhaltens jedoch umfassend untersucht werden soll, reicht es nicht, die Verantwortung für das Phänomen bei Einzelpersonen und deren Familiensystemen zu suchen. Vielmehr muss auch die Dimension der Spielehersteller und deren Intentionen beachtet werden, die in vielen Fällen eine Gewinnmaximierung beinhaltet. Dieser Dimension wird auch in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion um problematisches Spielverhalten wenig Beachtung geschenkt (vgl. King 2018). Wenn durch teilweise fragwürdige Methoden Menschen zum Weiterspielen animiert werden und damit teils gezielt vulnerable Bevölkerungsgruppen monetarisiert werden, ist das ein Umstand, der eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, und damit auch eine Aufgabe für die Sozialpädagogik darstellt. Aus diesem Grund wird in diesem Buch, die im Kern auf den familiären Umgang mit dem Thema fokussiert, auch intensiv auf Finanzierungsmethoden der Spielehersteller eingegangen, mit denen Akteur*innen im familiären Umfeld konfrontiert sind und umgehen müssen.
Der Begriff der digitalen Spiele umfasst hier sämtliche Programme, die über Spielmechaniken verfügen und auf Smartphones, Computern, Konsolen oder ähnlichen Devices gespielt werden können. Der im deutschen Sprachgebrauch geläufige Begriff der Computerspiele wird in dieser Arbeit synonym mit digitalen Spielen und dem im englischen Sprachraum geläufigen Begriff der Videospiele (video games) verwendet.
In dieser Erhebung wurden Bewohner*innen und Fachkräfte aus stationären sozialpädagogischen Wohneinrichtungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe befragt. Diese sind damit gemeint, wenn im Folgenden von Wohneinrichtungen sowie Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen die Rede ist.
Vor allem von den jugendlichen Gesprächspartner*innen wurden in den Interviews eine Vielzahl von Spieltiteln genannt und spielespezifische Begriffe verwendet. Zur einfacheren Nachvollziehbarkeit und genaueren Definition wurden diese Begriffe und Spieltitel in einem kurzen Glossar zusammengefasst und erklärt.
Da digitale Spiele, wie gezeigt wurde, einen wichtigen Teil der Freizeitbeschäftigung von sehr vielen jungen wie auch älteren Menschen darstellen, kommt die Sozialpädagogik, wenn sie Jugendkultur ernst nimmt und dem Paradigma einer Lebensweltnähe gerecht werden möchte, nicht umhin, sich ernsthaft mit Implikationen von digitalen Spielen für ihr Feld zu beschäftigen. Dies wird ob der vielfältigen Funktionen von Computerspielen für jugendliche Individuationsprozesse evident, die hier angesprochen werden sollen.
Digitale Spiele wurden beispielsweise bei Lothar Böhnisch (2012, S. 157ff.) thematisiert, der in der Diskussion um Medien bei Kindern und Jugendlichen Herausforderungen sieht: die Spannung zwischen Eigenleben und Erziehung, in den meisten Erziehungskonzepten relativ souverän thematisiert, werde im pädagogischen Zwist um Medien zum Dilemma (vgl. ebd., S. 157). Die Jugend sei heute deutlich mehr als zuvor in der Lage, sich autonome Lebensbereiche zu erschließen, und mehr als das: sie sei auch früher gefordert, dies zu tun (vgl. ebd., S. 162f.). Zu der zunehmenden Individualisierung von Lebensräumen, die, wie Hajok (2019a, S. 36) anmerkt, schon vor mehr als 30 Jahren von Ulrich Beck mit dem Begriff der »Risikogesellschaft« geradezu prophezeit wurde (vgl. Beck 1986), kommt eine weitere große Schwierigkeit: »In der zunehmend komplexen Welt sind Erziehende nun einmal immer weniger in der Lage, unseren Schützlingen den für sie ›besten‹ Weg zu zeigen, die ›richtigen‹ Antworten auf drängende Fragen zu geben (…)« (Hajok 2019a, S. 36). Dass viele Erziehende neue Medien wie digitale Spiele angesichts ihrer Komplexität relativ wenig nutzen und dieser Umstand auch zu größeren Sorgen um die Wirkung dieser Medien beitragen kann, zeigt sich anhand empirischer Erhebungen (vgl. Wagner et al. 2013, S. 247). So sind Kinder und Jugendliche sehr früh gefordert, eigene Zugänge zu digitalen Medien und mit diesen zu einem kulturell relevanten Lebensaspekt zu finden. Hajok (2019a, S. 36) spricht dabei von Selbstlernen und einer Selbstsozialisation von Kindern und Jugendlichen im digitalen Raum. Den Zugang, den Kinder und Jugendliche sich selbst erarbeiten, haben sie ihren Eltern dann voraus, und zwar sowohl auf technischer Ebene im Sinne der Handhabung der Gerätschaften als auch auf inhaltlicher Ebene, wenn es um das Kennen und Wissen um bestimmte soziale Plattformen, Nachrichtendienste oder digitale Spiele geht. Daher ist anzunehmen, dass sich viele Kinder und Jugendliche in Positionen finden, in denen etablierte Altershierarchien in Familien auf den Kopf gestellt werden – zum Beispiel, wenn sehr junge Kinder ihren Eltern die Software auf deren neuem Smartphone erklären oder Erziehende von ihren Kindern in Computerspielen besiegt werden. Somit nehmen die Kinder auch eine lehrende Funktion ein, wenn sie in der Lage sind, ihren Eltern den Umgang mit digitalen Medien als neue Kulturtechnik näherzubringen. Dies sorgt aber nicht nur für Irritation in manchen Familien, sondern hat auch für Kinder und Jugendliche selbst Auswirkungen.
Besonders evident werden die Auswirkungen für Jugendliche an der bereits erwähnten Erosion von jugendlichen Schutzräumen, welche die zunehmende Digitalisierung des Alltags mit sich bringt. Die Zeit der Jugend ist eine Zeit, die traditionell auch mit einer gewissen gesellschaftlichen Nachsicht verbunden ist (vgl. Hajok 2019a, S. 38). In der Erziehung gilt es demnach auch, jungen Menschen einen Raum zu geben, um durch Experimentieren ihre Entwicklungsaufgaben bewältigen zu können: »Hier gilt es, mit möglichst transparenten Grenzen einen Handlungsraum zu definieren, diesen dann möglichst frei von Gefahren zu halten und ansonsten eine weitgehend freie, an persönlichen Bedürfnissen, Interessen und Kompetenzen orientierte Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu ermöglichen« (ebd.). Die Jugend müsse im Sinne des Moratoriumgedankens des 20. Jahrhunderts geschützt werden; sie müsse also die Möglichkeit haben, Grenzen auszutesten, ohne die realweltlichen Konsequenzen dafür zu spüren (vgl. Böhnisch 2012, S. 163). Fraglich ist, ob dieses grundlegende pädagogische Konzept (vgl. Hajok 2019a, S. 38) in einer von digitalen Medien geprägten Welt noch haltbar und gültig ist.
Neue Medien bringen für Menschen die Möglichkeit mit sich, relativ mühelos Inhalte zu produzieren und diese bereits in jungem Alter einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren. Man denke diesbezüglich an Influencer*innen oder Streamer, die oft noch minderjährig sind, aber deren Videos von Millionen von Menschen regelmäßig betrachtet werden (vgl. Social Blade 2020). Aber auch ohne Millionen von Followern ist es leicht, Inhalte zu produzieren und öffentlich zu posten, die, aus der Distanz einiger Jahre betrachtet, vielleicht nicht als förderlich betrachtet werden. Dann stehen Nutzer*innen vor dem Problem, dass das Internet sprichwörtlich »nicht vergisst« und auch unliebsame Daten nur schwer gelöscht werden können. Mit der großen Öffentlichkeit, die neue Medien jungen Menschen bieten und der Unmöglichkeit, auch kompromittierende Inhalte nachhaltig aus dem Netz zu entfernen, untergraben neue Medien die Grundidee von Jugend als psychosoziales Moratorium (vgl. Böhnisch 2012, S. 163). Wenn es eine der zentralen Aufgaben von Jugendarbeit ist, solche geschützten Räume anzubieten und damit Jugend zu ermöglichen, stellt sich die Frage, ob der digitale Raum in diesem Sinne überhaupt schützbar ist – eine Frage, die Böhnisch verneint (vgl. ebd.).
Digitale Medien sollen hier noch weiter differenziert betrachtet werden. Während die Erosion jugendlicher Schutzräume für das Medium der sozialen Plattformen seine Gültigkeit hat, so könnte man in Bezug auf digitale Spiele auch anders argumentieren. Digitale Spiele könnten vor dem Hintergrund sich auflösender Schutzräume für Jugend auch als Gegenthese dazu betrachtet werden. Computerspiele bieten je nach Design die Möglichkeit, Lernerfahrungen zu machen und Risiken einzugehen, ohne realweltliche Konsequenzen davontragen zu müssen – und sind damit genau das, was Erik Eriksson als psychosoziales Moratorium bezeichnet hat (vgl. Gee 2007, S. 59). Es gibt in vielen Spielen die Möglichkeit, einen Charakter nach eigenen Wünschen zu erstellen, Spielzüge auszuprobieren und bei unerwünschtem Ergebnis einen gespeicherten Spielstand zu laden oder die Schwierigkeit des Spiels zu verändern, sollte es zu einfach oder zu herausfordernd sein. Auch, wenn in ein Spiel viel Zeit und Energie gesteckt wurde und ein Sieg oder eine Niederlage Auswirkungen auf den Gemütszustand haben können, sind die Kosten eines verlorenen Spiels am Computer im Vergleich zu den Kosten eines unerwünschten Verhaltens am Arbeitsplatz oder in der Schule verhältnismäßig gering (vgl. Gee 2007, S. 59).
Eine Dimension, die den Effekt von digitalen Spielen als psychosoziales Moratorium dabei relativiert, ist die der Onlinespiele und der großen Spielecommunitys in diesen. Digitale Onlinespiele zeichnen sich dabei nicht nur durch straffreies Erkunden und Experimentieren aus, sondern haben oft einen Wettkampfcharakter, der vor allem in Teamspielen zu abwertendem und beleidigendem Verhalten Spieler*innen gegenüber führt (vgl. Breuer 2017). Dieses Verhalten ist in vielen Onlinespielen keine Seltenheit. So geben 73 Prozent der Spieler*innen in den Vereinigten Staaten an, bereits in Onlinespielen beleidigt oder belästigt worden zu sein (vgl. Anti-Defamation League 2019, S. 7). 53 Prozent davon wurden aufgrund ihres Geschlechtes, ihrer Ethnie, sexuellen Orientierung oder ihrer Religion beleidigt (vgl. ebd.). Dass vor allem Frauen oft Ziel von übergriffigem Verhalten in digitalen Spielen sind, macht eine Vielzahl von Videoberichten junger Frauen deutlich, die die Kommentare ihrer Mitspielenden aufzeichneten und den frauenverachtenden Umgangston in vielen Onlinespielen dokumentierten (vgl. Spawntaneous 2019). Dabei geschieht der Übergang zwischen sportlichem Necken des Gegners zu übergriffigen Kommentaren oft fließend und ist geprägt von einer Gruppennorm, die dieses Verhalten zulässt bzw. sogar begünstigt (vgl. Breuer 2017, S. 108f.). Im Vergleich zu vielen anderen digitalen Medien wie sozialen Plattformen ist ein soziales Korrektiv in digitalen Spielen, in denen sich Hobbyspieler*innen noch größtenteils anonymisiert aufhalten, nur bedingt gegeben. Meist besteht dieses Korrektiv in Form von Funktionen, unangemessenes Verhalten von Mitspieler*innen den Herausgebern des Spiels zu melden (vgl. Howard 2019) – mit intransparenten Resultaten. Gleichzeitig bieten Onlinespiele Spielenden Möglichkeiten, in relativer Anonymität neue soziale Rollen auszuprobieren. Somit stellen sie einen Bereich digitaler Spiele dar, der im Sinne eines sanktionsfreien Ausprobierens neuer Rollen zwar ein psychosoziales Moratorium bietet, durchaus aber auch ein Abscheubild von diesem sein kann, wenn durch übergriffiges und beleidigendes Verhalten Frauenfeindlichkeit und diskriminierendes Gedankengut verbreitet werden.
Eine Jugend, die von einer starken Präsenz digitaler Medien geprägt ist, kann und muss diese Medien also auf vielfältige Weise nutzen, um altersspezifische Entwicklungsaufgaben und (vorgezogene) Individualisierungsprozesse zu erfüllen. Angesichts des großen Stellenwertes digitaler Medien zeigt sich aber, dass viele Jugendliche die Präsenz dieser als Stressfaktor erleben. Es wird über verschiedene Kanäle wie WhatsApp, Instagram oder Discord gleichzeitig kommuniziert, reagiert und schnelle Reaktion auf Nachrichten wird oft auch erwartet (vgl. Hajok 2019a, S. 37). Ähnliches könnte auch beim Spielen digitaler Spiele der Fall sein, wenn zum Beispiel klassenintern regelmäßige Spielabende mit dem Spiel Fortnite veranstaltet werden. Diese Art sozialer Druck, an der medialen Welt teilzuhaben, wird von vielen Kindern und Jugendlichen als unangenehm und stressinduzierend empfunden (vgl. Saferinternet 2019). Damit wird eine neue Aufgabe von Eltern und sozialpädagogischen Fachkräften evident. Die Selbstregulation ist vor allem bei jüngeren Kindern und in Bezug auf digitale Medien nur sehr bedingt gegeben (vgl. Hajok 2019a, S. 36f.), womit Erziehende in der Pflicht stehen, auf das subjektive Stressempfinden der Heranwachsenden im Umgang mit digitalen Medien zu achten, dieses zu thematisieren, und Kinder beizeiten auch zu entlasten, indem strengere zeitliche Mediennutzungsregelungen konsequent eingefordert werden.
Auffällig ist, dass sowohl die mediale Berichterstattung, Elternratgeberliteratur als auch manche wissenschaftlichen Publikationen (vgl. forsa 2019) einen Fokus auf potenziell problematische Aspekte digitaler Medien legen. Ziel ist dabei oft, problematische Aspekte digitaler Medien im jugendlichen Alltagsgebrauch zu erkennen und Ableitungen für die pädagogische Praxis zu treffen. Naheliegend ist da der Vergleich mit dem Rebecca-Mythos, nach dem jedes neue Medium im Generalverdacht steht, die Jugend zu verderben und, im schlimmsten Fall, den Untergang des Abendlandes, wie wir es kennen, zu beschleunigen (vgl. Postman 1998). Ein Gedankenexperiment, das den gesellschaftlichen Stellenwert neuer Medien in Frage stellt, bietet der Kolumnist und Autor Sascha Lobo an, wenn er von der Annahme ausgeht, dass Videospiele bereits vor fünfhundert Jahren erfunden worden wären und das Buch eine Erfindung der Gegenwart wäre (vgl. Lobo 2019, S. 367f.). Dann könne es sein, dass die fehlende Interaktivität, der Zwang, sich allein ohne soziale Interaktion zu beschäftigen und der lineare Erzählfluss des Mediums Buch, der Menschen dazu zwinge, einen Gedanken zu verfolgen und dadurch Unfähigkeit vermittle, Einfluss auf die eigene Biografie zu nehmen, plausible Argumente von Gegner*innen dieser fiktiv neuen Kulturtechnik wären (vgl. ebd.).
Dass neue Medien die Gesellschaft rasant verändern und nachhaltig prägen, steht außer Frage. Dabei ist nicht undenkbar, dass die Jugend in ihrer mutmaßlichen Medienaffinität auf die Herausforderungen der Gesellschaft im 21. Jahrhundert besser vorbereitet ist als ihre Erziehenden, die sie darauf vorbereiten sollten. Weitverbreitete Running Gags im Internet thematisieren den Umstand, dass Kinder ihren Eltern oft in der Handhabung neuer Medien überlegen sind und diese dabei unterstützen (vgl. Visual Statements 2020).
Dies gilt nicht nur für digitale Spiele, bei denen eine Kompetenzumkehr auch anekdotisch am evidentesten ist, wenn Eltern von ihren jungen Kindern in digitalen Spielen besiegt werden, sondern auch für den Umgang mit Phänomenen wie Fake News, die von Menschen über 60 Jahren dreimal so oft verbreitet werden als von Menschen zwischen 18 und 29 Jahren (vgl. Loos/ Nijenhuis 2020, S. 12). Lobo bringt diese Kompetenzumkehr sehr überspitzt auf den Punkt, wenn er schreibt: »Jahrelang warnten uns unsere Eltern vor den Gefahren im Internet, und jetzt fallen sie selbst auf jede einzelne herein« (Lobo 2019, S. 367).
So ist auch die Kompetenz von Kindern und Jugendlichen zu werten, elterlichen Kontrollen sehr elegant aus dem Weg zu gehen. Wenn Kommunikationsmittel wie WhatsApp von Eltern verboten werden, bietet sich der Chat in digitalen Spielen wie Clash of Clans oder Plattformen zur gemeinsamen Textbearbeitung wie Google Docs an, ohne elterliche Kontrolle zu kommunizieren. Weil, hier nochmal Lobo: »[…] [F]ür Erwachsene ist Datenschutz, Persönliches vor dem Staat und Unternehmen verbergen zu können. Für Kinder und Jugendliche aber bedeutet Datenschutz, Persönliches vor den Eltern verbergen zu können« (Lobo 2019, S. 374).
So polemisch die Erörterungen von Lobo sein mögen, ist eine Kluft in den Kompetenzen in der Handhabung digitaler Medien zwischen Kindern und ihren Erziehenden nicht einfach von der Hand zu weisen. Für die Sozialpädagogik ist dies insofern bedeutsam, als dass hier ein Drahtseilakt zu bewältigen ist. Zum einen soll und muss das Paradigma der Lebensweltnähe im Sinne eines breiten Verständnisses und auch Teilhabe an der oft virtuellen Lebenswelt der Adressat*innen aufrechterhalten werden. Zum anderen gilt es auch, jugendliche Schutzräume zu respektieren und gewisse Sphären digitaler Spiele und sozialer Netzwerke nicht mit gut gemeinten Beratungsangeboten zu infiltrieren, sondern diese auch Jugendlichen zur Bewältigung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben zu überlassen. Es muss also auch eine Aufgabe der Sozialpädagogik sein, Wissen über die digitalen Lebensräume von Jugend zu generieren, nicht nur, um im Bedarfsfall bei negativen Erfahrungen mit diesen kompetente/r Ansprechpartner*in zu sein, sondern auch, um einen sensiblen und wertschätzenden Umgang mit diesen jugendlichen Lebenswelten gewährleisten zu können.
Digitale Spiele konnten sich als Medium in den letzten zwei Jahrzehnten klar profilieren. Dafür sprechen auch die Umsätze, die das Medium generiert: bereits vor 2018 konnte die (digitale) Spieleindustrie mehr umsetzen als die bis dahin größte Sparte der Unterhaltungsindustrie, Hollywood (vgl. Shieber 2018). Manche Praktiker*innen sprechen von digitalen Spielen als neuer Leitkultur (vgl. e-sports 2018). Ob und wie sich diese mutmaßliche Entwicklung zur Leitkultur in der Mediennutzung digitaler Spiele von Kindern und Jugendlichen niederschlägt und wie sich die Nutzungsfrequenz von Computerspielen in der Familie gestaltet, ist anhand etablierter und sorgfältig recherchierter Studien im deutschsprachigen Raum belegt und wird anhand dieses Kapitels beleuchtet. Ein Fokus wird dabei auf das Spielen digitaler Spiele gelegt, wobei auch andere für die Forschungsfrage relevante Aktivitäten miteingeschlossen werden. Herangezogen wurden dafür unter anderem die JIM-Studien der vergangenen Jahre aus Deutschland sowie die aktuelle Oberösterreichische Jugendmedienstudie aus Österreich.
Ein Blick in die öffentlichen Verkehrsmittel oder in die Pausenhöfe mancher Schulen kann den Eindruck erwecken, Kinder und Jugendliche verbrächten einen Großteil ihrer Zeit in direkter Beschäftigung mit neuen Medien. Tatsächlich zeigt sich ein deutlich differenzierteres Bild. Auf der Liste der liebsten Freizeitbeschäftigungen von Kindern und Jugendlichen steht an oberster Stelle – nicht überraschend, aber vielleicht für manche/n besorgte/n Beobachter*in jugendlicher Lebenswelt beruhigend – das Treffen mit Freund*innen und Peers (vgl. Education Group 2019, S. 6).
Mehr als 74 Prozent der 1200 befragten Kinder und Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren geben auch im Rahmen der JIM-Studie an, sich in ihrer Freizeit am liebsten mit Freund*innen zu treffen (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016, S. 9). Die Präferenz zu Kontakten mit Peers gegenüber anderen Tätigkeiten zieht sich seit Jahren durch Mediennutzungsstudien (vgl. ebd.; Education Group 2019, S. 6; Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2012, S. 11) und ist als eindeutiger Hinweis darauf zu verstehen, dass das Aufkommen neuer Medien die Priorität sozialer Kontakte bei Kindern und Jugendlichen nicht verändert hat. Die Verfasser der JIM-Studie 2016 räumen dabei aber ein, dass die Kanäle, über die diese Kontakte zustande kommen, sich verändert haben könnten und dass das Treffen von Freund*innen von zahlreichen Medientätigkeiten wie dem gemeinsamen Nutzen von Programmen auf dem Smartphone begleitet ist (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2016, S. 9).
Im Vergleich zu den 72 Prozent der befragten Jugendlichen, die im Rahmen der Oberösterreichischen Jugendmedienstudie angaben, sich in ihrer Freizeit am liebsten mit Freund*innen zu treffen, wirkt das Spielen von Computerspielen, das von 56 Prozent als eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen angegeben wurde (vgl. Education Group 2019, S. 6), etwas abgeschlagen. Dabei ist aber auch zu beachten, dass sich für das Treffen von Freund*innen beide untersuchten Geschlechter mit je 72 Prozent gleichermaßen begeistern, das Spielen von Spielen aber nur 46 Prozent der Mädchen als liebste Freizeitbeschäftigung angaben, während dies bei den Burschen mit 67 Prozent deutlich mehr waren (s. Abb. 2).
Interessant ist darüber hinaus der zweitplatzierte Punkt, der mit »am Computer, Tablet, Handy, etc. etwas machen« (ebd.) sehr umfassend formuliert ist. Was damit konkret gemeint ist, ist aus der Studie leider nicht ersichtlich und es kann nicht ausgeschlossen werden, dass manche der Befragten auch spielerische Aktivitäten mit Medien unter diesen Punkt fassten. Ähnlich unscharfe Formulierungen finden sich auch in der JIM-Studie, wenn bei der Frage nach den am meisten frequentierten medialen Freizeitbeschäftigungen das Internet mit 97 Prozent und das Smartphone mit 96 Prozent der Befragten angegeben wurde (vgl. Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest 2019, S. 12). Ebenfalls erhoben wurde die Nutzung von Onlinevideos mit 84 Prozent bzw. digitalen Spielen mit 63 Prozent. Diese Medien sind von Smartphone und Internet aber kaum trennbar, weshalb eine gewisse Unschärfe bei der Frage entsteht, was die Jugendlichen nun genau machen.
Evident wird bei Sichtung der liebsten Freizeitbeschäftigungen auch, dass das Erledigen von Hausaufgaben und Lernen als liebste Freizeitbeschäftigung für 59 Prozent der Befragten über dem Spielen von Computerspielen, Fernsehen oder dem Surfen im Internet gereiht ist (vgl. ebd.). Da dieses Ergebnis einem Praxistest wohl nur sehr schwer standhalten würde, muss davon ausgegangen werden, dass manche der Befragten sozial erwünscht antworteten. Unter dem Licht potenziell sozial erwünschter Antworten muss auch das Spielen von digitalen Spielen betrachtet werden, das noch keine breite Anerkennung als sinnvoll verbrachte Freizeitbeschäftigung gefunden hat und dessen Nutzung oft negativ konnotiert ist. Somit könnte auch die tatsächliche Zahl der spielenden Jugendlichen höher anzusetzen sein.
Mit der Frage, wie viele Kinder und Jugendliche digitale Spiele nutzen, ist auch die Frage verbunden, welche Plattformen dazu verwendet werden und welche Ausstattung in Familien bereitsteht. Mit Preisen von mehr als 400,- Euro für manche Spielkonsolen und bis zu 70,- Euro für ein Computerspiel ist dies auch eine finanzielle und soziale Frage.