Helene Beltracchi • Wolfgang Beltracchi

Selbstporträt

Mit Collagen und Zeichnungen von Wolfgang Beltracchi

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über Helene Beltracchi / Wolfgang Beltracchi

Wolfgang Beltracchi, 1951 in Höxter geboren, ist Maler und gilt als einer der vielseitigsten Kunstfälscher der Geschichte, wofür er 2011 in einem aufsehenerregenden Prozess zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt wurde. Nach Jahrzehnten des Herumziehens seit 1992 mit seiner Frau Helene verheiratet, lebt und arbeitet er mit ihr in Köln und Südfrankreich. Helene Beltracchi, 1958 bei Köln geboren, ist deutsch-belgischer Herkunft; weil sie beim Verkauf der gefälschten Bilder geholfen hatte, wurde sie zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt.

 

Mehr unter: www.beltracchi-art.com

Über dieses Buch

Die Geschichte Wolfgang Beltracchis beschreibt diese Entwicklung: Geboren und aufgewachsen in der westfälischen Provinz nicht weit der niederländischen Grenze, hat er nach einem Hippie-Wanderleben mit Stationen in Paris, Brüssel, Amsterdam, München und Berlin, Spanien und Marokko ein zurückgezogenes, man kann auch sagen: verborgenes Leben in Südfrankreich, nicht weit von Montpellier, geführt. Der innere Wendepunkt der Biographie kam plötzlich, binnen weniger Tage. Es war die Begegnung mit seiner Frau Helene, die seine Lebensvorstellungen, sein Lebensgefühl, seine Ziele und Einstellungen von Grund auf veränderte.

 

Gemalt allerdings hat er vorher und nachher, und sein «Werk» trägt die Handschriften sehr vieler Maler. Er beherrschte nicht nur drei oder vier Künstler wie andere Fälscher, sondern Maler in staunenswerter Zahl. Noch heute hängen seine Bilder in den Museen, sind in Werkverzeichnissen, Kunstbüchern, Sammlungen zu sehen, ein Vorgang, angesichts dessen sich die Frage nach Original und Fälschung mit neuer Dringlichkeit stellt.

 

Wie das möglich war, wie die Geschichte eines Künstlers verlief, der sein eigenes Können im Werk anderer realisierte, wie dabei in spielerischem Einfallsreichtum, Kennerschaft, Hedonismus, Betrug, sozialer und ästhetischer Fiktion eine Gesamtarbeit entstand, in der die einzelnen Bilder nur ein Moment einer großen Veranschaulichung der Prozeduren des Marktes und der Gier darstellen, das wird in diesem aufsehenerregenden Buch von Helene und Wolfgang Beltracchi gemeinsam erzählt.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Januar 2014

Copyright © 2014 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Barbara Oetter, Jörg Magenau und Alexander Fest

Gestaltung Christine Lohmann und Wolfgang Beltracchi

(Umschlagabbildung: Wolfgang Beltracchi, Selbstporträt nach Picasso)

Lithographie Grafische Werkstatt Susanne Kreher, Hamburg

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-498-06063-3 (3. Auflage 2014)

ISBN E-Book 978-3-644-03941-4

www.rowohlt.de

 

Anmerkung: Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die Seitenzahlen der Printausgabe.

ISBN 978-3-644-03941-4

Fußnoten

1

In seinem 2011 erschienenen Buch ‹Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst› erklärt der Flechtheim-Forscher Ottfried Dascher noch, das Gemälde stamme eindeutig aus der Sammlung Flechtheim; in dieser Flechtheim-Biographie bestätigt er die Echtheit des Bildes. Erst dem Kunsthistoriker und FAZ-Redakteur Niklas Maak fiel Anfang 2012 die Fälschung auf, die sich im Besitz des Museums Marie Laurencin in Nagano, Japan, befand. Das zweite von mir angefertigte Porträt der Malerin, das ihren ehemaligen Geliebten Guillaume Apollinaire zeigt, habe ich bis heute nicht wiedergesehen.

2

‹Herbin› von Geneviève Claisse, erschienen 1993 bei Editions du Grand-Pont, Lausanne, Seite 311

3

Miquel Barceló, Carnets d’Afrique, Gallimard, Paris 2003

4

Klaus Lankheit, Franz Marc. Sein Leben und seine Kunst, DuMont, Köln 1976

5

Die Leinwand, die ich übermalte, zeigte das Porträt eines Bauern und nicht, wie vom Rathgen-Forschungslabor im August 2011 vermutet, ein Porträt Alfred Flechtheims. Das Institut hatte bei einer Röntgenuntersuchung die Schatten des Männerkopfes sichtbar gemacht und diese Theorie entwickelt. Noch abwegiger ist die Theorie des Deutschen Archäologischen Instituts, dass das Holz des sächsischen Keilrahmens von 1930 vom gleichen Baum stammen soll wie das eines französischen Chassis von 1910, das ich erst Jahre später in Paris erworben und für einen Derain von 1906 benutzt hatte.

6

Andererseits halten viele meine Arbeit bei hohem Marktwert eines Künstlers für besonders perfide: je höher der Preis, umso größer die moralische Entrüstung. Diese Haltung erkenne ich auch in der Meinung einiger weniger Marktbeobachter, die nicht in meiner Gefängnisstrafe die wahre Buße sehen, sondern erst den Verlust meines Vermögens zur Befriedigung der Gläubiger als Bestrafung anerkennen.

7

Guillaume Apollinaire, Les Peintres Cubistes, Eugène Figuière et Cie, 1913

8

Georg Biermann, Max Pechstein (Junge Kunst 1), Leipzig 1920

9

Katalog der Ausstellung Raoul Dufy, Museu Picasso de Barcelona 1999, S. 118.

10

In der Erstauflage dieses Buchs war irrtümlich angegeben, das Bild sei auch im Berliner Brücke-Museum ausgestellt gewesen. Das war nicht richtig.

11

Tina Öcal in: Sehepunkte, 12 (2012), Nr. 6

12

Georg Heuberger (Hg.), Expressionismus im Exil: die Sammlung Ludwig und Rosy Fischer, Prestel Verlag 1990, S. 46

13

Annemarie und Wolf-Dieter Dube (Hg.), Ernst Ludwig Kirchner, Das graphische Werk, Prestel Verlag 1967

14

Im Mai 2013 berichteten die französischen Zeitungen: Werner Spies und die Pariser Galeristen Cazeau-Béraudière wurden am 24. Mai 2013 vom Zivilgericht in Nanterre zur Schadensersatzzahlung des Kaufpreises von 652883 Euro an die Monte Carlo S. A. verurteilt.

15

Daniel-Henry Kahnweiler, André Derain (Junge Kunst 47) Leipzig 1920: «… doch glaube ich, dass es vorzüglich Derain war, der den Andern durch Wort und Tat Cézannes Lehre vermittelte … Nehmen wir als Beispiel das Haupt der Gruppe Matisse. Wie hat auf ihn der neue Wind gewirkt, der mit Eintritt Derains in die Gruppe brach? Vor allem aufstachelnd, zur Anstrengung spornend … Matisse begnügte sich damit, seine gegebene Fläche harmonisch, in Form und Farbe, zu gliedern.»

16

Nachzulesen bei Anne Sinclair, der Enkelin von Paul Rosenberg, dem Galeristen Picassos, in ‹21 rue la Boétie›, Paris 2012 (dt. 2013).

17

Zum Anbringen der Etiketten benutzte ich häufig auch Mehlkleister, den ich aus biologisch angebautem Weizenmehl kochte, um zu vermeiden, dass sich irgendwelche modernen, chemischen Zusätze oder Pestizide im Kleber befanden.

18

James Roundell, Mitinhaber der Galerie Dickinson und ehemaliger Chefexperte für klassische Moderne bei Christie’s, war 2006 Mitglied des Kunstbeirats der Hilti Foundation. Am 3.4.2006 schreibt er: «Lieber Michael (Hilti), … ich freue mich, Dir die Rechnung für das Derain-Gemälde schicken zu können … Es ist mir gelungen, den Kaufpreis von 6500000 $ auf 6200000 $ zu reduzieren …»

19

Daniel-Henry Kahnweiler, Meine Maler – meine Galerie, Verlag DuMont Schauberg, Köln 1961

20

Volker Pirsich, ‹Der Sturm›, Herzberg 1985, Anmerkung 43, S. 352

21

Verso des Gemäldes ‹Nature morte aux cylindres colorés› 1913, Seite 118/119, Katalog der Fondation Beyeler, Prestel Verlag, München 1997

22

Die 2009 vorgenommenen Untersuchungen ergaben deshalb auch keine Auffälligkeiten. Nichts sprach gegen die Authentizität des Werkes. Auch bei den späteren radiologischen Untersuchungen des LKA wurden keine früheren Untermalungen gefunden, das beauftragte Labor konnte keine Neuverwendung oder Doublage der Leinwand ermitteln.

Festgestellt wurde lediglich der leichte Abrieb der Grundierung und dass die Leinwand noch original aufgespannt war, und das war nur logisch: Bei dem Spannrahmen handelte es sich um ein französisches Produkt, bei dem die kürzeren Leisten gegen die Schnittkante der längeren Leisten genagelt und mit einer Mittelstrebe stabilisiert sind, ein keilloser Rahmen, der nicht nachgespannt werden kann.

Übrigens kann man sagen, dass die Prüfung der von mir verwendeten Rahmen zu bemerkenswert phantasievollen, ja fast schon komischen Befunden geführt hat. Bei der Untersuchung der Spannrahmen von insgesamt sieben verdächtigen Bildern beispielsweise kam das Deutsche Archäologische Institut in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Materialprüfung 2010 im Auftrag des LKA auf eine einigermaßen kuriose Theorie: Angeblich könne das Holz des Rahmens, den ich für Légers ‹Nature Morte› benutzt hatte, mit einiger Wahrscheinlichkeit, aber «nicht mit hinreichender Sicherheit» vom selben Baum stammen wie der Rahmen der ‹Seinebrücke mit Frachtkähnen› von Max Pechstein. Ein wirklich erstaunliches Ergebnis (RF 113 091310, Gemälde «Seinebrücke mit Frachtkähnen», H.M. Pechstein zugeschr., Gutachten Rathgen-Labor Seite 74).

Immerhin ist das Pariser Pechstein-Gemälde tatsächlich auf eine französische Leinwand gemalt: Schließlich sollte die Seine-Darstellung ein in Paris gemaltes Bild sein (Pechstein verwendete solche Rahmenkonstruktionen aber auch für Gemälde, die an der Ostsee entstanden, zum Beispiel für ‹Grauer Tag› von 1911). Der Rahmen war noch mit Originalleinen bespannt und trug den Herstellerstempel auf der Leinwand; das Landschaftsgemälde, das ursprünglich darauf zu sehen war, hatte ich um 1995 in Paris an der Porte de Clignancourt gekauft. Es würde schon an ein Wunder grenzen, wenn zwei von unterschiedlichen Herstellern industriell vorgefertigte Leinwände, die ich im Abstand von zehn Jahren an 700 Kilometer voneinander entfernten Orten erworben hatte, aus dem Holz ein und desselben Baumes gemacht sein sollten.

Noch unwahrscheinlicher war die Vermutung, dass auch die Rahmen für Campendonks ‹Else Lasker-Schüler gewidmet› und Derains ‹Collioure-Ansicht› aus demselben Holz gezimmert sein könnten. Denn den Keilrahmen für den Campendonk hatten Lene und ich auf einem Markt in der Kölner Südstadt gefunden, und als ich ihn verwandte, war er schon mehrere Jahre in meinem Besitz gewesen, eine Konstruktion, wie man sie in Deutschland vor 1930 häufig benutzte, mit in den Winkeln eingeschobenen Keilen, wodurch die Leinwand nachgespannt werden kann. Demgegenüber entdeckten wir die Leinwand für den Derain auf einem Antikmarkt in Béziers, nur wenige Wochen bevor der ‹Hafen von Collioure› entstand. Der Rahmen, von der Machart her mit dem des Léger identisch, ist eindeutig französischer Herkunft.

Als Holzart wurde bei den Untersuchungen des Archäologischen Instituts für alle Rahmen Fichte bestimmt, das Datum, an dem der Baum gefällt worden war, mittels einer Kohlenstoffanalyse «mit hoher Wahrscheinlichkeit» auf einen Zeitraum zwischen den Jahren 1660 bis 1955 eingegrenzt. So weit kann es die Wissenschaft manchmal bringen.

Tatsächlich hatten wir die sieben untersuchten Rahmen im Lauf von zwanzig Jahren an weit voneinander entfernten Orten Europas zusammengetragen. Der Zeitraum ihrer Entstehung lag zwischen 1900 und 1930, und sie wurden an verschiedenen Orten in verschiedenen Ländern gefertigt.

23

Jahre später, vom 4. Juni bis 28. Juli 2013, sollten die Aufnahmen dann tatsächlich im Rahmen der Ausstellung ‹fALSEfAKES› im Centre de la photographie in Genf neben Werken von 75 international anerkannten Künstlern als künstlerische Arbeiten gezeigt werden.

24

Das Kunstmuseum Düsseldorf hat Flechtheim 1987 eine Ausstellung gewidmet. Aber erst im Jahr unserer Verhaftung 2010 und im Jahr unseres Prozesses 2011 erschienen ‹Alfred Flechtheim – Nun mal Schluß mit den blauen Picassos!› von Rudolf Schmitt-Föller und ‹Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst› von Ottfried Dascher, die sich endlich, auf hervorragende Weise, mit diesem wichtigen Mann auseinandersetzten. Ich fand es bedauerlich, dass gerade die Kubisten, die ihm so viel verdankten, Flechtheim kein einziges Porträt gewidmet haben.

Aber meine Bewunderung galt nicht nur dem Galeristen und Verleger, sondern ganz besonders auch der schillernden Persönlichkeit mit der ausdrucksvollen Nase im charakterstarken Gesicht. Wenn man Bilder von ihm sieht, kann man sich das Leben dieses Bohemiens vorstellen, der so oft mit seiner dicken Zigarre in der Hand im Kreis seiner Freunde und Maler abgelichtet worden ist: ein Leben im Europa der politischen Spannungen, der Kriegszeit, des intellektuellen Aufschwungs und eines demokratischen Neubeginns, der von den Nationalsozialisten drastisch ausgebremst wurde, aber auch ein Leben voll Witz und Selbstironie, das sich im liebevoll-spöttischen Visier seiner Künstler oft karikiert sah. Flechtheim hat es nichts ausgemacht, sich in der Festschrift zu seinem 50. Geburtstag von George Grosz als pantoffeltragenden Tattergreis, fratzengleich, mit grotesk vergrößerter Nase wiedergegeben zu sehen. Genauso wenig hatte er etwas gegen seine Darstellung als auferstandener Engel durch Carl Hofer, als lüsterner Teufel durch Elie Lascaux, als römischer Kaiser durch Eduard Arnthal, als trommelrührender Narr durch Rudolf Grossmann. Er wusste, wie gefährdet er als Jude war, und kämpfte auf seine Weise, unbeeindruckt, gegen den nationalistischen Wahn und die Ignoranz des Bürgertums.

25

Zitiert nach: Artikel ‹Kunst›, in: Kunstlexikon von P.W. Hartmann, online unter: www.beyars.com/kunstlexikon/lexikon_5212.html.

26

Das Gerichtsverfahren mit der Trasteco endete schließlich 2012 in zweiter Instanz mit einem Vergleich, bei dem sich das Versteigerungshaus zur Rückzahlung einer siebenstelligen Summe verpflichtete.

Für unsere Kinder
Franziska und Manuel

Eines Tages, als ich mich in Vollard’s Geschäft in der Rue Laffitte befand, kam ein Biedermann mit einem Bild unter dem Arm herein.

«Herr Vollard, ich möchte Ihre Meinung erfahren!»

Vollard betrachtet es mit Interesse.

«Das ist schön», sagt er, «es gefällt mir sehr, es ist sehr schön ...»

«Aber glauben Sie, Herr Vollard, daß es ein Echter ist?»

«Was für ein Echter? Wie können Sie verlangen, daß ich bestätige, dies Bild sei von dem und dem und keine neuzeitliche Kopie? Das muß vor mehr als dreihundert Jahren gemalt worden sein ... Ich verstehe absolut nichts davon ... Warten Sie», fügte er mit einem undefinierbaren Lächeln hinzu, «gehen Sie doch zu meinem Kollegen gegenüber. Über dessen Tür steht ‹Kunstsachverständiger›.»

MAURICE DE VLAMINCK, GEFAHR VORAUS!
AUFZEICHNUNGEN EINES MALERS, 1930

Erster Teil Kindheit

Engel 1956

«Du musst das verstehen: Sonst haben wir hier bald mehr Katzen als Ratten, und wer soll dann die Katzen jagen?» So wollte meine Mutter es mir erklären. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: «Außerdem haben die Bauern bei uns das schon immer so gemacht.»

Ich war fünf Jahre alt, und sommers wie winters saß ich vor dem Katzenloch im Deelentor unseres Vierständerhofes, meinem Beobachtungsposten. Von hier aus hatte ich einen geschützten Blick auf meine Welt: ein winziges Dorf im Weserbergland am Rande des Teutoburger Waldes. Den Rücken gegen das warme raue Holz gelehnt, wartete ich auf meine Katze Minke, die jeden Moment durch die Klappe kommen konnte, schaute auf den lehmigen Weg, der vom Wald in den Ort hinaufführte, und auf den Dorfanger. Dort also wurden all die kleinen Kätzchen ertränkt!

Erst neulich hatte mein Vater einen Wurf junger Katzen in einen Kartoffelsack gepackt und in den Weiher geworfen. Ich hatte ihm in der Küche noch eine gute Nacht gewünscht, dann war er mit dem leeren Sack zum Heuboden gegangen, wo die Kätzchen schliefen. Er vermutete mich im Bett, doch ich hatte mich zum Tor geschlichen; ich sah ihn mit dem zappelnden Jutesack zum Teich gehen, entsetzt wollte ich ihm nachlaufen, als plötzlich meine Schwester Helga mir von hinten den Mund zuhielt.

«Mach, dass du ins Bett kommst! Die rettest du nicht mehr. Und wenn der Vater dich erwischt, setzt es was, dass dir Hören und Sehen vergeht!»

Ich glaubte ihr nicht. Trotzdem schlich ich mich in mein winziges Zimmer. Der Vater hatte mich nie geschlagen, aber seine laute Stimme machte mir manchmal Angst.

Jetzt spürte ich den weichen warmen Druck eines Katzenkopfes an meinem Oberschenkel. Minke lebte also noch, und ihr Schnurren sagte mir, dass es ihr gutging.

*

Im nächsten Winter wollte ich anfangs nicht zum Spielen aufs Eis. Erst nach einiger Zeit überwog die Neugier; also ging ich doch auf die gefrorene Fläche, legte mich bäuchlings hin und lugte durch die dicke, blanke Eisdecke. Wo waren die Kätzchen? Ich nahm nur gähnende Schwärze wahr, hörte das von den Schlittschuhläufern ausgelöste Knacken und ein leises Grollen unter dem Eis. Nach einer Weile setzte Schneetreiben ein, und ich sah die Schlittschuhläufer sich in ein sonderbares Ballett schwarzweiß gepuderter Scherenschnitte verwandeln, bis sie irgendwann jede Kontur verloren, sich auflösten, verschwanden.

Manchmal, wenn der Schnee sehr hoch lag, ging ich in mein Zimmer unterm Dach und blickte hinunter: Alles war erstarrt, verharrte bewegungslos unter einer friedlichen weißen Decke. Und wären da nicht die Stimmen der Raben in den vereisten Baumkronen gewesen, hätte man glauben können, man befände sich in einem niederländischen Gemälde aus dem 16. Jahrhundert, einem Bild von Brueghel mit tief verschneiten Häusern, Dorfanger, Raben – gemalte Stille.

Im darauffolgenden, besonders heißen Sommer trocknete der Weiher fast vollständig aus, und aus dem Modder ragten die verschnürten Enden der Jutesäcke wie verdorrte Blüten einer unbekannten Pflanze: Ich glaubte sogar, einen schlammverkrusteten kleinen Katzenschädel zu erkennen. Ich ging zur Deele, holte eine Heugabel aus dem Stall und lief zum Teich, das große, hölzerne Werkzeug hinter mir herschleifend. Es überragte mich um eine Körperlänge und war, da ich mit fünf Jahren noch immer die Statur eines knapp Vierjährigen hatte, nur schwer zu handhaben. Mit den Gabelspitzen angelte ich nach den verschnürten Säcken, bemüht, die Balance zu halten und nicht in den Schlamm zu rutschen, doch jedes Mal, wenn ich einen verschnürten Sack aufgegabelt hatte und versuchte, ihn ans Ufer zu ziehen, entglitt er mir wieder. Ich strengte mich ungeheuer an, während das Holz des Schaftes in meinen schweißnassen Händen rutschiger und rutschiger wurde, meine Füße tiefer und tiefer im Schlamm versanken. Endlich gelang es mir, einen der Jutesäcke so aufzuspießen, dass ich ihn zu mir herüberziehen konnte, immer näher, bis ich ihn fast zu greifen vermochte. Zu spät: Meine Beine steckten schon so tief im Schlamm, dass ich festsaß; der Beutel war in greifbarer Nähe, aber in meiner Angst konnte ich ihn nicht packen. Ich begann, nach der Mutter zu rufen, aber niemand hörte mich. Würde ich elendig im Schlamm versinken? Würde niemand mich retten? Was würde man glauben, wo ich geblieben sei? Ich schrie lauter, ich kreischte vor Panik. Dann fielen mir die Ratten ein, die ich häufig am Rand des Wassers beobachtet hatte; ich stellte mir vor, wie sie mit ihren riesigen Zähnen Stücke von meiner Haut abbissen, um sich dann weiter und weiter zu meinen Knochen vorzunagen; meine Mutter hatte mir erzählt, dass man Rattenbisse nicht spüre, weil die Tiere nach jedem Biss auf die Wunde bliesen und so den Wundschmerz betäubten. Sicher waren die Kätzchen bereits von ihnen aufgefressen worden, und in den Säcken würden sich nicht mal mehr die Knochen finden! Und jetzt sollte auch ich Rattenfutter werden?

In diesem Moment kam Helga von der Schule zurück. Auf dem staubigen Weg sah ich sie zum Haus hinübergehen: Helga, meine Schwester, dreizehn Jahre alt, weißblondes Haar in der flirrenden Mittagshitze, vom grellen Sonnenlicht überstrahlt! Meine schöne Schwester! Sie erschien mir wie ein rettender Engel. Gleich kam sie gelaufen, zerrte mich aus dem Schlamm. Ihre erste Sorge galt meinen Schuhen (die möglicherweise noch im Schlamm steckten) – Gott sei Dank war ich barfuß gewesen! –, während ich mir beunruhigt meine Zehen besah. Doch keine Ratte hatte sich daran versucht.

Helga schimpfte und schlug mir ein paarmal fest in den Nacken. Sie sei es satt! Endgültig satt! Den ewigen Ärger mit mir! Ob denn nicht mal was Vernünftiges in meinem Kopf vorgehen könne? Wirklich immer nur so bescheuerter Blödsinn?

Jetzt kam auch die Mutter, einen Wäschekorb in der Hand. Wieder setzte es was: Ich hatte das strikte Verbot, an den Anger zu gehen, missachtet und auch noch unerlaubterweise die Heugabel aus dem Stall geholt, von anderen Regelüberschreitungen ganz zu schweigen!

Helga und ich: schlammverschmiert. Die Mutter: gerade mit der Wäsche fertig. Man kann sich vorstellen, wie erfreut sie war, zumal es damals noch keine Waschmaschine gab; die Wäsche wurde in einem großen Kupferkessel über dem Feuer in einer Lauge erhitzt und mit einem ruderförmigen Eichenholz bearbeitet, bis sie kochte. Anschließend spülte man sie mit kaltem Wasser aus, wofür viele Eimer von der Pumpe zum Kessel geschleppt werden mussten. Wenn die Mangel das Wasser dann aus der Wäsche gepresst hatte, wurde sie aufgehängt. Es war harte körperliche Arbeit, und die Mutter konnte deshalb nicht jede Woche waschen. Oft versuchte ich vergeblich, die Mangel zu drehen, mit beiden Armen stemmte ich mich gegen den Schwengel, um meine Kraft zu messen. (Im Waschzuber wurde übrigens an den Samstagen auch das Badewasser erhitzt, und beim Schlachten wurden die Würste darin gekocht.)

Jetzt untersuchte die Mutter mich auf Verletzungen, besorgt.

Und sobald sie damit fertig war, versohlte sie mir den Hintern. Dank Lederhose war das zu ertragen, aber das wusste sie genauso gut wie ich.

Kindheit in Altenbergen

Seit der Evakuierung lebte meine Familie in Altenbergen, einem Flecken, etwa 25 Kilometer von Höxter entfernt. Wir hießen Fischer. 1944 waren unsere Mutter Franziska und meine Geschwister Wilhelm, Friederich, Ursula und Helga im Selfkant ausgebombt worden; danach hatte es sie in dieses weltabgeschiedene Hundertseelendorf verschlagen, wo sie in den ersten Monaten noch davon lebten, dass sie ihre paar Wertgegenstände bei den Bauern gegen Lebensmittel eintauschten. Damals wurden viele Bauern reich: Sie wogen Kartoffeln mit Gold auf.

Meine Mutter fand eine Anstellung als Hauslehrerin auf dem nahegelegenen Gut Abbenburg. Die Bezahlung erfolgte hauptsächlich in Naturalien und Holz. Fast ein Jahr lang ging sie im Morgengrauen fünf Kilometer durch den Wald und mittags wieder zurück, bis sie endlich ein altes Fahrrad erstehen konnte.

1945 bekam mein ältester Bruder Wilhelm, mit 15 Jahren, auf demselben Gut eine Anstellung als Knecht: Ihre eigenen Söhne hielten die Bauern im letzten Kriegsjahr in den Wäldern vor den Nazis versteckt. Ansonsten sei der Krieg im Dorf, erzählte man mir, bis auf die Vermissten und Toten an den fernen Fronten im Westen und Osten kaum gegenwärtig gewesen.

*

Mein Vater war in diesen Jahren in der Nähe von Auxerre in Kriegsgefangenschaft und arbeitete dort in einem Steinbruch. Er sei ein hilfsbereiter Kamerad gewesen, erzählte Jahre später der Patron des Bruchs, der uns mit seiner Familie mehrmals im Rheinland besuchte. Meine Mutter hielt noch lange Briefkontakt nach Auxerre; sie liebte es, mit aller Welt zu korrespondieren. Der Vater hingegen berichtete von der schlimmen Zeit im Lager, der täglichen Todesgefahr, dem entsetzlichen Hunger. Dem Lagerkommandanten hatte es offenbar Spaß bereitet, über die Lautsprecher immer wieder einen Satz Konrad Adenauers im Originalton zu verbreiten: «Ich bin stolz darauf, nie Soldat gewesen zu sein», während die Gefangenen verhungerten. Mein Vater (auf dem Foto der Mann in der Mitte) magerte bei 187 Zentimeter Körpergröße auf 50 Kilogramm ab, doch er überlebte die schwere Arbeit und schaffte es sogar, die Freundschaft des Steinbruchbesitzers zu erlangen. Mit dessen heimlicher Verpflegung kam er allmählich wieder zu Kräften. So kehrte er 1948 braun gebrannt und bei guter Gesundheit in unser Dorf zurück. Er war immer ein attraktiver Mann gewesen: groß, schlank, sehr sportlich, mit vollem, lockigem, blondem Haar und leuchtend blauen Augen, ein richtiger Frauentyp der zwanziger Jahre. Als junger Mann träumte er davon, ein bekannter Kunstmaler zu werden; den Ersten Weltkrieg hatte er noch als Junge erlebt; zu Beginn des Zweiten war er bereits dreifacher Vater und verdiente sein Geld als Kirchenmaler.

Es hielt ihn nicht lange im Dorf. Er fand eine Arbeit in Paderborn, bei der britischen German Service Organisation auf Schloss Neuhaus restaurierte er die beschädigten Wandmalereien. Obwohl er dort nur 80 Kilometer von uns entfernt war, kam er selten nach Hause.

Aber auch wenn mein Vater nicht immer da war und wir zeitweise eine angespannte Beziehung hatten, wusste ich doch, dass er mich auf seine Weise liebte. Diese Liebe fühlte sich nicht bloß angenehm an, er war ein distanzierter Mensch, und manchmal hatte ich das Gefühl, in seinem Leben ein lästiges Anhängsel zu sein. Aber ich konnte mich auf ihn verlassen.

Als ich zur Welt kam, war meine Mutter schon 43 Jahre alt und die beiden über 20 Jahre miteinander verheiratet. Ich habe nie gesehen, dass der Vater die Mutter in die Arme schloss, nie gab es ein Zeichen der Zärtlichkeit zwischen ihnen. Ob er immer so gewesen war? Ich weiß es nicht. Vom Krieg hat er mit mir nie gesprochen; alles, was ich darüber weiß, habe ich von meinen älteren Geschwistern. Vielleicht haben erst die Kriegserlebnisse mit den Toten an der Ostfront bei Stalingrad und später an der Westfront ihn zu dem Menschen gemacht, den ich kannte.

*

Meine Kindertage in Altenbergen verbrachte ich umgeben von dichtem Wald. Meist saß ich vor dem besagten Katzenloch des Deelentors und spielte mit Tonknickern. Und im Ganzen kann man sagen: Ich bin allein aufgewachsen. Meine Geschwister waren alle wesentlich älter, Ursula lebte bereits in Düsseldorf, mein Bruder Friederich in einem Lehrlingsheim im Ruhrgebiet, wo meine Mutter eine Ausbildungsstelle für ihn gefunden hatte, und nur Helga war noch bei uns. Aber sie spielte lieber mit ihren gleichaltrigen Freundinnen.

Hinzu kam, die Kinder im Dorf mieden mich. Wegen meines albinohaften Aussehens und meiner Introvertiertheit war ich ihnen suspekt.

*

Es gibt nur wenige Fotos aus dieser Zeit. Eines davon zeigt einen kleinen Jungen in Kittelschürze und Schnürstiefelchen, daneben eine Gruppe von Frauen vor einem Hoftor und einen Mercedes-Benz, der von einigen Leuten bestaunt wird. Tatsächlich erinnere ich mich an den Benz von Onkel Menn – berühren durfte ich den Wagen nie! – noch genauso deutlich wie an die Erzählungen meiner Mutter von der Judenbuche der Annette von Droste-Hülshoff, die angeblich im benachbarten Böckendorf gestanden hatte, oder an die bei uns immer wieder zitierten ‹Dreizehnlinden› von Friedrich Wilhelm Weber:

Wonnig ist’s, in Frühlingstagen

Nach dem Wanderstab zu greifen

Und, den Blumenstrauß am Hute,

Gottes Garten zu durchschweifen …

Geblieben ist mir aus dieser Zeit ein Gefühl von Geborgenheit, bestimmt von der Wärme, die von meiner Mutter ausging. Viele meiner Kindheitserinnerungen ranken sich um sie. Da ist zum Beispiel der feuchte, schwere, aromatische Duft der mannshohen Farndickichte und das geheimnisvolle Wispern des Hochwaldes, den ich mit ihr durchstreifte. Tausendfache Gerüche, Geräusche und Farben einer riesigen, von transparentem Grün überdachten Erinnerung. Weich versinken meine kleinen Füße im Boden, weich berühren meine Finger die Moose am Rand des Hohlwegs, in dessen Halbschatten, zwischen den Gräsern und Kräutern, meine Mutter die Walderdbeeren wusste, die wir pflückten und behutsam auf lange Grashalme zogen, um sie nach Hause zu tragen, aber meist schon unterwegs – denn der Weg war weit, und ich konnte nicht warten – verzehrten.

Einmal, auf einem unserer Holzbeutezüge, ließen wir den kleinen Leiterwagen, den wir zum Holz- und Fallobstsammeln nutzten, stehen und erklommen den höchsten Punkt im Wald. Auch Helga war mitgekommen. Längere Zeit durchquerten wir einen noch jungen dunklen Tannenwald, der mich an Hexen und Kobolde denken ließ. Ängstlich hielt ich Helgas Hand umklammert; weiter oben war der Wald dann heller und grüner, die Bäume älter. Schließlich erreichten wir eine Lichtung, auf der unter mächtigen, hundertjährigen Tannen ein riesiger Ameisenhügel stand, höher als ich selbst. Meine Mutter hob mich auf ihre Schultern und wies in die Ferne auf die bewaldeten Berge unter uns.

«Siehst du es?», fragte sie. «Dort!»

Ich wusste nicht, was sie meinte.

«Na – das Schwert!», rief sie.

Bei klarem Wetter konnte man von hier aus das in den Himmel gereckte Schwert Hermanns des Cheruskers erkennen. Damals entdeckte ich es nicht, wollte das meiner Mutter aber nicht verraten. Jahre später sah ich dann Fotos des eisernen Denkmals.

«Hermann hat die Römer vernichtend geschlagen», erzählte Mutter voller Stolz.

Anschließend stiegen wir wieder hinab, und Mutter und Schwester zogen den Leiterwagen mit dem gesammelten Holz nach Hause. Ich saß oben auf den Reisigbündeln, hielt den Stiel unserer Axt umklammert und träumte von siegreichen Schlachten.

Aber kann ich mich wirklich an diese Begebenheit erinnern? Oder hat meine ältere Schwester sie mir später erzählt? Ich weiß es nicht. Ameisenhügel auf geheimnisvollen Lichtungen jedenfalls wecken in mir noch immer ein Gefühl von Heimat, oder besser: ein Gefühl vom Verlust von Orten, die Heimat hätten werden können. Mir blieb der Wald, der Geruch von frisch geschlagenem Holz, geschälter Rinde, Tannennadeln, Walderdbeeren und Himbeeren. Und bis heute verbindet mich der Duft von Brombeeren und Himbeeren mit meiner Mutter, die mich, in dicke Trainingshosen verpackt, in schier unendliches Gestrüpp schleppt. Zuvor hat sie, die selbst einen Eimer trägt, mir eine blecherne Milchkanne an den Gürtel gebunden. Doch obwohl ich all meinen Ehrgeiz daran setze, schaffe ich es nie, meine kleine Kanne zu füllen, bevor Mutter die letzte Beere gepflückt hat.

Neubeginn in Geilenkirchen

Die fünfziger Jahre waren eine Zeit der Armut, aber auch des Wiederaufbaus. In meiner Erinnerung gehören dazu die Schlager von Rudi Schuricke, Peter Alexander und Vico Torriani, die mein Vater häufig summte, beim Rasieren oder wenn er seine Bilder malte. Man träumte von der roten Sonne Capris, den Stränden von Rimini und dem süßen Leben in Italien (nur die nach Deutschland einwandernden Italiener wollte man nicht um sich haben).

Während der Vater sich am Spülbecken wusch, stand die Mutter in ihrer Kittelschürze neben ihm am Kohleherd. Unser Familienleben fand hauptsächlich in der Küche statt. Das Wohnzimmer wurde selten benutzt: eigentlich so richtig bloß an Festtagen wie Weihnachten oder wenn Geburtstage gefeiert wurden; dann war es auch in diesem Raum angenehm warm. Wann immer die Brüder meines Vaters zu Besuch kamen, ich nehme an, dass es seine Geburtstage waren, sah ich den Männern beim Kartenspiel zu, während meine Mutter im Sessel saß und las. Wurden die Männer zu laut, gingen wir in die Küche, und sie las mir aus Harper Lees ‹Wer die Nachtigall stört› vor. Diese Geschichte von Heranwachsenden und vom Rassismus in den amerikanischen Südstaaten gehörte zu den Büchern, die sie besonders liebte.

Interessanter waren die Besuche der Familie meiner Mutter. Dann ging es lustig zu: Familiengeschichten wurden erzählt und manchmal sogar mit dramatischer Pantomimik nachgespielt.

*

1957 zogen wir zurück in den Heimatort meiner Mutter, nach Geilenkirchen. In der Mühle der Großeltern lebten inzwischen fremde Menschen, und auch das großväterliche Stadthaus im nahegelegenen Frelenberg war bereits verkauft. Mein Großvater war Niederländer gewesen, ein Müller aus Scheveningen. Er hatte sich in einer Wassermühle an der Wurm etwas außerhalb von Frelenberg niedergelassen, ganz nahe der holländischen Grenze, und dank guter Geschäfte später im Ort ein Gründerzeit-Haus gebaut. Nach seinem frühen Tod war der Wohlstand der Familie verlorengegangen, die Großmutter war nicht in der Lage gewesen, die Geschäfte weiterzuführen, und hatte in den Kriegsjahren Land und Häuser veräußert.

Wir fanden Unterkunft in einer etwa 60 Quadratmeter großen Wohnung, die sich in einer aus Fördermitteln finanzierten Siedlung befand: eine Sammelstelle für Flüchtlinge, Aussiedler, Umsiedler, Menschen, die durch den Krieg ihre Heimat oder ihre Wohnungen verloren hatten. So tauschten wir die Geborgenheit eines Walddorfes gegen die harte Realität billig hochgezogener Häuser am Rande eines Kohleabbaugebietes: zehn Wohnblocks mit jeweils sechs Wohnungen, mitten auf ein Feld außerhalb der Ortschaft gestellt. Um den im Dreck errichteten Häusern den Anschein von Fröhlichkeit zu verleihen, hatte man sie in pastellbunten Farben angestrichen, weshalb die Bevölkerung sie «Papageiensiedlung» nannte. Das traditionell von der CDU regierte Städtchen mit seiner starken Bindung an die Besatzungsmächte lehrte uns Kinder aus der sozialen Unterschicht, dass es nützlich war, in der katholischen Kirchengemeinde genauso aktiv zu sein wie bei den Auseinandersetzungen zwischen den Kindern der Ober- und Unterstadt. Selbstverständlich war auch ich, als ich älter wurde, Messdiener und gehörte der Ortsgruppe der katholischen Pfadfinder an; das war der Wunsch meiner Mutter gewesen, die aus mir gern einen Pfarrer oder zumindest einen Lehrer gemacht hätte. Nach ungefähr zwei Jahren allerdings setzte mein Schlafwandeln den Aufenthalten im Zeltlager ein Ende: Kreischend erwachte ich nachts, viele hundert Meter vom Lager entfernt, allein im Wald. Weil man Ähnliches künftig verhindern wollte, wurde ich in den nächsten Nächten mit einem Fuß an der Zeltstange festgebunden. Albträume und übersteigerte Angst vor tödlichen Krankheiten machten mir damals das Leben schwer, und häufige Gemütsschwankungen waren die Folge.

*

Mein ältester Bruder Willi stand bei Kriegsende ohne Beruf da. In den Aufbaujahren fand er als Maurer ein Auskommen, lebte inzwischen aber wieder bei uns, genauso wie Helga, die noch zur Schule ging.

In der Nachbarschaft herrschten raue Sitten. Schnell musste ich lernen, mich gegen die Großen und Starken zu wehren, denn Kloppereien auf dem Schulweg waren an der Tagesordnung. Auch deshalb hasste ich die gewendeten, aufgetragenen Kleider meiner älteren Brüder: Kam man aus der Siedlung und sah auch noch so aus, war man täglich den Schikanen, den kleinen Bosheiten der Lehrer und Mitschüler ausgesetzt. Im Rückblick erkenne ich, ich fühlte mich damals ungefähr so wie eine der jämmerlich dreinblickenden Gestalten Walter Gramattés, eines Malers, den ich natürlich noch nicht kannte. Das Gefühl der Erbärmlichkeit jedoch, unter dem er gelitten haben muss, war mir vertraut; in düsteren Farben gemalte Gestalten bestimmen sein Werk.

Einmal schenkten mir die Eltern zu Weihnachten einen neuen Anorak, und schon am ersten Schultag nach den Ferien bekam ich den Neid der anderen zu spüren. Auf dem Schulweg lauerte mir eine Gruppe Jungs aus der Siedlung auf. Mein Freund Jürgen versuchte, mich zu warnen, aber bevor ich begriff, traf mich ein Tritt gegen die Waden, und nach einem Stoß der älteren Jungen fand ich mich rücklings im Schlamm einer großen Baustellenpfütze wieder. Der Anführer versuchte, meinen Kopf in den Dreck zu drücken, indem er mir seine Hände aufs Gesicht presste. Ich biss zu. Und etwas in meinem Bewusstsein veränderte sich mit diesem Angriff. Bis dahin hatte ich mich eher zurückgezogen, wenn ich Gefahr spürte, oder ich ertrug die Gemeinheiten stumm; dieses Mal war es anders, zu viel Wut hatte sich angestaut, und ohne nachzudenken, schlug ich zurück, biss fester zu, biss mich an der Hand des Jungen fest und zog mich an ihm hoch. Rasend drosch ich auf alles ein, was sich in meiner Nähe befand, landete einen Zufallstreffer und brach meinem Gegner das Nasenbein. Ich schlug immer weiter zu. Tränen und Rotz liefen mir übers Gesicht. Die Jungen verzogen sich, Drohungen ausstoßend. Heulend, verschwitzt und verdreckt stand ich im Schlamm, als mich Jürgen vorsichtig berührte. Er schaute mich fassungslos an, mein Jähzorn hatte selbst ihn erschreckt.

*

Auch an unserem neuen Wohnort arbeitete meine Mutter als Lehrerin. Bereits 1925 hatte sie als einziges Mädchen im Ort das Abitur bestanden. Dank einer außergewöhnlichen Begabung hatte sie sechs Sprachen erlernt; jetzt, in den Wirtschaftswunderjahren, half sie den jungen Mädchen mit Sprach- und Nachhilfeunterricht durchs Abitur. Nie sah ich sie abends ohne ein Buch, und meist las sie bis spät in der Nacht: Harper Lee, Steinbeck, Faulkner oder Hemingway; oder sie schrieb mit ihrer schönen Schrift, in altdeutschen Lettern, Briefe an Menschen in fernen Ländern, die sie nie gesehen hatte. Sie liebte mich – dieses Gefühl begleitete meine Kindheit genauso wie das der Zugehörigkeit zur Unterschicht –, und selbst meinen schlimmsten Streichen rang sie noch etwas Komisches ab. Dann lachten wir gemeinsam über den Ärger, den ich wieder einmal verursacht hatte. Sie war eine witzige Person, mit der ich es leicht hatte, selbst in schwierigen Situationen; heute würde man sagen: Sie war eine coole Frau.

Leider mangelte es mir an dem schulischen Ehrgeiz, den sie sich so sehr wünschte. Endlose Stunden im Klassenzimmer: Den Sekundenzeiger beobachtend, wollte ich nichts als dieser Gefangenschaft entfliehen. Ich will raus, dorthin, wo das Leben stattfindet … Der Zwang des täglichen Schulbesuchs, die Last der Hausaufgaben – nur fort will ich. Hinaus, immer hinaus. Mein Leben lang – wie ein Vagabund, an die Sonne. Das war das dritte Gefühl, das meine Schulzeit durchzog. Ich rettete mich in Träume von weiten Reisen und Abenteuern, wie in den Geschichten, die meine Mutter mir zu lesen gab.

Und mit den Jahren trocknete der schleimgrün und albtraumblau gefüllte Graben meiner Geilenkirchener Tristesse aus. Ich hatte keine Zeit für dunkle Töne, mein Leben sollte bunt sein.

*

Übrigens muss meine Mutter in ihrer Jugend eine hübsche Frau gewesen sein. Leider konnte ich sie so nicht mehr sehen; nur wenn sie fröhlich lachte, war ihre frühere Schönheit noch zu ahnen. Sie wirkte älter, als sie war, aber ihr Geist blieb jung, interessiert an den Veränderungen, die die Jugend so sehr herbeisehnte.

*

1960 schickte sie mich in den Ferien zu ihren holländischen Verwandten. Dort sah ich zum ersten Mal das Meer, und sofort liebte ich das endlose Anrollen der Wellen. Es war nicht schlecht, warme Tage am Strand zu verbringen, aber meine Träume gingen schon damals weiter. Von meinem Werklehrer – Werken, so hieß in jenen Jahren noch der Kunstunterricht – hatte ich ein kleines Buch mit Abbildungen der schönen Tahitianerinnen von Gauguin bekommen: Da wollte ich hin, an diese Strände, wo das Blau des Meeres, das Grün der Pflanzen leuchtete, wie ich es noch nie hatte leuchten sehen, und die Haut der Menschen von einer Farbe war, die Weichheit und Wohlbefinden ausstrahlte.

Stattdessen gab es bei der holländischen Großtante alte Damen in dunklen Kleidern und wenig Spaß. Erinnern kann ich mich allerdings an die Bilder im Amsterdamer Rijksmuseum. Wenn wir dorthin fuhren, wurde es interessant; am wohlsten fühlte ich mich bei den Winterbildern. Lange konnte ich davor verweilen: Schlittschuhläufer, Pferdeschlitten auf dem Eis, festgefrorene Boote, verschneite Häuser, spielende Kinder, kahle Bäume, schwarze Raben am Himmel, promenierende Paare, ärmlich oder prunkvoll gekleidete Menschen – eiskalte Fröhlichkeit. Gern wäre ich in den Gemälden aus der kleinen Eiszeit um 1600 verschwunden.

*

Zwei Jahre später, im Jahrhundertwinter 1962/63, war ich zwölf Jahre alt. Jeden Nachmittag gingen wir von der Siedlung durch den Wald zum zwei Kilometer entfernten Schloss Trips. Der Burggraben war monatelang zugefroren, und wir Jungs spielten dort Eishockey. In meiner Kniebundlederhose sah ich bescheuert aus, aber sie erwies sich als praktisch, wenn ich auf dem Hintern oder den Knien über das Eis rutschte, denn ich wurde nicht nass, und ich trug keine Schrammen davon. Die Ohrenklappen, die meine Mutter an die Pudelmütze gestrickt hatte, sahen allerdings so blöde aus, dass ich sie in der Mütze versteckte, sobald ich um die Straßenecke bog. Und den ganzen Winter ging mir der Bommel auf die Nerven, drückte mir der Strickrand in die Augen, während ich unter der rauen Wolle schwitzte, sodass die Haare am Schädel klebten und die Kopfhaut juckte. Die Finger froren in den Fäustlingen nach zehn Minuten zu Eiszapfen, die Handschuhe schützten aber die Knöchel, wenn man stürzte oder mit dem Schläger eins auf die Hände bekam. Richtige Schlittschuhe besaß ich nicht, nur die viel zu großen Wanderschuhe meines Bruders, die ich mit einigen Sockenpaaren übereinander irgendwie tragen konnte, obwohl sie keinen guten Halt gaben und ich ständig darin umknickte. Zuguterletzt schraubte ich mir Eisenkufen – noch aus der Vorkriegszeit – unter die Schuhe. Damit war mein Equipment schon recht professionell: Die meisten Jungs aus der Siedlung hatten gar keine Schlittschuhe, weshalb mein Freund Jürgen im Wechsel meine Kufen benutzen durfte. Dann stand ich eine Weile frierend am Rand und feuerte ihn an.

An den Wochenenden wurde der Weiher von Familien mit Schlitten und Kinderwagen bevölkert. An solchen Tagen sah es in unserer Gegend tatsächlich fast so aus wie auf einem Gemälde aus dem 17. Jahrhundert. Die wohlhabenden Kinder waren toll ausstaffiert und machten mit ihren Schlittschuhen auf Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler, und manche der kleinen Mädchen kamen mir wirklich wie Eisprinzessinnen vor.

Wenn ich allein meine Bahnen über den zugefrorenen Burggraben zog und es ganz still um mich war, fühlte ich mich in die Winterwelt Hendrick Avercamps versetzt, die ich im Rijksmuseum gesehen hatte. Burg Trips, der Burggraben, die Bäume und Eisflächen wurden zur Szenerie seiner Gemälde: In der immerwährenden Stille, in der dieser taubstumme Maler lebte, bevölkerten die prächtig bunt gekleideten Menschen das Eis. Den «Stummen von Kampen» hat man ihn genannt, und ich stellte mir vor, wie es um 1600 gewesen sein musste, als taubstummer Junge in absoluter Stille übers Eis zu gleiten und nicht das Schneiden der Kufen zu hören, nicht das Rufen der Kinder, nicht die Schreie der Krähen.

Jeden Abend kamen wir bei einbrechender Dunkelheit abgekämpft und zerschunden nach Hause, abwechselnd den kleinen Davos-Schlitten hinter uns herziehend, mal durfte ich sitzen, dann wieder Jürgen. Beim Abendbrot verfolgte ich den Wetterbericht im Radio und freute mich schon auf den nächsten Tag. Meinetwegen konnte das noch lange so weitergehen. Meine Eltern dagegen machten sich Sorgen, weil kaum noch Briketts im Keller lagerten: In der Wohnung war es kalt, wir hatten keine Heizung, nur den Kohleherd in der Küche, ein großes schweres Eisending mit emailleverzierten Klappen und Gussbeinen, die in Klauenfüßen endeten. Die Küche war der einzige warme Raum. Tagsüber wurden Ziegelsteine im Backofen erhitzt, die abends, in Lappen gewickelt, auf die Betten verteilt wurden und ohne die man, glaube ich, glatt erfroren wäre. Auf den Scheiben der Schlafzimmerfenster bildeten sich Eisblumen, und mit der Zeit waren die Fenster zugewachsen. Ich fand diese Eisbilder schön und märchenhaft und fühlte mich wie in einem Eispalast. Wenn das Eis innen abtaute, sammelte sich das Schmelzwasser auf der Fensterbank und tropfte auf meine darunterliegenden Comics.

Morgens verließ meine Mutter als Erste das Bett, um das Feuer im Ofen neu zu beleben. Wenn ich dann aufstand, war es in der Küche schon muckelig warm, das Wasser für die Morgenwäsche dampfte in der Zinkschüssel, und ein Handtuch hing zum Vorwärmen über dem verchromten Handlauf des Ofens. Die Herdplatten glühten rot vor Hitze, es roch nach Feuerholz, Briketts und heißem Kakao, und eine dicke Marmeladenstulle lag bereit. Wenn ich meinen Kakao trank, setzte Mutter sich mit ihrem Kaffee zu einer kleinen Verschnaufpause mit an den Tisch. Heimlich packte ich die Schlittschuhe ein, wenn ich das Haus verließ, ging zum Schloss aufs Eis und vergaß, dass ich nur ein paar Minuten hatte bleiben wollen, vergaß den Unterricht, blieb dort.

Dafür lernte ich in diesem Winter richtig gut Schlittschuhlaufen.

*

An den langen Winterabenden hatte ich zudem Zeit zu zeichnen. Wenn mein Vater seine Kopien von Picasso oder van Gogh malte, saß ich bei ihm und fertigte Zeichnungen von seinen Vorlagen an. Er brachte mir bei, Übertragungsraster anzulegen, um Proportionen zu vergrößern, zeigte mir den Umgang mit Zeichenkohle, Rötelstiften, Kreiden und Wasserfarben. Vor allem aber lernte ich, Bilder genau zu betrachten.

Mitte der siebziger Jahre malte ich dann einen surrealen Jahreszeitenzyklus von Schloss Trips: den Winter in Erinnerung an das Eislaufen meiner Jugend, Bilder, die später im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen und im Haus der Kunst in München gezeigt wurden.

*

Frühjahr 1963 fuhr ich mit meiner Mutter nach Düsseldorf, um Onkel Menn zu besuchen, einen kinderlosen, wohlhabenden Verwandten, der ein «hohes Tier» in der Düsseldorfer Stadtverwaltung war. Wegen des zu eng sitzenden, geliehenen Anzugs und weil ich nicht wusste, was von mir erwartet wurde, fühlte ich mich unwohl; ich hatte ohnehin wenig Lust, den mir unsympathischen Bruder meiner Mutter zu treffen. Aber sie wollte ihn um einen kleinen Kredit bitten, und ich wusste, dass ich einen guten Eindruck hinterlassen musste.

«Bitte benimm dich!», ermahnte sie mich, als wir vor dem mehrstöckigen weißen Haus standen. «Nur dieses eine Mal reiß dich am Riemen.»

Ich versprach es und drückte auf den Messingklingelknopf.

«Ja!», kam es energisch aus der Gegensprechanlage.

Die Mutter zuckte zusammen, dann versuchte sie, ihrer Stimme den normalen festen Klang zu geben.

«Wir sind es, Menn.»

«Penthouse!»