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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74091-407-3
Dicht lag der Nebel über dem Flugplatz. Die riesige Düsenmaschine kreiste schon zwanzig Minuten über der Stadt. Ein anderer Platz hatte nicht angewiesen werden können, denn überall herrschte der gleiche dichte Nebel. In Rom war man bei strahlendem Sonnenschein abgeflogen, und nun das.
Die Besatzung wusste schon, dass mit Schwierigkeiten zu rechnen war. Die Passagiere wussten es nicht.
Der Winter neigte sich zwar dem Ende zu, aber es wurde sehr früh dunkel, und einige Minuten Verspätung musste man einkalkulieren. München war nicht Rom, wo der Frühling sich schon sehr deutlich bemerkbar machte.
»Wenn das nur gut geht«, murmelte die Stewardess Gwendolin, die von ihren Kollegen Wendy genannt wurde. Sie war ein apartes Mädchen mit tiefschwarzem Haar und leuchtend blauen Augen. Sie hatte sich oft gegen mehr oder minder eindeutige Anträge männlicher Fluggäste zu wehren, doch für Wendy gab es nur einen Mann, und der trug jetzt die Verantwortung für einhundertdreißig Menschen.
»Du wirst doch nicht nervös werden«, sagte die blonde Anja, die das fröhliche Pendant zu der sanften Gwendolin war. »Die Passagiere werden nämlich schon hektisch. Wir werden zu tun bekommen.«
Ja, es machte sich Nervosität breit. Die Stewardessen wurden mit Fragen bestürmt und gaben immer die gleiche beruhigende Antwort, dass man noch auf die Landeerlaubnis warten müsse.
Flugkapitän Holger Herwart fluchte leise vor sich hin.
»Lange können sie sich jetzt nicht mehr Zeit lassen«, sagte er. »In spätestens zehn Minuten müssen wir unten sein.«
»Aber wie«, brummte sein Kopilot Conny Dahm. »Adieu, Fränzi.«
»Halt die Goschen«, fauchte ihn Holger an. »Es ist nicht das erste Mal …«, er sprach nicht weiter, sondern lauschte angestrengt auf die Kommandos.
Unter den Fluggästen befand sich eine schlanke junge Frau, deren tiefgebräuntes Gesicht verriet, dass sie aus noch weit südlicheren Gefilden als Rom kommen musste. Sie saß still, mit gefalteten Händen, ganz in sich versunken auf ihrem Platz und zeigte keinerlei Nervosität. Wie es in ihrem Innern aussah, hätte niemand ergründen können.
Vielleicht soll es so sein, dachte Miriam Perez. Vielleicht ist es für mich sogar besser so, wenn alles schnell zu Ende ist. Aber die anderen, dachte sie dann und hob den Kopf, als ein Schluchzen an ihr Ohr drang. Neben ihr saß ein junges Mädchen, höchstens sechzehn Jahre alt.
Sie war während des ganzen Fluges genauso still gewesen wie Miriam, und diese hatte das als sehr angenehm empfunden. Sie selbst war nicht von mitteilsamer Natur und mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Manche Menschen waren so geschwätzig, dass sie lästig werden konnten.
Jetzt aber siegte ihr Mitgefühl. Sie griff nach der Hand des Mädchens, die eiskalt und feucht war.
»Nicht aufregen«, sagte sie beruhigend. »Wir werden bald landen.«
»Ich fürchte mich so«, schluchzte das Mädchen. »Es geht schief. Ich werde Papi nie wiedersehen, und ich habe mich doch so auf ihn gefreut.«
»Sie werden Ihren Papi bestimmt wiedersehen«, sagte Miriam tröstend. Sie hatte im Augenblick vergessen, welche Gedanken sie eben noch gehegt hatte.
»Kann ich behilflich sein?«, fragte Wendy leise.
»Vielen Dank«, erwiderte Miriam. »Ich bin Ärztin. Ich kann mich um die junge Dame kümmern.«
Mit tränenfeuchten Augen blickte das Mädchen sie an. »Sie können ruhig du zu mir sagen. Ich bin erst fünfzehn.«
Miriam legte ihren Arm um das zarte Geschöpf und fühlte durch den dünnen Pullover nur Kochen und dann einen Arm, den sie fast mit der Hand umschließen konnte.
Jetzt machte sie sich Vorwürfe. Da bin ich nun schon so lange Ärztin, dachte sie. Eigentlich hätte ich merken müssen, dass da ein krankes Wesen neben mir sitzt. Aber sie war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, und nun in den Sekunden wirklicher Gefahr erst erwachten ihre Lebensgeister wieder.
»Ich heiße Carolin«, flüsterte das Mädchen. »Papi nennt mich Carry. Er wartet auf mich. Endlich darf ich zu ihm und nun …«
»Pssst«, machte Miriam. »Nicht so schwarz sehen, Kleines. Ich habe schon sehr viel stürmischere Flüge erlebt, und wie du siehst, lebe ich immer noch.« Aber wie, dachte sie für sich. Doch sofort dachte sie dann wieder nur an dieses noch halbe Kind an ihrer Seite, das sich jetzt angstvoll an sie klammerte.
»Nonna wollte mich nicht zu Papi lassen«, sagte Carry stockend. »Oh, sie hat immer so böse von ihm gesprochen, und bestimmt trifft mich ihr Fluch, dass ich ihn nie wiedersehen soll.«
»Kind«, sagte Miriam erschüttert, »denk nicht so was.«
Nonna nannte man in Italien die Großmutter, und für Miriam war ihre Großmutter der Mensch, den sie in liebevollster Erinnerung behalten hatte.
»Sie hat das Flugzeug verflucht«, flüsterte Carry. »Bestimmt hat sie das. Sie wird nie richtig tot sein, ihr Hass bleibt lebendig. Das hat sie selbst gesagt.«
»Meine Damen und Herren, Ladies und Gentlemen«, sagte da Wendys Stimme, »wir setzen jetzt zur Landung an. Wir bitten Sie, Ruhe zu bewahren. Wegen der Schlechtwetterlage haben wir keine guten Bedingungen. Ich bitte Sie, sich vornüber zu kauern und die Gurte so fest wie möglich zu ziehen. Bitte, geraten Sie nicht in Panik. Unser Flugkapitän hat sehr viel Erfahrung und wird bemüht sein, alle Schwierigkeiten zu meistern.«
Totenstille herrschte eine Sekunde, dann hörte man Schluchzen, Gebete und Flüche durcheinander, und niemand wusste wohl selbst so recht, was er tat und sagte.
*
Jonas Henneke rannte wie ein gefangener Tiger in der Halle des Flughafens hin und her. Sein flächiges, markantes Gesicht war kreidebleich. Seine Hände zu Fäusten geballt, bohrten sich in die Manteltaschen. Carry, dachte er, Liebling, ich will dich behalten, ich will dich endlich wiedersehen, für mich allein. Es darf nichts geschehen. Herrgott, beschütze mein Kind. Lass es nicht zu, dass ein Unglück geschieht. Ich will Carry nicht verlieren, ich will ihr alle Liebe geben, die ich ihr bisher nicht geben konnte.
Und wie er dachten viele in dieser Halle an andere geliebte Menschen, die sehnsüchtig erwartet wurden.
Und auch anderswo waren Menschen in Sorge. Dr. Daniel Norden war im Schritt durch den Nebel heimgefahren. Man konnte kaum die Hand vor den Augen sehen. Als er aus einem Wagen stieg, hörte er das dumpfe Motorengeräusch des Flugzeuges und blickte unwillkürlich zum Himmel, von dem man aber nichts sehen konnte. Undurchdringlich waren die Nebelschwaden.
Mein Gott, ging es ihm durch den Sinn, da wird doch kein Unglück geschehen. Wie soll sie denn herunterkommen bei diesem gemeinen Wetter?
Seine Frau Fee empfing ihn mit einem erleichterten Lächeln.
»Gott sei Dank, dass du heil da bist«, sagte sie, »und wie bin ich froh, dass vorgestern nicht solch ein scheußlicher Nebel war, als Katja und David aus London kamen.«
»Da oben kreist eine Maschine«, sagte Daniel Norden gedankenvoll. »Hoffentlich kann man sie an einen anderen Platz weiterleiten.«
»Vorhin sagten sie im Radio, dass die Flughäfen Frankfurt und Nürnberg auch gesperrt seien, und wahrscheinlich sieht es auf anderen Plätzen auch so aus«, sagte Fee. »Schrecklich! Ich möchte nicht wissen, was diese Leute für Angst ausstehen, die in solcher Maschine sitzen. Da kann man schon froh sein, wenn man sich nicht um einen Angehörigen sorgen muss.«
»Es ist einfach abscheulich, dass da aller technischer Fortschritt versagt und man nur auf den Allmächtigen die letzte Hoffnung setzen kann«, sagte Daniel. »Wollen wir hoffen, dass wir nicht eine Schreckensnachricht hören müssen, Liebes.«
Er ahnte nicht, dass in jenem Flugzeug eine Frau saß, die in diesem Augenblick an ihn dachte.
Du hast einmal zu mir gesagt, Daniel Norden, dachte Miriam Perez, solange Leben in einem Menschen ist, darf man die Hoffnung nicht aufgeben.
Sie hielt ihren Arm schützend über Carry. Sie dachte nicht an ihr eigenes Leben. Mit diesem hatte sie doch eigentlich schon abgeschlossen. Mit ihrem Körper wollte sie Carry schützen, die sich nach ihrem Vater sehnte und vor Angst bebte. Carry, die den Fluch der Nonna fürchtete und sich an Miriam klammerte, die doch vor wenigen Stunden noch eine Unbekannte für sie gewesen war. Miriam hatte in wenigen Minuten erfahren, dass Carry sich niemals in die liebevollen Arme einer Mutter hatte flüchten können, Carrys Mutter war kurz nach deren Geburt gestorben. Miriam hielt jetzt dieses junge Geschöpf fest an sich gepresst, ohne noch an sich oder irgendjemand zu denken, der ihr selbst nahegestanden hatte und hatte nur einen Gedanken, dass diese junge Carry ihren Vater wiedersehen müsse, nach dem sie sich sehnte, nach dem sie immer wieder rief. »Papi, Papi, liebster Papi«, ein Kind voller Angst war sie, und doch hörte ihre Stimme nur Miriam, denn in dem Dröhnen der Maschinen und dem Geschrei angstvoller und auch in Hysterie ausbrechender Menschen ging diese zitternde Stimme unter.
Herr, betete Miriam im Stillen, beschütze dieses Kind. Nimm mein Leben für ihres. Mich wird niemand vermissen, und mir kann doch niemand helfen, auch nicht Daniel.
Nein, auch sie wurde sich nicht bewusst, welche Gedanken sie bewegten, als die Maschine nun hart aufsetzte und über die Landebahn holperte. Zusammengekauert hockten sie alle, bis die Maschine zum Stehen kam. So recht begreifen konnte es wohl keiner, dass sie nun aussteigen konnten, zitternd, bleich die meisten, doch manche schon wieder lächelnd, als hätten sie nicht auch gezweifelt und Angst gehabt.
»Na also«, brummte Holger Herwart, »nun kannst du dich mit deiner Fränzi amüsieren, Conny.«
Conny murmelte etwas Unverständliches, aber jetzt mussten auch sie beide zum Ausgang, um den schwankenden Passagieren zu helfen.
Holger warf Wendy nur einen kurzen Blick zu, fing ihr dankbares Lächeln auf und zwinkerte ihr aufmunternd zu.
Eine junge Frau fiel Holger um den Hals und küsste ihn spontan ab. »Danke, tausend Dank«, sagte sie bebend und manche Hand mussten sie drücken, bevor einer nach dem anderen durch die Nebelschwaden auf das Gebäude zuwankte, dessen helle Beleuchtung nun gewiss machte, dass das Ziel erreicht war.
Miriam und Carry gingen zuletzt die Gangway hinab.
»Bleib bei mir, Miriam«, flüsterte Carry. So nahe waren sie sich in wenigen Minuten gekommen, dass ihr das Du ganz leicht von den blassen bebenden Lippen kam.
»Nun wirst du deinen Papi gleich wiedersehen«, sagte Miriam weich.
»Er muss dich kennenlernen. Ich will ihm sagen, wie du mir geholfen hast. Oh, ich danke dir so sehr.«
Gibt es das, fragte sich Miriam. Da saß man Stunden nebeneinander, ohne ein Wort miteinander zu sprechen, und nun war es, als würden sie sich eine Ewigkeit kennen. Aber waren diese Minuten der Angst nicht eine Ewigkeit gewesen? Und hatte sie nicht nur Angst um dieses Mädchen gehabt?
In der Halle fielen sich Menschen in die Arme, manche stumm, manche schluchzend und manche mit erleichtertem Lachen. An sein Gepäck dachte kaum jemand. Und dann war da plötzlich ein großer breitschultriger Mann, der Carry an sich riss und ihr kleines bleiches Gesicht mit zärtlichen Küssen bedeckte.
»Mein Liebes, mein Kleines, Herrgott, ich danke dir, dass ich sie wiederhabe.«
Miriam hörte diese tiefe, erregte Stimme, sie sah den Mann, zu dem ein solcher Gefühlsausbruch gar nicht recht passen wollte. Hätte sie Jonas Henneke unter normalen Verhältnissen kennengelernt, hätte sie ihn als einen harten, nüchternen Mann eingeschätzt.
»Miriam hat mir so geholfen, Papi«, sagte Carry. »Ich wäre vor Angst gestorben, wenn sie nicht bei mir gewesen wäre.«
Graue glasklare Männeraugen blickten nun Miriam an, verwundert und ungläubig war ihr Ausdruck. Es war ein ganz eigenartiger Augenblick, als er geistesabwesend seinen Namen sagte, seltsam auch, dass er Miriam sofort im Gedächtnis blieb, obgleich dies ganz selten der Fall war.
»Ich danke Ihnen«, sagte er mit so ernstem Nachdruck, dass sie von einem unerklärlichen Gefühl erfasst wurde. Er sagte es so, als sei er überzeugt, dass sie Carry tatsächlich das Leben gerettet hatte.
»Der Dank gebührt unserem Piloten«, erwiderte sie stockend.
»Nicht allein«, sagte er leise. »Darf ich Ihren Namen erfahren?«
»Miriam Perez«, entgegnete sie.
»Miriam ist Ärztin«, warf Carry ein, und ihre Stimme klang jetzt schon ein bisschen sicherer. »Bitte, komm mit zu uns, Miriam.«
»Aber das geht doch nicht, Kleines«, sagte Miriam unsicher.
»Sie werden erwartet?«, fragte Jonas Henneke.
Nein, auf sie wartete niemand. Es gab keinen Menschen, der wusste, dass sie sich in dieser Maschine befunden hatte. Wäre diese nicht sicher gelandet …, sie konnte nicht zu Ende denken, denn Jonas sagte: »Ich bitte Sie sehr herzlich, unser Gast zu sein, falls München für Sie nur ein Zwischenaufenthalt sein sollte.«
Ein Zwischenaufenthalt? Guter Gott, dachte Miriam. Sie war am Ende, seelisch und auch finanziell. Es gab hier nur einen Menschen, mit dem sie noch einmal, ein einziges Mal sprechen wollte, Dr. Daniel Norden.
Deshalb hatte sie für diesen Flug ihr letztes Geld geopfert, bis auf ein paar Dollar, die sie noch in ihrer Tasche hatte.
»Sag doch ja, Miriam«, bat Carry. »Wir konnten doch gar nicht richtig miteinander reden. Ich wagte nicht, dich anzusprechen, weil du so in Gedanken versunken warst.« Carry sah ihren Vater an. »Erst, als es mit der Landung nicht klappte und ich so schreckliche Angst bekam, dass wir abstürzen, hat Miriam mich getröstet.«
Was ist das für eine eigenartige Frau, dachte Jonas Henneke, aber nun hatte er sein Kind wieder, sah es lebend vor sich und fand seine Selbstsicherheit zurück.
»Dann werden wir uns jetzt mal um das Gepäck kümmern und im Schneckentempo heimfahren«, sagte er.
»Bitte, Miriam, sag ja«, bat Carry wieder.
»Unser Haus hat viel Platz«, schloss Jonas sich an.
Und ich brauche keine Pension zu suchen, dachte Miriam, der Tatsache bewusst, dass ihr restliches Geld ohnehin gerade für eine Übernachtung reichen würde.
»Sie sind sehr liebenswürdig«, sagte sie leise zu Jonas.
»Du hast mir doch so geholfen«, warf Carry ein. »Mein Herz hat schon fast ausgesetzt. Es ist nämlich nicht in Ordnung«, erklärte sie.
»Sie sind Ärztin«, sagte Jonas Henneke. »Sie spürten es wohl.«
Nein, hätte sie erwidern müssen. Denn sie hatte an Carrys Angst gedacht, nicht, dass sie ein krankes Herz haben könnte. Eher noch, dass sie unterernährt wäre. Was hatte sie eigentlich gedacht? Sie hatte geredet und Carry zugehört. Es war alles wie ein Traum gewesen, und sie hatte an ein Weiterleben doch gar nicht mehr geglaubt. Nur instinktiv hatte sie das Mädchen schützen wollen, das sich so vertrauensvoll an sie klammerte. Und sie hatte über Carry nachgedacht, die von ihrer Nonna sprach, als sei sie eine Hexe.
Ja, ich bin Ärztin, dachte sie, aber was für eine. Plötzlich waren die Depressionen wieder da, die verschwunden gewesen waren, als sie dieses angstvolle Kind trösten musste.
Sie war müde, unsagbar müde. Mechanisch griff sie nach ihrer abgeschabten Reisetasche, während Carry auf ihre Koffer deutete, die Jonas an sich nahm.
»Ist das ihr ganzes Gepäck?«, fragte Jonas leicht erstaunt.
Miriam nickte. Es ist alles, was ich noch besitze, hätte sie erwidern müssen. Sie sagte es nicht.
»Es ist schön, dass du mitkommst und Papi dich auch kennenlernt«, sagte Carry. »Wir sind richtige Freundinnen geworden, nicht wahr, Miriam?«
Sie war so naiv, so kindlich, dass es fast ergreifend war. Miriam hatte Mädchen ihres Alters kennengelernt, die schon eifrig Jagd auf Männer machten, die verdorben waren bis auf den Grund ihrer Seele. Sie hatte eines kennengelernt, das nicht viel älter war als Carry, und ihr den einzigen Mann weggenommen hatte, den sie liebte, zu lieben glaubte. Und nicht dies allein. Jenes Mädchen hatte ihr viel mehr angetan.
Jetzt ging sie an der Seite eines Mädchens, das ihr vor wenigen Stunden noch ganz fremd war, hinter einem Mann her, der zielbewusst auf einen hellen Wagen zusteuerte.
Wohin treibt das Schicksal mich jetzt, fragte sich Miriam. Sie fuhren durch den Nebel, langsam und vorsichtig steuerte Jonas Henneke seinen Wagen. Miriam und Carry saßen auf dem Rücksitz. Unwillkürlich hatte Miriams Hand sich jetzt um das Handgelenk des Mädchens gelegt. Der Puls ging nun beschleunigt. Sie überlegte, an welcher Herzkrankheit Carry leiden könnte, und plötzlich wurde es ihr heiß und kalt, weil sie echte Angst um dieses Mädchen hatte, als würde es zu ihr gehören, als wäre es ihr Kind.
Ein eigentümliches Gefühl war das, da sie doch gemeint hatte, gar nichts mehr empfinden zu können.
»Abscheulich, dieses Wetter«, sagte Jonas. »Ausgerechnet heute.«
Er sprach abgehackt und mehr zu sich selbst und auch so, als denke er dabei an etwas anderes. Und Miriam ging es durch den Sinn, dass sie unter normalen Umständen wohl Carrys Bekanntschaft nie gemacht hätte. Sie wären sich am Ende der Reise so fremd gewesen wie am Anfang, denn Carry hätte ihre Scheu nicht ablegen können, und sie wäre weiter in Erinnerungen versunken geblieben.
»Geht es dir jetzt besser, Liebling?«, fragte Jonas seine Tochter.
»Wir sind ja zusammen«, erwiderte Carry leise. Sie lehnte den Kopf an Miriams Schulter.
»Etwas Gutes hätte alles, habe ich einmal in einem Buch gelesen«, sagte Carry. »Miriam hätte ich nicht anzusprechen gewagt, wenn nicht diese schreckliche Situation eingetreten wäre.«
Nun sprach sie Miriams Gedanken aus.
»Warum eigentlich nicht?«, fragte Jonas.
»Weil sie sich gar nicht rührte. Ich dachte, sie würde schlafen«, sagte Carry. »Sie hatte immer die Augen geschlossen.«
»Ich hatte schon eine weite Reise hinter mir«, sagte Miriam. »Rom war nur Zwischenstation.«
»Woher bist du gekommen?«, fragte Carry zögernd, aber schon viel weniger scheu.
»Aus Beirut.«
»Ist das Leben für eine Europäerin dort nicht ziemlich schwierig?«, fragte Jonas.
»Ich war an einer Klinik tätig. Ich hatte meinen Beruf«, erklärte Miriam. »Eine Europäerin bin ich eigentlich auch nicht. Ich bin in Teheran aufgewachsen und habe nur in Deutschland studiert.«
»In München?«, fragte Jonas.
»Ja, in München«, erwiderte Miriam schleppend.
»Es gefiel Ihnen hier nicht?«, fragte Jonas.
»Doch, es gefiel mir sehr.«
Er spürte an ihrem Tonfall, dass sie nichts mehr sagen wollte. Jonas war ein guter Menschenkenner. Für ihn war Miriam bis jetzt ein unerforschtes Wesen, dem er Sympathie entgegenbrachte, weil sie sich seiner Tochter angenommen hatte. Sie müsste Mitte dreißig sein, dachte er. Jünger bestimmt nicht. Sie sieht auch so aus, als hätte sie eine schwere Zeit hinter sich. Die Bräune täuscht. Aber es konnte auch sein, dass die schwierige Landung nicht spurlos an ihr vorübergegangen war. Er hatte sich ja auch aufgeregt, obgleich er nicht zu jenen Menschen gehörte, die immer gleich das Schlimmste vermuten. Er ließ jetzt den Wagen ausrollen. Von Nebelschwaden verhüllt war auch das Haus, das sie dann betraten, aber er hatte, bevor er wegfuhr, alle Räume erhellt. Wärme hüllte sie ein. Eine gemütliche Diele im bäuerlichen Stil sah Miriam, als sie durch die Tür trat, die er aufgeschlossen hatte. Eine etwa sechzigjährige Frau erschien in der gegenüberliegenden Tür.
»Endlich«, sagte sie erleichtert. »Ich war schon bange.«
»Tante Hanne!«, rief Carry aus und fiel ihr um den Hals.
»Endlich bist du da, mein Kleines«, sagte die Frau zärtlich, und ihr herbes Gesicht wurde weich.
Sie musterte Miriam dann kurz und forschend. Mit übersprudelnder Schnelligkeit wurde sie von Carry aufgeklärt, wie sie Miriam kennenlernt hatte, und Miriam erfuhr, dass Tante Hanne die Schwester von Jonas Hennekes Mutter war, die jetzt in seinem Haus lebte.
»Papi hat nichts davon geschrieben«, sagte Carry.
»Es sollte eine Überraschung für dich sein. Schließlich muss sich doch jemand um dich kümmern«, erwidert Jonas.
»Ich wäre doch besser in ein Hotel gegangen«, sagte Miriam zögernd.
»Aber warum denn? Wir haben genug Platz«, sagte Hanne. Miriam bemerkte, dass Jonas sie darauf erstaunt ansah.
Es ergab sich alles wie von selbst. Ein gedeckter Tisch erwartete sie, und Köstlichkeiten, wie Miriam sie schon lange nicht mehr vorgesetzt bekommen hatte.
Ein silberner Leuchter mit drei Kerzen löste das helle Licht der Deckenlampe ab und ließ alle Gesichter entspannter erscheinen.
Carry sprach von der Angst, die sie ausgestanden und über die ihr Miriam hinweggeholfen hatte. Von der Nonna sprach sie nicht. Sie war müde. Man sah es ihr an. Gegessen hatte sie wie ein Spatz.
»Du musst jetzt mal richtig schlafen«, sagte Tante Hanne.
»Und wir trinken vielleicht noch ein Glas Wein, Frau Dr. Perez?«, schlug Jonas vor.
Miriam ließ sich treiben. Ihre Nerven waren jetzt bis zum Äußersten gespannt. Sie hätte, obgleich sie übermüdet war, nicht einschlafen können, und dann wären wieder die Depressionen gekommen, denen sie entfliehen wollte.
Gern«, erwiderte sie. »Ich möchte mich sehr herzlich für Ihre Gastfreundschaft bedanken.«
»Ich bin froh, dass du mitgekommen bist, Miriam«, sagte Carry. »Wir dürfen uns doch nicht aus den Augen verlieren. Zum ersten Mal habe ich eine Freundin, eine richtige Freundin.« Sie bedachte wohl gar nicht, dass Miriam mehr als doppelt so alt wie sie war.
Heiße Zärtlichkeit durchflutete sie, als Carry ihr einen Gutenachtkuss auf die Wange drückte.
»Ich bin sehr froh, dass du deinen Papi wieder hast«, sagte sie leise.
»Ich auch, aber auch, dass wir uns kennenlernten, Miriam.« Man merkte, wie gern sie den Namen aussprach.
Dann war Miriam eine Zeit mit Jonas Henneke allein. Er räusperte sich, und auch sie kämpfte gegen verständliche Hemmungen an. Es passierte einem schließlich nicht jeden Tag, dass man sich auf solche Weise kennenlernte.
»Ich habe Ihnen sehr zu danken, Frau Dr. Perez«, sagte Jonas leise. »Ich hatte mir schon die bittersten Vorwürfe gemacht, dass ich meine Tochter nicht abgeholt habe, aber ich hatte gerade sehr wichtigen Auslandsbesuch, und sie sollte nicht noch einen einzigen Tag länger in Rom bleiben. Meine Tante ist nicht mit Pferdestärken in ein Flugzeug zu bringen, nun ja, das sind eigentlich keine Entschuldigungen.«
»Normalerweise dauert der Flug ja nicht lange«, sagte Miriam. »Wer hätte mit solchem Nebel rechen können? Wir sind bei strahlendem Sonnenschein abgeflogen, und hier herrschten nach Auskunft doch auch gute Landebedingungen.«
»Der Nebel kam so plötzlich und überraschend. Das Wetter spielte in diesem Jahr sowieso verrückt. Den Sommer hatten wir im Herbst und bis gestern war es strahlend schön. Richtiges klares Winterwetter. In Rom beginnt schon der Frühling, wie mir Carry am Telefon sagte.«
»Ich bin von einer Maschine in die andere gestiegen«, sagte Miriam geistesabwesend. »Carry war so still während des Fluges, dass ich sie gar nicht richtig wahrnahm. Jetzt tut es mir leid, dass ich mich nicht schon vorher ein bisschen um sie gekümmert habe.«
»Sie ist scheu, und Reisebekanntschaften können auch nachteilig sein«, sagte Jonas. »Ich mache auch keine, aber ich bin sehr froh, dass Sie sich Carrys angenommen haben. Sie hat ein Loch in der Herzscheidewand, von Geburt an.«
Miriam Kopf ruckte empor. Forschend, bestürzt blickte sie den Mann an. »Warum wurde sie nicht operiert?«, fragte sie. »Sie hätten doch wohl die finanziellen Möglichkeiten?«
Er hörte den Vorwurf aus ihrer Stimme. »Ich hatte kein Verfügungsrecht über meine Tochter«, sagte er rau. »Ich werde es Ihnen erklären, damit Sie mich nicht für einen nachlässigen Vater halten.«
»Das tue ich nicht. Wären Sie es, würde Carry Sie nicht so lieben.«
»Ja, es ist ein Wunder, dass sie mich trotz allem liebt«, sagte er verhalten. »Ihre Mutter war Italienerin. Unsere Ehe begann sehr glücklich, obgleich ihre Eltern von Anfang an dagegen waren, dass sie einen Deutschen heiratete. Als das Kind unterwegs war, ging es ihr nicht gut. Wir lebten in München, das Klima bekam ihr nicht.« Er machte eine kleine Pause. »Und ihr Wesen veränderte sich schlagartig. Sie hatte Heimweh. Sie wollte in Rom sein, aber ich konnte hier nicht alles stehen und liegen lassen.« Wieder versank er in Schweigen. Sie schwieg auch.
»Es ist alles so schwer erklärbar«, sagte Jonas.
»Sie sind mir keine Erklärung schuldig«, meinte Miriam darauf.
»Aber Sie sind Ärztin. Sie können nicht begreifen, dass ich für mein Kind nichts getan habe.«
Tante Hanne trat ein. Sie tat, als hätte sie nicht gehört, was er sagte. Sie stellte einen Weinkrug aus wundervollem rotem Kristall auf den Tisch und die Gläser dazu.
»Carry möchte dich noch einmal sehen, Jonas«, sagte sie mit ihrer warmen, angenehmen Stimme.
Er neigte leicht den Kopf. »Entschuldigen Sie mich bitte, Frau Doktor«, sagte er.
»Aber das ist doch selbstverständlich. Carry ist wichtiger.« Miriam lächelte leicht, doch dieses Lächeln erreichte ihre ernsten, nachdenklichen Augen nicht. Sie fühlte sich wieder von Tante Hanne gemustert, deren Nachnamen sie noch immer nicht wusste. Und so wusste sie auch nicht, wie sie die Ältere anreden sollte. Sie fragte stockend danach.
»Ach, sagen Sie nur Tante Hanne. Wozu große Umstände machen? Wichtig ist mir, dass Sie Jonas als Vater nicht falsch sehen. Er konnte gegen diesen Clan nicht an. Ich werde Ihnen diese Geschichte aus meiner Sicht erzählen, denn Sie werden hoffentlich einige Tage unser Gast bleiben. Für Jonas ist das alles zu schlimm, weil er in der für ihn wichtigsten Angelegenheit so machtlos war.«
Sie verstummte, als sie seine Schritte hörte, und wie ein kleines Mädchen legte sie den Finger auf die Lippen.
Jonas trat ein. »Ich soll Sie in Carrys Namen bitten, bei uns zu wohnen, solange Sie in München bleiben. Ich hoffe sehr, dass Sie uns diese Bitte nicht abschlagen, der ich mich anschließe.«
»Sie werden ja nicht nur für ein paar Stunden nach München gekommen sein«, sagte Tante Hanne. »Außerdem ist der Wetterbericht schlecht. Ich verstehe ja sowieso nicht, wie man sich in ein solch Ungeheuer setzen kann. Schon mit dem Auto ist es gefährlich genug. Wie denken Sie darüber, Miriam?«
»Ich fahre nicht mehr«, erwiderte Miriam kaum vernehmbar.
»Hatten Sie einen Unfall?«, fragte Jonas.
Unwillkürlich legte Miriam die Hand über ihre Augen, vor denen wieder ein grauenvolles Bild erschien.
Sie nickte nur und wandte sich ab. Sie war Tante Hanne dankbar, die ablenkend sagte, dass es nun an der Zeit wäre, den Wein zu trinken, da er sonst warm würde.
»Sie haben Verwandte in München?«, fragte Tante Hanne dann.
»Nein, eigentlich nur einen Bekannten aus der Studienzeit, Dr. Daniel Norden«, erwiderte Miriam.
»Dr. Norden? Ein sehr bekannter Arzt«, sagte Tante Hanne. »Ich kenne ihn durch Dr. Behnisch, der mich operiert hat.«
»Dieter Behnisch?«, fragte Miriam staunend. »Er ist auch in München?«
»Er hat eine Privatklinik«, erklärte Tante Hanne, »mit einem ausgezeichnetem Ruf.«
»Wie merkwürdig«, murmelte Miriam. »Wir studierten zur gleichen Zeit. Es ist schon ziemlich lange her. Wie es so ist im Leben, hörten wir dann nichts mehr voneinander.«
»Nun können Sie sich Zeit lassen, alte Freundschaften wieder aufzufrischen«, meinte Tante Hanne. Sie warf Miriam einen schrägen Blick zu. »Allerdings werden Sie Ihre Studienkollegen als gesetzte Ehemänner wiederfinden.«
»Umso besser«, sagte sie mit einem Anflug von Humor. »Dann kommt keiner auf den Gedanken, dass ich hier auf Männerjagd gehen will.«
»So war es von mir auch nicht gemeint«, sagte Tante Hanne. »Ich habe ein besonderes Talent, mich manchmal missverständlich auszudrücken. Tatsächlich nahm ich an, dass auch Sie verheiratet sind.«
»Nein, das bin ich nicht«, erwiderte Miriam.
»Auf Ihr Wohl«, warf Jonas ein und hob sein Glas. Miriam trank in kleinen Schlucken. Es war ein köstlicher Wein. Wohlig warm wurde es ihr nach dem dritten Schluck. Die Spannung ließ nach, und die Müdigkeit kam.
»Es war ein aufregender Tag«, sagte Jonas. »Wir wollen Ihnen Ruhe gönnen. Hoffentlich werden Sie gut schlafen.«
»Sie werden Carry jetzt operieren lassen?«, fragte sie.
»So schnell wie möglich.«
»Von wem?«
»Von Professor Benten.«
»Nein!«, entfuhr es Miriam.
»Warum nicht?«, fragte Jonas bestürzt. »Er ist der prominenteste Herzspezialist.«
»Ja, der prominenteste«, sagte Miriam schleppend. »Ein glänzender Chirurg, ein Mensch ohne Seele.«
»Siehst du, das habe ich dir auch gesagt, Jonas«, warf Tante Hanne ein. »Ich lehne ihn auch gefühlsmäßig ab. Gut, dass ich Unterstützung bekomme.«
»Ich war zu impulsiv. Ich will mich nicht einmischen«, sagte Miriam leise. »Carry ist so überaus sensibel. Sie würde kein Vertrauen zu ihm haben. Das ist meine Meinung.«
»Wen würden Sie denn vorschlagen?«, fragte Jonas.
»Vielleicht könnte Dr. Norden da besser raten. Ich war acht Jahre nicht hier.«
Aber Benten kennt sie, dachte Jonas, doch er stellte keine Fragen. Er sah, dass Miriam sehr müde war, und zudem war ihre Miene jetzt sehr verschlossen.
»Wir werden noch Gelegenheit haben, uns darüber zu unterhalten«, sagte er ruhig. »Tante Hanne wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ich wünsche Ihnen eine sehr gute Nacht.«
Er küsste ihr die Hand, und als sich ihre Augen für den Bruchteil einer Sekunde trafen, hatte sie das untrügliche Gefühl, einen Freund gefunden zu haben. Es beruhigte sie, dass er nicht erzürnt war über ihre Meinungsäußerung. Benten, ausgerechnet Benten, ging es ihr durch den Sinn, als sie dann in dem wunderschönen Gästezimmer, das auch im bäuerlichen Stil eingerichtet war, ihre müden Glieder in einem frisch duftenden Bett ausstreckte.
Mit einem festen, herzlichen Händedruck hatte Tante Hanne ihr ebenfalls eine gute Nacht und schöne Träume gewünscht.
Nur nicht träumen, waren Miriams letzte Gedanken, bevor sie einschlief, denn schöne Träume kannte sie schon lange nicht mehr. Ein herrlicher erquickender Schlaf war ihr in dieser Nacht vergönnt, nach der sie erholt erwachte.
Sollte es doch noch mal einen neuen Anfang geben? Sollte sie befreit werden von den Höllenqualen, die sie schon beinahe zum Irrsinn getrieben hatten? Konnte es möglich sein, dass sie vergessen durfte, was ihr das Leben wertlos gemacht hatte?
Es klopfte leise an der Tür, und dann kam Carry herein. Ihr zartes Gesichtchen war rosig überhaucht. Ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie die ihres Vaters, wie sie erst jetzt bemerkte, denn gestern waren sie vom Weinen dunkel und glanzlos gewesen.
»Oh, Miriam, ich hatte Angst, dass du nicht mehr hier sein könntest«, hauchte Carry. »Hast du gut geschlafen?«
»So gut wie schon lange nicht mehr«, erwiderte Miriam wahrheitsgemäß.
»Ich auch, ohne böse Träume.«
Wir haben mancherlei gemeinsam, ging es Miriam durch den Sinn.
»Gefällt es dir bei uns?«, fragte Carry in ihrer kindlichen Art. »Ist das Haus nicht schön? So habe ich es mir auch immer vorgestellt.«
»Warst du denn niemals hier, Carry?«, fragte Miriam betroffen.
»Nein, es war doch nicht möglich. Nonna hätte es nie erlaubt. Sie durfte nur nicht verbieten, dass Papi mich besuchte, aber wenn ich nach Deutschland wollte, hätte ich doch einen Pass gebraucht. Sie hat verhindert, dass ich einen bekam, sie konnte das. Großvater hatte sehr viel Einfluss und sie nach seinem Tod auch.«
»Und warum ließen sie dich nicht zu deinem Vater?«, fragte Miriam nun doch wie unter einem Zwang.
»Sie hassten ihn«, stieß Carry hervor. »Sie hassten ihn, als wäre er schuld gewesen an Mamas Tod. Dabei war das doch eigentlich ich. Geliebt haben sie mich auch nicht. Sie wollten nur Papi kränken. Sie wollten ihn demütigen. Ich habe das nie verstanden. Mama und er haben sich doch geliebt. Aber was soll ich darüber reden? Nonna ist tot, und ich darf jetzt immer bei Papi bleiben. Hier werde ich vielleicht auch gesund. Meinst du, dass es möglich ist? Du bist doch Ärztin.«
»Sicher wirst du ganz gesund, Carry.«
»Nonna hat gesagt, dass die Ärzte Mama nicht helfen konnten, und mir können sie auch nicht helfen. Sie wollte wohl auch gar nicht, dass ich am Leben bleibe, wenn sie nicht mehr lebt.«
Eisig rann es Miriam den Rücken herunter. Wie viel haben wir eigentlich noch gemeinsam, dachte sie für sich. Auch in ihrem Leben hatte es einen Menschen gegeben, der sie nicht lebend wissen wollte, weil er sterben musste und weil ihm tatsächlich kein Arzt helfen konnte.
»Ich will nicht, dass du so ernst schaust«, sagte Carry. »Ich rede und rede und nur über die Vergangenheit, wo die Gegenwart doch so schön ist.«
»So kann man die Vergangenheit aber am besten bewältigen, mein Liebes«, sagte Miriam warm.
»Wirst du mir auch mal von deiner Vergangenheit erzählen, was du so erlebt hast?«
»Später einmal vielleicht«, sagte Miriam. »Ich bin um einiges älter als du, Carry, da hat man schon mehr erlebt und auch Dinge, an die man sich nicht gern erinnert.«
»Man kann sehr jung sein und doch schon alt, Miriam. Ich war noch niemals richtig Kind.« Wie ernsthaft und wehmütig das klang. »Hier wäre ich viel lieber gewesen. Tante Hanne ist auch sehr nett, nicht wahr? Einmal durfte ich mit ihr und Papi ein paar Tage in Ostia sein. Das konnte Nonna nicht verbieten. Papi hatte da auch jemanden kennengelernt, der ihm half. Einen Richter, einen ganz hohen, der dann auch Nonnas Testament angefochten hat. Aber jetzt wollen wir erst einmal frühstücken. Ich bin schrecklich unhöflich. Papi bleibt doch eigens unseretwegen ein paar Tage ganz daheim.«
»Deinetwegen, Carry«, sagte Miriam.
»Deinetwegen doch auch. Du bist ihm ein sehr lieber Gast, das hat er mir gesagt, und Tante Hanne ist sonst auch ziemlich heikel, aber dich mag sie.«
Sie war zauberhaft natürlich und zutraulich. Wie viel Gemüt musste sie besitzen, da es durch nichts zu zerstören war. Wie innig verbunden mussten Vater und Tochter innerlich sein, das Carry trotz ihres Leidens so glücklich lächeln konnte.
Es wurde Miriam leicht gemacht sich heimisch zu fühlen. Wie lange war es her, dass dies so gewesen war? Nur flüchtig dachte sie an eine kahle Zelle, in der sie das Fazit eines ruhelosen Lebens gezogen hatte, und einmal war sie doch mit aller Leidenschaft Ärztin geworden, aber es war, als wäre es in einem anderen Leben gewesen.
Tante Hanne verbreitete Gemütlichkeit und Ruhe, Carry ließ sich von ihr verwöhnen und aß mit großem Appetit die frischen Brötchen.
»Sie sollen sich bei uns nicht angebunden fühlen, Frau Dr. Perez«, sagte Jonas.
»Sag Miriam, Papi, Tante Hanne tut es doch auch«, warf Carry ein.
»Mir wäre eine weniger formelle Anrede auch lieber«, sagte Miriam rasch, denn jedes Mal gab es ihr einen Stich wenn sie mit diesem Titel angesprochen wurde.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte Jonas, »aber dann müssen Sie mich auch weniger förmlich anreden.«
»Nachher wird mit einem Glas Sekt darauf angestoßen«, sagte Tante Hanne munter. »So gefällt es mir, Kinder. Bei uns auf dem Lande haben wir nicht solche Umstände gemacht.«
»Tante Hannes Mann war Gutsbesitzer«, sagte Carry erklärend.
»Bauer, ein richtiger Bauer war er, aber ein guter, und er hatte ein Herz wie Butter. Übrigens heiße ich auch Bauer, damit es gesagt sei, aber wir bleiben bei Tante Hanne.«
Miriams Gedanken wanderten. Schlicht und natürlich war auch Tante Hanne, obwohl sie gewiss eine gebildete Frau war mit einer angeborenen Vornehmheit und Herzensgüte. Auch Jonas Henneke, mochte er sein, was er wollte, denn über seinen Beruf hatte Miriam ja noch nichts erfahren, hatte diese schlichte Natürlichkeit in seinem Wesen. Wie hatte sich das wohl mit der vornehmen Familie, aus der seine Frau gekommen war, vertragen? Vertragen können, musste sie in Gedanken hinzufügen.
Schließlich musste diese Familie überaus einflussreich gewesen sein, wenn sie verhindern konnte, dass das Kind nach dem Tode der Mutter zum Vater kam.
Miriam wagte nicht, Jonas eingehender zu betrachten, aber der erste Eindruck war imponierend genug gewesen. Er hatte einen Charakterkopf und auch jetzt, wohl der Mitte der vierziger Jahre nahe, ein blendend aussehender Mann.
Nein, nicht im eigentlichen Sinne blendend, berichtigte sich Miriam selbst, denn hinter blendendem Aussehen stand oftmals gar nichts. Jonas hatte ein ungeheuer ausdrucksvolles Gesicht, da ihm nun die Angst nicht mehr in den Augen stand und auf die Stirn geschrieben war.
»Benutzen Sie das Telefon, so oft Sie wollen, Miriam«, sagte er jetzt. »Aber machen Sie uns die Freude und lassen sich nicht von Ihren Freunden überreden, von uns weg zu ihnen zu ziehen. Carry wäre sehr traurig.«
»Du darfst es mir nicht antun, Miriam«, sagte Carry. »Oh, wenn du mich doch operieren könntest, es wäre wunderbar.«
Miriam fiel fast die Tasse aus der Hand. Ihr Herzschlag setzte momentan aus.
»Ich würde überhaupt keine Angst haben«, sagte Carry lächelnd.
»Es ist unmöglich, Carry, aber du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden den allerbesten Arzt für dich finden, und du wirst ganz schnell ganz gesund werden.«
»Wie kommt das eigentlich, wenn man so ein Loch hat?«, fragte Carry.
Jonas’ Miene verdüsterte sich. Miriam sah es. »Es ist öfter der Fall, als man meint«, sagte sie rasch. »In dieser Hinsicht ist der Fortschritt in der Medizin so groß, dass solche Operationen tagtäglich, ich weiß nicht wie oft, in aller Welt ausgeführt werden. Ich werde Dr. Norden fragen, wen er für den besten Herzspezialisten hält.«
Das sagte sie sehr bestimmt. Jonas warf ihr einen langen, forschenden Blick zu.
»Hattest du nicht schon mit einem gesprochen, Papi?«, fragte Carry.
»Ja, das schon, aber ich verlasse mich auf Miriam«, erwiderte Jonas.
»Das ist mir auch lieber«, meinte Carry.
»Mir auch«, sagte Tante Hanne. »Von Ferndiagnosen halte ich schon gar nichts und vor allem nicht, wenn das Honorar schon vorher festgesetzt wird.«
Dafür erntete sie einen vorwurfsvollen Blick von Jonas.
»Ist denn so eine Operation sehr teuer?«, fragte Carry.
»Nicht der Rede wert«, erklärte Jonas rasch. »Ich mag Geld als Gesprächsthema überhaupt nicht. Reich mir doch bitte mal den Schinken, Tante Hanne.«
Miriam kam ihr zuvor. Unabsichtlich berührten sich ihre Hände, und fast war es so, als wolle Jonas Miriams Hand festhalten. Hilfeheischend war sein Blick, und sie wusste ihn zu deuten, denn sie wusste, was eine Operation bei Benten ungefähr kosten würde, wenn er schon selbst eine ausführte.
Ja, sie kannte Benten. Er hatte sich einmal intensiv um sie bemüht, aber sie hatte ihn nicht gemocht, obgleich sie sich jetzt sagen musste, dass er ihr nicht einmal so viel Unglück gebracht hätte wie ein anderer, der jetzt tot war und der auch ihren Tod gewünscht hatte.
»Fahr zur Hölle, Miriam«, tönte es in ihren Ohren, und ohne dass sie es spürte, wich alles Blut aus ihrem Gesicht. Aber da war ja noch die Bräune südlicher Sonne, die dies täuschend verdeckte, und doch hatte sie das Gefühl, dass Jonas es bemerkte.
»Greifen Sie zu, Miriam«, sagte er. »Es scheint so, als hätte nicht nur unsere Carry Untergewicht.«
»Und Miriam ist viel größer als ich«, sagte Carry. »Du bist wahnsinnig schlank. Findest du das nicht auch, Tante Hanne?«
»Viel zu dünn, aber wir werden sie schon aufpäppeln. Was kriegt man da auch schon zu essen, bei den Halbwilden.«
»Na, na, na«, sagte Jonas. »Libanon ist ein reiches Land. Haben Sie unter guten Bedingungen gearbeitet, Miriam?«
»Nein, das könnte ich nicht sagen.« Sie biss schnell in ihr Brötchen, um nicht mehr sagen zu müssen, und wie es schien, verstand Jonas sie auch ohne Worte. Er redete von etwas anderem, nämlich von seinen freien Tagen, die er sich genommen hatte und davon, dass er ihnen da ein bisschen die Umgebung zeigen wollte.
»Wenn es sich aufklärt«, sagte Tante Hanne, »sonst lohnt es sich ja nicht. Bei Nebel sieht alles grau in grau aus, und außerdem ist die Fahrerei gefährlich. Miriam wird sich auch gern mit ihren alten Freunden in Verbindung setzen wollen.«
Miriam warf ihr einen dankbaren Blick zu. »Ja, das möchte ich gern. Ich bitte um Verständnis dafür.«
»Das ist selbstverständlich«, sagte Jonas.
Jetzt ging es Miriam nicht mehr um sich selbst, sondern viel mehr um Carry, denn sie wusste sehr gut, dass eine solche Operation, der sich Carry unterziehen musste, möglichst im Kindesalter stattfinden sollte, bevor das Wachstum beendet war. So waren die Chancen für eine völlige Gesundung viel größer.