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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74099-425-9


		Josuah Parker war erleichtert, als er dem japanischen Geländewagen entstieg, den seine Herrin, Lady Agatha Simpson, gesteuert hatte.
Autofahrer hatten erbost hinter ihnen gebrüllt, und an der Southwark-Bridge hatte ein total entnervter Radfahrer sich nur mit einem verzweifelten Sprung in die Themse retten können. Seine derben Flüche klangen Josuah Parker immer noch in den Ohren.
»Diese Leute«, klagte Lady Agatha, während Parker ihr aus dem Wagen half, »benehmen sich wie üble Rowdys. Aber das erlebe ich ja nicht zum ersten Mal. Was sagen Sie dazu, Mister Parker?«
»In der Tat, Mylady«, erwiderte der Butler diplomatisch. »Es ist wahrhaftig nicht das erste Mal.«
Die passionierte Detektivin setzte ihre beachtliche Leibesfülle in Bewegung und ging zielstrebig auf eine Passage zu.
Parker folgte gemessen seiner Herrin, die den heutigen Tag mit einem Einkaufsbummel zu verbringen gedachte.
Einige Leute drehten sich neugierig nach ihm um. Parker war ein mehr als mittelgroßer, alterslos wirkender Mann: das Urbild eines hochherrschaftlichen Butlers mit schwarzem Zweireiher, Eckkragen und schwarzem Binder. Unverwechselbare Zeichen an ihm waren die schwarze Melone, der Covercoat und der Regenschirm, der allerdings von ganz besonderer Art war. Dazu war der Butler die Würde in Person.
Agatha Simpson hingegen strahlte unbändige Energie aus. Sie war seit Jahren verwitwet und eine immens reiche Frau, die sich dafür entschieden hatte, als Amateur-Detektivin zu arbeiten. Sie hielt sich in ihrem Beruf für unübertrefflich und einmalig und verbuchte auch viele Erfolge, weil Josuah Parker geschickt im Hintergrund agierte und die jeweiligen Fälle diskret zu lösen pflegte.
In der Passage blieb Lady Agatha abrupt stehen und sah sich erstaunt nach allen Seiten um.
»Was höre ich da, Mister Parker?« fragte sie stirnrunzelnd.
»Mylady dürften Ohrenzeugin einer erregt geführten Diskussion sein«, antwortete der Butler gemessen.
»Genau das wollte ich sagen«, behauptete die ältere Dame. »Kann es sein, daß diese Diskussion in der Wäscherei da drüben stattfindet?«
»Mylady verfügen über ein unübertreffliches Gehör.«
Agatha Simpson wandte sich um und blickte auf ein Schild in der Passage.
»Tom Peacock – Reinigung und Wäscherei«, stand da in schmalen Lettern.
Die Tür bestand aus Milchglas. Weder die neugierige Agatha Simpson noch Butler Parker konnten hindurchsehen.
Dafür aber waren die Geräusche aus dem Innern eindeutig zu identifizieren.
In der Wäscherei brüllten ein paar Kerle durcheinander. Die angeregte Diskussion setzte sich offenbar auf höherer Ebene fort – mit Faustschlägen und Ohrfeigen.
Für die kampflustige ältere Dame bedeutete das die ernstgemeinte Aufforderung zum Eintreten. Sie schlitterte sozusagen wieder mal in einen Fall hinein.
Entschlossen öffnete sie die Tür und trat ein – und fand sich übergangslos in einer anderen Welt wieder.
Dichter Nebel hing in dem Raum wie in einem Inhalatorium. Die Luft war schwer und feucht.
»Wo bleiben Sie denn, Mister Parker?« fragte Agatha Simpson ungehalten. »Man sieht hier ja kaum die Hand vor Augen.«
»Stets an Ihrer Seite, Mylady«, versicherte der Butler, der eingetreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte.
Die vier Kerle ignorierten ihre Besucher. Sie waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie alles um sich her vergessen hatten.
Sie waren in dem zähen Nebel nur als vage Schatten zu erkennen. Aber diese Schatten hieben brüllend um sich, verteilten Ohrfeigen, schlugen mit den Fäusten und begleiteten alles mit saftigen Flüchen.
Aus einer Waschmaschine strömte Dampf. Aus einem Rohr tropfte Wasser auf den Boden. Ein Karton mit Seifenpulver flog quer durch den Raum und zerplatzte dicht neben der Tür.
»Habe ich das etwa als Angriff aufzufassen, Mister Parker?« verlangte Lady Agatha empört zu wissen. »Diese tobsüchtigen Lümmel ahnen wohl nicht, wen sie vor sich haben.«
»Meine Wenigkeit möchte behaupten, es schiene sich eher um ein Versehen gehandelt zu haben. Gezielte Angriffe dürften bei diesem Smog keinen großen Erfolg versprechen.«
In dem großen Raum roch es nach Seifenpulver, Chemikalien aller Art, ätzenden Dämpfen, kochendem Wasser und Knochenöl, dessen talgartige Konsistenz sich in diversen Flaschen auf den Regalen befand. Das entsetzlich stinkende Zeug wurde als Schmiermittel, zur Seifen- und Schuhcremeherstellung benutzt.
Parker wußte immer noch nicht, was hier los war. Er sah nur undeutlich vier Kerle, die sich wie wild prügelten. Aber der Grund dafür blieb vorerst unerfindlich.
Einer der Kerle sauste jetzt gerade mit einem Affenzahn quer durch die Wäscherei. Ein kräftiger Fußtritt hatte ihm den erforderlichen Schub verliehen, und das Waschpulver tat ein übriges, um ihn schneller flitzen zu lassen.
Er knallte mit dem Schädel an eine Wäschetrommel und heulte auf. Völlig verschmiert versuchte er auf die Beine zu kommen, doch der Untergrund war zu glatt, und so landete er zum zweiten Mal knallhart an der Wäschetrommel.
Josuah Parker hielt es für angemessen, den Schauplatz der Schlägerei diskret zu verlassen, doch seine kriegerische Herrin war damit keineswegs einverstanden. Sie hielt das Schauspiel für ergötzlich.
»Sehen Sie nur, wie die sich balgen, Mister Parker«, rief sie erfreut.
Der Butler hüstelte dezent und bot seiner Herrin den Arm.
»Wenn Mylady gestatten, wird meine Wenigkeit Mylady vom Schauplatz des Geschehens begleiten«, bot er an, aber damit stieß er auf taube Ohren. Agatha Simpson dachte nicht im Traum daran, den Schauplatz des Geschehens zu verlassen.
Sie suchte nach einer Möglichkeit, hilfreich in den Kampf einzugreifen, konnte sich aber noch nicht für eine Seite entscheiden, weil alles im wahrsten Sinn des Wortes noch undurchsichtig war.
Der Rattengesichtige ließ immer noch den Revolverlauf kreisen.
Agatha Simpson hatte inzwischen ihren perlenbestickten Pompadour in leichte Schwingung versetzt und bewies jetzt ihre Gefährlichkeit.
Sie holte einmal kurz aus und setzte den Pompadour zielsicher auf den Schädel des Mannes.
Die Wirkung war erstaunlich. Der Rattengesichtige zuckte zusammen, stöhnte dann, verdrehte die Augen und sackte schwerfällig in die Knie. Der leise Nachhall eines hohlen, dumpfen Geräuschs war noch zu hören, außerdem das Poltern, mit dem der Revolver auf den Boden fiel.
Der Glücksbringer im Handbeutel hatte voll sein Ziel erreicht. Bei diesem sogenannten Glücksbringer handelte es sich um ein einfaches Pferdehufeisen, das einst ein Brauereigaul getragen hatte. Dementsprechend Stark war auch die Wirkung. Der Glücksbringer war nur oberflächlich in dünnen Schaumstoff verpackt. Agatha Simpson handhabte den perlenbestickten Pompadour mit außerordentlicher Kraft und Geschicklichkeit, und da sie dem Hobby des Golfs und des Sportbogenschießens huldigte, war ihre Muskulatur auch entsprechend gut ausgebildet.
Einen Augenblick war die Schlägerei unterbrochen. Der zweite Kerl zog ebenfalls einen Revolver und kam näher. Er kniff die Augen zusammen, um in dem Dunst besser sehen zu können. Noch während er näherkam, bediente sich Parker aus dem reichhaltigen Angebot in den Regalen.
Er nahm eine Flasche Knochenöl und warf sie auf den Boden. Das schmierige Zeug lief aus und vermischte sich mit dem feuchten Seifenpulver zu einem aalglatten Bodenbelag. Parker warf noch eine zweite Flasche zu Boden und schickte einen Karton himmelblauen Waschpulvers hinterher, der detonationsartig barst.
Agatha Simpson stand mit höchst zufriedenem Gesichtsausdruck nahe der Tür und sah erstaunt auf den Effekt, den ihr Butler mit den Wurfgeschossen ausgelöst hatte.
Der Mann mit dem Revolver lief rückwärts, konnte sich aber nicht auf den Beinen halten und fiel der Länge nach hin. Der Rattengesichtige erhob sich, allerdings nur für den Bruchteil einer Sekunde, dann schlitterte er wie besessen durch die Schmiere, griff haltlos in der Luft herum und beendete seine Reise vor einer Waschmaschine, die er heftig umarmte.
Auch die drei anderen blieben nicht verschont. Einer ging zu Boden, der andere klammerte sich an ihn und folgte ihm. Der dritte flitzte wie vom Affen gebissen durch den Raum, flog an die Wand, fiel hin und versuchte aufzustehen. Vergeblich – in der Schmiere kriegte er kein Bein mehr auf den Boden.
Heulen und Zähneklappern war zu hören. Immer wieder versuchten die Männer, sich auf den Beinen zu halten, doch jeder Ansatz wurde im Keim erstickt.
Agatha Simpson war von diesem Effekt so begeistert, daß sie nun ihrerseits in die Regale griff und die brüllenden Kerle mit allem bombardierte, was ihr in die Hände fiel.
Der eine grapschte nach seinem Revolver und fiel prompt und schmerzhaft auf die Nase. Zu aller Pein knallte ihm ein weiterer Karton Waschpulver auf den Schädel. Eine zartblaue Wolke breitete sich aus, und der Kerl gab einen erstickten Schrei von sich.
Die anderen gerieten inzwischen in Panik, niesten, husteten und fluchten um die Wette. Sobald einer auch nur die Hände aufstützte, endete der Versuch mit einem kläglichen Fall.
»Herrlich ist das«, rief Lady Agatha und klatschte in die Hände. »Die Subjekte kommen überhaupt nicht mehr hoch. Wie finde ich das, Mister Parker?«
»Mylady dürften das höchst ergötzlich finden. Wie Mylady sicher wissen, handelt es sich hierbei um den sogenannten Reibungskoeffizienten. Mylady wissen ferner, daß es sich dabei um jene Kraft handelt, die aufgewendet werden muß, um die Geschwindigkeit eines reibenden Körpers konstant zu halten, im Verhältnis zum Körpergewicht. Mylady dürfen versichert sein, daß der. Reibungskoeffizient in diesem Fall gleich Null ist.«
»Selbstverständlich ist mir das bekannt«, schwindelte die Lady bedenkenlos, die vom Reibungskoeffizienten noch nie etwas gehört hatte. Sie sah nur den Erfolg, und der war mehr als erstaunlich, als die brüllenden Männer immer wieder vergeblich versuchten, auf die Beine zu kommen.
In wilder Wut, Beklemmung und Angst hieben sie nach allen Seiten um sich. Doch jede Bewegung setzte sich in der Schmiere sofort um und ließ sie hilflos von einer Seite zur anderen rutschen.
Selbst als einer versuchte, sich an der Waschmaschine hochzuziehen, gelang ihm das nicht. Er strampelte mit den Beinen, hielt das Gerät umklammert und kam nicht mehr davon los.
Ein anderer kroch mit einem Gesicht wie ein kranker Hund auf Agatha Simpson zu und versuchte ihre Beine zu fassen.
Für die streitbare ältere Dame war das einwandfrei ein tätlicher Angriff, oder zumindest der Versuch dazu.
Wieder trat ihr perlenbestickter Pompadour in Aktion, den sie an einer langen Lederschlaufe trug.
Der Glücksbringer traf wie gewohnt sein Ziel. Diesmal landete er auf einem mit Waschpulver und Knochenöl zweckentfremdeten Hinterkopf.
Da auch hier der Reibungskoeffizient aufgehoben war, hatte Agatha Simpson alle Mühe, den Glücksbringer rechtzeitig abzufangen, weil er wie ein Bumerang zurückkehrte.
Der kräftig geführte Hieb aber versetzte den Mann in rotierende Bewegung. Er drehte sich wie ein Kreisel auf dem glitschigen Boden und kam erst nach einer Weile unter einem Regal zum Stillstand. Der Aufprall war so gewaltig, daß dieses Regal umfiel. Knallend barsten Kartons und Flaschen. Himmelblaue und weiße Wolken wurden durch den Raum geblasen, weiteres Knochenöl lief aus. Der Geruch wurde schließlich so penetrant, daß selbst Parker leicht angewidert die Nase rümpfte.
»Was gedenke ich nun zu tun, Mister Parker?« fragte die Lady, die mißbilligend auf die rudernden Kerle sah.
»Mylady gedachten den Nachmittag mit einem Einkaufsbummel zu verbringen.«
»Richtig, das hatte ich vor. Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun. Den Rüpeln habe ich es gründlich besorgt. Finden Sie nicht auch, Mister Parker?«
Josuah Parker verneigte sich leicht.
»Mylady verstehen es ausgezeichnet, immer die rechten Umgangsformen zu wahren«, sagte er höflich.
»Dann gehen wir jetzt«, entschied die resolute Dame bestimmt.
Aus dem himmelblauen Nebel ertönte wildes Zetern. Die Kerle brüllten immer noch ihre hilflose Wut hinaus.
»Das wird Folgen haben«, keifte eine bitterböse Stimme. »Das wird euch noch verdammt leid tun.«
»Tut es mir wirklich leid, Mister Parker?« fragte die Lady lächelnd.
»Meine Wenigkeit möchte sich dem Glauben hingeben, daß Mylady nicht unbedingt von dieser Gefühlsregung betroffen sind.«
Butler Parker lüftete höflich seine Melone in Richtung der undefinierbaren Nebelwolke und geleitete seine Herrin dann zur Tür hinaus.
Hinter ihnen blieb das totale Chaos zurück. Fünf restlos entnervte Männer schrien sich die Kehlen heiser.
*
Lady Agatha bewohnte in Shepherd’s Market, in der Nähe des Hyde Park, ein Fachwerkhaus, das auf den Grundmauern und Gewölben einer alten Abtei stand. Das Haus lag an der Stirnseite eines kleinen Platzes, der von weiteren Fachwerkhäusern eingerahmt wurde. Diese Häuser gehörten Lady Agatha ebenfalls.
An diesen Abend hatte es sich Lady Agatha gemütlich gemacht. Sie saß in dem großen Sessel vor dem Kamin, blätterte in einer Zeitschrift und trank abwechselnd Tee und Kognak. Immer wieder griff ihre Hand nach der Kristallschale mit den diversen Leckereien.
Josuah Parker legte gerade ein Scheit in den knisternden Kamin.
»Schrecklich, diese Süßigkeiten, Mister Parker«, meinte sie, »aber ich habe gerade in dieser Zeitschrift gelesen, daß der menschliche Körper unbedingt hin und wieder Zucker zu sich nehmen muß, damit er gesund und kräftig bleibt.«
Das klang fast wie eine Entschuldigung, denn in der Zeitschrift stand nichts davon, daß man diesen Zucker in Form von Keksen und Leckereien gleich pfundweise vertilgen mußte.
»Da kann ich Mylady nur beipflichten«, sagte Parker höflich. Sein Gesicht war glatt und ausdruckslos auf die jetzt leere Kristallschale gerichtet. »Mylady dürfen ihren Körper keineswegs vernachlässigen.«
»Dann bringen Sie mir noch ein paar kandierte Früchte, Mister Parker.«
Als der Butler das Gewünschte in einer weiteren Schale hereinbrachte, läutete die Türglocke.
Agatha Simpson sah unwillig hoch. Sie liebte es nicht sonderlich, in ihren Musestunden gestört zu werden.
»Sehen Sie bitte mal nach, wer mich jetzt noch belästigt, Mister Parker.«
Der Butler verbeugte sich knapp und ging zum verglasten Vorflur. Auf der rechten Seite öffnete er einen in die Wand eingebauten Schrank und schaltete die Fernsehkamera ein, die sich draußen unauffällig unter dem Vordach der Tür befand.
»Chief-Superintendent McWarden«, meldete Parker.
»Was will der Mensch denn nun schon wieder?« fragte sie seufzend. »Braucht er mich, um wieder einen Fall aufzuklären? Wie hat er es nur jemals zu seinem Posten gebracht? Lassen Sie ihn eintreten«, entschied sie dann.
McWarden, etwa fünfundfünfzig Jahre alt, untersetzt und mit einem deutlichen Bauchansatz ausgestattet, ähnelte einer leicht gereizten Bulldogge, was sein Aussehen betraf. Der Blick aus seinen Basedowaugen trug noch ein übriges dazu bei.
McWarden leitete im Yard ein Sonderdezernat, das dem Innenministerium unterstellt war und sich hauptsächlich mit dem organisierten Bandenwesen befaßte.
Da er unter Erfolgszwang stand und oft Probleme hatte, stellte er sich oft im Haus der Lady Simpson ein und bat hin und wieder um Mithilfe bei einem verzwickten Fall. Er suchte dabei vor allem Parkers Rat, schätzte aber auch die unkonventionelle und ungewöhnliche Art der Lady Agatha und nahm es sogar in Kauf, von der älteren Dame mehr oder weniger zynisch bespöttelt zu werden. Manchmal platzte McWarden dann aber doch der Kragen, und er reagierte giftig.
McWarden nahm nach der etwas kühlen Begrüßung umständlich im Besuchersessel Platz. Sein Gesicht sah unglücklich aus, und er blickte ein wenig ratlos von einem zum anderen. Er trug etwas mit sich herum, das ihm anscheinend selbst sehr zu schaffen machte.
»Was darf ich anbieten, Sir?« fragte der Butler.
Lady Agatha wedelte unwillig mit der Hand.
»Vorerst gar nichts«, entschied sie. »Ich weiß ja noch nicht mal, was McWarden überhaupt will.«
Als der Superintendent sehnsüchtig nach der Schale mit den kandierten Früchten schielte, brachte Lady Agatha sie mit einem schnellen Griff außer Reichweite und damit in Sicherheit.
»Sie sollten nicht nach Süßigkeiten schielen, mein Lieber« tadelte sie, »sehen Sie sich mal Ihren Bauch an. Süßigkeiten sind höchst ungesund.«
McWarden blickte schluckend auf seinen gewölbten Leib. Er hätte sich gern ein Gläschen Brandy anbieten lassen, aber bei dem sprichwörtlichen Geiz der Hausherrin war damit wohl kaum zu rechnen.
»Na, dann packen Sie mal aus, McWarden«, sagte Agatha Simpson jovial. »Sicher haben Sie einen Fall am Hals, mit dem Sie wieder mal nicht fertig werden und brauchen meine Hilfe. Sind Sie um diese Zeit überhaupt noch im Dienst?«
In McWardens Augen erschien ein kleines, boshaftes Licht. Er gestattete sich ein dünnes Grinsen, das Lady Agatha irgendwie hinterhältig erschien.
»Nein, ich bin heute nicht mehr im Dienst«, antwortete er. »Es handelt sich um einen rein privaten Besuch.«
»Was ja wirklich sehr selten ist«, meinte die passionierte Detektivin spöttisch. »Sie sind also gekommen, um bei mir Tee und Gebäck abzustauben?«
Agatha Simpson war immer sehr direkt und pfiff auf die Regeln der Höflichkeit. Aber das war McWarden gewöhnt.
»Ich komme aus einem anderen, nicht gerade angenehmen Anlaß. Ein Kollege von der Kripo gab mir den dezenten Hinweis, daß ...«
»Also doch ein Fall, den Sie nicht allein lösen können«, unterbrach die Lady zufrieden und überlegen.
McWarden ging nicht darauf ein. Er sprach den begonnenen Satz mit fast stoischer Ruhe zu Ende.
»... gegen Sie, Mylady, eine Anzeige wegen Körperverletzung vorliegt.«
Agatha Simpson verschluckte sich prompt an ihrem Tee.
»Was?« rief sie empört. »Wer hat diese wahnsinnige Idee gehabt? Ich höre wohl nicht recht, McWarden. Was sagen Sie dazu, Mister Parker?«
Josuah Parker hatte die Worte erstaunt zur Kenntnis genommen, und er wußte auch schon, wer die Anzeige erstattet hatte. Sein Gesicht blieb jedoch ausdruckslos und glatt.
»Mylady empören sich zu Recht. Meiner Wenigkeit ist nicht bekannt, daß Mylady sich zu einer Körperverletzung hinreißen ließen.«
»Na also! Was soll dann dieser Unsinn? Sie haben ja gehört, McWarden, daß ich keine Körperverletzung begangen habe. Wie sollte ich auch – ich, eine schwächliche, zarte Frau?«
McWarden sah sinnend auf die »schwächliche, zarte Frau«, die schon so manchen harten Gangster verprügelt hatte.
»Die Anzeige stammt von einem gewissen Tom Peacock, Mylady, der eine Wäscherei und Reinigung betreibt. Er und sein Bruder, denen das Geschäft gemeinsam gehört, behaupten, Sie hätten mit einem Hammer zugeschlagen.«
»Hatte ich einen Hammer dabei, Mister Parker?« fragte die Lady sanft.
»Meine Wenigkeit kann bestätigen, daß Mylady keinen Hammer bei sich trug«, versicherte der Butler. »Offenbar dürfte hier ein Irrtum vorliegen.«
»Vielleicht war’s ein perlenbestickter Pompadour«, meinte McWarden ein wenig boshaft. »Und vielleicht befand sich jener als Hammer bezeichnete Gegenstand darin.«
Josuah Parker räusperte sich leicht. Seine Herrin schien in Schwierigkeiten zu geraten, denn die Anzeige wegen Körperverletzung war keinesfalls als Witz aufzufassen. Die Kerle hatten ja gedroht, daß es noch Folgen haben würde.
»Vermutlich liegt hier ein bedauerlicher Irrtum vor«, wandte er sich an McWarden. Dann berichtete er in knappen Sätzen, was sich in der Wäscherei und Reinigung zugetragen hatte.
»Mylady handelte einwandfrei in Notwehr«, schloß er.
»Empörend, daß dieser Kniebock es wagt, eine Lady Simpson anzuzeigen«, sagte die Hausherrin. »Was bildet sich dieser Lümmel ein! Ich werde ihn mir ernsthaft vorknöpfen.«
»Peacock heißen die beiden Männer«, verbesserte McWarden, denn Lady Agatha war dafür bekannt, daß sie sich keine Namen merken konnte.
»Wenn der Fall so liegt«, meinte McWarden nachdenklich, »dann halte ich es für besser, wenn Sie mal mit ihm reden. Vermutlich zieht Mister Peacock dann die Anzeige zurück.«
»Mylady werden sehr diskret Vorgehen«, sagte Parker. »Meine Wenigkeit ist überzeugt davon, daß sich’ alles zum Guten wenden wird.«
»Das will ich aber auch hoffen, sonst lernen die Kerle mich von meiner unangenehmen Seite kennen.« Dabei musterte sie McWarden kühl und frostig.
Der Chief-Superintendent erhob sich aus dem Besuchersessel.
»Dann werde ich nicht länger stören«, sagte er.
»Das finde ich sehr taktvoll«, erwiderte die Lady. »Morgen früh werde ich diesem Plierstock einen Besuch abstatten. Sie können die Angelegenheit dann als erledigt betrachten, McWarden.«
Das war sie aber keinesfalls, denn damit fing alles erst richtig an.
*
Am anderen Morgen fuhren sie in Parkers hochbeinigem Monstrum, wie seine Trickkiste auf vier Rädern von Freund und Feind genannt wurde.
Das Monstrum war ein ehemaliges Londoner Taxi, aber die Technik des Wagens befand sich auf dem neuesten Stand. Parker hatte den Wagen nach seinen Vorstellungen umgestalten lassen und dabei seine eigenwillige Phantasie unter Beweis gestellt.
Die Detektivin saß im Fond des Wagens und dachte darüber nach, was sie den beiden unverschämten Kerlen sagen würde, die es gewagt hatten, eine Lady Agatha Simpson wegen vorsätzlicher Körperverletzung anzuzeigen. Dabei beobachtete sie auch gleich etwas mißmutig den zähen Verkehr auf den Straßen.
»Können Sie nicht schneller fahren, Mister Parker? Geben Sie doch einfach mehr Gas und verscheuchen Sie diese Rowdies.«
»Mit Verlaub, Mylady, meine Wenigkeit versucht nur, sich dem zähen Verkehrsfluß anzupassen.«
»Papperlapapp«, meinte sie wegwerfend, »manchmal glaube ich, daß Sie einfach nicht das richtige Durchsetzungsvermögen haben. Ich wäre schon längst an Ort und Stelle.«
»Mylady beherrschen einen vorzüglichen Fahrstil.«
»Das will ich meinen«, sagte sie zufrieden. »Und jetzt werde ich Ihnen gleich mal demonstrieren, wie man es anstellt, daß eine Anzeige sang- und klanglos zurückgenommen wird. Natürlich geht das nur, wenn man über psychologisches Einfühlungsvermögen verfügt, Mister Parker.«
»Darin sind Mylady unübertrefflich«, versicherte der Butler.
Das hochbeinige Monstrum hielt in der Nähe der Passage. Als Parker seiner Herrin aus dem Fond half, blieben wiederum einige neugierige Leute stehen und starrten abwechselnd den Butler und das Auto an.
Josuah Parker kümmerten diese neugierigen Blicke jedoch herzlich wenig.
Er schritt hinter der Lady her, die es furchtbar eilig hatte und holte sie ein.
Tom Peacock erkannte die streitsüchtige Dame auf Anhieb und zuckte ein wenig zusammen. Mißtrauisch äugte er nach einem hammerähnlichen Gegenstand, konnte aber nur den Pompadour an der langen Lederschlaufe entdecken.
»Sind Sie Mister Kniebock?« herrschte Agatha Simpson ihn an.
»Nein, nein«, sagte Peacock hastig. »Vermutlich eine Verwechslung. Mein Name ist Peacock, Mylady, Tom Peacock.«
Aus der Schädeldecke des Mannes wuchs ein ansehnliches Horn, das in allen Farben des Spektrums schillerte. Dort hatte ihn das Souvenir eines ehemaligen Brauereigauls voll erwischt.
»Also doch«, meinte die Detektivin triumphierend. »Das habe ich ja gleich gewußt.«
Josuah Parker sah sich inzwischen um und registrierte, daß ein paar der Waschautomaten den Dienst eingestellt hatten, weil ihre Verglasung total zertrümmert war. In der Wäscherei sah es immer noch so aus, als hätten die Vandalen gehaust. Ein Teil des Bodens war mit zäher Schmiere bedeckt, obwohl Peacock sich alle Mühe gegeben hatte, die Spuren zu beseitigen.
Ein weiterer Mann kam durch die Tür hinter den Maschinen herein. Er war klein und drahtig und hatte schütteres Blondhaar.
Auch auf seinem Schädel prangte ein Horn, doch durch die wenigen Haare kam es bei ihm besonders ausgeprägt zur Geltung. Der sogenannte Glücksbringer hatte hier ganze Arbeit geleistet.
Wenn die beiden Männer die Anzeige nicht Zurücknahmen, überlegte Agatha Simpson, dann werden ihnen nochmals zwei weitere großzügig ausgestattete Hörner wachsen, damit sich die Sache auch lohnte.
Der mit den schütteren Haaren stellte sich ebenfalls als Peacock vor. Beide kannten Lady Agatha, hatten mit ihr aber noch nicht geschäftlich zu tun gehabt.
»Sie haben Anzeige gegen mich erstattet, meine Herren«, sagte sie verärgert. »Und Sie haben weiterhin behauptet, ich hätte Sie mit einem Hammer geschlagen. Sehe ich so aus, als trüge ich ständig ein solches Schlaginstrument mit mir herum, um Geschäftsleute zu verprügeln?«
»Das nicht«, gab der eine Peacock eingeschüchtert zu. »Aber Sie haben mir und meinem Bruder etwas Hartes auf den Schädel gehauen, als wir uns in einer mißlichen Lage befanden. Ich suchte nur Halt an Ihnen, Lady, aber Sie schlugen gleich zu. Wir hätten Sie auch noch wegen Sachbeschädigung belangen können, besonders jenen Herrn dort.«
Peacock zeigte anklagend auf Parker, der so steif dastand, als habe er einen Ladestock verschluckt.
»Mylady fühlte sich angegriffen«, äußerte Parker. »Den Umständen nach zu urteilen, schien es sich um eine Auseinandersetzung größeren Stils zu handeln. Vielleicht haben Sie die Güte, meiner Wenigkeit mitzuteilen, worum es sich handelte.«
Die beiden Brüder sahen sich an und schwiegen verbissen.
»Sie haben sich jedenfalls geprügelt«, sagte die ältere Dame, »und dabei sind ganz schön die Fetzen geflogen. Haben Sie gegen die anderen Kerle auch Anzeige wegen Körperverletzung erstattet? Die haben doch sehr kraftvoll auf Sie eingeschlagen.«
»Die Herren beliebten auch, diverse Schießeisen mit sich herumzutragen und damit zu drohen«, warf Parker ein. »Gehe ich fehl in der Annahme, daß es sich bei den revolverschwingenden Gentlemen vielleicht um das handelt, was man allgemein nicht als feine Herren zu bezeichnen pflegt?«
Tom Peacock kratzte an der Beule auf dem Schädel und dachte nach. Eine sehr große Leuchte schien er nicht zu sein.
»Können Sie das vielleicht etwas klarer ausdrücken, Mister... äh ...«
»Parker, Josuah Parker, in Diensten der Lady Agatha Simpson.« Er deutete eine höfliche Verbeugung in Richtung seiner Herrin an.
»Mister Parker meint, ob das Gangster waren«, sagte Agatha Simpson.
Wieder warfen sich die beiden einen schnellen Blick zu.
»Gangster?« dehnte Tom Peacock, »was haben wir denn mit Gangstern zu tun«, entrüstete er sich.
»Wir doch nicht, Lady«, sagte sein Bruder eifrig. »Tom und ich haben uns entschlossen, die Anzeige zurückzuziehen. Stimmt’s, Tom?«
Der ältere Peacock nickte erleichtert.
»Natürlich. Das war nur in der ersten Aufregung«, versicherte er. »Ich werde nachher gleich anrufen und das erledigen. Sind Sie nun zufrieden, Lady?«
»Einigermaßen. Da bliebe nur noch meine Frage zu beantworten.«
»Welche Frage, Lady?«
Agatha Simpson trommelte mit den Fingern der rechten Hand auf der Ladentheke. Es hörte sich sehr ungeduldig an.
»Meine Frage ist, ob Sie gegen die anderen ehrenwerten Herren ebenfalls Anzeige erstattet haben.«
»Nein, das nicht«, sagte Peacock verunsichert, weil die ältere Dame immer noch ungeduldig mit den Fingern trommelte.
»Aha! Und warum nicht?« hakte sie sofort nach.
»Wir ... wir haben es den Burschen ordentlich zurückgegeben, und damit sind wir quitt. Sonst wäre das mit den Anzeigen ständig hin und her gegangen.«
Wieder sahen sich die beiden Brüder verunsichert an.
Parker hegte ernstliche Zweifel an den Worten. Die beiden Peacocks erweckten den Eindruck, als hätten sie Angst. Besonders Tom Peacock sah sich immer wieder in der lauernden Haltung eines Verfolgten um.
»Sie sprachen vorhin von Sachbeschädigung«, schaltete sich der Butler wieder ein. »Meine Wenigkeit möchte dazu bemerken, daß der angerichtete Sachschaden wohl erheblich größeren Ausmaßes sein dürfte als jener, der sich lediglich auf ein paar Kartons Waschpulver sowie diverse Flaschen Knochenöl beschränkte.« Er zeigte auf die zertrümmerten Vorderseiten der Waschmaschinen, die vorerst absolut unbrauchbar waren.
»Richtig, Mister Parker«, sagte die Detektivin, »genau darauf wollte ich auch gerade zurückkommen. Haben Sie das etwa angezeigt, Mister Bierbock?«
»Peacock«, verbesserte der Wäschereibesitzer hilflos. »Nein, wir ... äh ... wollen das noch nachholen.«
»Sie belügen mich, junger Mann«, erwiderte die Lady streng. »Sie belügen eine Lady Simpson fortlaufend. Ich mag aber nicht angelogen werden, mein Lieber.«
Sie hielt ihren Fächer in der Hand und gab Tom Peacock einen spielerisch anmutenden Klaps auf die rechte Schulter.
Die Wirkung war erstaunlich und übertraf Peacocks Erwartungen erheblich.
Ächzend verzog er das Gesicht, dann schoß ihm das Wasser sturzbachähnlich in die Augen. Seine rechte Schulter war für einige Zeit taub und gelähmt.
Er empfand plötzlich riesigen Respekt vor der schlagkräftigen Dame. Sein feuchter Blick fiel auf den Fächer, den die Lady spielerisch zusammenklappte. Er wußte nicht, daß dieser so harmlos aussehende Fächer mit Stahlseiten durchsetzt war und recht herzhaft eingesetzt zu werden pflegte. Dabei erweckte die Lady den Eindruck, als wäre das mehr eine freundschaftliche Geste.
Verdammt, dachte er, sie trägt auch noch irgendwo einen Hammer mit sich herum, und wenn sie zehnmal das Gegenteil behauptete.
»Nun, junger Mann, ich höre«, sagte sie. Der Fächer wurde wieder auseinandergeklappt, doch Peacock brachte sich mit zwei schnellen Schritten vorsichtshalber außer Reichweite.
»Ich will ja alles sagen«, jammerte er, wobei er sich mit der linken Hand über die schmerzende Schulter strich.
»Habe ich nicht gesagt, Mister Parker, daß man psychologisches Einfühlungsvermögen braucht, um einen Erfolg zu erzielen?«
»Das haben Mylady in der Tat«, erwiderte Parker höflich. »Der Erfolg ist im wahrsten Sinn des Wortes überwältigend.«
»Nun reden Sie endlich, junger Mann!« herrschte die Detektivin Tom Peacock an. Mit ihrem Fächer wedelte sie lässig durch die Luft. »Was ist hier wirklich passiert?«
»Wir werden erpreßt«, gab Peacock widerwillig zu. »Wir sollen eine Art Schutzgebühr bezahlen, oder aber eine Versicherung abschließen, damit unserem Geschäft nichts passiert – oder uns«, fügte er etwas leiser hinzu. »Als wir nicht zahlten, haben uns diese Kerle einen Besuch abgestattet. Sie haben es gestern ja selbst erlebt.«
»In der Tat«, sagte Parker, »ein sehr aufschlußreicher Besuch. Darf man fragen, von wem Sie erpreßt werden?«
»Wir kennen die Kerle nicht. Wir haben nur gehört, daß man allgemein von der Ratten-Gang spricht. Sie tauchen auf, verlangen ihre Schutzgebühr und verschwinden wieder. Sie erscheinen alle vierzehn Tage, um zu kassieren.«
»Dem Besuch und seinen Folgen nach zu urteilen, sind Sie der Zahlungsaufforderung offenbar nicht nachgekommen?«
»So ist es, Mister Parker. Ich denke nicht im Traum daran, mein sauer verdientes Geld den Ratten zum Fraß vorzuwerfen. Wir haben lange genug zu kämpfen gehabt, bis die Wäscherei einigermaßen etwas abwarf. Mit uns kann man das nicht machen.«
Bevor Parker etwas erwidern konnte, sagte Agatha Simpson entschieden: »Den Fall übernehme ich, Mister Parker. Immerhin sind wir von diesen Kerlen mit dem Revolver bedroht worden. Ich werde die Ratten schon aus ihren. Löchern jagen. Oder sehe ich das anders, Mister Parker?«
»Mylady werden unter Hinzuziehung Mister McWardens mit Sicherheit wie immer die richtigen Entscheidungen treffen.«
»Es genügt völlig, wenn ich McWarden kurz unterrichte. Sie werden dann im Hintergrund unauffällig agieren, Mister Parker.«
»Wie Mylady wünschen.« Parker deutete eine Verbeugung an.
Agatha Simpson hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie den Hebel ansetzen sollte, aber sie gab sich schon siegreich auf der ganzen Linie.
Parker stellte noch ein paar gezielte Fragen, brachte aber nicht viel in Erfahrung, was ihm weiterhalf. Die Gesichter der Gangster hatten auch nicht viel hergegeben, weil sie durch Knochenöl und Waschpulver völlig entstellt wirkten.
*
»Die Anzeige wegen Körperverletzung ist tatsächlich eingestellt worden«, sagte McWarden verwundert.
Er wurde von Agatha Simpson etwas mißtrauisch beobachtet, weil er sich auf die Minute genau zum Tee eingefunden hatte.
»Haben Sie etwas anderes erwartet?« fragte die Detektivin schnippisch. Ihr Blick war mißbilligend auf Parker gerichtet, der dem Yard-Mann eine Tasse Tee kredenzte. »Dieser Bierbock hat die Anzeige ganz von selbst zurückgenommen.«
»Und was steckt dahinter, Mylady?«
McWarden zwinkerte der älteren Dame leutselig zu, schlürfte behaglich den Tee und bediente sich großzügig des Gebäcks.
»Es ist total übersüßt«, stellte die Lady erst mal fest. »Sie sollten sich zurückhalten, McWarden. Ich kenne einige Leute, die davon zuckerkrank geworden sind. Sie werden sich später mit Insulinspritzen herumplagen müssen.«
»Mag sein, aber das werde ich in Kauf nehmen müssen. Was haben Sie denn nun in Erfahrung gebracht?«
»Mister Parker?«
»Mylady haben in Erfahrung gebracht, daß die Brüder Peacock durch eine Gang, die sich die Ratten nennt, erpreßt werden, woraus Mylady den Schluß zogen, daß hier eine Bande am Werk ist, die sich nicht allein auf diese Brüder beschränkt. Mylady vermuten ferner, daß die Ratten-Gang Erpressungen größeren Stils begeht, und daß sie ihren Forderungen tatkräftig Nachdruck verleiht.«
»Sie haben mir das Wort aus dem Mund genommen«, sagte Agatha Simpson zufrieden. »Zu genau diesen Schlußfolgerungen bin ich gekommen.«
»Die Ratten-Gang«, überlegte McWarden nachdenklich. »Sie treibt tatsächlich seit einiger Zeit ihr Unwesen, aber wir haben keinerlei Beweise gegen sie, weil sich die Betroffenen aus Angst vor schwerwiegenden Folgen nachhaltig ausschweigen.«
Scheinbar in Gedanken vertieft griff McWarden erneut nach dem herrlich duftenden Gebäck und hielt Parker auffordernd die Teetasse hin.
»Wie können Sie nur solche Unmengen in sich hineinstopfen«, tadelte die Lady. »Ich sehe es noch kommen, daß Sie wegen Fettleibigkeit vorzeitig Ihren Dienst im Yard quittieren müssen, McWarden. Dazu der viele Tee, das muß ja eine scheußliche Pampe geben.«
McWarden blieb von der Mahnung völlig unbeeindruckt. Er lächelte freundlich, weil es Lady Agatha wieder mal gegen den Strich ging, wenn ihr Gebäck so rapide abnahm. Sie bemühte sich zwar nach besten Kräften mitzuhalten, doch McWarden schien heute seinen unersättlichen Tag zu haben.
»Kennt man denn den Drahtzieher dieser Ratten-Gang?« erkundigte sie sich. Dabei schob sie die Teekanne unauffällig zur Seite.
»Nein, leider nicht. Die Ratten-Gang ist uns nur dem Namen nach bekannt. Vor zwei Wochen wollte ein Opfer dieser Bande bei der Polizei auspacken, verschwand aber spurlos und wurde seither nie wieder gesehen. Der Fall wurde bis heute nicht aufgeklärt, und alle Spuren verliefen im Sand.«
»Der Mann ist ermordet worden«, behauptete die Detektivin sofort. »Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Oder sind Sie da anderer Ansicht, Mister Parker?«
»Mylady dürften mit dieser Vermutung durchaus recht haben.«
»Sehen Sie – da haben wir schon den ersten Mordfall«, wandte sie sich an McWarden. »Wie werde ich jetzt Vorgehen, Mister Parker?«
»Mylady werden die Wäscherei unauffällig observieren lassen, bis sich einer der Gangster zeigt.«
»Das hatte ich allerdings vor. Nur auf diesem Weg kommt man zum Ziel und damit zum Erfolg. Die Ratten werden sich schon bald in meiner Falle wiederfinden.«
»Es freut mich aufrichtig, daß ich dabei nichts zu tun habe«, sagte McWarden grimmig. »Bandenunwesen fällt ja auch absolut nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Lady Simpson übernimmt das, und der Yard hat keine Mühe mehr.«
»Mylady beabsichtigt natürlich, mit dem Yard aufs engste zusammenzuarbeiten«, sagte Parker schnell, damit es keinen Ärger gab. »Das geruhte Mylady mir schon vor Ihrer Ankunft mitzuteilen, Sir.«
»So, na ja«, McWarden gab sich wieder etwas versöhnlicher. »Dann bin ich ja beruhigt.«
»Wann habe ich das gesagt, Mister Parker?« fragte sie stirnrunzelnd.
»Mylady geruhten das meiner Wenigkeit vor etwa einer halben Stunde mitzuteilen.«
»Ja, natürlich«, rief sie aus. »Genau das waren meine Worte. Wir werden also Zusammenarbeiten, McWarden.«
»Wie tröstlich«, erwiderte der Yard-Mann seufzend. »Es gibt doch noch Liebe zwischen den Menschen.«
Lady Agatha überhörte den ironischen Unterton geflissentlich. Sie hatte mal wieder etwas, das sie aufklären konnte, und daher war sie höchst zufrieden. McWarden war jedoch sehr erstaunt und verwundert, weil die Hausherrin ihm die Schale mit Gebäck hinüberschob und ihm sogar noch eine Tasse Tee aufnötigte. Vor lauter Verblüffung hätte er fast daneben gegriffen.
»Darf ich feststellen«, sagte Parker, »daß es bisher nicht gelungen ist, auch nur einen einzigen Namen eines Mitglieds dieser Gang herauszufinden?«
»Keinen einzigen«, bestätigte McWarden. »Diese Bande scheint unsichtbar zu sein. Man weiß auch nicht, wie groß sie ist. Glauben Sie, Mister Parker, daß die Peacock-Brüder vor der Polizei aussagen würden?«
»Vor mir haben sie jedenfalls ausgesagt«, brüstete sich die Detektivin. »Man muß nur psychologisch Vorgehen, mein Lieber.«
»Ich bin verpflichtet, mich an eine gewisse konventionelle Arbeitsweise zu halten, Mylady. Ich kann nicht so vorgehen wie Sie, aber ich werde bei den Peacocks mal nachhaken.«
»Es dürfte schwer sein, Sir, von den beiden Gentlemen etwas zu erfahren«, sagte Parker. »Sie kennen keinen Namen, aber sie könnten eine Beschreibung liefern.«
»Sie haben die Gangster doch auch gesehen. Erinnern Sie sich nicht mehr an die Gesichter?«
»Der eine sah wie eine Ratte aus«, meinte Agatha Simpson, »aber wir konnten sie wirklich nicht erkennen. Sie waren durch Waschpulver und Öl völlig entstellt.«
»In der Tat«, bestätigte Parker, »auch meine Wenigkeit ist nicht in der Lage, eine detaillierte Beschreibung zu geben.«
»Das dachte ich mir«, brummte McWarden. »Diese Kerle sind nicht zu fassen. Wenn wir jemand, der erpreßt wird, darauf ansprechen, hüllt sich alles in Schweigen. Ich glaube, ich werde das gleich veranlassen«, murmelte er vor sich hin. »Darf ich mal Ihr Telefon benutzen, Mylady?«
»Was wollen Sie gleich veranlassen?« fragte die Detektivin mißtrauisch.
»Ich schicke einen Mann zu den Peacocks. Vielleicht hat er Erfolg. Einen Versuch ist es immerhin wert.«
»Dann telefonieren Sie«, erlaubte die Detektivin. »Sie kennen ja die kleine Sammelbüchse neben dem Apparat. Heutzutage ist ja alles sehr teuer.«
»Ja, die kenne ich zur Genüge«, seufzte McWarden, »ich fürchte nur, ich habe kein Kleingeld.«
»Eine Pfundnote tut’s auch. Dann haben Sie für später noch ein Telefonat gut.«
McWarden telefonierte nicht lange. Er sprach nur kurz in den Hörer und legte dann auf. Als er wieder zum Tisch zurückkehrte, stutzte er. Von Tee oder Gebäck fand sich nicht die geringste Spur. Lady Simpson hatte bereits alles in verdächtiger Eile durch ihren Butler abräumen lassen, damit McWarden nicht wieder in Versuchung geriet.
»Ein Mann vom Yard wird hier anrufen«, sagte McWarden, als er Platz genommen hatte. »Es wird nicht sehr lange dauern.«
Josuah Parker glaubte nicht daran, daß die Peacocks etwas aus sagen würden, dazu hatten sie viel zu viel Angst vor den Gangstern. Er enthielt sich jedoch der Stimme und äußerte nichts.
Nach einer halben Stunde bestätigte sich das, als das Telefon läutete.
McWarden hörte eine Weile zu, bis sein Gesicht immer länger und mißmutiger wurde. Ziemlich verärgert kehrte er an den Tisch zurück und glich jetzt noch mehr einer gereizten Bulldogge.
»Natürlich werden die Peacocks nicht erpreßt«, sagte er. »keine Spur, sie hätten mit Gangstern absolut nichts zu tun. Und die gestrige Auseinandersetzung war nichts anderes als ein kleiner Familienstreit. So etwas muß ich mir anhören. Der Mann vom Yard hat nichts herausgefunden, was uns weiterhelfen kann. Mich erstaunt wahrhaftig, daß die Brüder Ihnen gegenüber alles offen zugegeben haben.«
»Ich habe eben das erforderliche psychologische Einfühlungsvermögen«, behauptete Lady Agatha stolz. »Das ist der Unterschied zwischen mir und Ihnen, McWarden. Sie gehen mit der Brechstange vor und bedienen sich rüder und ruppiger Methoden. Auf diese Weise erfährt man nichts. Man muß sich in die Geschädigten hineindenken können! Ist es nicht so, Mister Parker?«
»Myladys Erfolg war in der Tat durchschlagend und verblüffend«, gab der Butler zu. Er hatte noch deutlich das Bild vor Augen, als Agatha Simpson Tom Peacock den freundschaftlich wirkenden Klaps mit dem Fächer gab.
»Sie hören wieder von mir«, sagte McWarden. Er war immer noch verärgert, versuchte es aber zu verbergen.
Dann verabschiedete er sich ziemlich eilig.
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