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Sophienlust Extra
– Staffel 4 –

E-Book 31-40

Diverse Autoren

Impressum:

Epub-Version © 2022 Kelter Media GmbH & Co. KG, Averhoffstraße 14, 22085 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © Kelter Media GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74099-424-2

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Zärtliche Mutter gesucht

Ivo und Sylveli wünschen sie sich so sehr!

Roman von Rothberg, Gert

Andrea von Lehn bummelte durch den Kurpark von Wiesbaden. Es war ein schöner sonniger Tag, aber Andrea sah abgespannt und ein wenig verdrossen aus – etwas, was gar nicht zu ihr passte. Jetzt ging sie auf eine Bank zu, sah sich etwas verloren um und setzte sich dann mit einem abgrundtiefen Seufzer. War das ein fades Leben, den ganzen Tag spazieren gehen zu müssen. Nicht einmal eine Beschäftigung konnte man sich in diesem Park suchen. Und mit wem sollte sie sich unterhalten? Mit wildfremden Menschen? Vielleicht mit der alten Dame, die jetzt auf sie zukam, als wollte sie sich auf der Bank niederlassen? Plötzlich leuchteten Andreas Augen auf. Die alte Dame führte einen Dackel an der Leine. Er sieht aus wie unser Waldi, dachte Andrea. Am liebsten hätte sie die Hand ausgestreckt und den Dackel gestreichelt. Aber die alte Dame nahm ihn jetzt kürzer an die Leine und ging an der Bank vorbei. Schade! Das wäre endlich etwas Abwechslung gewesen, dachte Andrea. Ich sehne mich doch so nach meinen Tieren. Und am meisten nach Waldi, dem kleinen, aber so verantwortungsbewussten Chef des Tierheims Waldi & Co. Ich hätte ihn doch mit auf die Reise nehmen sollen. Aber das wollte ja Hans-Joachim nicht.

Andrea lehnte sich zurück und blinzelte in die Sonne. Bei dem Gedanken an ihren Mann stieg Ärger in ihr auf. Er hatte darauf bestanden, dass sie ihn zu dem Veterinär-Kongress nach Wiesbaden begleitete. Damit sie einmal ausspannen und sich erholen konnte. Gerade jetzt, da sie ein Kind erwartete, sei das ganz besonders nötig, hatte Hans-Joachim behauptet. Allem Anschein nach nahm er an, dass eine werdende Mutter sich vollkommen verändere. Würde er nicht so denken, hätte er voraussehen müssen, wie sehr sie sich hier in Wiesbaden langweilen würde. Zu Hause hatte sie immer Arbeit und Ablenkung. Es gab in ihrem Tierheim genug Dinge zu tun, bei denen sie sich nicht überanstrengte. Hier aber war sie dem Müßiggang und auch der Denkfaulheit ausgesetzt. Den ganzen Tag darauf warten zu müssen, dass Hans-Joachim von den Vorträgen ins Hotel zurückkam, machte sie ganz kribbelig. Meistens wurde es später, als er angenom­men hatte. Sie konnte ihm daraus nicht einmal einen Vorwurf machen, weil sie verstand, dass er gern noch mit den Kollegen fachsimpelte. Zu Hause musste er das ja missen.

Andrea sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Schon vor einer halben Stunde hatte sie sich hier am Weiher mit ihrem Mann treffen wollen. An Hans-Joachims Verspätung würde sicher das Abschiednehmen schuld sein. Denn an diesem Tag ging der Kongress ja zu Ende.

»Hallo, Andrea!«, erklang da eine Männerstimme.

Die junge Frau sah den Parkweg entlang, an dem die Bank stand. Sie konnte ihren Mann nicht entdecken. Aber das war doch seine Stimme gewesen … Doch jetzt hellte sich Andreas Gesicht auf. Sie sah ihren Mann. Er kam quer über den Rasen gelaufen.

Andrea sah sich erschrocken um. Als Hans-Joachim vor ihr stand und sie küssen wollte, sagte sie: »Du hast ein Glück, dass dich kein Flurwärter erwischt hat. Wie kannst du über den heiligen Rasen laufen, wenn es hier so herrlich angelegte Wege gibt?«

»Dreimal darfst du raten, Andrea, warum ich mich für die riskante Abkürzung entschlossen habe.« Hans-Joachim drückte ihr einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

In Andreas Augen blitzte der Schalk auf. Vergessen waren Langeweile und Missmut. »Sicher, weil du dich wieder einmal wie ein kleiner Junge fühlen und etwas Verbotenes tun wolltest, Hans-Joachim.«

Der große schlanke Mann lachte. Er sah jetzt wirklich aus wie ein übermütiger Junge. »Schade, dass es nicht auch verboten ist, dich zu küssen, Andrea. Dann wäre unsere Liebe doppelt so reizvoll.«

»Ach so, ist dir die Ehe schon langweilig geworden?« Als Andrea das fragte, stieg leichte Röte in ihr Gesicht. Sie hatte einen Herrn entdeckt, der zwei Meter vor der Bank stehen geblieben war. In so auffallend abwartender Haltung, als höre er ihrem Geplänkel zu.

Hans-Joachims Blick folgte dem von Andrea. Und jetzt machte er ein verblüfftes Gesicht. »Du bist auch schon hier, Peter? Entschuldige, ich hatte damit gerechnet, dass du auf dem Weg etwas länger brauchen würdest als ich über den Rasen.«

Der große stattliche Mann kam einen Schritt näher. Er lachte und meinte: »Es ist eine alte Tatsache, dass man die durch Abkürzung gewonnene Zeit bald wieder vertrödelt.«

Dr. Hans-Joachim von Lehn sah ihn entrüstet an. »Nennst du das Zeit vertrödeln, wenn ich meine Frau küsse? Ich bin noch nicht einmal dazu gekommen, ihr zu gestehen, wie sehr ich mich den ganzen Tag nach ihr gesehnt habe.« Hans-Joachim legte den Arm um Andreas Schultern. »Darf ich dir meinen Kommilitonen Dr. Peter Renzi vorstellen, Andrea? Wir haben beschlossen, den Abend miteinander zu verbringen.«

Dr. Renzi neigte sich über Andreas Hand. »Ich freue mich sehr, Sie endlich kennenzulernen, gnädige Frau. Zwischen den Vorträgen hat mir Ihr Mann schon sehr viel von Ihnen erzählt. Ich muss ihm nun wegen einer gewissen Verdächtigung Abbitte leisten.« Die grauen Augen Dr. Renzis sahen Andrea bewundernd an.

»Verdächtigung?«, fragte Hans-Joachim. »Was heißt das?«

Dr. Renzi schlug ihm auf die Schulter. »Ich dachte, dieser Hans-Joachim von Lehn war doch zu unserer Studienzeit kein Angeber. Wie kann sich ein Mensch in wenigen Jahren so verändern? Aber das hast du gar nicht getan. Ich glaube dir jetzt, dass du die beste, die schönste und die liebenswerteste Frau der ganzen Welt hast.«

Andrea wurde ein wenig verlegen. Sie stieß ihren Mann in die Seite. »Was du immer für Unsinn erzählst, Hans-Joachim.«

Die beiden Männer setzten sich neben Andrea. Hans-Joachims Gesicht war ernst geworden. »Es war wirklich Unsinn, Andrea. Ich hätte mich nämlich besser im Zaum halten müssen. Erst nach einigen Tagen merkte ich, dass ich gerade Peter nicht so viel von dir hätte erzählen dürfen. Er hat nämlich vor einem Jahr seine junge Frau verloren.«

Andrea sah Dr. Renzi erschrocken an. Sie wusste nicht, was sie jetzt sagen sollte. Phrasen lagen ihr nicht.

Dr. Renzi nahm ihr den Druck von der Seele. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die anderen ihr Glück nicht gönnen, weil sie das eigene verloren haben.« Er holte tief Luft. »Ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, gnädige Frau, dass Sie nun auch am letzten Abend in Wiesbaden nicht mit ihrem Mann allein sein können. Ich habe mich ihm nicht aufgedrängt. Er wollte unbedingt, dass ich mitkomme.«

»Ja, das ist richtig, Andrea. Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund. Natürlich wollte ich auch, dass du Peter kennenlernst. Aber das andere ist noch wichtiger. Peter hat zwei Kinder, die ihm viele Sorgen machen.«

Dr. Renzi wehrte ab. »Bitte, verstehen Sie das nicht falsch. Es ist keineswegs so, dass meine Kinder ungezogen wären. Nicht sie machen mir Sorgen, sondern ich mache mir große Sorgen um sie. Meine Frau ist bei der Geburt unseres dritten Kindes gestorben. Auch das Kind konnte nicht weiterleben. Mein siebenjähriger Ivo und meine fünfjährige Sylveli sind auf die Hilfe fremder Menschen angewiesen. Ich habe in Hamburg eine Praxis und kann mich wenig um die Kinder kümmern. Wenn wir wenigstens auf dem Land wohnen würden, dann hätten die Kinder etwas mehr Freiheit. So aber müssen sie warten, bis jemand bis zu einem Spielplatz mit ihnen geht. Ich lasse die beiden nur ungern allein auf die Straße. Der Großstadtverkehr ist beängstigend und zu gefährlich.«

Hans-Joachim hatte seine Hand auf Andreas Arm gelegt. »Du wirst schon ahnen, was ich Peter vorgeschlagen habe. Heute kam mir dieser Gedanke.«

Andrea lächelte. »Du denkst an unser Sophienlust?«

Dr. Renzi nickte. »Ja, Ihr Mann hat mir von dem Kinderheim erzählt, das Ihre Mutter leitet. Ich habe zuerst nicht für möglich gehalten, dass es so etwas auf privater Basis gibt. Bisher habe ich mich dagegen gesträubt, die Kinder in ein Heim zu geben, obwohl mir das von Bekannten schon unmittelbar nach dem Tod meiner Frau geraten wurde.« Dr. Renzi strich sich das dunkelbraune Haar aus der Stirn. »Ich musste Hans-Joachim heute mein Herz ausschütten, weil es gerade besonders voll war. Ich hatte nämlich zuvor zu Hause angerufen. Ivo war am Apparat. Er sagte mir, dass die Erzieherin heute das Haus verlässt. Das erleben wir nun schon zum dritten Mal im Laufe eines Jahres.« Dr. Renzi biss sich auf die Unterlippe. Er brauchte einige Sekunden, ehe er weitersprechen konnte. »Ich kenne auch den Grund, warum es niemand bei meinen Kindern aushält. Wir hängen alle noch zu sehr an meiner Frau. Ich hatte gehofft, dass wenigstens die Kinder leichter vergessen würden, aber gerade sie halten die Erinnerung an ihre Mutter am meisten wach. Vielleicht werden Ivo und Sylveli gelegentlich sogar ungerecht gegenüber ihren Erzieherinnen. Die Kinder verlangen Zärtlichkeit und Liebe wie von einer Mutter. Oft habe ich die beiden schon überrascht, als sie davon sprachen, wie ganz anders ihre Mutti in dieser oder jener Situation zu ihnen gewesen wäre.«

»Ich verstehe die Kinder«, sagte Andrea leise. »Ich habe meine leibliche Mutter auch als Kind verloren. Mein Bruder und ich hungerten damals nach Mutterliebe. Sie haben recht, solche Kinder werden oft ungerecht gegenüber Menschen, die sich um sie bemühen. Ich hatte das große Glück, wieder eine Mutter zu bekommen. Eine zärtliche, liebevolle und besorgte Mutter. Es ist also meine Stiefmutter, die das Kinderheim Sophienlust leitet. Aber niemand hört bei uns das Wort Stiefmutter gern.«

»In wie vielen Fällen hat ein Mann wohl das Glück, eine solche zweite Frau zu finden?«, fragte Dr. Renzi mit verbitterter Stimme. »Eine Mutter, bei der die Kinder nichts vermissen?«

Hans-Joachim von Lehn konnte das bedrückte Gesicht seines Freundes nicht länger sehen. »Darüber wollen wir jetzt nicht rätseln. Ich verstehe, dass du nicht daran denkst, dich wieder zu verheiraten. Wir wollen dich ja auch gar nicht umstimmen. Ich mache dir einen Vorschlag: Komm mit uns und sieh dir Sophienlust an. Dort wären deine Kinder bei meiner Schwiegermutter und ihren Helfern gut aufgehoben. Außerdem würden Andrea und ich uns ebenfalls um sie kümmern. Unser Haus und das Kinderheim Sophienlust liegen so nahe beisammen, dass kaum ein Tag vergeht, an dem Andrea nicht nach Wildmoos geht oder fährt. Sophienlust gehört zu dem kleinen Ort Wildmoos. Es ist eine beinahe romantische Gegend. Für Kinder wie geschaffen, sich zu erholen und Freiheit zu genießen. Wenn sie gar noch tierlieb sind, kommen sie in unserem Tierheim Waldi & Co. voll auf ihre Kosten. Also, was hältst du davon, Peter, uns zu begleiten?«

Dr. Renzi machte ein sehr bedrücktes Gesicht, als er antwortete: »Das kann ich mir leider nicht leisten. Ich muss nach Hamburg zurück. Die Kinder sind ab heute allein. Das heißt, ohne Erzieherin. Ich habe eine Bekannte meiner verstorbenen Frau angerufen. Sie wird bei Ivo und Sylveli heute Nacht schlafen. Aber morgen muss sie wieder nach Hause zurück. Meiner Praxis kann ich auch nicht länger fernbleiben. Es war schon ein Opfer für mich, diesen Kongress zu besuchen. Ich habe mir das bisher noch nicht geleistet. Weißt du, eine Tierarztpraxis in der Großstadt ist nicht mit einer auf dem Land zu vergleichen. Du findest bei deinen Bauern sicher Verständnis, wenn du mal einige Tage wegfährst …«

Hans-Joachim unterbrach seinen Freund. »Ich habe eine Vertretung. Die Frau unseres jungen Försters ist Tierärztin. Sie hat bei mir praktiziert und bei uns ihren Mann kennengelernt. Aus Dankbarkeit hilft sie aus, wenn ich eine Vertretung brauche. Aber es stimmt, meine Bauern in der Umgebung sind sehr anhänglich.«

»In der Großstadt ist das alles anders. Oft kommt es mehr darauf an, einem Herrchen oder Frauchen zu schmeicheln, als ihren Liebling zu verarzten. Oder die Leute schikanieren einen in ihrer übertriebenen Tierliebe, wenn man den Kult nicht mitmachen will. Meine Frau und ich hatten vor, aufs Land zu gehen. Die Kinder freuten sich schon darauf. Aber nach einem so furchtbaren Schicksalsschlag, wie er mich getroffen hat, reicht die Kraft kaum zum Weitermachen, geschweige denn zu Umstellungen. Vielleicht würde ich darangehen, mir eine Praxis auf dem Land zu suchen, wenn ich nicht mehr die große Sorge um die Kinder hätte.«

»Bringen Sie Ivo und Sylveli nach Sophienlust, Herr Doktor«, sagte Andrea in ihrer spontanen Art. »Wenn Sie mit uns fahren würden, könnten Sie kaum mehr sehen, als Sie von uns zu hören kriegen.«

Hans-Joachim zog seine Frau an sich und erklärte danach lachend: »Ich warne dich, Peter. Wenn du Andrea dazu verleitest, dir die Vorzüge von Sophienlust zu erklären, dann sitzen wir noch im Winter auf dieser Bank und gefrieren zu Eismännern.«

»Du sollst nicht immer so schrecklich übertreiben, Hans-Joachim«, regte sich Andrea auf. »Dr. Renzi hat ein Recht darauf, alle Fragen beantwortet zu bekommen und zu wissen, wohin er seine Kinder gibt.«

Dr. Renzi lächelte. »Ich vertraue Ihnen. Ich habe mit Ihrem Mann zwar nur zwei Semester studiert, weil ich ein bisschen älter bin als er, aber wir haben einander doch gut kennengelernt. Ich bin überzeugt, dass er mir helfen will. Auch bin ich sicher, dass Sie meinen Kindern ebenfalls beistehen werden, gnädige Frau. Das einzige, das mich bedrückt, ist die große Entfernung zwischen Hamburg und Wildmoos. Um die Kinder in Süddeutschland besuchen und wenigstens einige Stunden bei ihnen bleiben zu können, wird ein Wochenende zu kurz sein. Und noch etwas. Könnte Ivo in Sophienlust auch die Schule besuchen? Er ist in diesem Jahr eingetreten.«

»Aber selbstverständlich kann er in Wildmoos zur Schule gehen«, erwiderte Andrea. »In Sophienlust sind mehrere schulpflichtige Kinder. Sie werden mit einem VW-Bus zur Schule gebracht und auch wieder abgeholt. Wir haben sogar einen Musik- und Zeichenlehrer im Haus, der auch die Schulaufgaben der Kinder überwacht. In Sophienlust ist wirklich für alles gesorgt.«

Hans-Joachim erhob sich. »Dann sollten wir Peter noch einige Stunden Bedenkzeit geben. Ich schlage vor, wir gehen jetzt in unsere Hotels zurück und treffen uns zum Abendessen an irgendeinem Platz, wo wir gemütlich beisammensitzen können.«

Andrea und Dr. Renzi waren mit diesem Vorschlag einverstanden.

*

Schon eine Woche später brachte Dr. Renzi seine Kinder nach Sophienlust. Er hatte seine Ankunft telefonisch angekündigt. Andrea wusste auch, wie schwer es ihm geworden war, seine Kinder zu dieser Trennung zu überreden.

Nun stiegen die beiden mit sehr skeptischen und beinahe eigensinnigen Gesichtern aus dem Wagen.

Andrea stand mit ihrer Mutter zum Empfang auf der Freitreppe.

»Sind die lieb«, meinte Andrea. »Noch hübscher als auf den Fotos, die mir Dr. Renzi gezeigt hat.«

»Ich gehe ihnen entgegen, Andrea«, sagte Denise. »Kommst du mit?« Sie zeigte auf die Treppe. »Aber sei nicht zu hastig, damit du nicht stolperst.«

»Oh, Mutti«, entgegnete Andrea lachend, »inzwischen habe ich doch gelernt, dass ich in Sophienlust nicht mehr mit den Kindern um die Wette laufen darf, sondern meinem Status als werdende Mutter gerecht werden muss.« Während sie das sagte, hingen ihre Blicke an Dr. Renzi und seinen Kindern.

Der Junge war für seine sieben Jahre recht groß. Er hatte so dunkelbraunes Haar wie sein Vater und sah ihm überhaupt sehr ähnlich. Das fünfjährige Mädchen reichte dem Bruder nur bis zu den Schultern. Es war ein zartes Geschöpf mit einem ganz lieben Gesicht, das von langem mittelblondem Haar eingerahmt wurde. An den Ohren wurde das Haar von Spangen zusammengehalten.

Andrea gab es einen Stich im Herzen. Warum konnte sich die Mutter an diesen beiden gesunden und schönen Kindern nicht mehr erfreuen? Sie war bei ihrem Tod erst dreißig Jahre alt gewesen.

Glücklicherweise konnte Andrea nicht länger diesen traurigen Gedanken nachhängen. Sie musste ihre Mutter und Dr. Renzi miteinander bekannt machen.

Im Stillen dachte Andrea: Er hat wirklich gute Manieren und ist sehr selbstbewusst. Er bedankt sich zwar für das Entgegenkommen, die Kinder bringen zu dürfen, doch das geschieht ohne Aufdringlichkeit. Aber dass er erstaunt ist, wie jung und schön Mutti noch ist, das kann er doch nicht ganz verbergen.

Die Kinder gaben artig die Hand, aber sie sahen sich scheu um. Erst als sie die Dogge Severin auf dem Rasen sitzen sahen, lachten sie. »Vati, guck, das ist ein schöner Hund«, sagte Sylveli.

»Von der Güte haben wir noch mehrere«, erwiderte Andrea lächelnd und legte den Arm um die Schultern des kleinen Mädchens. »Dackel, einen Bernhardiner und gelegentlich auch noch andere Rassen.«

Sylveli sah schüchtern zu ihr auf. »Bären auch? Ist das wahr?« Sie machte den Eindruck, als liefen ihr Schauer der Furcht über den Rücken.

»Ja, auch Bären«, versicherte Denise von Schoenecker. »Tante Andrea wird euch bald mal in ihr Tierheim einladen. Unsere Kinder sind oft dort.«

Ivo machte jetzt ein verstocktes Gesicht. »In einem Tierheim gibt es keine Bären«, behauptete er. »Du glaubst auch einfach alles, Sylveli. Das hat Vati uns doch nur erzählt, damit wir neugierig werden und lieber mit ihm fahren.«

Dr. Renzi sah betroffen aus. Er legte die Hand auf den Kopf seines Sohnes. »Ivo, das solltest du nicht sagen und auch nicht denken. Wir haben oft genug darüber gesprochen, wie gut es für euch sein wird, dass ihr auf dem Land leben und bei anderen Kindern sein könnt. Du solltest mir jetzt nicht noch immer solche Vorwürfe machen.«

Die kleine Gruppe war während dieses Gespräches bis in die Halle von Sophienlust gekommen. Sylveli schmeichelte ih­re Hand in die des Vaters. Mit traurigen Augen sah sie zu ihm auf. »Wir wollten dich doch nur nicht allein lassen, Vati«, sagte sie mit dünner Stimme.

»Das weiß ich, Sylveli.« Die Stimme Dr. Renzis konnte nicht verhehlen, dass er erschüttert war.

Denise von Schoenecker bemühte sich, dieses Thema zu beenden. »Kommt, Ivo und Sylveli, wir gehen in den Wintergarten. Dort sind fast alle unsere Kinder. Ich mache euch mit ihnen bekannt. Sie sind schon schrecklich neugierig auf euch. Eigentlich wollten sie vor das Haus laufen und euch dort begrüßen, aber das wollte ich nicht. Vielleicht wärt ihr erschrocken, wenn euch gleich so viele Kinder überfallen hätten. Manchmal sind sie nämlich recht übermütig.«

»Komm mit, Vati«, bat Sylveli.

»Natürlich gehe ich mit. Ich will doch eure zukünftigen Spielgefährten ebenfalls kennenlernen.« Dr. Renzi schob Ivo durch die geöffnete Tür des Wintergartens.

Andrea blieb in der Halle. Sie wollte hier abwarten, mit welchen Gesichtern die beiden Neuen zurückkommen würden.

Pünktchen kam jetzt die Treppe heruntergelaufen. Erstaunt sah sie Andrea an, dann meinte sie verschmitzt lachend: »Dass du mal still in einem Sessel sitzt, Andrea, das wundert mich aber.«

»Ich fühle mich etwas angegriffen.« Andrea strich sich über die Stirn.

Pünktchen riss die Augen auf.

»Kommt vielleicht dein Baby schon, Andrea?«

Jetzt lachte die junge Frau hell auf. Dann schüttelte sie den Kopf. »Aber Pünktchen, mit bald zwölf Jahren und bei dem Aufklärungsunterricht, den ihr jetzt in der Schule habt, müsstest du doch wissen, dass die Lieferzeit für ein Baby noch immer neun Monate beträgt. Und die sind leider noch nicht um.«

Pünktchen, die schon in Sophienlust gelebt hatte, als Andrea noch nicht verheiratet gewesen war, und die sie deshalb auch so vertraut anreden durfte, wurde verlegen. »Na ja, so genau kann ich das doch nicht wissen. Schließlich hast du uns ja dein Geheimnis auch nicht gleich verraten. Aber warum sagtest du, dass du dich angegriffen fühlst? Das kennen wir alle nicht an dir.«

»Doch, diesen Zustand kennt ihr an mir, an Mutti und auch an euch, Pünktchen. Jedes Mal, wenn neue Kinder kommen, fragen wir uns, ob sie sich auch eingewöhnen werden. Diese Zweifel bleiben auch dann bestehen, wenn wir wissen, dass jedes Kind bei uns in Sophienlust geborgen ist. Ich habe das Gefühl, dass immer am meisten die Kinder zu bemitleiden sind, die erst vor Kurzem ihre Mutter verloren haben.«

»Sprichst du von Ivo und Sylveli, Andrea?«

»Ja, sie sind eben angekommen.«

»Aber du hast doch gesagt, dass ihre Mutter schon vor einem Jahr gestorben ist.«

Andrea seufzte. »Was bedeutet schon ein Jahr, wenn Kinder nicht zurechtkommen und sich nach Mutterliebe sehnen? Wenn sie ganz klein sind, vergessen sie schneller. Aber Sylveli war beim Tod ihrer Mutter vier, Ivo sechs Jahre alt. In diesem Alter verstehen Kinder schon, was ihnen passiert ist. Geh, Pünktchen, schau mal in den Wintergarten, was sich dort tut.«

Pünktchen ging an die Tür und öffnete sie leise. Sie schaute minutenlang durch den Türspalt, dann kam sie zurück. Ihre Augen glänzten, als sie berichtete: »Es ist so wie immer, Andrea. Die beiden Neuen sind schon aufgenommen worden. Sie sitzen mit den anderen auf dem Fußboden und spielen.«

»Beide? Auch Ivo?«, fragte Andrea, als könnte sie das gar nicht glauben.

»Ja, auch der Junge. Henrik hat ihn mit Beschlag belegt. Und bei dem ist Ivo doch in den besten Händen. Dein kleiner Bruder ist schon ein Spezialist im Eingewöhnen der Neuen.« Pünktchen lachte vergnügt.

»Ja, das stimmt. Henrik macht jetzt schon manchmal unserem Nick Konkurrenz. Und das will wirklich etwas heißen.« Andrea stand auf. »Dann werde ich auch mal stiller Beobachter spielen.« Sie schlich sich an den Türspalt.

Als sie wieder zu Pünktchen zurückkam, sah sie gelöster aus. »Ja, es stimmt. Alle spielen miteinander. Mutti sitzt am kleinen Tisch und unterhält sich mit Dr. Renzi. Vielleicht habe ich mir unnötige Sorgen gemacht. Ich hatte so eine merkwürdige Vorahnung, als die beiden Kinder ausstiegen. Ich kann das gar nicht erklären …« Andrea war sehr nachdenklich geworden. Doch jetzt zuckte sie die Schultern. »Ich glaube, unsere Huber-Mutter hat ihre Gabe, so ein bisschen in die Zukunft lugen zu können, auf mich übertragen. Ich dachte einfach, mit diesen beiden Kindern wird es Schwierigkeiten geben. Aber ich bin eben keine geborene Seherin.« Andrea griff nach Pünktchens Hand. »Komm, jetzt gehen wir auch in den Wintergarten. Wir beide brauchen doch hier nicht Zaungäste zu spielen.«

*

Andrea hatte sich zu früh gefreut. Das zeigte sich schon in den nächsten Tagen. Auch wenn Sylveli und Ivo mit den anderen spielten und sprachen, blieben sie doch zurückhaltend – viel länger, als man das in Sophienlust von anderen neuen Kindern gewöhnt war.

Denise von Schoenecker war darüber ein wenig betroffen. Bisher war es ihr fast immer gelungen, sich auf die Kinder einzustellen. Die Geschwister Renzi aber machten ihr Sorgen. Nicht etwa, dass sie bockig waren oder sich absonderten, nein, es war etwas ganz anderes, was die Erwachsenen bedrückte. Sylveli und Ivo sprachen immer wieder von ihrer Mutti. Und das gegenüber den anderen Kindern, von denen viele Vollwaisen waren oder keine Mutter mehr hatten.

Ganz plötzlich stand in Sophienlust ein Thema im Mittelpunkt, das man früher nicht so deutlich besprochen hatte. Die Kinder begannen alle davon zu träumen, wie schön es wäre, eine Mutti zu haben. Dabei steigerten sie sich in Fantasien hinein, unter denen Denise, Schwester Regine und die Heimleiterin litten. Sie taten alles für ihre Schützlinge, und diese fühlten sich auch jetzt noch sehr wohl in dem Kinderheim. Viele von ihnen wären lieber in Sophienlust geblieben, als zu Adoptiveltern gegangen. Aber das Idealbild der Mutter geisterte durch das Haus.

Denise von Schoenecker entschloss sich schließlich, mit Ivo und Sylveli zu reden. Dazu machte sie mit beiden einen Spaziergang über die Felder. Denn längst hatte sie gemerkt, was die Freiheit auf dem Land für diese beiden Großstadtkinder bedeutete. Sobald sie draußen waren, bewegten sie sich vollkommen frei und unbeschwert. Wenn sie gar noch bei Tieren sein konnten, machten sie einen glücklichen Eindruck.

Auf einem Feldrain blieb Denise mit den beiden sitzen. Sie zeigte auf ein Dach, das aus dem Wald ragte. »Das ist das Forsthaus. Wir werden es auch einmal besuchen. Der Förster hat oft Pfleglinge aus dem Wald. Ein verletztes Rehkitz oder auch junge Hasen.«

»Pflegt er die dann gesund, Tante Isi?«, fragte Sylveli. Der Blick ihrer blauen Augen war bange.

»Ja, die pflegt er gesund, um sie wieder in den Wald zurückschicken zu können, Sylveli.«

»Zu ihrer Mutti?«, fragte das kleine Mädchen.

Noch bevor Denise antworten konnte, sagte Ivo: »Manchmal ist ja auch die Reh- oder Hasenmutter tot, Sylveli.«

»Genau wie bei uns.« Das kleine Mädchen starrte über das Feld. »Wenn du uns nach Hause schickst, Tante Isi, dann wartet unsere Mutti auch nicht auf uns. Sie kann ja nicht mehr zurückkommen, weil sie gestorben ist.«

Denise war erschrocken. Sie hatte den Kindern von den Pfleglingen des Försters erzählen wollen, aber nun waren sie schon mitten in dem Thema, das sie gern noch ein wenig hinausgeschoben hätte. Es blieb ihr nun nichts anderes übrig, als es aufzugreifen.

»Sylveli, wie kommst du denn darauf, dass ich euch nach Hause schicken könnte?«

»Weil wir noch einen Vati haben«, antwortete Ivo. »Manche Kinder in Sophienlust haben keinen Vati und keine Mutti. Solche Kinder müssen in einem Heim bleiben, wir aber nicht.« Seine Stimme klang nicht aufsässig, aber sehr überzeugt.

»Es macht ja auch nichts, wenn du uns wieder nach Hause schickst, Tante Isi. Wir wollen doch bei unserem Vati sein.« Sylveli sah Denise an. »Vati ist ja auch so traurig, weil wir keine Mutti mehr haben.«

»Das weiß ich, Sylveli. Aber denkt auch daran, dass euer Vater arbeiten muss. Er hat wenig Zeit für euch. Und ist es nicht schöner, in Sophienlust zu sein, als eine Erzieherin zu haben?«

Ivo stocherte mit einer Rute in die Erde. Er sah nicht auf, als er erwiderte: »Wir wollen keine Erzieherin, und wir wollen auch nicht in einem Kinderheim sein. Wir wollen wieder eine Mutti haben.«

»Ja, und eine so liebe wie unsere Mutti.« Sylveli schien nur darauf gewartet zu haben, ihrem Bruder beipflichten zu können. Sehnsucht lag in ihren Augen. »Alle Kinder in Sophienlust sagen, dass nur Muttis ihre Kinder ganz lieb haben.«

Das war der wunde Punkt, den Denise an diesem Tag hatte ansprechen wollen. Doch jetzt fiel es ihr schwer, darauf einzugehen. Aber sie musste versuchen, die Geschwister davon abzuhalten, die anderen Kinder in Sophienlust in diese Wunderwelt der Mutterliebe zu versetzen. Denn die bisher zufriedenen Kinder waren unruhig geworden.

Denise zog Sylveli an sich und erklärte: »Du hast recht, Sylveli, Muttis haben ihre Kinder sehr lieb. Aber du siehst doch hier in Sophienlust, dass es eben viele Kinder gibt, die ihre Mutti verloren haben. Du hast doch selbst gesagt, dass ­deine Mutti nicht mehr zurückkommen kann. Wenn ihr das einseht, dürftet ihr es eigentlich den Menschen, die euch helfen wollen, nicht so schwermachen. Glaubst du nicht, dass wir alle euch liebhaben? Schwester Regine, Frau Rennert, Magda und alle, die sich in Sophienlust so sehr um euch sorgen?«

Ivo sah noch immer nicht auf. Er tat weiterhin, als müsste er mit seiner Rute unbedingt ein Loch in das Erdreich bohren. »Wir mögen ja auch alle gern«, entgegnete er endlich.

Sylveli, die meistens auf das Startzeichen von ihrem Bruder wartete, erläuterte das sofort. Sie drückte sich dabei sogar ein wenig fester an Denise. »Ja, Tante Isi, wir mögen dich, Schwester Regine und alle. Auch die anderen Kinder.«

»Wenn das so ist, solltet ihr euren Freunden aber nicht immerzu ausmalen, um wie viel schöner es wäre, wenn sie eine Mutti hätten.« Denise musste ihren ganzen Mut zusammennehmen, um das auszusprechen. Sie hatte Angst, den Geschwistern wehzutun.

»Überlegt doch, dass unsere Kinder in Sophienlust bisher zufrieden waren. Sie können ihre Mutti nicht wiederhaben. Deshalb versuchen wir, ihnen die Mutti zu ersetzen. Es tut uns weh, wenn ihr immer wieder behauptet, Muttis würden alles viel besser machen als wir.«

Jetzt sah Ivo auf. Auch er hatte so blaue Augen wie seine kleine Schwester. Erschrocken sahen sie Denise an. »Sylveli und ich wollen dir und den anderen aber keinen Kummer machen, Tante Isi. Wir möchten nur wieder eine Mutti haben, damit wir auch bei unserem Vati sein können.«

Denise zögerte einige Sekunden, bevor sie sagte: »Euer Vater ist erst sechsunddreißig Jahre alt. Vielleicht heiratet er wieder. Dann bekommt ihr auch eine Mutti. Ihr müsst nur etwas Geduld haben.«

Sylvelis Augen leuchteten auf.

»Glaubst du, Tante Isi, dass wir dann wieder eine so liebe Mutti haben würden, wie unsere war?«

»Ja, das glaube ich, Sylveli. Schau, ich habe schon oft erlebt, dass Kinder, die in Sophienlust waren, eines Tages wieder nach Hause zurückgehen konnten, weil dort eine neue Mutti auf sie wartete.«

»Aber ob Vati die richtige Mutti für uns aussucht?« Das fragte Sylveli sehr nachdenklich. Nun stieß sie ihren Bruder an. »Glaubst du das, Ivo?«

Der Junge zuckte die Schultern. »Das weiß ich doch nicht, Sylveli. Vati hat so viel Arbeit und gar keine Zeit, eine Mutti für uns zu suchen.«

Sylvelis Gesicht drückte wieder Niedergeschlagenheit aus. »Ja, das ist wahr. Wenn wir in Hamburg wären, könnten wir Vati suchen helfen. Wir wissen ja auch viel besser als er, wie unsere Mutti sein muss. So wie unsere Erzieherinnen waren, darf sie nicht sein. Und die hat auch immer Vati ausgesucht.«

Denise sah keinen Weg mehr, die Kinder etwas besser auf das Leben in Sophienlust einzustimmen. Die beiden kamen immer wieder auf dasselbe Thema zurück. Ein jedes Gespräch mit ihnen würde sich nach kurzer Zeit darum drehen, dass es ihr größter Wunsch war, die liebste Mutti dieser Welt zu haben.

Denise erhob sich deshalb und sagte: »Kommt, wir gehen jetzt zurück. Ihr wisst ja, dass Henrik mit euch noch ins Tierheim gehen will.«

Bereitwillig folgten ihr Sylveli und Ivo. Der grüblerische Ausdruck verschwand von ihren Gesichtern. Wie immer freuten sie sich auf den Besuch bei Andrea und ihren Tieren. Erst recht in der Begleitung von Henrik. Er war ihr besonderer Freund geworden. Sie neideten ihm nicht einmal, dass er eine so liebe Mutti besaß, wie es ihre Tante Isi war.

*

Auf dem Heimweg vom Tierheim Waldi & Co. machte sich das Gespräch zwischen Denise und den Renzi-Kindern doch noch bemerkbar.

Sylveli sagte: »Henrik, glaubst du, dass unser Vati die richtige Mutti für uns findet?«

Der siebenjährige Henrik blieb stehen. Er sah Sylveli verblüfft an, als er fragte: »Sucht euer Vati denn eine neue Mutti für euch?« Er sah jetzt Ivo an, als erhoffe er von ihm eine klarere Antwort, als Sylveli ihm zu geben vermochte.

Ivo blies die Luft aus den Wangen. Allem Anschein nach hatte er keine große Lust, dieses Thema schon wieder aufzugreifen. »Das denkt Sylveli nur, weil deine Mutti heute so etwas Ähnliches gesagt hat. Dabei wollte sie uns doch nur beibringen, dass wir nicht so viel von einer Mutti sprechen sollen.«

Hätte Denise das gehört, wäre sie zu der Überzeugung gekommen, dass dem Abc-Schützen Ivo auf diplomatische Weise nicht viel beizubringen war. Wo Sylveli sich noch gern führen ließ, war bei ihm sofort das Misstrauen wach.

Henrik berührte das nicht. Er nahm Sylvelis Andeutung ernst, weil für ihn alles von Bedeutung war, was seine Mutti sagte. Sie hatte ja auch immer die besten Ideen, wie man jemandem helfen konnte. Also fragte er: »Was hat meine Mutti gesagt? Dass euer Vati eine neue Mutti sucht?«

Ivos Hand wischte durch die Luft. »Tante Isi hat nur gesagt, vielleicht wird das unser Vati mal tun.«

»Ja, und deshalb wollen wir wissen, ob er die richtige Mutti suchen wird, Henrik.« Sylveli geriet in Eifer. Sie zupfte Henrik an der Hose. »Meinst du, dass dein Vati die richtige Mutti für dich finden würde?«

»Mein Vati?« Das fragte Henrik sehr gedehnt. Aber welche Gedanken jetzt durch sein Köpfchen spukten, das verriet er nicht. Konnte er den Geschwistern sagen, dass sein Vati Gott sei Dank nicht in der furchtbaren Verlegenheit war, eine Frau suchen zu müssen? Und konnte er ihnen sagen, dass er – Henrik – doch ganz sicher seine geliebte Mutti behalten würde? Nein, das durfte er nicht tun. So zog er sich geschickt aus der Affäre, indem er antwortete: »Das weiß ich nicht. Woher soll ich das auch wissen? Aber ich würde meinen Vati bestimmt niemals allein eine Mutti für mich suchen lassen. Nick und ich wären damit nicht einverstanden. Wir würden eine neue Mutti selbst aussuchen.«

Sylveli blieb der Mund vor Staunen offen stehen. Ivo aber machte ein überhebliches Gesicht und fragte: »Wie willst du das denn machen? Das würde nicht einmal dein großer Bruder Nick schaffen.«

Henrik fühlte sich angegriffen.

»Meinst du, ich könnte nicht selbst eine Mutti für mich suchen? Das wäre doch ganz einfach. Ich würde an den Rundfunk oder ans Fernsehen schreiben. Hast du noch nie gehört, dass die jemanden suchen?« Zur Bekräftigung seiner Frage boxte er Ivo leicht in die Seite.

»Das habe ich schon gehört. Aber die suchen immer nur Verbrecher und sagen, die Leute sollen bei der Suche helfen.« Ivo machte ein sehr skeptisches Gesicht. Henriks Sicherheit schien gar nicht auf ihn zu wirken.

Aber Henrik war nun nicht mehr zu bremsen. Wenn er einmal eine gute Idee hatte, wusste er sie auch zu verteidigen.

»Na und? Wenn Verbrecher über den Rundfunk und über das Fernsehen gesucht werden, kann man doch auch eine Mutti suchen.« Henrik ließ sich auf einem Kilometerstein neben der Straße nach Wildmoos nieder. So etwas Wichtiges konnte man schließlich nicht im Gehen besprechen. Dazu musste man sich schon Zeit nehmen. »Euer Vati kann höchstens in Hamburg eine Mutti für euch finden. Und wenn er so viel Arbeit hat, wie ihr sagt, kommt er vielleicht nur mit wenigen Leuten zusammen. Er kann auch gar nicht jedem sagen, wie die neue Mutti sein soll, die ihr euch wünscht.«

»Sie muss genau so sein, wie unsere Mutti war«, warf Sylveli ein. Sie hatte vor Aufregung rote Wangen bekommen.

Henrik nickte und verzog das Gesicht ein wenig. »Das ist doch klar, Sylveli. Darüber brauchen wir gar nicht mehr zu reden. Aber stelle dir vor, wie viel Leute über den Rundfunk und über das Fernsehen hören würden, wie eure Mutti sein soll.«

»Und wenn es dann so viele wissen?«, fragte Sylveli. »Was ist dann?«

»Dann werden sich viele Muttis melden. Ihr müsst halt die Adresse von eurem Vati angeben oder eure hier in Sophienlust.« Jetzt kniff Henrik die Augen zusammen. »Nein, das geht nicht. Eure Adresse dürft ihr nicht angeben. Dann kämen vielleicht alle, die eure Mutti werden wollen, nach Sophienlust. Und da würde meine Mutti nicht mittun.« Er beugte sich vor und tuschelte geheimnisvoll: »Wir dürfen überhaupt nichts von diesem Plan verraten.«

Ivo sah ihn verdattert an. »Aber wir brauchen doch jemanden, der uns hilft. Wir wissen ja gar nicht, wie wir das machen sollen.«

»Wir können doch schon schreiben, Ivo. Du und ich.« Henrik sah etwas mitleidig zu Sylveli.

»Aber solche Briefe können wir nicht schreiben. Du nicht und ich auch nicht«, widersprach Ivo. »Kann uns denn nicht jemand von den Großen helfen? Dein Bruder Nick, Pünktchen oder Angelika?«

»Blödsinn!« Henrik tippte sich an die Stirn. »Die machen doch alle nichts, ohne mit Mutti gesprochen zu haben. Die trauen sich doch nicht.«

»Und Schwester Regine?«, fragte Ivo.

»Die auch nicht. Sie ist ja sehr lieb, aber wir haben noch nie eine Mutti durch den Rundfunk oder durch das Fernsehen suchen lassen. Eine ganz neue Mutti. Deshalb wird uns auch Schwester Regine nicht helfen. Ich glaube, wir müssen es doch allein machen.« Jetzt stand Henrik auf und ging langsam weiter.

Die Renzi-Geschwister folgten ihm mit bedrückten Gesichtern. Nun hatte Henrik eine so prima Idee gehabt, aber er wusste selbst nicht, wie man sie in die Tat umsetzen konnte. Es wurde also wieder nichts mit der Hoffnung, eine neue liebe Mutti zu haben und nach Hamburg zurückkehren zu können.

Doch die beiden ahnten nicht, dass Henrik noch lange nicht am Ende seines Lateins war. Knapp vor dem Tor von Sophienlust streckte er Ivo und Sylveli die Hand entgegen und sagte: »Großes Ehrenwort, dass ihr nichts von dem ausplappert, was wir uns ausgedacht haben?«

Die Geschwister schlugen nacheinander ein, obwohl sie nicht verstanden, warum man jetzt noch ein großes besiegeltes Geheimnis aus dem Plan machen sollte. Er war doch eigentlich schon gescheitert.

Aber sie kannten Henrik eben noch zu wenig. Dieser flüsterte jetzt: »Ihr überlasst alles mir. Ich habe jemanden gefunden, der uns ganz bestimmt hilft. Magda.«

»Die Köchin?«, fragte Ivo.

Während er nicht daran zu glauben schien, dass sie in der alten Magda eine Verbündete finden könnten, strahlte Sylveli über das ganze Gesicht und meinte: »Oh, Magda kann ja auch den besten Pudding kochen. Sie hilft uns bestimmt.«

»Was das nur mit dem Pudding zu tun hat«, maulte Ivo, der gewöhnt war, Sylveli zu bevormunden und gelegentlich auch ein wenig über sie zu lächeln.

Aber Sylveli konnte sich auch entrüsten. Jetzt tat sie es. Mit funkelnden Augen sah sie ihren Bruder an und erklärte: »Magda ist auch immer sehr lieb zu uns. Das weißt du ganz genau. Als wir ihr gesagt haben, dass unsere Mutti so prima Heringssalat gemacht hat …«

Ivo unterbrach sie: »Ja, da gab es schon am nächsten Tag Heringssalat. Aber so gut wie bei Mutti war er nicht.«

Jetzt brauchte Sylveli die Köchin nicht mehr zu verteidigen. Denn Ivo hatte sich mit seiner abfälligen Bemerkung Henriks Zorn zugezogen. Der Siebenjährige hatte ein puterrotes Gesicht bekommen. »Gib nicht so an«, rief er, »als ob nur ihr in Hamburg guten Heringssalat machen könntet. Magda hat sich so viel Mühe gegeben, aber du bist ein richtiger Spinner. Auch wenn dir der Salat noch so gut geschmeckt hätte, würdest du das nicht zugeben. An etwas musst du immer herummeckern. Alles ist nicht so schön und so gut wie bei deiner Mutti. Aber das sage ich dir: So wirst du nie eine neue Mutti finden. Denn niemand würde es euch recht machen. Mir ist jetzt ganz wurscht, was für eine Mutti euer Vater aussucht. Ich mache auch die Sache mit dem Rundfunk und mit dem Fernsehen nicht mehr mit und frage auch Magda nicht, ob sie uns hilft. Kümmert euch doch, wenn ihr so gescheit seid.« Das alles hatte Henrik in grimmiger Erregung hervorgesprudelt, wobei er wie ein Kampfhahn vor den Geschwistern stehen geblieben war. Jetzt drehte er sich um und lief in den Park.

Sylveli war sehr erschrocken. Sie warf noch einen fragenden Blick auf ihren Bruder, dann lief sie hinter Henrik drein. Als sie ihn eingeholt hatte, hielt sie ihn am Arm fest. »Ich habe doch gar nicht auf den Heringssalat geschimpft, Henrik«, klagte sie sehr kleinlaut.

»Das wundert mich«, meinte Henrik. »Du redest doch sonst alles nach, was dein Bruder sagt.«

»Sei doch nicht so böse, Henrik«, bat Sylveli. Um ihren Mund zuckte es.

Das war für Henrik zu viel, um noch länger den Wütenden zu spielen. »Heul jetzt nicht!« Das kam noch ruppig über seine Lippen, aber er sah Sylveli schon versöhnlich an. »Geh zu deinem Bruder zurück. Er ist ja doch zu bockig, um nachzukommen.«

»Bockig ist Ivo nicht. Er … er …« Sylveli kam ins Stottern.

»Siehst du, du weißt selbst nicht, wie er ist, Sylveli. Ich habe ja auch nichts gegen ihn, aber er soll Magda nicht schlecht machen. Sie ist so lieb zu euch. Und sie hätte uns auch ganz gewiss geholfen.«

»Frag sie doch, Henrik. Bitte!« Sylveli sah Henrik treuherzig an. »Du kennst sie doch viel besser als wir. Und Ivo war doch von deinem Vorschlag, dass wir uns selbst eine neue Mutti suchen, begeistert.« In diesem Augenblick wurde Sylveli zur kleinen raffinierten Diplomatin. Sie kannte ihren Freund Henrik. Er war immer ansprechbar, wenn man seine Ideen lobte.

Davon konnte sie sich auch sofort überzeugen. Henrik sagte ein wenig gönnerhaft: »Na ja, ich werde mir noch überlegen, ob ich mit Magda spreche. Warten wir bis nach dem Abendessen. Da geht sie in ihr Zimmer. In der Küche kann ich sie nicht fragen. Da könnte es jemand merken. Geht schon ins Haus. Ich muss noch zu Justus.«

»Meinst du, dass er auch einen Brief für uns wegen einer neuen Mutti schreiben könnte, Henrik?«, fragte Sylveli.

»Freilich könnte Justus auch schreiben«, tat Henrik ein wenig von oben herab, »aber ich will wegen unserer Ponys zu ihm.« Jetzt machte er ein verschmitztes Gesicht. »Ich will Justus fragen, ob ihr morgen auf den Ponys reiten dürft.«

»Ivo und ich?«, fragte Sylveli. Ihre Augen glänzten vor Erwartung.

»Wer denn sonst? Ihr wünscht euch das doch schon so lange. Hans-Joachim hat die Ponys geimpft. Deshalb durften wir ein paar Tage nicht reiten.«

»Ich mag Ponys so gern, Henrik. Wenn wir aufs Land gezogen wären, hätten Ivo und ich auch Ponys bekommen. Das hatte Mutti uns versprochen.« So freudig Sylvelis Stimme eben noch geklungen hatte, jetzt sah sie Henrik erschrocken an. »Hätte ich das auch nicht sagen sollen, Henrik?«, fragte sie leise.