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Andreas Kappeler

RUSSISCHE
GESCHICHTE

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Mit Blick auf die Gegenwart werden in diesem Buch Grundlinien und Grundprobleme der russischen Geschichte seit ihren Anfängen knapp umrissen. Neben einem Überblick über die politischen Ereignisse werden in Gegensatzpaaren langfristige Kontinuitäten erörtert, deren Wurzeln zum Teil schon im Mittelalter liegen: mächtiger Staat und passive Gesellschaft, privilegierte Eliten und geknechtete Unterschichten, Welt der Bauern und Welt der Städte, Frauen und Männer, Abwehr und Expansion, Russen und Nicht-Russen, Bevölkerungswachstum und Kolonisation, Extensivität und verzögertes Wirtschaftswachstum, Heiliges Rußland und Staatskirche, Hochkultur und Volkskultur, Europa und Asien.

Über den Autor

Andreas Kappeler ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: Rußland als Vielvölkerreich (1992, als Paperback 2008); Kleine Geschichte der Ukraine (32009); Die Kosaken. Geschichte und Legenden (2013).

Inhalt

Vorwort

  I. Grundlagen

Der Gegenstand der russischen Geschichte

Geographische Gegebenheiten

Ethnische Grundlagen: Rus’, Rußland und die Russen

 II. Epochen der politischen Geschichte

Kiever Reich (10.–13. Jahrhundert)

Mongolenherrschaft und Aufstieg Moskaus (13.–15. Jahrhundert)

Moskauer Reich (15.–17. Jahrhundert)

Rußländisches Imperium (1700–1917)

Revolution und Bürgerkrieg (1917–1921)

Sowjetunion (1922–1991)

Rußländische Föderation (ab 1991)

III. Problemfelder

Mächtiger Staat und passive Gesellschaft

Privilegierte Eliten und geknechtete Unterschichten

Die Welt der Bauern und die Welt der Städte

Frauen und Männer

Abwehr und Expansion

Russen und Nichtrussen

Bevölkerungswachstum und Kolonisation

Extensivität und verzögertes Wirtschaftswachstum

Heiliges Rußland und orthodoxe Staatskirche

Hochkultur und Volkskultur

Europa und Asien

IV. Schluß: Kontinuität und Brüche

Zeittafel

Hinweise auf weiterführende Literatur

Karten

Register

Vorwort

Rußland, das nach der Auflösung der Sowjetunion als Staat neu entstanden ist, richtet seinen Blick auf seine vorrevolutionäre Geschichte. Nach dem Kollaps der marxistisch-leninistischen Ideologie und des sowjetischen Imperiums suchen die Russen nach Orientierung in der nationalen Vergangenheit. Groß ist heute das Interesse an Zaren und Zarinnen, an der im Mittelalter wurzelnden Tradition der Russisch-Orthodoxen Kirche und an den vielfältigen geistigen Strömungen und politischen Gruppierungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Auch im westlichen Ausland, wo man die Sowjetunion meist mit pauschalen, ahistorischen Etiketten wie Kommunismus oder Totalitarismus versehen hat, sucht man Wegweiser zum Verstehen der russischen Gegenwart vermehrt in früheren Jahrhunderten.

Dieses kleine Buch setzt sich das Ziel, dem Orientierungsbedürfnis einer breiteren Öffentlichkeit über Rußland und seine Vergangenheit entgegenzukommen. Mit dem Blick auf die Gegenwart werden Grundlinien und Grundprobleme der russischen Geschichte umrissen. Den Schwerpunkt lege ich auf langfristige Kontinuitäten, die in die vorsowjetische Epoche, teilweise bis ins Mittelalter, zurückreichen. Damit soll nicht die Bedeutung der über siebzig Jahre sowjetischer Geschichte für die russische Gegenwart in Abrede gestellt werden. Ebenso lehne ich eine deterministische Sicht ab, die einen meist als verhängnisvolle Abweichung vom westlichen Modell betrachteten „russischen Sonderweg“ monokausal auf mittelalterliche Ursachen zurückführt. Dennoch bin ich davon überzeugt, daß einem Bild Rußlands, das aus zu kurzer zeitlicher Perspektive entworfen wird, die Tiefenschärfe fehlt. Politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen, Mentalitäten und Erfahrungen üben Langzeitwirkungen aus, die nur mit dem Blick auf die „lange Dauer“ (Fernand Braudel) zu erfassen sind.

Nach der Erörterung der wichtigsten Grundlagen in einem knappen ersten Teil folgt ein chronologischer Abriß der politischen Geschichte Rußlands von den Anfängen bis zur Gegenwart (Teil 2). Dabei lege ich den Schwerpunkt auf die innere Entwicklung. Im dritten Teil greife ich elf Problemfelder heraus, die meines Erachtens für das Verständnis russischer Geschichte und Gegenwart von zentraler Bedeutung sind. Die Auswahl dieser Problemfelder ist subjektiv und deshalb unvollständig; auch ihre Interpretation entspricht nicht immer dem Konsens der Forschung.

Die russischen Namen erscheinen in der Regel in der wissenschaftlichen Transliteration (c = ts/z, č = tsch, š = sch, v = w, z = stimmhaftes s, ž = stimmhaftes sch).

Für wertvolle Hinweise und Anregungen danke ich Priv.-Doz. Dr. Christoph Schmidt.

Ich widme dieses Buch zwei Kollegen, die beide wesentlich zur Erforschung der russischen Geschichte beigetragen haben. Zum einen Günther Stökl, meinem Vorgänger in Köln, dessen 1962 erstmals erschienene russische Geschichte noch immer die kompakteste und in der Eleganz der Darstellung und der Ausgewogenheit des Urteils unerreichte Gesamtdarstellung ist. Zum andern ist es eine Gabe zum 60. Geburtstag Carsten Goehrkes, von dem ich während der gemeinsamen Jahre in Zürich viel gelernt habe, so auch den Mut zur Verallgemeinerung, den ich für diese knappe Übersicht dringend benötigt habe.

1. Grundlagen

Der Gegenstand der russischen Geschichte

Gegenstand der russischen Geschichte ist seit dem Beginn der modernen Historiographie fast immer der Staat gewesen. Die fest verankerte Auffassung von einer über tausendjährigen staatlichen Tradition Rußlands ließ nur ausnahmsweise andere Bezugspunkte wie das russische Volk oder den geographischen Raum zu. Zwar stellten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ukrainische Historiker die Kontinuitätslinie Kiev-Moskau-St. Petersburg in Frage, indem sie das Kiever Reich exklusiv für die ukrainische Nationalgeschichte reklamierten. Sie hatten jedoch in der Rußlandhistoriographie damit bisher wenig Erfolg.

Umstrittener war und ist die Frage, ob die russische Geschichte 1917 zu Ende gegangen sei. Die Russische Revolution bedeutete einen tiefen Bruch und führte zu einer neuen politischen Ordnung, zu einer neuen herrschenden Ideologie, zu neuen Eliten und unter Stalin zu einer tiefgreifenden Umwälzung der gesamten Gesellschaft. Andererseits zeigte sich schon nach dem Ende des Bürgerkriegs und noch deutlicher in der Stalinzeit, daß die Sowjetunion die Nachfolge der Großmacht Rußland angetreten hatte.

Die Frage nach der Kontinuität russischer Geschichte stellt sich nach dem Kollaps der Sowjetunion neu. Das postsowjetische Rußland steht vor der Aufgabe, seine Geschichte neu zu schreiben. Dabei knüpft man an die Zeit vor dem Oktober 1917 an. Allerdings entsprechen Rußlands Grenzen nicht denen des zarischen Vielvölkerreiches vor 1917, sondern denen des ethnisch relativ einheitlichen Moskauer Staates im 17. Jahrhundert – die wichtigste Ausnahme sind die Gebiete des nördlichen Kaukasus mit Tschetschenien, die Rußland erst in der Mitte des 19. Jahrhunderts eroberte. Manche Russen stellen sich heute die Frage, ob der Staat immer noch als zentraler Bezugspunkt der russischen Geschichte dienen kann oder ob im Zuge nationaler Umbesinnung als neue Kategorie das Volk, die ethnische Gruppe, herangezogen werden muß. Gehören die fast ausschließlich von Nichtrussen bewohnten Gebiete Polens, Finnlands, Armeniens oder Mittelasiens, die in verschiedenen Perioden zum russischen oder sowjetischen Staat gehörten, zur russischen Geschichte? Sind andererseits die Millionen seit 1917 aus Rußland ausgewanderten Russen und die heute über zwanzig Millionen Russen im sogenannten „Nahen Ausland“ Gegenstand der russischen Geschichte?

Völker ohne staatliche Kontinuität wie die Deutschen oder Ukrainer hatten schon seit jeher die ethnische Gruppe (das Volk) zum wichtigsten Subjekt ihrer Geschichte erklärt. Für die meisten Russen ist eine solche Sicht neu und irritierend. Erschwerend kommt hinzu, daß nicht unbestritten ist, wer als Russe zu gelten hat: Gehören nur die Großrussen zum russischen Volk oder auch die sprachverwandten orthodoxen Weißrussen und Ukrainer? Ist vielleicht nicht die Sprache, sondern die Orthodoxie das entscheidende Integrationskriterium? Oder definiert sich ein Russe doch über den Staat, der vor 1917 und heute nicht nach der ethnischen Gruppe der Russen (russkie) benannt ist, sondern mit dem supraethnischen Terminus Rossija (Rußland)?

Ich werde mich an das bis heute vorherrschende staatliche Gliederungsprinzip halten und den folgenden Abriß der politischen Geschichte (Teil 2) mit dem Kiever Reich beginnen und mit der Rußländischen Föderation enden lassen. Da die Russen mit Ausnahme des Kiever Reiches, das seinen Schwerpunkt in der heutigen Ukraine hatte, den Kern dieser Staaten bildeten, stehen sie als ethnische Gruppe im Mittelpunkt. Dabei darf nicht vergessen werden, daß die Geschichte all dieser Staatswesen nicht nur Geschichte der Russen, sondern auch zahlreicher anderer Völker war.

Geographische Gegebenheiten

„Es gibt einen Faktor, der wie ein roter Faden durch unsere ganze Geschichte läuft, der in sich sozusagen ihre ganze Philosophie enthält und der gleichzeitig wesentliches Element unserer politischen Größe und wahre Ursache unserer geistigen Ohnmacht ist – das ist das geographische Faktum“, so der russische Philosoph Petr Čaadaev in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seiner These von der großen und ambivalenten Wirkungskraft der geographischen Gegebenheiten auf die russische Geschichte ist grundsätzlich zuzustimmen. Sie wird allerdings problematisch, wenn sie zu deterministischen Kurzschlüssen führt wie „Der Weite des russischen Raums entsproß die weite russische Seele“ oder „Das Fehlen natürlicher Grenzen erforderte in Rußland eine Diktatur, um äußere Feinde erfolgreich abwehren zu können“.

Offensichtlich ist der Einfluß geographischer Gegebenheiten auf die wirtschaftlichen Verhältnisse. Das rauhe, kontinentale Klima und die wenig ertragreichen Ackerböden haben der Landwirtschaft in allen Perioden der russischen Geschichte Probleme bereitet: Vom Mittelalter bis zur Gegenwart hören wir periodisch von Mißernten, die meist auf Dürren oder plötzliche Kälteeinbrüche zurückgeführt werden. Die fruchtbaren Schwarzerdeböden, deren Erträge allerdings durch Trockenheit gefährdet werden, lagen in den Steppengebieten des Südens und Südostens, die lange von Reiternomaden kontrolliert wurden. Nur die Kosaken drangen seit dem 15. Jahrhundert den Flüssen nach in die Steppe vor, ostslavische Ackerbauern rückten erst seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts allmählich nach.

Traditioneller Lebensraum der Russen war deshalb der Wald: Holz war bis ins 20. Jahrhundert das weitaus wichtigste Bau- und Brennmaterial. Waldgewerbe wie die Waldbienenzucht oder die Jagd stellten lange bedeutende Wirtschaftszweige dar, und Wachs und Pelze waren über Jahrhunderte die wichtigsten Exportgüter Rußlands. Auch die geistige Welt russischer Bauern blieb lange von der von Geistern und Nymphen beseelten Welt des Waldes bestimmt. Wald und Sümpfe behinderten den Verkehr, der deshalb in der Regel über die Flüsse ging, die das wichtigste raumgliedernde Element Rußlands darstellen. Doch blieben die Mündungen der Flüsse lange unter der Kontrolle anderer Mächte. Die Kontinentalität Rußlands, das erst spät Zugang zu eisfreien Meeren erhielt, verzögerte die Entwicklung des Außenhandels und damit auch die von Fernkaufleuten ausgehenden kapitalistischen Impulse.

Deutlich ist auch der Zusammenhang von Geographie und Demographie: Der riesige, kaum durch natürliche Grenzen gegliederte, weitgehend flache Raum der Russischen Tafel und ihrer Fortsetzung im Osten förderte die Mobilität der Bevölkerung. Die kontinuierlichen Migrationen russischer Bauern wurden erleichtert durch die Verkehrswege der großen Flußsysteme vom Dnjepr über Don und Wolga bis zu den Strömen Sibiriens und ihren Nebenflüssen. Die sich aus der ständigen Abwanderung ergebende niedrige Bevölkerungsdichte und die relativ großen Reserven an Land und Rohstoffen förderten eine extensive Wirtschaftsweise und zwangen Rußland nicht zu einer Intensivierung der Anbaumethoden oder der Technologie.

Der weitgehend offene Raum war, so hat die russische Historiographie oft betont, ständig Aggressionen von allen Seiten ausgesetzt. Im Süden und Osten war es die Bedrohung durch Reiternomadenvölker, die in der Eroberung Rußlands durch die Mongolen kulminierte. Im Westen wechselten sich die Invasoren ab, von den normannischen Warägern über den Deutschen Orden, die Litauer, Schweden und Polen bis zu Napoleon und Hitler. Umgekehrt erleichterten die geographischen Bedingungen die Expansion Rußlands auf dem Landweg nach Asien und Mitteleuropa und zu den Meeren. Dennoch geht R.J. Kerner zu weit, wenn er „den Drang zum Meer“ als entscheidende Triebkraft der russischen Geschichte betrachtet. Im Bereich der politischen Geschichte stoßen wir überhaupt an die Grenzen geographischer Erklärungen. Für eine Deutung von Invasionen und Expansionen war die Stärke oder Schwäche der staatlichen Organisation der Nachbarn Rußlands wichtiger als die räumlichen Bedingungen. Der riesige Raum und die Schwierigkeiten seiner Beherrschung taugen auch nicht als Erklärung der zentralistischen und autoritären Staatsform Rußlands; eine Dezentralisierung wäre, wie Carsten Goehrke zutreffend betont, eine ebenso angemessene Lösung gewesen. Auf noch schwankenderes Terrain begeben sich Deutungen, die, wie oben angedeutet, aus den Raumbedingungen völkerpsychologische Schlüsse ziehen.

Schließlich darf nicht vergessen werden, daß sich die geographischen Gegebenheiten im Laufe der Geschichte verändert haben, nicht zuletzt unter der Wirkung menschlicher Eingriffe. Zwar ist der Mensch heute weniger von seiner Umwelt abhängig als in früheren Jahrhunderten, doch hat der Raubbau an der Natur (Abholzung, Anlage von Stauseen, rücksichtslose Industrialisierung und Gewinnung von Bodenschätzen und Kernenergie) gerade in Rußland, wo man besonders nachlässig und verschwenderisch mit den reichen natürlichen Ressourcen umging, gewaltige ökologische Probleme geschaffen.

Ethnische Grundlagen: Rus’, Rußland und die Russen

Der Name der Russen und Rußlands geht zurück auf den Begriff Rus’, mit dem am Ende des ersten Jahrtausends ursprünglich die normannischen Waräger bezeichnet wurden, die einen wichtigen Anstoß zur ersten ostslavischen Staatsbildung gaben. Der Name Rus’ wurde auf den Herrschaftsverband und auf die ostslavische Bevölkerungsmehrheit übertragen, in der die Normannen bald aufgingen. Er blieb im politischen und ethnischen Sinn für alle Ostslaven bis ins 17. Jahrhundert erhalten. Zum Begriff Rus’ gehörte das Adjektiv rus’kij, das später zum Ethnonym der (Groß)-Russen (russkie) wurde. Um Verwirrungen zu vermeiden, sollte man deshalb den Begriff „russisch“ nur für die Großrussen und ihre Herrschaftsbildungen verwenden, nicht aber für das Kiever Reich und die Vorfahren der heutigen Ukrainer und Weißrussen; ihm sind der zeitgenössische Begriff „Rus’“ oder die übergreifende Bezeichnung „Ostslaven“ vorzuziehen.

Jünger ist der Terminus Rußland (Rossija). Er beginnt seit dem 16. Jahrhundert die Begriffe Rus’ und Moskauer Staat allmählich zu ersetzen und wird im späten 17. Jahrhundert zur offiziellen Bezeichnung des Zarenreichs. Rossija und das zugehörige Adjektiv rossijskij haben supraethnische Bedeutung und bezeichnen bis heute den Staat und seine Untertanen. Wenn mir die Abgrenzung vom ethnischen Terminus russkij (russisch) notwendig erscheint, übersetze ich deshalb rossijskij im folgenden mit „rußländisch“. Eine anachronistische Übertragung des Begriffs Rußland, auch in der Form Altrußland, auf das Mittelalter ist abzulehnen; auch hier ist Rus’ der passende Begriff, der die späteren Ukrainer und Weißrussen mit umfaßt.

Die Russen als wichtigster Kern des modernen rußländischen Staates sind als ethnische Gruppe im Laufe des Mittelalters entstanden. Seit dem 6. Jahrhundert hatten sich am mittleren Dnjepr die Ostslaven formiert, deren Sprache sich in der Folge über weite Gebiete Osteuropas ausbreitete. Im Norden und Nordosten des ostslavischen Siedlungsgebiets, im Raum zwischen Groß-Novgorod im Westen und Nižnij Novgorod im Osten, vollzog sich die Ethnogenese der (Groß-)Russen, wobei die zuvor hier ansässigen finnischsprachigen Stämme allmählich akkulturiert wurden.

Als ein Merkmal des russischen Ethnos entwickelte sich eine eigenständige russische Sprache, die allerdings bis ins 18. Jahrhundert von der aus dem Südslavischen übernommenen kirchenslavischen Schriftsprache überlagert wurde. Der orthodoxe Glaube als zweites ethnisches Merkmal gewann an Bedeutung, als Konstantinopel gefallen war und sich Griechen, Ukrainer und Weißrussen in einer Kirchenunion mit Rom verbanden. In der Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Moskauer Kirche zum wichtigsten Hort der Orthodoxie und zu einer Art Nationalkirche. Der orthodoxe Glaube wurde in der Folge nicht selten als „russischer Glaube“ bezeichnet und blieb ein wichtiges Merkmal des russischen Nationalbewußtseins.

Der zentrale Faktor für die Formierung eines russischen Ethnos und später einer russischen Nation war indessen der Staat, der sich seit dem 14. Jahrhundert um Moskau herum bildete. Auf den Moskauer Staat beziehen sich erste Äußerungen eines russischen Proto-Nationalbewußtseins im 16. Jahrhundert. Dieser Reichspatriotismus, der in erster Linie auf dynastischen und territorialen Faktoren basierte, blieb als Integrationsideologie bis zur Revolution erhalten. Ein mit ihm konkurrierendes, modernes, auf Geschichte, Sprache und Volkskultur basierendes Nationalbewußtsein wurde zwar von der neuen sozialen Gruppe der Intelligenz seit dem 18. Jahrhundert formuliert, doch vermochte es bis zur Revolution nicht, die Russen zu einer Nation zu integrieren. Die tiefe Kluft zwischen gebildeten Eliten und der Masse der Unterschichten und der Widerspruch zwischen ethnisch-nationaler Ideologie und multinationaler Zusammensetzung des Zarenreiches hemmten die russische Nationsbildung.

Das änderte sich auch in der Sowjetperiode nicht, als die Bolschewiki versuchten, die historische Etappe des Nationalstaats zu überspringen und direkt von der vornationalen in eine nachnationale, internationalistische Phase zu gelangen. Unter Stalin holte der russische Nationalismus die Kommunisten wieder ein, allerdings im Gewand des Sowjetpatriotismus, einer neuen Spielart des Reichspatriotismus. Trotz Urbanisierung, Industrialisierung und Bildungsrevolution blieben die Russen unter der sowjetischen Diktatur eine „verspätete Nation“. So ist es nicht verwunderlich, daß die nationale Frage nach dem Kollaps der Sowjetunion ins Zentrum der öffentlichen Diskussion gerückt ist.

II. Epochen der politischen Geschichte

Kiever Reich (10.–13. Jahrhundert)