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Rudolf Simek

Vinland!

Wie die Wikinger
Amerika entdeckten

Verlag C.H.Beck


Zum Buch

«Sie kamen zu einer Insel, die nördlich des Landes lag und gingen dort hinauf und sahen sich bei gutem Wetter um. Sie fanden Tau auf dem Gras und berührten als Erstes mit den Händen den Tau und führten ihn zum Mund und dachten, noch nie etwas Süßeres gekostet zu haben.» So wird in der Grænlendinga Saga die Ankunft der Wikinger in Amerika beschrieben. Rudolf Simek erzählt in dem vorliegenden Buch die Geschichte dieser Entdeckungsreise und schildert, wie deren archäologische Spuren im 20. Jahrhundert wiederentdeckt wurden.

Was trieb die Wikinger rund 400 Jahre, bevor Christoph Kolumbus in die Neue Welt aufbrach, zu ihrer gefährlichen Reise durch das Nordmeer? Abenteuerlust, Mangel an wichtigen Rohstoffen und Nahrungsquellen? Woher stammten diese Entdecker überhaupt, die wir recht unpräzise mit dem Begriff «Wikinger» bezeichnen, und welche Quellen erzählen ihre Geschichte(n)? Dies sind einige der Fragen, denen der international renommierte Wikinger-Forscher Rudolf Simek nachgeht. Darüber hinaus erklärt er, wie die Schiffe der Wikinger beschaffen waren, schildert das nautische Wissen und die Weltvorstellungen der nordischen Seefahrer und erzählt, wie 1961 das norwegische Ehepaar Helge und Anne Stine Ingstad bei L’Anse aux Meadows an der Küste von Neufundland auf die archäologischen Reste der Wikinger-Expedition stieß. Ein unterhaltsames Kapitel über die Wikinger – über die man in den USA so lebhaft phantasierte, dass man dort regelrechte «Viking Hoaxes» schuf – beschließt den Band.

Über den Autor

Rudolf Simek lehrt als Professor für Ältere Germanistik unter Einschluss des Nordischen an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Im Verlag C.H.Beck sind von ihm lieferbar: Mittelerde. Tolkien und die germanische Mythologie (2005); Die Edda (2007); Götter und Kulte der Germanen (42016); Die Wikinger (62016).

Inhalt

1. Einleitung

2. Vinland wiederentdeckt

3. Die Expansion der Wikinger in Europa

4. Jenseits von Island – der Weg der Wikinger nach Westen

5. Die Entdeckung der Neuen Welt: Die «Vinland-Sagas»

a) Eiríks saga rauða

b) Grænlendinga saga

6. Die Schiffe der Wikinger: Drachenschiffe und Lastochsen der Meere

7. Das Weltbild der Wikinger: Der Atlantik als Binnenmeer

8. Vinland in der Gelehrtenwelt des Mittelalters

9. Der Mythos von Vinland: Vinland als Gelobtes Land

10. Was bleibt von Vinland?

11. Die Welt der falschen amerikanischen Wikinger: «Viking Hoaxes» in Amerika

Kleines Vinland-Lexikon

Personennamen

Ortsnamen

Anmerkungen

Literatur

Quellen

Übersetzungen

Forschungsliteratur

Internetquellen

Nachweis der Abbildungen und Karten

Personenregister

Register der geographischen Begriffe

1. Einleitung

«Die Wikinger entdeckten Amerika» war eine neue wissenschaftliche Erkenntnis, die in meiner Kindheit wie ein Lauffeuer um die Welt ging und mit dazu beitrug, diesem frühmittelalterlichen Seefahrervolk zu einer bis heute anhaltenden Popularität zu verhelfen. Diese Beliebtheit, die auf vielen Faktoren, vor allem den wunderbar schnellen Schiffen der Wikinger beruht, ist bis heute ungebrochen, wie eine stetig ansteigende Flut von Publikationen, Ausstellungen, filmischen Dokumentationen und künstlerischen Interpretationen belegt.

Dabei ist der Satz «Die Wikinger entdeckten Amerika» gleich von mehreren Seiten her kritisch zu hinterfragen. Erstens werden natürlich alle außereuropäischen «Entdeckungen» immer von einem eurozentristischen Blickwinkel her gesehen, der stillschweigend davon ausgeht, dass die Bewohner der entdeckten Gebiete bis zu ihrer Entdeckung historisch völlig irrelevant waren und selbst keinerlei Kenntnisse über die Außenwelt besaßen, sondern erst von den Europäern für die Geschichte entdeckt und ihr Land der Welt eröffnet werden musste. Dabei verfügten in diesem Fall die Entdecker selbst nur über eine begrenzte Wahrnehmung der Welt, wie der abwertende Begriff Skrælingar zeigt, den die skandinavischen Seefahrer unterschiedslos sowohl für die grönländischen Inuit als auch für die amerikanischen Indianer verwendeten.

Zum Zweiten weckt der Begriff Amerika in diesem Satz Erwartungen, die mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen keineswegs in Deckung gebracht werden können: Zwar wissen wir aus mittelalterlichen Erzählungen, sogenannten Sagas, dass Seefahrer von Grönland aus um das Jahr 1000 herum tatsächlich neues Land im Westen entdeckten und erkundeten – das legendäre Vinland. Doch die in den 1960er Jahren durch das Ehepaar Ingstad erbrachten archäologischen Beweise für diese Fahrten beschränken sich – bis heute – auf eine einzige Siedlung an der Nordspitze der der Ostküste Kanadas vorgelagerten Insel Neufundland. Dieser Fundort liegt in Luftlinie gemessen etwa 2000 km nordnordöstlich von New York und entspricht damit genauso wenig den europäischen oder gar den amerikanischen Erwartungen von einer Entdeckung «Amerikas» wie die Landung des Christoph Kolumbus auf der Insel San Salvador in der Karibik fünf Jahrhunderte später. Dementsprechend sind seither, besonders in den USA, die Spekulationen über weiterreichende Fahrten der wikingerzeitlichen Skandinavier bis tief in den Süden oder auch den Mittelwesten der Vereinigten Staaten nicht abgerissen. Wissenschaftliche Beweise dafür wurden bisher keine gefunden.

Zum Dritten ist zudem der Begriff «Wikinger» im eingangs erwähnten Satz zu hinterfragen. Der Erstentdecker Vinlands war wohl der aus Norwegen stammende und teilweise in Island lebende Bjarni Herjolfsson. Doch während dieser die Küsten der Neuen Welt nur zufällig und von Weitem sah, weiß die Überlieferung zu berichten, dass es Leif Eiriksson mit seinen Begleitern war, allesamt Söhne und Töchter grönländischer Kolonisten, die ihrerseits von Isländern oder Norwegern abstammten, deren Schiffe den amerikanischen Kontinent erreichten. Weitere Expeditionen wurden vorwiegend von grönländischen Bauern durchgeführt. Als «Wikinger» werden jedoch korrekterweise nur die frühmittelalterlichen skandinavischen Piraten bezeichnet, die Europa im 9. und 10. Jahrhundert unsicher machten. Erst in der jüngsten Vergangenheit hat es sich eingebürgert, alle Skandinavier dieser Periode als Wikinger zu bezeichnen, und nur so ist der Begriff im Untertitel zu verstehen.

Trotz dieser Einschränkungen wird heute die enorme Leistung der skandinavischen Seefahrer, die vor einem guten Jahrtausend und 500 Jahre vor Kolumbus die Küsten des amerikanischen Kontinents in offenen Schiffen und ohne moderne Navigationshilfen erreichten, mit Recht bewundert – auch wenn man sich von so romantischen Vorstellungen befreien muss, dass diese Fahrten direkt von Norwegen aus und aus reiner Entdeckerfreude heraus geschehen seien. Es waren vielmehr die beschränkten Ressourcen der kleinen skandinavischen Kolonie in Grönland, die es ökonomisch notwendig machten, weiter südwestlich nach zusätzlichen Rohstoffquellen zu suchen. Vor allem die für den Schiffbau schmerzlich fühlbare Holzarmut in Island und Grönland, der Mangel an vitaminreichen Früchten sowie die Suche nach in Grönland äußerst knappen Sommerweiden für das Vieh dürften entscheidende Beweggründe gebildet haben.

Aber woher wissen wir überhaupt von den Fahrten der in Island und Grönland siedelnden Skandinavier in die Neue Welt? Zwar wird das sagenhafte Vinland noch in vielen mittelalterlichen Texten kurz erwähnt, und die frühneuzeitlichen Karten zeigen seine ungefähre Lage im äußersten Westen der damals bekannten Welt, aber nur zwei isländische Sagas aus dem 13. Jahrhundert berichten uns von den Details der Expeditionen. Da diese kurz nach dem Jahr 1000 stattfanden, vergingen also etwa 250 Jahre bis zur Niederschrift der Ereignisse in altisländischen Prosatexten, und diese beiden Sagas weichen noch dazu nicht unbeträchtlich voneinander ab: Sie unterscheiden sich nicht nur im Namen des Erstentdeckers der Neuen Welt, sondern auch in der Zahl der Expeditionen und in den dabei eine Rolle spielenden Personen. Allerdings ist das bei dem beträchtlichen zeitlichen Abstand auch nicht weiter überraschend, denn selbst wenn sich etliche isländische Gelehrte und Kirchenmänner des 13. Jahrhunderts von der Familie der Gudrid, einer der wichtigsten Protagonistinnen der Erzählungen, herleiten, so liegt es nahe, dass auch in den Familientraditionen die Ereignisse etwas abweichend überliefert wurden. Es kann also bei der Betrachtung dieser historischen Erzählungen nicht darum gehen, herauszufinden, welche der beiden Versionen die richtige ist. Es soll vielmehr darum gehen, zu betrachten, warum sich die Sagas so voneinander unterscheiden und ob sich vielleicht ein gemeinsamer Kern von Fakten aus beiden Romanen herausschälen lässt. Man muss auch versuchen, ein wenig zwischen den Zeilen zu lesen, um herauszufinden, was man im Island des 13. Jahrhunderts noch von den Seefahrten, aber auch dem mühseligen Leben der Siedler in Grönland in den alten Geschichten bewahrt hatte.

Doch selbst wenn diese ökonomischen Zwänge und eine ganze Reihe von Zufällen eine größere Rolle bei der skandinavischen Entdeckung Amerikas gespielt haben mögen als die heroische Abenteuerlust, so haben diese frühmittelalterlichen Reisen bis heute nichts an Faszination eingebüßt. Die Entdeckungs- und Kolonisationsfahrten zum sagenhaften Vinland verdienen es daher, auf der Grundlage aller heute verfügbaren literarischen und archäologischen Quellen eingehender vorgestellt zu werden, zumal die «Wikinger», das zeigt die Menge der aktuellen Publikationen und Ausstellungen, die Phantasie und das Interesse an der Geschichte der skandinavischen Entdecker immer aufs Neue anregen.

R.Simek, zu Ostern 2016

2. Vinland wiederentdeckt

«[Sie] kamen zu einer Insel, die nördlich des Lands lag und gingen dort hinauf und sahen sich bei gutem Wetter um. Sie fanden da Tau auf dem Gras und berührten da als Erstes mit den Händen den Tau und führten sie zum Mund und dachten, noch nie etwas Süßeres gekostet zu haben.

Sodann gingen sie zu ihrem Schiff und segelten in den Sund hinein, der sich zwischen der Insel und der Landzunge erstreckte, die im Norden vom Land kam, und steuerten westlich des Kaps vorbei. Dort war es bei Ebbe sehr seicht, und ihr Schiff lag da auf, und das Meer war nur weit vom Schiff entfernt zu sehen.

Sie waren aber so neugierig darauf, an Land zu kommen, dass sie nicht warten wollten, bis die Flut wieder das Schiff hob, sondern rannten zum Land, dort wo ein Fluss aus einem See floss. Aber sobald die Flut wieder das Schiff hob, nahmen sie das Beiboot und ruderten zum Schiff und brachten es in die Flussmündung hinein, dann in den See, und dort warfen sie Anker und trugen ihre Fellschlafsäcke vom Schiff und machten sich Hütten. Dann beschlossen sie, diesen Winter da zu verbringen und bauten dort ein großes Haus. Da mangelte es weder im Fluss noch im See an Lachs, und zwar größerer Lachs, als sie je zuvor gesehen hatten.

Das Land da bot so gute Versorgung, dass sie dachten, dass sie kein Winterfutter für das Vieh brauchen würden. Im Winter kam kein Frost, und das Gras verdorrte nur wenig. Da waren Tag und Nacht von ähnlicherer Länge als in Grönland oder Island. Am kürzesten Tag des Jahres war da die Sonne schon um 9 Uhr aufgegangen und schien bis nach 3 Uhr.» (Grænlendinga saga Kap. 3)[1]

Die Grænlendinga saga, eine der beiden erwähnten mittelalterlichen Vinland-Sagas, die in einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert auf uns gekommen ist, weiß von Bjarni Herjolfsson zu berichten, dass dieser das neue Land gesehen, aber nicht betreten habe (um 985); diese Ehre gesteht die Erzählung erst Leif Eiriksson (geboren um 970 in Island, gestorben um 1020) zu. Die ausführliche Beschreibung der ersten Expedition unter Leif Eiriksson nach Vinland in der Grænlendinga saga enthält dabei außerordentlich kleinteilige geographische Beschreibungen. Dass diese detailreichen Schilderungen – auch wenn sie erst gut 200 bis 250 Jahre nach den beschriebenen Ereignissen in Island zu Pergament gebracht wurden – der Schlüssel zur Wiederentdeckung des historischen Vinland sein könnten, hat in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts das norwegische Forscherehepaar Ingstad angespornt, sich einmal ganz konkret auf die Suche nach den beschriebenen Stellen zu machen. Damit wollten sie archäologisch die bislang nur aus hochmittelalterlichen literarischen Quellen bekannten Reisen der Skandinavier verifizieren, um so den endgültigen Beweis für die Entdeckung Amerikas durch die Wikinger zu erbringen.

Dabei war Helge Ingstad alles andere als ein Forscher im herkömmlichen Sinn. Der 1899 in Mittelnorwegen geborene Sohn eines Ingenieurs studierte in Bergen Jura und arbeitete ab 1922 als Rechtsanwalt, fühlte sich aber wie so viele Norweger vom Leben in der freien Natur angezogen. Er machte schließlich sein Hobby zum Lebensinhalt, verkaufte 1926 seine gutgehende Anwaltspraxis in Levanger in Nord-Trøndelag und verbrachte die nächsten Jahre im Norden Kanadas als Pelzjäger, wobei er tiefe Einblicke in das Leben eines arktischen Indianerstamms bekam. Sein 1932 in Norwegen in hoher Auflage erschienenes Buch mit dem Titel Pelsjegerliv blandt Nord-Canadas indianere (auf deutsch schon 1933 als «Pelzjägerleben in Kanada» aufgelegt) machte ihn in Norwegen und darüber hinaus mit einem Schlag berühmt.

Als 1931 fünf (!) Norweger einen großen, wenn auch praktisch unbewohnten Küstenabschnitt in Nordostgrönland für die norwegische Krone annektierten und dieses Gebiet mit dem Namen «Eirik Raudes-Land» belegten (obwohl es weitab der seinerzeitigen Siedlung Eirik des Roten in Südgrönland lag), wurde Helge Ingstad 1932 auf Grund seiner juridischen Ausbildung und seiner arktischen Erfahrungen zum Sysselmann (Gouverneur) dieses Landstrichs ernannt. Da Norwegen aber schon im April 1933 kraft eines Urteils des Den Haager Gerichtshofs die Annexion zurücknehmen und diesen Teil Grönlands an Dänemark zurückgeben musste, war es mit diesem Amt schnell wieder vorbei. Als Entschädigung wurde Ingstad zum Gouverneur von Svalbard (= Spitzbergen) ernannt, und zwar von 1933 bis 1935. In dieser Zeit erschien auch sein Buch über die kurze Zeit in Grönland: Øst for den store bre («Östlich des großen Gletschers», das Buch ist aber nie auf Deutsch erschienen). Auch über die beiden Jahre auf Spitzbergen schrieb er ein Buch, Landet med de kalde kyster, dieses erschien jedoch erst im Jahr 1948 (auf Deutsch wurde der Titel 1952 als «Spitzbergen. Land der kühlen Küste» in Bern gedruckt). Inzwischen hatte sich Ingstads Abenteuerlust gen Süden gewandt – zumindest vorläufig. Er unternahm von 1936 bis 1938 eine Expedition nach Neu-Mexiko zu den Apachen. Während des Krieges und kurz danach, von 1940 bis 1946, arbeitete er für das Rote Kreuz, bevor er als Gouverneur nach Spitzbergen zurückkehrte, hauptsächlich wohl, um sein Buch darüber fertigstellen zu können.

Bei seinem ersten Aufenthalt auf Spitzbergen hatte Ingstad die Archäologiestudentin Anne Stine Moe (1918–1997) kennengelernt, im Jahr 1941 heirateten die beiden. Die Ehe und die Zusammenarbeit mit seiner Frau brachten Ingstad schließlich auf die Fährte, die dem Forscherehepaar endgültigen Ruhm einbringen sollte: die Suche nach dem verschollenen Vinland der wikingerzeitlichen Skandinavier.

Anne Ingstad schloss ihr Studium zwar erst 1960 ab, verfolgte aber schon lange vorher archäologische Interessen, hauptsächlich mit Publikationen über die Steinzeit, bevor sie schließlich begann, sich für die Wikingerzeit zu interessieren. Auf Grund der kanadischen Jahre ihres Mannes lag die Frage nahe, wo das inzwischen vergessene und nur mehr in den altisländischen Sagas und einigen geographischen Texten des mittelalterlichen Skandinavien erwähnte sagenhafte Vinland gelegen haben könnte. Ein Land, von dem die Sagas ausführlich erzählen, wie etwa die Grænlendinga saga kurz nach der oben zitierten Stelle:

«Und als der Frühling kam, bereiteten sie die Abreise vor, und Leif gab dem Land den Namen nach seinen Eigenschaften und nannte es Vinland. Sodann segelten sie aufs Meer hinaus und hatten guten Fahrtwind, bis sie Grönland sahen und die gletscherbedeckten Berge.» (Grænlendinga saga, Kap. 4)[2]

So begann die «Jagd nach Vinland» der beiden Ingstads, eines der spannendsten Kapitel der neueren Archäologiegeschichte. Das Ehepaar studierte eingehend die literarischen mittelalterlichen Texte (s. Kap. 7) und die spätmittelalterlichen Karten aus Island, die Vinland weit südwestlich von Grönland verzeichnen (s. Kap. 8). Dabei widersprechen sich die beiden wichtigsten Sagas über die Entdeckungsreisen der Grönländer nach Amerika in etlichen Details, doch die geographischen Begriffe Helluland, Markland und Vinland für Küstenstreifen irgendwo südwestlich von Grönlands Südspitze und der dortigen Wikingerkolonie tauchen in beiden auf.

Deshalb begannen die Ingstads, nachdem sie sich Anfang der 50er Jahre vor allem mit den Resten der mittelalterlichen skandinavischen Kolonie auf Grönland beschäftigt hatten, intensiver nach Vinland zu suchen. Auf mehreren Reisen entlang der kanadischen Ostküste auf kleinen Booten, zu denen sie ihre Tochter im Teenageralter mitnahmen, verglichen die Ingstads die Landschaft mit den Beschreibungen der Sagas, sie befragten Einheimische und suchten nach alten Bauresten. Die Suche dauerte etliche Jahre, in denen Helge Ingstad – manchmal mit, manchmal ohne seine Familie – immer wieder die kanadische Ostküste und die Nordostküste der USA abfuhr.

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Anne Stine und Helge Ingstad

Dabei benutzte er in erster Linie die Sagas und andere Quellen aus dem Mittelalter zur Orientierung und ignorierte dabei vorerst die Aufzeichnungen eines alten Neufundländers, William Azariah Munn, der schon 1914 wikingische Siedlungen im Norden Neufundlands vermutet hatte. Erst 1960erfuhr Ingstad bei einem weiteren Besuch auf Neufundland von einem anderen Neufundländer, dem Fischer George Decker aus L’Anse aux Meadows, von überwachsenen Mauerresten in der Epaves Bay an der Nordspitze der Insel unweit seines Fischerdorfes. Als die Ingstads diese Mauerreste untersuchten, vermuteten sie auf Grund der Form der Häuser und des Baumaterials aus Grassoden bald, dass es sich hierbei tatsächlich um die Überreste einer skandinavischen Siedlung handeln könnte. In den Jahren von 1961 bis 1969 folgten dann unter der Leitung von Anne Ingstad acht Grabungskampagnen in L’Anse aux Meadows.[3] Am Ende dieser archäologischen Ausgrabungen stand fest: die acht oder neun Gebäude, die man gefunden hatte, stammten tatsächlich von Skandinaviern der Wikingerzeit. Dazu gehörten neben drei größeren Wohngebäuden auch eine Reihe von Nebengebäuden, darunter eine etwas abgelegene, jenseits des Bachlaufs gelegene Schmiede. Dazu kommen vier zur See hin offene Vertiefungen an der Küste nördlich der Siedlung, die als Reste von in die Uferböschung eingetieften Bootsschuppen interpretiert werden.

Damit war der archäologische Beweis für die lange Zeit nur aus den schriftlichen Quellen bekannte frühe «Entdeckung Amerikas durch die Wikinger» erbracht, und diese Erkenntnis war in den 60er Jahren eine Weltsensation. Allerdings ruht die Beweislast, wie so oft in der Archäologie, auf den kleinen Dingen: Neben den für Island und Grönland typischen Hausgrundrissen waren es nur wenige Artefakte, die man als endgültige Beweise anführen konnte: eine kleine Lampe aus Speckstein, wie er nur in Grönland vorkommt, Schlacke von Eisenverarbeitung aus einem kleinen, als Schmiede zur Bootsreparatur gedeuteten Nebengebäude – denn die mit den Algonkin-Indianer verwandten Beothuk- und Thule-Indianer in dieser Gegend lebten um das Jahr 1000 noch in der Steinzeit und kannten die Eisenverarbeitung nicht – und schließlich, als schwerwiegendster Beweis von allen, eine kleine Ringnadel, wie sie aus dem wikingerzeitlichen Norwegen bekannt ist.

Die Ingstads hatten also mit Sicherheit eine wikingische Siedlung in der Neuen Welt entdeckt. Doch die Frage blieb, ob diese Siedlung wirklich in jenem Vinland lag, das in den mittelalterlichen Quellen gerne Vínland hit goða «Vinland das Gute» genannt wird? Das ist bis heute eine Forschungsfrage, und diese wird noch näher zu behandeln sein.

Helge und Anne Ingstad hatten mit ihrer Entdeckung Weltruhm erworben. Beide schrieben Bücher über ihre Forschung, die in zahlreiche Sprachen übersetzt und in Millionenauflage gedruckt wurden. Das bekannteste davon wurde Helge Ingstads Vesterveg til Vinland: oppdagelsen av norrøne boplasser i Nord-Amerika, das schon 1965 erschien (auf Deutsch 1966 mit dem Titel: «Die erste Entdeckung Amerikas: auf den Spuren der Wikinger»). Helge Ingstad, der 101 Jahre alt werden sollte, bekam in Oslo am 5. April 2001 ein Staatsbegräbnis und erhielt vor wie nach seinem Tod zahlreiche Ehrungen des norwegischen Staats, sogar eine Fregatte der norwegischen Marine trägt seinen Namen. Anne Ingstad schrieb eine 1975 erschienene, sehr persönliche Darstellung der Entdeckungsgeschichte, Det nye land med de grønne enger (der Titel wurde nie ins Deutsche übersetzt, erschien aber 1977 auf Englisch als «The discovery of a Norse settlement in America. Excavations at L’Anse aux Meadows, Newfoundland, 1961–1968»). Sie bekam wie ihr Mann mehrere Ehrendoktorate, wurde Mitglied der norwegischen Akademie der Wissenschaften und starb 1997. Die Tochter der beiden, Benedicte, folgte den Fußstapfen ihrer Eltern als Wissenschaftlerin, wurde Professorin für medizinische Anthropologie in Oslo, gab einige Werke ihrer Eltern heraus und verfasste 2010 eine sehr persönliche Biographie der beiden Entdecker der Wikinger in Amerika.

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Siedlungsfunde skandinavischen Typs aus L’Anse aux Meadows: Ringnadel (links)

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Spinnwirtel, Specksteinlampe, Schleifsteine

Ohne die Arbeit von Anne und Helge Ingstad wäre das öffentliche Bewusstsein von der skandinavischen Frühentdeckung Amerikas nicht so ausgeprägt, wie es heute ist. Für die Skandinavier ist es eine Bestätigung der seefahrerischen Leistungen ihrer Vorfahren, für die Amerikaner – vor allem diejenigen nordeuropäischer Abstammung – ist es ein Hinweis auf den frühen Eintritt ihres Kontinents in den europäischen Horizont. So ist es auch zu verstehen, dass der seit 1954 in sieben amerikanischen Bundesstaaten als offizieller Feiertag anerkannte Leif Erikson Day (9. Oktober) bis heute im amerikanischen Mittelwesten so breiten Zuspruch findet.

Dabei sind die gefundenen Artefakte skandinavischen Typs oder skandinavischer Herkunft trotz ihrer hohen Beweiskraft wenig spektakulär. Von den Hausgrundrissen ließe sich dasselbe sagen, da die Überreste von Grassodenhäusern, wenn sie einmal von der umgebenden Grasnarbe überwachsen sind, nur schwer erkennbar sind und sich höchstens als Umrisse in der heute kargen Graslandschaft Neufundlands abheben. Noch dazu waren die Grassodenhäuser in Neufundland ohne die in Island und Grönland üblichen Steinfundamente errichtet worden, sodass nur die ausgestochenen Rasenziegel zu Wänden aufgeschichtet worden waren, deren Dächer – aus Holz, oft genug wohl nur Treibholz – längst eingestürzt und völlig vergangen sind. Warum man auf die Steinfundamente verzichtet hat, mag verschiedene Gründe gehabt haben: entweder war es zu mühsam und langwierig, Steine in ausreichender Menge zu brechen und aufzubereiten, oder man hatte von vornherein nur eine kürzere Aufenthaltsdauer geplant, sodass die übliche Lebensdauer von Grassodenwänden von zwei bis drei Jahrzehnten völlig ausreichend erschien.

Heute bekommt man einen gewissen, wenn auch durchaus geschönten, Eindruck vom Aussehen der wikingerzeitlichen Siedlung, weil etliche der Häuser rekonstruiert und mit einem Flechtwerkzaun umgeben wurden, der allerdings weder eine archäologische Begründung hat noch der in den Sagas beschriebenen Palisade als Schutz vor den Skrælingar entspricht.

Dazu betreibt Parks Canada ein Besucherzentrum, in welchem nicht nur allgemeine Informationen über die Wikinger, sondern auch die Geschichte der mittelalterlichen Entdeckungsfahrten (und Spekulationen über die Reichweite dieser Fahrten) präsentiert sowie auch die oben dargestellte Geschichte der Wiederentdeckung im 20. Jahrhundert dokumentiert werden.