Rebecca Böhme
RESILIENZ
Die psychische Widerstandskraft
C.H.Beck
Stress, Krisen und Niederlagen gehören zu jedem Leben dazu. Nicht wenige Menschen haben sogar mit traumatischen Erfahrungen zu kämpfen. Darin allerdings, wie wir solche Ereignisse verkraften und bewältigen, unterscheiden wir uns erheblich. Während der eine schon von kleinen Krisen aus der Bahn geworfen wird, überwindet der andere selbst schwerwiegende negative Erlebnisse rasch. Für die geheimnisvolle Kraft, die ihn auszeichnet, hat sich in der Psychologie der Begriff der «Resilienz» eingebürgert. Die psychische Widerstandskraft ist eine Verbindung von Veranlagung, Prägung und Erfahrung. Trotzdem ist sie keineswegs statisch, sondern kann sich, wie Rebecca Böhme an vielen Beispielen zeigt, im Laufe des Lebens wandeln: durch Übung, Re-Evaluation und nicht zuletzt durch ein vertrauensvolles soziales Miteinander.
Rebecca Böhme ist Neuropsychologin und forscht am Zentrum für soziale und affektive Neurowissenschaften in Linköping, Schweden. Bei C.H.Beck ist von ihr erschienen: Human Touch. Warum körperliche Nähe so wichtig ist (2019).
1. Begriffsklärung und Einordnung
Begriffsdefinition
Resilienz in anderen Bereichen
Historische Entwicklung des Konzeptes
Kritik am Resilienzkonzept
2. Stress
Stressoren
Stressverarbeitung
Trauma
3. Die Messung von Resilienz
Methoden
Herausforderungen und Kritik
4. Was beeinflusst unsere Fähigkeit zur Resilienz?
Veranlagung: Genetik und Epigenetik
Vorgeburtliche und frühkindliche Erfahrungen
Stress und das Immunsystem
Kindheit und Jugend
Sozioökonomische Faktoren
Resilienz und Kultur
Aktuelle Umwelteinflüsse
5. Strategien für mehr Resilienz
Coping
Körper: Grundlagen schaffen – Ernährung, Fitness, Schlaf
Soziales Miteinander: Unterstützung und Nähe
Psyche: Übungen
Erwartungen anpassen
Perspektivenwechsel
Neubewertung
Involviertheit (Commitment)
Herausforderungen annehmen
Frustrationstoleranz
Autonomie, Kontrolle und Akzeptanz
Kreativität
Resilienz in Kindheit und Jugend fördern
Prävention in der Schwangerschaft
Kindheit
Emotionsregulation
Naturerlebnis
Verantwortung
Riskantes Spiel
Jugend
Soziale Medien und soziale Interaktion
Interventionsprogramme
Resilienz im Alter
6. Schlusswort
Anmerkungen und Literatur
Stress, Krisen, Niederlagen sowie leidvolle, traumatische Erfahrungen gehören zu jedem Leben dazu. Traumatische Ereignisse wie der Verlust einer geliebten Person, Gewalterfahrung oder Krankheit sind häufig.[1], [2] Je nach Erhebungsmethode und Erhebungsland liegen die Näherungswerte für das Erleben eines traumatischen Ereignisses mindestens einmal im Leben zwischen 60 und 90 Prozent. Das bedeutet, dass beinahe jeder von uns etwas erlebt, das eine emotionale Reaktion auslöst, die so stark ist, dass das Ereignis nach dem diagnostischen Manual der psychischen Störungen (DSM) als psychologisches Trauma charakterisiert werden könnte.[3] Darin jedoch, wie der Einzelne solche Ereignisse verkraftet und bewältigt, unterscheiden wir uns erheblich. Während der eine selbst schwerwiegende negative Erlebnisse rasch überwindet, ja möglicherweise sogar gestärkt daraus hervorgeht, wird der andere von kleinen Krisen aus der Bahn geworfen.
Nur 5 bis 10 Prozent all derjenigen, die ein traumatisches Ereignis erleben, entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (englisch: posttraumatic stress disorder, PTSD). Doch traumatische Erlebnisse und Krisen können auch andere Folgen haben: Burn-out, Ermattungssyndrom, Depression. Zudem liegen Stress und Traumata häufig anderen gesundheitlichen Beschwerden zugrunde, die gar nicht mit der Psyche in Verbindung gebracht werden, oder können einen negativen Einfluss auf Krankheitsverläufe haben. Da die Wahrscheinlichkeit hoch ist, im Leben negativen Erfahrungen ausgesetzt zu sein, liegt es nahe, diesen durch die Förderung der psychischen Widerstandsfähigkeit präventiv zu begegnen. Warum manche Menschen eine stärkere psychische Widerstandskraft haben als andere und wie man die Psyche stärken kann, davon handelt dieser Band.
Für die psychische Widerstandsfähigkeit hat sich der Begriff der «Resilienz» eingebürgert, der vom Lateinischen resilire (deutsch: zurückspringen, abprallen) abstammt. Gemeint ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen.[4] Ganz allgemein gesprochen, kann Resilienz als die Fähigkeit eines Systems definiert werden, nach einer Störung wieder in seine Ausgangsposition zurückzukehren und dabei die gleiche Funktion, Struktur oder Identität zu behalten. Insofern kann der Begriff «Resilienz» auch für andere Systeme als die menschliche Psyche genutzt werden. Wie wir im weiteren Verlauf sehen werden, ist die Beschreibung der Resilienz als «Widerstandsfähigkeit» eigentlich fehlleitend – denn der Begriff «Widerstand» impliziert ein hartes Gegen-etwas-Ankämpfen, während es sich bei der Resilienz vielmehr um sanfte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit handelt. Trotzdem werde ich das Synonym «Widerstandsfähigkeit» im Text verwenden, im Sinne einer auf Dauer den Widrigkeiten trotzenden Psyche. Wir wollen hier «Resilienz» als die Erhaltung oder zügige Wiederherstellung der psychischen Gesundheit nach einem traumatischen Erlebnis oder während adverser Lebensumstände definieren.
Die Resilienz eines Systems hängt von seiner Fähigkeit ab, Störungen zu absorbieren und sich neu zu organisieren. Dies lässt sich gut am Beispiel eines Ökosystems verdeutlichen. Wird ein kleiner Bachlauf durch sauren Regen verschmutzt, schadet dies kurzfristig einigen Tieren und Pflanzen. Dies ist die Störung. Doch da sich das Wasser im Fluss befindet, verteilt sich das schädliche Regenwasser rasch – die Störung wird also absorbiert, und das Ökosystem Fluss kann zu seinem Ausgangszustand zurückkehren. Ein anderes Beispiel ist das Einbringen einer neuen Pflanzenart in ein existierendes Ökosystem. Die neue Pflanze breitet sich möglicherweise stark aus und beginnt heimische Pflanzen zu verdrängen. Wenn jedoch einige der heimischen Tiere diese neue Pflanzenart als Nahrungsquelle entdecken, können sie deren Zahl wieder dezimieren: Das Ökosystem passt sich also an die neuen Gegebenheiten an. Wenn sich ein neues Gleichgewicht entwickelt, hat das Ökosystem resilient auf die Störung reagiert.
Auch in Bezug auf unser Klima können wir von Resilienz sprechen: Die Fähigkeit von Ozeanen und Wäldern, CO2 aufzunehmen, also wortwörtlich zu absorbieren, hatte für eine lange Zeit zur Folge, dass sich trotz erhöhtem CO2-Ausstoß keine sofortigen Konsequenzen für das Klima ergaben. Sobald jedoch die Ozeane und Wälder gesättigt sind, hat das Klimasystem keine Möglichkeit mehr, resilient zu reagieren.
Ähnliche Beispiele lassen sich auch im technischen Bereich finden, so etwa in Bezug auf Eigenschaften von Materialien (Aufnahme von Energie in Form von Deformation oder Wärme) oder Gebäuden (Stabilität bei Wind oder Erdbeben). Sogar auf soziale Systeme wie eine Schulklasse oder eine Stadt kann das Prinzip der Resilienz angewandt werden. Der Begriff der «resilienten Gesellschaft» wurde öfter im Rahmen der Berichterstattung zu Terroranschlägen genannt. In diesem Buch liegt der Fokus auf der psychischen Resilienz eines Individuums.
Der Begriff «Resilienz» wird in der Psychologie erstmals in den 1970er Jahren verwendet. Das Konzept einer starken Psyche, die Widrigkeiten trotzt, ist jedoch nichts Neues. Schon früher beschäftigte Wissenschaftler und Philosophen die Frage, was einen Menschen gesund hält – körperlich und psychisch, denn letztendlich sind diese beiden Bereiche untrennbar miteinander verbunden. Bereits in der Antike lehrte der Stoizismus, wie ein Mensch seine Psyche stärken und besser mit Schicksalsschlägen umgehen kann. Stoische Philosophen wie Seneca oder der römische Kaiser Marc Aurel übten sich in einer Geisteshaltung von Gelassenheit und Gleichmut. Äußere Umstände können wir nicht verändern, so die Lehre, wohl aber unsere Gedanken und Reaktionen. Der französische Arzt Philippe Pinel, oftmals als «Vater der modernen Psychiatrie» bezeichnet, beschrieb um 1800, dass Unglücke, unerwartete Schicksalsschläge und schwierige Lebensumstände das Risiko für Geisteskrankheiten erhöhen. Als einer der ersten Ärzte sah er Menschen mit psychiatrischen Störungen als Behandlungsbedürftige, nicht lediglich als «Verrückte» an. Im 20. Jahrhundert widmete sich die Forschung verstärkt den Mechanismen und Zusammenhängen zwischen widrigen Erfahrungen und dem Entstehen psychiatrischer Erkrankungen. Ein besonderer Fokus lag hier auf frühkindlichen Erfahrungen und stützte sich auf Untersuchungen von Kindern, die unter schwierigen Bedingungen aufwuchsen. Forschungen von John Bowlby,[5] Mary Ainsworth[6] und Harlows Experimente mit Affen[7] um 1950 zeigten, wie wichtig die frühkindliche Erfahrung und die Bindung an die Eltern ist. Die Psychologen überschätzten zwar damals die Generalisierbarkeit und die Unumkehrbarkeit des psychologischen Schadens, den eine schlechte Bindung an die Pflegepersonen anrichten kann – doch in einer Zeit, in der jegliche Zuwendung zu Kindern als Verwöhnen angesehen wurde, war das vielleicht gar nicht so schlecht, da es zu gesellschaftlichem Umdenken führte. Anschließende Studien um 1970/80 fanden dann, dass nicht alle Kinder, die unter widrigen Lebensumständen groß werden, und nicht alle Erwachsenen, die einen Schicksalsschlag erleiden, zwangsläufig eine psychiatrische Erkrankung entwickeln. In einer großangelegten Studie untersuchten die Psychologinnen Emmy Werner und Ruth Smith die Entwicklung von Kindern aus schwierigen Verhältnissen in Hawaii. Ein Drittel der Kinder war mit zehn Jahren nicht verhaltensauffällig. Diese Kinder beschrieben die Forscherinnen als resilient.[8] Andere Studien schätzen sogar die Hälfte der Kinder, die unter schwierigen Bedingungen aufwachsen, als resilient ein.[9] In diesem Zusammenhang kam damals der Gedanke der «unverwundbaren» Kinder auf, die jegliche Widrigkeiten unbeschadet überstehen.[10] Doch auch das war eine Überinterpretation der Daten, wie wir heute wissen.
Ebenfalls in den 1970er Jahren arbeitete der Soziologe Aaron Antonovsky mit ehemaligen Insassen von Konzentrationslagern. Er stellte mit Erstaunen fest, dass näherungsweise 30 Prozent der Studienteilnehmer gesundheitlich unbeeinträchtigt waren. Er schlug vor, dass drei Aspekte zentral für diese Gesunderhaltung sind: die Fähigkeit, die Erlebnisse zu verstehen und einzuordnen, das Gefühl, die Kontrolle über das eigene Leben zu haben und es gestalten zu können, und die Überzeugung, dass Anstrengungen und Herausforderungen einen Sinn haben. Ein mit der Resilienz verwandter Begriff, der in den 1980er und 1990er Jahren en vogue war, ist der englische Ausdruck hardiness (zu Deutsch etwa «Widerstandsfähigkeit»). In einer großangelegten Studie bei einem amerikanischen Konzern, der innerhalb eines Jahres die Hälfte seiner Mitarbeiter entlassen hatte, konnten Forscher zeigen, dass Stress und Krankheit zwar zusammenhängen, dieser Zusammenhang jedoch durch Persönlichkeitsmerkmale und individuelle Verhaltensweisen beeinflusst wird.[11] Bereits damals zeigten Untersuchungen, dass bestimmte Eigenschaften und Einstellungen in Kombination mit zwischenmenschlicher Unterstützung und regelmäßiger sportlicher Betätigung einen Schutzmechanismus gegen stressinduzierte Erkrankungen darstellen.[12] Auf diese Eigenschaften und Verhaltensweisen kommen wir in Kapitel 5 (Strategien für mehr Resilienz) zurück.
Das Konzept der Resilienz steht gerade heute im Fokus der gesellschaftlichen Debatte, da Politiker, Krankenkassen und Pädagogen immer mehr den Wert der Prävention entdecken. Die neue Devise lautet, durch Förderung von Resilienz Entwicklungsstörungen, psychischen Erkrankungen und auch kriminellem Verhalten vorzubeugen.
Das Konzept der Resilienz wurde ursprünglich auf schwere Traumata und eine schwierige Kindheit angewandt. Heutzutage fällt der Begriff in vielen anderen Zusammenhängen. So gibt es beispielsweise inzwischen beim Militär Programme, die die Resilienz von Soldaten beim Einsatz in Krisengebieten stärken sollen. Ein anderes Beispiel sind Resilienztrainings in Unternehmen, die die Mitarbeiter stressresistenter und somit leistungsfähiger machen sollen. Resilienz wird immer stärker Teil des Selbstoptimierungstrends. Diese Entwicklung wird kritisiert, da sie die Verantwortung für Leistungsfähigkeit und psychische Gesundheit zum Individuum hin verschiebt, statt an gesellschaftlichen Lösungen zu arbeiten. Dies kann schnell dazu führen, dass der Einzelne dafür verantwortlich gemacht wird, wie er oder sie mit Schwierigkeiten und negativen Ereignissen umgeht. Wer eine Kündigung nicht als Entwicklungschance sieht und im Angesicht von Zukunftsangst und Finanzsorgen nicht über sich selbst hinauswächst, ist dann leicht «selbst schuld», wenn er oder sie nicht rasch eine neue Stelle findet. Dieses individualisierte Resilienzkonzept verliert aus den Augen, dass viele Stressfaktoren durch gesellschaftliche Bedingungen gegeben sind, gegen die der Einzelne nicht viel ausrichten kann. Statt gesellschaftliche Veränderungen zu fordern, wird der Resilienzbegriff dazu missbraucht, dem einzelnen Menschen mangelhafte Leistungsfähigkeit vorzuwerfen. Ein Beispiel hierfür könnte folgende Situation sein: Eine Person leidet unter dem Verlust eines geliebten Menschen, doch wird bei der Arbeit nach ein oder zwei Wochen wieder voller Einsatz erwartet. Kann der Arbeitnehmer diesen nicht bringen, wird ihm oder ihr mangelhafte Resilienz vorgeworfen – anstatt die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der trauernde Mensch mehr Freiraum bekommt und Unterstützung durch eine Gemeinschaft erfährt.
Trotzdem ist der Wunsch des Einzelnen, seine Resilienzfähigkeit zu steigern, natürlich legitim. Auch sind Präventionsprogramme für Kinder und Jugendliche dringend nötig. Daher beschreibe ich im letzten Teil dieses Buches Strategien, wie man Resilienz fördern kann. Allerdings sollte im Auge behalten werden, dass chronischer Stress und negative Lebensereignisse uns immer belasten werden, selbst wenn wir alle bekannten Strategien für Resilienz nutzen. So wird Resilienz den Verlust eines geliebten Menschen nicht weniger schmerzhaft machen. Und, um es noch einmal zu wiederholen: Die Verantwortung für die Verarbeitung von Traumata und dauerhaftem Stress darf nicht ausschließlich beim Individuum liegen – vielmehr können und sollten die Gemeinschaft und die Politik aktiv zur Resilienzförderung beitragen.
Um das Konzept der Resilienz besser zu verstehen, wollen wir uns zunächst dem Stresserleben und dessen Verarbeitung zuwenden. Umgangssprachlich wird der Begriff Stress meist genutzt, um auszudrücken, dass wir «zu viel zu tun haben». Wir wollen hier diese Definition erweitern, um das psychologische Konzept der Stressoren mit einzubeziehen. «Stress» ist unsere Reaktion auf einen Stressor, also einen Reiz, der die innere Balance unseres Körpers (die «Homöostase») stört.[13] Dabei lässt sich zwischen positivem Stress, dem sogenannten Eustress, und negativem Stress, dem sogenannten Disstress, unterscheiden. Nicht nur die Anzahl der vorhandenen Stressoren bestimmen den individuellen Stresslevel, sondern auch die Art des jeweiligen Stressors. So hat die Trennung vom Partner einen größeren Einfluss auf das Stresserleben als ein Umzug in einen anderen Stadtteil. Um dies messbar zu machen, entwickelten die Psychiater Thomas Holmes und Richard Rahe in den 1960er Jahren eine Skala, die die gängigsten positiven und negativen Stressoren quantifiziert. Die Social Readjustment Rating Scale[14] weist den Stressfaktoren Werte zu, deren Größe davon abhängt, wie stark sie das Leben verändern. So erhält der Verlust des Ehepartners 100 Punkte, eine Scheidung 73 Punkte, ein Gefängnisaufenthalt 63 Punkte, der Jobverlust 47 Punkte und eine Schwangerschaft 40 Punkte. Am unteren Ende finden sich unter anderem eine Veränderung der Schlafgewohnheiten mit 16 Punkten und der Essgewohnheiten mit 15 Punkten. Die Bewertung der Einflussstärke dieser Ereignisse hat sich sicherlich heutzutage im Vergleich zu 1960 verändert. Eine neuere Version der Skala wurde 1998 veröffentlicht,[15] doch auch diese muss kritisch betrachtet werden, da sie auf einer Stichprobe beruht, die mehr Frauen als Männer und mehr Menschen kaukasischer als anderer Abstammung umfasste (zu dieser Problematik siehe auch Kapitel 3).
Diese Skalen bieten einen Ansatzpunkt, Stressoren zu quantifizieren. Doch unterscheidet sich der Einfluss eines Stressors von Person zu Person. Dies verdeutlicht das Stressmodell von Lazarus aus den 1980er Jahren. Der Psychologe Richard Lazarus entwickelte eine Stresstheorie, die die individuelle Bedeutung vorhandener Stressoren in den Mittelpunkt rückte.[16] Anforderungen, die für den einen schon Stress sind, können für den anderen genau richtig, ja wünschenswert sein. Lazarus’ Theorie beinhaltet außerdem einen wichtigen Zwischenschritt zwischen dem Auftreten eines Stressfaktors und der Reaktion der betroffenen Person darauf: die Bewertung. Das Modell geht davon aus, dass ein Stressfaktor zuerst als irrelevant, positiv oder negativ eingeordnet wird. In einem zweiten Schritt bewertet der Betroffene, welche Ressourcen ihm oder ihr zur Verfügung stehen, um auf den Stressfaktor zu reagieren. Erst wenn in diesem Schritt ein Mangel an Ressourcen erkannt wird, führt der Stressor tatsächlich zum Empfinden von Stress. Nun muss der Betroffene auf diesen Stress reagieren. Die Art und Weise, wie wir Stress bewältigen, nennt man «Coping». Hat der oder die Betroffene den Stressfaktor erfolgreich bewältigt, kann im nächsten Schritt eine Neubewertung des Stressors als weniger negativ stattfinden, so Lazarus.
Ein weiteres Modell, mit dem die Psychologie individuelle Unterschiede der Stressreaktion erklärt, ist das sogenannte Vulnerabilitäts-Stress-Modell. Dieses besagt, dass zwei Faktoren zu unserer Resilienz beitragen: sowohl die individuelle Veranlagung dafür, wie sensibel oder verletzlich man auf Stress reagiert, die Vulnerabilität, als auch die Menge an Stress, der der Einzelne ausgesetzt ist. Gemeinsam bestimmen diese Faktoren, wann die individuelle Schwelle der Belastbarkeit erreicht ist und wann negative Erlebnisse zu einer psychischen Erkrankung führen. Dieses Modell besagt, dass wir aufgrund unterschiedlicher Vulnerabilität mehr oder weniger Stress verkraften können. Die individuelle Vulnerabilität wird dabei häufig veranschaulicht als ein Gefäß, das ein unterschiedlich großes Fassungsvermögen für Stressfaktoren haben kann. Dieses Bild stellt die individuelle Fähigkeit zur Stressbewältigung als statisch und unveränderbar dar. Dass dies nicht richtig ist, werden wir im Verlauf dieses Buches sehen. Ein Vorteil des Vulnerabilitäts-Stress-Modells ist, dass es gut verdeutlicht, weshalb uns nicht nur Naturkatastrophen, Kriege oder andere hochtraumatische Ereignisse aus der Bahn werfen können. Solche Erlebnisse würden als eine einmalige, große Menge Stress das Gefäß zum Überlaufen bringen. Doch ebenso kann ein kontinuierlicher, langsamer Zufluss von Stress auf Dauer das Gefäß bis an sein Fassungsvermögen füllen: Chronischer Stress kann uns auf Dauer ebenso schaden.
Um Resilienz verstehen zu können, müssen wir uns zuerst den biologischen Reaktionen des Körpers auf Stress zuwenden. Wenn wir einem Stressor ausgesetzt sind, reagieren wir, und zwar möglichst so, dass wir unser Gleichgewicht – wir könnten auch sagen «unseren Normalzustand» – wieder erreichen. Dieses Erhalten des Gleichgewichts wird «Allostasis» genannt, was so viel heißt wie «Stabilität erreichen durch Veränderung». Wir müssen bei der Definition von Gleichgewicht gar nicht festlegen, ob es sich um einen physiologischen oder um einen psychologischen Zustand handelt. Beide Bereiche sind eng miteinander verknüpft und lassen sich eigentlich gar nicht voneinander trennen. Unsere psychischen Zustände sind immer auch ein physiologischer Vorgang, vermittelt durch die Aktivität von Neuronen oder andere biologische Mechanismen. Dafür lassen sich leicht Beispiele aus beiden Bereichen, dem psychischen und dem physiologischen, finden. Ein physiologischer Stressor kann zum Beispiel ein Krankheitserreger sein. Der Körper reagiert mit einer Immunantwort, um den gesunden Zustand wiederherzustellen: das ist die Allostasis.[17] Die Trennung von einem Partner ist ein psychischer Stressor, aber die mögliche Reaktion hierauf, etwa eine depressive Verstimmung, lässt sich auch physiologisch nachweisen, anhand erhöhter Cortisolwerte, erhöhter Entzündungsmarker, veränderter neuronaler Aktivität und veränderter Neurotransmitterkonzentrationen. Die Reaktion, das Herstellen des psychischen Gleichgewichts durch Verarbeitung der Trennung, geht auch mit einer Normalisierung aller dieser physiologischen Werte einher. Kommen allerdings zu viele Stressoren zusammen oder hat der Körper keine Zeit, sich von einem dauerhaft vorhandenen Stressor zu erholen, gerät der Betroffene in den Zustand der allostatischen Überlastung.[18] Dieser Zustand kann auch eintreten, wenn der Körper die allostatische Reaktion nicht wieder beendet, obwohl bereits ein Gleichgewichtszustand erreicht ist – etwa wenn das Immunsystem aktiv bleibt, nachdem eine Krankheit erfolgreich bekämpft ist, oder wenn eine depressive Verstimmung sich in eine Depression verwandelt. In Form der Allostasis ist die Stressreaktion also eine wichtige, notwendige Form der Anpassung an Stressoren und an Herausforderungen unserer Umwelt, die zum Leben dazugehören. Gerät aber der Vorgang des Sich-Anpassens selbst aus der Balance (allostatische Überlastung), können die Folgen schädlich für die Gesundheit sein.
Die Details der Stressreaktion des Körpers unterscheiden sich je nach Stressor. Es gibt jedoch einen Mechanismus, der bei der akuten Reaktion auf alle Stressoren zentral ist. Im Mittelpunkt steht dabei die «Hypothalamic-pituitary-adrenal axis», kurz HPA-Achse.[19] Der Name fasst die wichtigsten Regionen zusammen, die unsere Stressreaktion kontrollieren: den Hypothalamus, die Hypophyse und die Nebenniere. Der Hypothalamus und die Hypophyse liegen direkt benachbart weit unten im Gehirn, in einem entwicklungsgeschichtlich alten Bereich. Diese beiden Regionen steuern das autonome Nervensystem, also die Teile unseres Nervensystems, die unbewusst ablaufen und vor allem die grundlegenden Körperfunktionen regulieren, wie beispielsweise Atmung, Körpertemperatur und Verdauung. Bei Stress schüttet der Hypothalamus Botenstoffe aus, welche die Hypophyse anregen, das sogenannte adrenocorticotrope Hormon freizusetzen. Dieses löst dann wiederum in der Nebenniere die Freisetzung von Glucocorticoiden aus, wozu auch das bekannte Stresshormon Cortisol zählt. Cortisol erhöht die Aktivität des sympathischen Nervensystems, den Teil des autonomen Nervensystems, der unseren Körper in einen aktiven Zustand versetzt: Die Verdauung wird verlangsamt, dafür steigt der Blutzuckerspiegel, wodurch den Muskeln und dem Gehirn Energie zur Verfügung gestellt wird, Atmung und Herzschlag werden schneller.
Diese Reaktion war für unsere Vorfahren sehr sinnvoll: Im Falle einer Bedrohung mussten sie entweder kämpfen oder fliehen («fight or flight»). Dafür brauchten sie sowohl Energie als auch höchste Konzentration. Vor diesem Hintergrund macht es auch Sinn, dass die Stressreaktion zuerst einmal unbewusst abläuft und sich nicht leicht beeinflussen lässt. Die HPA-Achse verfügt aber auch über einen Rückkopplungsmechanismus, über den sich die Stressreaktion selbst reguliert: Erhöhtes Cortisol unterdrückt nach einer Weile die Aktivität des Hypothalamus, so dass der Cortisollevel wieder fällt. Allerdings können viele weitere Faktoren dieses System beeinflussen, und die natürliche Regulation ist individuell variabel. Hinzu kommt, dass dauerhafter Stress den Rückkopplungsmechanismus schwächt, was dann zu Burn-out führt.[20] Wer längere Zeit unter Stress leidet, hat einen dauerhaft erhöhten Cortisolspiegel, zeigt aber eine abgeschwächte Reaktion auf akuten Stress. Das Stresssystem ist allerdings deutlich empfindlicher geworden: Nach einem stressigen Ereignis dauert es länger, bis das Cortisol wieder auf seinen Grundlevel sinkt.[21]