Heribert Schwan

Leben und LeideN der

Hannelore Kohl

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Copyright © 2011 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Satz: EDV-Fotosatz Huber/Verlagsservice G. Pfeifer, Germering
ISBN 978-3-641-05846-3
V003
www.heyne.de

VORWORT

Ja, ich musste es tun, ich musste aufschreiben, was ich wusste, was ich neu entdeckte; was meine Recherchen erbrachten und was mir die Frau an seiner Seite anvertraut hatte und was ich jahrelang mit mir herumtrug.

Hannelore Kohl begegnete mir erstmals Mitte der Achtzigerjahre, als ich eine Biografie über ihren Mann schrieb und anschließend ein Fernsehporträt drehte. Ihr abgrundtiefes Misstrauen Journalisten gegenüber bekam auch ich zu spüren. Immerhin lud sie mich nach wochenlangem Warten zu ausgiebigen Interviews ein, in denen sie offen über ihre Doppelrolle als treusorgende Mutter und Kanzlergattin sprach. Über mein Angebot, ihr soziales Engagement als Präsidentin des Kuratoriums ZNS in einem Fernsehfilm zu dokumentieren, kamen wir erneut zusammen. Im Juli 1988 strahlte der WDR mein Hannelore-Kohl-Porträt aus, das auf breite positive Resonanz stieß. In den folgenden Jahren gab es eine Reihe von Begegnungen, bei denen ich spürte, dass sie meine journalistische Tätigkeit als Redakteur und Moderator im Deutschlandfunk ebenso schätzte wie meine zahlreichen Politikerbiografien und Fernsehdokumentationen.

Nach Helmut Kohls Abwahl 1998 gehörte ich zu einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern und Publizisten, die dem Kanzler der Einheit beim Schreiben seiner Memoiren half. Damit begann eine für jeden Historiker spannende Forschungstätigkeit, die mich an vielen Wochenenden und freien Tagen nach Ludwigshafen führte. Zweieinhalb Jahre erlebte ich Hannelore Kohl bis drei Tage vor ihrem Tod als engagierte Mitarbeiterin und verlässliche Ideengeberin bei den Erinnerungen ihres Mannes. In dieser Zeit der Zusammenarbeit ergab sich die Gelegenheit zu ausgiebigen Gesprächen auch mit ihr. Ich erlebte eine Hannelore Kohl, die mir in einer nie gekannten Offenheit Dinge anvertraute, von denen ich zuvor nicht die leiseste Ahnung hatte. Bei stundenlangen nächtlichen Spaziergängen im Maudacher Bruch bei Ludwigshafen oder bei unseren Vieraugengesprächen in ihrem abgedunkelten Bungalow schüttete sie mir ihr Herz aus. Ich erfuhr von menschlichen Tragödien und Geheimnissen, die sie offenbar nicht länger für sich behalten wollte, über die sie nicht länger schweigen konnte. Entgegen ihrer jahrzehntelang praktizierten Strategie, nichts Privates öffentlich zu machen und vor allem auf ihren Mann und noch viel mehr auf ihre Kinder nichts kommen zu lassen, befreite sie ihre Seele vom Druck des Verschweigens, des Vertuschens und Verdrängens. Vieles war für mich nicht gleich erklärbar, und manches erschloss sich erst nach ihrem Tod.

Hannelore Kohl wusste sehr genau, dass ich jener Berufsgruppe angehöre, die nicht zur Verschwiegenheit verpflichtet ist. Die wichtigste Funktion meines Berufes als Journalist, Film- und Buchautor liegt im Publizieren. Deshalb durfte ich ihre ungewohnte Offenheit, ihr ungebrochenes Mitteilungsbedürfnis als ein Vermächtnis verstehen: Hannelore Kohl bedeutete mir, dass ich eines Tages das veröffentlichen soll, was sie mir in den vielen Monaten und Wochen vor ihrem Tod anvertraute.

Mit ihren beiden Söhnen hatte ich über Monate Gesprächskontakte, die in dem Moment abgebrochen wurden, als ich nicht zur Zusammenarbeit an einem gemeinsamen Buchprojekt bereit war.

Mit Helmut Kohl verband mich nach seiner Kanzlerschaft die Mitarbeit an seinen Memoiren. Die Rolle seiner Gattin war dabei ein wichtiges Thema. Eine Woche nach Hannelore Kohls Beisetzung traf ich auf einen tief erschütterten und, so meine Deutung seines Verhaltens, auch vom schlechten Gewissen geplagten Altkanzler. In dieser Verfassung beschrieb er ausführlich die fundamentale Bedeutung der Frau an seiner Seite für sein bewegtes Leben und seine glänzende politische Karriere.

Im vorliegenden Buch versuche ich nach bestem Wissen und Gewissen, das schwere Leben der Hannelore Kohl nachzuzeichnen. Ein Leben, das geprägt war von Verlust, schweren Einschnitten und regelrechten menschlichen Tragödien. Dass die Spendenaffäre ihres Mannes und deren mediale Auswirkungen für Hannelore Kohl der Todesstoß waren, steht nach Meinung Vieler, auch ihrer engsten Freundinnen, außer Zweifel. Hinzu kommen weitere Gründe, die wohl in der Gesamtheit zu ihrem Selbstmord führten: Ihre große Einsamkeit, ihr fortwährendes Gefühl, verlassen zu sein, ihre niemals therapeutisch aufgearbeiteten traumatischen Erlebnisse im Krieg und auf der Flucht und schließlich das Drama ihrer schweren Krankheit. Mit den Werkzeugen des Historikers allein ist eine solche Biografie nicht zu schreiben. Ich habe deshalb zwei namhafte Mediziner um Mithilfe gebeten. Besonderer Dank gilt Professor Dr. med. Luise Reddemann, ausgebildete Nervenärztin und Psychoanalytikerin, langjährige Leiterin der Klinik für Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin des Evangelischen Johannes-Krankenhauses in Bielefeld und derzeit Honorarprofessorin für Psychotraumatologie und Psychologische Medizin an der Universität Klagenfurt. Danken möchte ich auch Dr. med. Bertram von der Stein, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Rehabilitationswesen. Ohne ihre Unterstützung wäre die vorliegende Biografie unvollständig geblieben.

Mein Dank gilt auch dem Mitbegründer des Kuratoriums ZNS und der Hannelore-Kohl-Stiftung, Professor Dr. med. Dr. phil. Klaus Mayer. Der ehemalige Ärztliche Direktor an der Neurologischen Universitätsklinik in Tübingen war von 1983 an bis zu Hannelore Kohls Tod der wichtigste Sachverständige und einflussreichste Berater der Kanzlergattin. Ohne ihn wäre die Hannelore-Kohl-Stiftung nicht zu diesem großen Erfolg geworden. Zur Geschichte von Hannelore Kohls sozialem Engagement lieferten die ehemalige ZNS-Mitarbeiterin Amalie Barzen und der frühere ZNS-Geschäftsführer Rolf Wiechers unverzichtbare Hintergrundinformationen.

Zu den Freundinnen, die Hannelore Kohl über Jahre hinweg und bis zu ihren letzten Tagen begleitet haben, zählt insbesondere Rena Krebs. Seit den gemeinsam verbrachten frühen Kindertagen in Leipzig war sie für Hannelore Kohl eine der wichtigsten und vertrautesten Gesprächspartnerinnen, vor allem für die großen Familienthemen. Für mich gehörte sie als Vorkriegs- und Kriegskind zu den unverzichtbaren Zeitzeuginnen. Sie hat meine Arbeit konstruktiv und kritisch begleitet und durch ihre Gedanken und Fragen bereichert.

Kohls langjähriger Haushälterin Hilde Seeber und ihrem Mann Ecki, Vertrauter und Chauffeur des Kanzlers, verdanke ich vielfältige Unterstützung, bei der sie niemals die Gebote von Loyalität und Verschwiegenheit verletzten. Beide waren auch für Hannelore wichtige Stützen in allen Lebenslagen.

Danken möchte ich nicht zuletzt den vielen treuen Freundinnen, Nachbarn und Verwandten väterlicherseits, die mir manchen Hinweis gaben und damit das Bild des Menschen Hannelore Kohl abrundeten.

Verlässliche Informationen lieferten Damen und Herren aus kirchlichen, kommunalen und staatlichen Archiven von Berlin, Bremen, Döbeln, Dresden, Grimma, Leipzig, Ludwigshafen, Mutterstadt, Speyer und Taucha. Auch ihnen ein Dankeschön für professionelle Auskünfte und die Bereitstellung aussagekräftiger Dokumente.

Köln, im April 2011

Kapitel 1

WURZELN

Die lateinische Totenmesse mit Giuseppe Verdis »Requiem« war verklungen. Im Dom zu Speyer hatten über tausend Trauergäste aus dem In- und Ausland Abschied von Hannelore Kohl genommen. Es war der 11. Juli des Jahres 2001. Zum Abschluss hatte der Chor das Lied »Nun danket alle Gott« angestimmt. Dann wurde der mit roten Rosen bedeckte Sarg aus dem katholischen Gotteshaus getragen. Ihm folgten tief versteinert Helmut Kohl, seine Söhne und Schwiegertöchter. Hannelores Sarg wurde zum 25 Kilometer entfernten Friedhof Ludwigshafen-Friesenheim gebracht. Gegen 17 Uhr fand dort die Beerdigung im engsten Familien- und Freundeskreis statt. Nach einem kurzen Gebet in der kleinen Friedhofskapelle erfolgte die Beisetzung im Familiengrab. Als der Sarg vor den über sechzig Verwandten und Freunden in die Erde gesenkt wurde, nahm Hannelore Kohl lange Jahre bewusst gehütete Geheimnisse mit ins Grab. Kaum jemand wusste, dass sie noch zu Lebzeiten die Weichen dafür gestellt hatte, dass nach ihrem Tod lange Verschwiegenes einmal öffentlich gemacht werden konnte.

* * *

Der 7. März 1933, ein Dienstag, präsentierte sich im Nordosten Deutschlands als grauer, kühler Tag. Die Temperaturen in Berlin stiegen nur wenig über null Grad. Auf dem Programm der Staatsoper Unter den Linden stand Mozarts Idomeneo, im Staatlichen Schauspielhaus wurde Goethes Faust II gegeben, und das Theater im Admiralspalast warb für die Operette Frühlingsstürme von Jaromir Weinberger mit Kammersänger Richard Tauber in der Hauptrolle. In der Reichshauptstadt blühte das kulturelle Leben, die Berliner sahen hoffnungsvoll dem Frühling entgegen. Seit 36 Tagen amtierte Adolf Hitler als Reichskanzler. Für viele Anhänger der nationalsozialistischen Bewegung war mit Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 ein Traum in Erfüllung gegangen. Deutschland hatte eine »historische Wende« vollzogen, die durch das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 5. März 1933 untermauert worden war. In der Folge sank die Zahl der Arbeitslosen in Deutschland erstmals unter die Sechsmillionengrenze, es ging nach Jahren der Rezession endlich wieder aufwärts. Ein teuer erkaufter Erfolg, der nur ein Ziel kannte: Deutschland auf einen Krieg vorzubereiten, den damals kaum jemand kommen sah.

An jenem 7. März erblickte Hannelore Renner morgens um 11 Uhr in der Berliner Bavaria-Klinik im Stadtbezirk Schöneberg das Licht der Welt – zwei Monate vor dem errechneten Termin. Die Klinik in der Münchener Straße war das nächstgelegene Krankenhaus zum Wohnsitz des Ehepaars Wilhelm und Irene Renner in der Kaiser-Wilhelmstraße 153 in Berlin-Lankwitz. Die Geburt selbst war reibungslos verlaufen, obwohl Hannelores Mutter nach damaliger Ansicht mit 35 Jahren bereits zu den Spätgebärenden zählte. Große Sorgen indes bereitete den glücklichen Eltern die frühe Geburt des Kindes. Hannelore war als Siebenmonatskind noch vor Vollendung der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt gekommen und wog weniger als 2500 Gramm. Kurz nach der Geburt musste sie intubiert und vorübergehend künstlich beatmet werden. Die Eltern fürchteten, die inneren Organe könnten durch die kurzfristige Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr Schäden genommen haben. Die Sorgen um das lang ersehnte Wunschkind legten sich erst, als die Ärzte dem Säugling eine erstaunlich gute Konstitution bescheinigten und eine normale Entwicklung prognostizierten.

Sechs Tage nach Hannelores Geburt erschien der stolze Vater, der wenige Wochen zuvor 43 Jahre alt geworden war, auf dem Standesamt in Schöneberg. In »Anwesenheit des Ingenieurs Renner« – so ist es protokolliert – stellte ein Standesbeamter Hannelores Geburtsurkunde aus, die mit der Nummer 58 versehen wurde.

Wilhelm und Irene Renner hatten sich während der »Goldenen Zwanzigerjahre« in Berlin kennengelernt und am 2. Februar 1929 in Bremen, Irenes Geburtsort, standesamtlich geheiratet. Wenige Monate später führte der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise zu Unternehmenszusammenbrüchen, massiver Arbeitslosigkeit und Deflation. Die Renners nahmen das Ende der goldenen Ära allerdings kaum zur Kenntnis. Dank der gesicherten beruflichen Existenz des erfolgreichen Ingenieurs aus der Pfalz blieb die Wirtschaftskrise ohne nennenswerte Auswirkungen auf das sorgenfreie Leben des frisch vermählten Paares.

Wilhelm Renner war am 15. Januar 1890 im pfälzischen »Großdorf« Mutterstadt als erstes von fünf Kindern – drei Jungen und zwei Mädchen – geboren worden. Er stammte keineswegs aus ärmlichen Verhältnissen, wie immer wieder kolportiert wird. In seiner Geburtsurkunde, die die Eltern als der »protestantischen Religion« zugehörig ausweist, wird als Beruf des Vaters Johannes Renner XIII. »Ackersmann und Dreschmaschinenbesitzer« angegeben. Er betrieb eine kleine Landwirtschaft als Nebenerwerb und vermietete seine Dreschmaschine an andere Bauern, was ihm im Sommer eine stattliche Summe Reichsmark einbrachte. Im Hauptberuf war der gelernte Schlosser Werkstattbesitzer und reparierte Fahrräder, Motorräder und landwirtschaftliche Maschinen, später auch Kraftfahrzeuge. Der Betrieb mit einigen Angestellten florierte und galt als eines der führenden Kleinunternehmen in der Region. Die Familie brachte es über die Jahre zu einigem Wohlstand und zählte zu den angesehensten des Dorfes. Zur Unterscheidung der verschiedenen »Renner-Stämme« im Ort behalfen sich die Bürger einer einfachen Zuordnungsmethode: Aufgrund der Haarfarbe hieß Wilhelms Familie Renner-Schwarz, die seines Onkels wurde Renner-Weiß genannt.

Der Erstgeborene von Johannes und Elisabeth Renner, einer geborenen Schorr, zeichnete sich früh durch Zielstrebigkeit und eine gehörige Portion Ehrgeiz aus. Nach einem überdurchschnittlichen Schulabschluss absolvierte er eine Mechanikerlehre, die in den Augen seiner Eltern eigentlich das Ende seiner Ausbildung hätte sein sollen. Doch der aufgeweckte Junge, der vom Elternhaus politisch eher in sozialdemokratischer Richtung erzogen worden war, strebte nach Höherem und wollte Ingenieur werden. Mit 18 Jahren legte er die Prüfung an der Mannheimer Ingenieurschule ab und trug fortan voller Stolz den Titel »Elektroingenieur«.

Nach einem kurzen Zwischenspiel als Berufsanfänger in der pfälzischen Heimat zog es Wilhelm Renner in die Ferne. Im Jahr 1910 ging er auf Wanderschaft und landete eines Tages in Berlin, genauer im Ingenieurbüro »Julius Pintsch AG« in der Friedrichshainer Andreasstraße. In diesem weit über die Grenzen der Stadt bekannten Großbetrieb für Beleuchtungsanlagen und Rüstungstechnik fand Renner eine Anstellung als Konstruktionsingenieur. Sein neuer Arbeitgeber entwickelte Gasdruckmesser für die Industrie und erhielt Großaufträge für die Herstellung von Gasbeleuchtungsgeräten. Später spezialisierte sich das Unternehmen auf Gasbeleuchtungen für Eisenbahnen.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 fanden die Karriereträume des jungen Mannes ein vorläufiges Ende. Wilhelm Renner wurde – wie Tausende seiner Generation – eingezogen. Doch der Pfälzer hatte Glück. Anstatt in den Schützengräben der Front kämpfen und sein Leben aufs Spiel setzen zu müssen, kam der Ingenieur bei der Fliegertruppe unter und landete in einer Entwicklungsabteilung für Funk- und Funktelegrafiegeräte. Für Renner war die Kriegszeit auf diese Weise vor allem von neuen fachlichen Herausforderungen geprägt, die sich für seine weitere Karriere als äußerst hilfreich erweisen sollten.

Nach dem Ende des für alle beteiligten Nationen so fürchterlich verlustreichen Ersten Weltkriegs kehrte Wilhelm als Feldwebel der Reserve zurück zu seinem alten Arbeitgeber. Mit neuen Ideen und jeder Menge fachlicher Erfahrung ausgestattet, kehrte er in seine Position als Konstruktionsingenieur bei der Julius Pintsch AG zurück.

1926 quittierte Wilhelm nach acht Jahren seinen gut bezahlten Job, da er bei Pintsch keine Aufstiegschancen sah. Und das in einer Zeit, als sich die Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik langsam zu einem drängenden Problem entwickelte. Dank bester Verbindungen trat der in seiner Branche geschätzte Experte in das bekannte Berliner Ingenieurbüro Koch & Kienzle ein. In diesem 1918 gegründeten »ersten freiberuflichen Unternehmen für Rationalisierungszwecke« wurde der ehrgeizige Renner rasch zum Abteilungsleiter berufen.

In dieser Zeit lernte er seine große Liebe Irene Merling kennen. Lisa Maria Irene wurde laut Geburtsurkunde vom 3. Januar 1898 am 31. Dezember 1897 im elterlichen Haus in der Bremer Georgstraße 31 in der heutigen Bahnhofsvorstadt geboren und vermutlich evangelisch getauft. In den einschlägigen Archiven findet sich für Irene Merling allerdings kein Eintrag im Taufregister. Sie stammte im Gegensatz zu ihrem späteren Ehemann aus einer großbürgerlichen Akademikerfamilie. Ihr Vater war der renommierte Rechtsanwalt und Notar Dr. jur. Magnus Phil. Emil Merling, ihre Mutter Elsa Margaretha, geborene Mey, war die Enkelin von Ernst Mey, der 1870 zusammen mit Bernhard Edlich die Herrenausstatterfirma »Mey & Edlich« gegründet hatte. Irene, die mit zwei Brüdern und einer älteren Schwester aufwuchs, galt als musisch und sprachlich besonders begabt und besuchte die höhere Töchterschule. Ob sie anschließend eine Ausbildung absolvierte, liegt im Dunkeln. Bekannt ist indes ihre spätere Tätigkeit als Ansagerin beim Rundfunk, der von 1923 an regelmäßig aus dem Voxhaus in Berlin sendete. Was ihre eigentliche Profession war, lässt sich nicht schlüssig belegen – in der Familie galt sie als »Künstlerin«. Im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester Ilse aber, die in Amerika erfolgreiche Auftritte als Schauspielerin und Sängerin hatte, beruht Irenes Karriere als »Künstlerin« nur auf Vermutungen. Überliefert ist, dass sie die Kunst des Pfeifens in herausragender Weise beherrschte. Aus ihrem Mund ertönten Melodien, wie sie variationsreicher nicht sein konnten. Auch ihre Begabung beim Karten- und Tischtennisspiel, die sie bis ins hohe Alter gerne unter Beweis stellte, scheinen legendär gewesen zu sein.

Als die lebenslustige Bremerin Wilhelm Renner im Februar 1929 heiratete, gab sie ihren Job beim Rundfunk auf und war fortan die attraktive und stets elegant gekleidete Frau an seiner Seite.

Der rastlose Wilhelm Renner, immer auf der Suche nach besseren, lukrativeren und einflussreicheren Jobs, nahm als kapp 44-Jähriger zum 1. Januar 1934 ein Angebot des Leipziger Rüstungskonzerns »Hugo Schneider Aktiengesellschaft« (HASAG) an, das sein Leben und das seiner Familie nachhaltig prägen sollte. Die kleine Hannelore war knapp neun Monate auf der Welt, als die Familie von Berlin nach Leipzig zog.

LEBEN IN LEIPZIG

Die einzige Außenhandelsmesse des Dritten Reiches hatte mit der »Schau rein deutscher Waren« ihre Herbstmesse des Jahres 1933 gerade beendet. Die Rede des NSDAP-Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler am Leipziger Völkerschlachtdenkmal war bereits Geschichte, als die Möbelpacker mit ihrem Lastwagen vor dem Haus Montbéstraße 41 in der Nordwestvorstadt von Leipzig hielten. Sie schleppten ansehnliche Möbelstücke und Teppiche, wunderbares Porzellan und wertvolles Geschirr in die geräumige Wohnung im ersten Stock des 1927 erbauten gutbürgerlichen Sechs-Parteien-Hauses. Das stadtnahe und doch freistehende Haus befand sich im Privatbesitz und wurde an solvente Familien vermietet. Die Straße war 1903 nach dem Stadtkommandanten von Leipzig und General der Infanterie Alban von Montbé (1874 – 1885) benannt worden. Als Hannelore Kohl nach der Wende einmal ihre alte Heimat besuchte, war der Name Montbé verschwunden. Im Jahr 1950 war die Straße nach dem französischen Maler Manet umbenannt worden, von 1985 an hieß sie Kommandant-Trufanow-Straße – nach dem ersten sowjetischen Militär-Kommandanten von Leipzig, Generalleutnant Nikolai Iwanowitsch Trufanow. 1999 wurde der Straßenname in Trufanowstraße geändert.

In dieser traditionell besten Wohnlage der bevölkerungsreichsten Stadt Sachsens lebte die Familie über zehn Jahre. Hier verbrachte Hannelore die schönste Zeit ihrer Kindheit, vielleicht sogar ihres Lebens. Die neue, hochmoderne Wohnung mit Fernheizung verfügte über fünfeinhalb geräumige Zimmer mit hohen Decken und einen auffallend langen, breiten Flur. Eltern- und Kinderschlafzimmer-, Ess-, Herren- und Damenzimmer und das Zimmer für die Hausangestellte, Küche mit Balkon, Bad und separate Toilette und Wintergarten sowie ein gepflegter Garten mit gepflastertem Hof und Sandkasten machten den herrschaftlichen Wohnsitz für die dreiköpfige Familie komplett.

In ihrem akribisch geführten Tagebuch, aus dem Peter Kohl in seinem zusammen mit Dona Kujacinski geschriebenen Buch Ihr Leben ausführlich zitiert, hält Irene Renner nicht nur den Alltag im neuen Domizil fest, sondern protokolliert vor allem die Entwicklung ihrer Tochter. So machte »Püppi« am ersten Januar 1934 erstmals »bitte, bitte«. Und zwanzig Tage später stand Hannelore auf ihren wackligen Beinchen, ganz »ohne Anfassen«. Den ersten Zahn verzeichnete Mutter Irene am ersten Februar 1934. Am 4. November des gleichen Jahres besuchte »Püppi« mit ihrer Mutter den Zirkus Krone in Leipzig. Ob die Renner-Tochter in diesem frühen Alter mit Menschen, Tieren und Sensationen tatsächlich etwas anfangen konnte, darf bezweifelt werden. Im Tagebucheintrag vom ersten März 1935 ist von »Keuchhusten« zu lesen. Am 3. Mai 1935 wurde »Püppi« mit gerade mal zwei Jahren in den Kindergarten aufgenommen und am 9. Oktober bekam sie die erste private Turnstunde. Wenige Tage später ging es erneut in den Zirkus. Diesmal besuchte Hannelore den berühmten »Zirkus Busch«. Mutters Tagebucheintag: »Musik und Tiere finden großes Interesse. Clowns erregen Trauer.«

An Hannelores drittem Geburtstag wurde eine große Kinderparty veranstaltet. Von der Mutter perfekt organisiert, tummelte sich ein gutes Dutzend Kinder an der fürstlich gedeckten Tafel. Danach gab es über mehrere Stunden jede Menge Unterhaltungsprogramm – von Versteck- und Gespensterspielen bis zu lautem Topfschlagen. Dabei entstanden Erinnerungsfotos, die eine überglückliche »Püppi« zeigen. Die Palette der Geschenke dürfte bei so manchem Zögling aus der Nachbarschaft eine Portion Neid hervorgerufen haben. Im Hause Renner herrschte ein Maß an Überfluss, wie er in jener Zeit nur in der Oberschicht zu erleben war. Hannelore besaß während der ersten Jahre ihrer Kindheit immer die neuesten und attraktivsten Spielzeuge, die besten Roll- und Schlittschuhe. Der Vater überschüttete die angebetete Tochter mit einer ungeheuren Fülle ausgesuchter Spielsachen auch außerhalb der Weihnachtszeit oder den Geburtstagen: Immer als erste hatte »Püppi« ein Dreirad, einen Tretroller, später ein Fahrrad oder Skier. Ihr Vater baute ihr ein Kletterhäuschen und überraschte sie einmal mit einem riesengroßen Puppenhaus mit über sechzig Biegepuppen. Woran sich ehemalige Nachbarskinder heute noch lebhaft erinnern, ist ein »Spielhaus«, das Hannelore zu Weihnachten bekommen hatte. Im Herrenzimmer hatte Vater Wilhelm ein komplett möbliertes Haus mit Blumenkästen und Türen bauen lassen, in das Hannelore und ihre Freundinnen aufrecht hineingehen konnten. Ein solches Geschenk ließ sich kaum noch steigern. Während in vielen Familien die Väter durch Abwesenheit glänzten und mit Geschenken mangelnde Zeit kompensieren wollten, scheint Hannelore in dieser Hinsicht doppelt begünstigt gewesen zu sein. Sie bekam vom Vater beides: eine Menge Zuwendung und Warmherzigkeit – und das volle Verwöhnprogramm.

Hannelores Vater war eine außergewöhnliche Erscheinung. Ihre Freundinnen mochten ihn sehr, weil er anders war als ihre Väter. Der immer tiefbraun gebrannte, sportlich ambitionierte und durchtrainierte Mittvierziger besaß einen farbenprächtigen Sportwagen, der mit allen denkbaren Extras und technischen Finessen ausgestattet war. Gerne zeigte er seine Fahrkünste, wenn Hannelore auf seinem Schoß saß, und er einige Runden auf dem gepflasterten Hof drehte. Fabrikdirektor Renner verfügte als einziger Mann im Hause Montbéstraße 41 über einen geräumigen Dienstwagen mit Chauffeur. Der Spitzenverdiener sorgte für Glanz und Glamour, war in der Leipziger Hautevolée äußerst beliebt und verfehlte seine Wirkung auf Frauen nicht. Gleichwohl wirkte Renner nicht überheblich. Die Freundlichkeit, mit der er seinen Mitmenschen begegnete, war nicht aufgesetzt, seine soziale Kompetenz stellte er selbst in der kleinen Hausgemeinschaft immer wieder unter Beweis. Für Hannelore und ihre Freundinnen war er der Inbegriff des idealen Papa mit viel Herz und Wärme. Die Zeitzeugen von heute beschreiben Wilhelm Renner als einen gut aussehenden, energiegeladenen, unternehmensfreudigen, smarten Kerl – einen Winner-Typen, der Hobbys wie das Jagen pflegte, die sich nur wenige leisten konnten.

Im großbürgerlichen Haushalt der Renners gehörte es zum guten Ton, die Tochter sportlich und musisch zu bilden. In Irenes Tagebuch sind penibel Anfänge und zunehmende Erfolge beim Fahrradfahren, Schwimmen und Skilaufen verzeichnet. Und im November 1938 begann Vaters Liebling mit dem Ziehharmonikaunterricht bei einem Leipziger Privatlehrer. Hannelore sollte in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und wie sie Akkordeon und Klavier lernen. Dafür stand im Damenzimmer ein Flügel bereit, auf dem Irene Renner beinah täglich übte und viele Stunden ihrer reichlichen Freizeit verbrachte. Auch das Kulturangebot der Stadt mit Opern- und Theaterbesuchen spielte im Leben der Familie eine große Rolle. Es gehörte einfach dazu, sich bei Konzerten im Gewandhaus zu zeigen oder in der Alten Oper am Augustusplatz. Hannelore lernte früh, am kulturell-gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, das auch im eigenen Elternhaus stattfand. Mutter Irene bereitete mit viel Einfallsreichtum Abendeinladungen mit hochkarätigen Gästen vor und lud gerne zu den beliebten Damenkränzchen ein. Von Kindesbeinen an lernte Hannelore auf diese Weise die feine Gesellschaft von Leipzig kennen und erlebte ihre Eltern als perfekte Gastgeber für den prominenten Freundeskreis.

Mit vier Jahren begleitete Hannelore ihre Eltern auf Reisen durch Deutschland, später auch nach Österreich. Der leidenschaftliche Tüftler Wilhelm Renner baute für diese Fahrten eigenhändig einen Wohnwagen, der 1938 bereits über einen Kühlschrank mit Gasbetrieb verfügte. Das einmalige und äußerst luxuriöse Reisemobil war für damalige Verhältnisse eine kleine Sensation und unterstrich die exponierte Stellung seiner Besitzer.

Der Wohlstand der Familie in den Dreißigern und Anfang der Vierzigerjahre war bemerkenswert. Es fehlte an nichts. Die Frau des zum Direktor der HASAG berufenen Wilhelm Renner konnte sich Personal leisten wie es in jener Zeit nur den oberen Zehntausend möglich war. Für den Drei-Personen-Haushalt arbeiteten eine Putzfrau, eine Wasch- und eine Bügelfrau, ausgestattet mit modernstem technischem Gerät. Hinzu kam das Kindermädchen Hilde, das Hannelore heiß und innig liebte. Hilde war nicht nur eine wichtige Bezugsperson, sondern auch ein liebevoller Gegenpol zur strengen und fordernden Mutter. Während das Kindermädchen Nähe und Zärtlichkeit bot, blieb Hannelores Mutter auf Distanz, so wie es dem damaligen Zeitgeist und den Erziehungsprinzipien entsprach.

Die kühle Bremerin sah es als wichtigste Aufgabe an, ihre Tochter zu Charakterstärke, Härte, Tapferkeit, Disziplin, Selbstbeherrschung und Gehorsam zu erziehen. Sie brachte Hannelore schon früh bei, keine Schwächen zuzulassen, Schmerzen zu ertragen oder zu unterdrücken. Ängstlichkeit, Wehleidigkeit und Weinerlichkeit waren verpönt. Nach dem Willen der distanzierten Mutter sollte Hannelore neben der bestmöglichen Entwicklung all ihrer Begabungen und Fähigkeiten frühzeitig lernen, eigene Bedürfnisse zurückzustellen. Das verlangte allenthalben schon ihre Stellung als Frau. Dagegen bot der Vater Hannelore all das, was das Kind bei seiner Mutter vermisste: Wärme, Streicheleinheiten, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, vor allem aber uneingeschränkte Liebe.

Nach den ersten sechs behüteten und überaus glücklichen Lebensjahren begann für Hannelore am 12. April 1939 der »Ernst des Lebens« mit der Aufnahme in die 32. Volksschule. Die Erstklässlerin mit ihren langen blonden Zöpfen ging gerne zur Schule, galt als wohlerzogen und brav, lernte problemlos und machte ihren Eltern viel Freude. Sorge bereitete der strengen Mutter allerdings Hannelores Essverhalten. Ihr offen gezeigter Widerwille bei Tisch, ihr so selten erkennbarer Appetit – all das ließ die Mutter fürchten, das Kind könne körperliche Folgen davontragen. Irene Renner ließ sich allerhand einfallen, um gegenzusteuern. Sie lud Nachbarskinder zum Mittagstisch oder Abendbrot ein, von denen sie wusste, dass sie gute Esser waren. Doch trotz aller Bemühungen blieb Hannelore über viele Jahre ein Sorgenkind, was gesunde Ernährung betraf und bewegte sich lange Zeit hart an der Grenze zur Unterernährung. Dabei herrschte im Hause Renner alles andere als ein Mangel an köstlichen Lebensmitteln. Auch sie waren – wie vieles andere – im Überfluss vorhanden.

Die Nachbarskinder mochten die distanzierte und manchmal schroff wirkende »Tante Irene« wenig. Die kleine drahtige Frau ließ Wärme und Nähe nicht zu, und versuchte mit Strenge und gelegentlichen Strafen nicht nur die eigene Tochter, sondern auch deren Freundinnen zu erziehen. Vor Hannelores Mutter hatten die Kinder nicht nur Respekt, sondern zuweilen Angst. Wenn sie sich nicht nach Irenes Befehlen richteten, prasselten drastische Ermahnungen in lautem Ton auf sie ein, eindeutige Verbote wurden ausgesprochen und manchmal konnte es sogar eine Ohrfeige setzen. Trotzdem riskierten sie es immer wieder, in die wertvolle Garderobe von Tante Reni zu schlüpfen und in ihren übergroßen Schuhen herumzustöckeln. Auch wenn es ziemlich unangenehm war, dabei erwischt zu werden.

* * *

Den hohen Lebensstandard in einer wirtschaftlich und sozial angespannten Zeit verdankten die Renners dem Familienoberhaupt Wilhelm. Er hatte als Ingenieur ja bereits eine stattliche Karriere hinter sich, als er im Januar 1934 auf den Direktorenposten des Leipziger Rüstungskonzerns Hugo Schneider Aktiengesellschaft (HASAG) berufen wurde. Als entscheidende Voraussetzung für diesen Karrieresprung galt die Mitgliedschaft in der NSDAP. Dafür hatte der Pfälzer rechtzeitig gesorgt. Noch bevor die NSDAP mit Wirkung zum 1. Mai 1933 eine Aufnahmesperre für Neumitglieder einführte, um des Ansturms der ganzen Eintrittswilligen Herr zu werden, war der »Oberingenieur« Wilhelm Renner unter der Mitglieds-Nummer 1773279 am 1. April 1933 in die Partei eingetreten. Damit gehörte er zu den Hunderttausenden Deutschen, die zwischen Januar und April 1933 einen Aufnahmeantrag für die NSDAP gestellt hatten. In dieser Zeit war die Zahl der Parteimitglieder von 850 000 auf 2,5 Millionen angewachsen. Wilhelm Renner zählte zu jener großen Menge von Neumitgliedern, die von Nationalsozialisten der ersten Stunde damals spöttisch und abwertend als »Märzgefallene« bezeichnet wurden. Allerdings kann Renner keineswegs zu jenen »Tausenden von Konjunkturrittern« gezählt werden, die nicht aus nationalsozialistischer Überzeugung, sondern nur zum persönlichen Vorteil eine Parteizugehörigkeit wünschten. Aufgrund der sich aktuell darstellenden Faktenlage ist davon auszugehen, dass er damals nicht nur aus Opportunismus handelte, sondern auch aus tiefer innerer politischer Überzeugung. In den über elf Jahren, die er dem späteren nationalsozialistischen Musterbetrieb HASAG diente, würde dies noch deutlich zu Tage treten.

Die Hugo Schneider AG war 1899 aus einer Lampenfabrik entstanden, die 1863 in Leipzig gegründet worden war. Eigentlich Hersteller von Beleuchtungs-, Heiz- und Kochgeschirrartikeln, hatte die HASAG schon im Ersten Weltkrieg mit der Produktion von Munitionshülsen und anderen Rüstungsgütern begonnen. Da Anfang der Dreißigerjahre solche Aufträge erheblich zunahmen, spezialisierte sich das Leipziger Unternehmen immer stärker und entwickelte sich schon bald zu einem der größten Rüstungskonzerne in Deutschland. Mit der Machtübernahme Adolf Hitlers 1933 begann die HASAG mit der Lieferung von Munition für die Wehrmacht und wurde ein Jahr später als Wehrmachtsbetrieb eingestuft. In den Jahren bis 1939 wurde der Leipziger Standort erheblich erweitert. Es entstand ein erstes Werk zur Herstellung von Infanteriemunition, neue Fabrikanlagen dienten der Produktion von Gewehrmunition, Zündern und Granaten unterschiedlicher Kaliber und verschiedener Konstruktionsformen. Als die HASAG 1938 ihr 75-jähriges Betriebsjubiläum feierte, zählte die auf mehrere Standorte verteilte Belegschaft bereits 14 000 Beschäftigte. In der Unternehmensführung fanden sich schon sehr früh hohe NS-Funktionäre. Die Generaldirektoren und Direktoren gehörten der »Schutzstaffel« der NSDAP (SS) oder der »Sturmabteilung« (SA) an. Gleiches galt für Angestellte in leitenden Positionen, die ausnahmslos zumindest Mitglieder der NSDAP waren. Wilhelm Renner übernahm im HASAG-Direktorium den Posten des Technischen Direktors und galt als enger Vertrauter des SS-Sturmführers Paul Budin. Ihm, der als Generaldirektor des Unternehmens fungierte, hatte Renner seine Spitzenstellung zu verdanken. Das Ehepaar Budin wohnte ebenfalls in der Montbéstraße und zählte zu den prominenten Nachbarn. Die engen beruflichen und privaten Beziehungen zwischen den Parteigenossen waren augenfällig. Beide Familien verband ein politisch-ideologischer Gleichschritt, der sich bis zur Zerschlagung des Nationalsozialismus 1945 als äußerst tragfähig erwies. Beide Spitzenkräfte der NS-Rüstungsindustrie verdankten ihre ungewöhnliche Karriere den neuen Machthabern, denen sie allem Anschein nach blind ergeben waren.

Was Hannelores Mutter anging, bleiben die Motive für ihren Parteieintritt unklar. Wenn sie aber tatsächlich eine so unpolitische Frau gewesen wäre, wie sie von ihrer Tochter später immer beschrieben wurde, hätte sie auf eine Mitgliedschaft verzichten können. Dennoch beantragte sie vier Jahre nach ihrem Mann am 25. Juli 1937 die Aufnahme in die NSDAP, die rückwirkend zum 1. Mai 1937 mit der Vergabe der Mitgliedsnummer 772960 bestätigt wurde. Erst am 29. April 1937 hatte die NSDAP-Reichsleitung per Anordnung die Mitgliederaufnahmesperre aus dem Jahr 1933 aufgehoben. Als dieses Dekret wirksam wurde, zögerte Irene Renner keinen Moment, in den Kreis der bis 1945 circa 8,5 Millionen umfassenden Parteimitglieder einzutreten. Überliefert wird, dass sie stolz das Parteiabzeichen trug, als überzeugte Anhängerin des NS-Regimes galt und seit dem 14. Dezember 1939 zu den eifrigsten Aktivistinnen in der NS-Frauenschaft (NSF) gehörte. Zuvor war sie bereits Mitglied des nationalsozialistischen Frauenverbandes »Deutsches Frauenwerk« (DFW) geworden. In der von ihr unterschriebenen Aufnahmeerklärung heißt es: »Ich erkläre hiermit meinen Eintritt in die NS-Frauenschaft. Ich bin deutsch-arischer Abstammung und frei von jüdischem oder farbigem Rasseeinschlag, gehöre keiner Freimaurerloge oder sonst einem Geheimbund an und werde einem solchen während der Dauer meiner Zugehörigkeit zur NS-Frauenschaft nicht beitreten. Ich verspreche, die NS-Frauenschaft mit allen meinen Kräften zu fördern und verpflichte mich zur Zahlung eines monatlichen vorauszahlbaren Beitrages von mindestens … RM.«

Die NS-Frauenschaft propagierte ein Frauenbild, das eine Macht- und Politikbeteiligung nicht vorsah. Die »Deutsche Frau« sollte ihre Bestimmung als Hausfrau und Mutter finden, Herd und Heim galten als »weiblicher Lebensraum«. Die herausragende Rolle als Mutter gehörte zur völkisch-nationalistischen Ideologie und war Garant für »stählerne, kampfbereite« Nachkommen. Irene Renner gehörte zu den 2,3 Millionen Mitgliedern der NSF, die diese weltanschaulichen Leitbilder verinnerlicht hatten.

Zur Mitgliedschaft gehörte auch der Bezug der »Frauen-Warte«, die alle 14 Tage von der NS-Frauenschaft herausgegeben wurde. Diese »parteiamtliche Frauenzeitschrift Deutschlands« diente hauptsächlich der Verbreitung nationalsozialistischer Propaganda. Auf den wenigen politischen Seiten ging es um aktuelle Entwicklungen und später – oft genug geschönt – um den Kriegsverlauf. Die meisten Seiten wurden mit Strickmustern, Kochrezepten und einem Groschenroman gefüllt.

Nach eigenen Angaben war die Renner-Gattin auch Mitglied des gleichgeschalteten Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Dokumentiert ist auch, dass sie der »Nationalsozialistischen Wohlfahrt« (NSV) angehörte. Dieser als Organisation der NSDAP 1933 gegründete eingetragene Verein half bedürftigen Familien und betrieb Kindergärten, die in Konkurrenz zu vergleichbaren kirchlichen Einrichtungen traten. Die meisten Parteimitglieder – so auch Hannelores Mutter – brachten ihre Kinder in NSV-Kindergärten unter, deren Leitspruch lautete: »Händchen falten, Köpfchen senken, immer an den Führer denken. Er gibt euch euer täglich Brot und rettet euch aus aller Not.« Finanziert wurde die NSV aus Spenden und den Beiträgen ihrer zahlenden Mitglieder. 1939 waren dies 11 Millionen.

Hannelore wurde ganz in diesem Geist erzogen und schon früh zu Pflichterfüllung, Selbstbeherrschung, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit, Selbstlosigkeit und Treue angehalten. Als sie im Juni 1938 am Blinddarm operiert werden musste, zeigte sie, was sie verinnerlicht hatte. Irene notiert, die Tochter habe sich als »tapferes Kind« erwiesen, das auch nicht jammerte, wenn es krank war.

PRÄGUNGEN

Hannelores unbeschwerte Leipziger Jahre zählten zu den glücklichsten in ihrem Leben. Auch der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 änderte daran zunächst nichts. Es gab kaum Einschnitte und spürbare Veränderungen im Hause der Familie Renner. Die Stadt Leipzig zählte 1939 zu den bedeutendsten Städten im Dritten Reich – auch aus strategischen Gründen. Seit zwei Jahren schon war Sachsen zentrales Aufmarschgebiet der Wehrmacht, da Berlin Druck auf die Tschechoslowakei zur Abtretung des Sudetenlandes ausüben wollte. Nach Abschluss des Münchner Abkommens vom September 1938 begann die Annexion des Sudetenlandes über sächsische Grenzorte. Die besetzten Gebiete wurden zum Protektorat Böhmen und Mähren. Mit Kriegsbeginn rollten Anfang September 1939 Truppentransporte durch Leipzig nach Polen.

Von all dem bekam die sechsjährige Hannelore so gut wie nichts mit. Was Krieg bedeutete, welche Folgen und Verheerungen er noch bringen sollte, konnte man einem Kind in ihrem Alter nicht vermitteln. Auch über die Pogromnacht vom November 1938, mit der für die 13 000 Juden der Stadt der Anfang vom Ende eingeläutet wurde, verloren die Eltern kein Wort. In der so genannten »Reichskristallnacht« waren zwölf der 13 Leipziger Synagogen in Flammen aufgegangen und viele jüdische Geschäfte zerstört worden.

Das, was Hannelore im Gedächtnis haften blieb, war das erste bewusste Miterleben der Silvesternacht 1939. Erstmals durfte das Kind aufbleiben und im Anschluss an Mutters rauschendes Fest zu ihrem 42. Geburtstag ein großartiges Silvesterfeuerwerk erleben, an das sie sich noch Jahrzehnte später lebhaft erinnerte. Überall im »Reich« feierten die Menschen den Jahreswechsel 1939/40 – voller Hoffnung und Zuversicht auf ein erfolgreiches und rasches Ende des Krieges.

Für Wilhelm Renner begann mit dem Krieg gegen Polen eine andere Zeitrechnung. Auf den HASAG-Direktor kamen neue berufliche Herausforderungen zu, die er mit Elan anging und mit großer Einsatzbereitschaft zu bewältigen suchte. Für die Familie hieß das, dass Wilhelm Renner immer häufiger durch Abwesenheit glänzte. Hannelore konnte nicht begreifen, warum ihr geliebter Vater nur noch selten zu Hause war. Niemand erklärte ihr einleuchtend, warum er ständig ins besetzte Polen fuhr. Das Kind litt unter der regen Reisetätigkeit, deren Ende nicht absehbar war. Nachdem der NS-Musterbetrieb HASAG im besetzten Polen, dem sogenannten »Generalgouvernement«, gleich drei Munitionsfabriken übernommen und erheblich ausgebaut hatte, war das so gerne demonstrierte Familienidyll nur noch selten zu erleben. Irene Renner musste sich über weite Strecken mit der Rolle einer alleinerziehenden Mutter abfinden.

Hannelore hatte derweil genügend Abwechslung. Sie ging neben der Schule mit Freude ihren sportlichen und musikalischen Aktivitäten nach, zu denen sie ihre Mutter mit erdrückender Fürsorge und nicht nachlassender Strenge anhielt. Allein zunehmendes Sirenengeheul in der Nacht und das bedrohliche Dröhnen der Flieger am Himmel warfen vereinzelt Schatten auf den unbeschwerten Alltag. Wilhelm Renner hatte lange vor Kriegsausbruch einen privaten Luftschutzkeller im Hause Montbéstraße 41 bauen lassen. Dieser Bunker stand allen Hausbewohnern zur Verfügung und bot relativen Schutz vor drohenden Bombenangriffen. Für Hannelore und ihre Freundinnen hatte der Gang in den Luftschutzkeller etwas Abenteuerliches – die Angst der Erwachsenen konnten sie nicht einordnen. In den zweistöckigen Betten amüsierten sie sich köstlich, spielten vergnügt mit ihren Puppen und Stofftieren, wussten die nächtlichen Schlafunterbrechungen spielend zu überbrücken und freuten sich diebisch, wenn die Schule ausfiel. Schon im zweiten Kriegsjahr nahm die Zahl der Fliegeralarme in Leipzig erheblich zu. Mutter Irene notierte in ihrem Tagebuch kurz vor Weihnachten 1940 den 27. Alarm. Solange es bei Sirenengeheul und der baldigen Entwarnung blieb, waren die Stunden im Renner-Bunker erträglich. Für die Kinder ohnehin, die nicht ahnten, welches Elend diese langen Nächte noch bringen würden.

Obwohl die Flächenbombardements auf deutsche Großstädte 1942 erheblich zunahmen und Tod und Vernichtung brachten, ging das Leben im Hause Renner seinen gewohnten Gang. Zwar schränkte der Bezug von Lebensmitteln auf Marken manches ein, doch noch spürte Hannelore für sich ganz persönlich kaum Veränderungen. Sie ging unverdrossen in den Klavierunterricht und erlebte ihre erste Opernaufführung. Im Leipziger Opernhaus wurde die Kinderoper Hänsel und Gretel gegeben, die Vertonung des gleichnamigen Märchens der Brüder Grimm durch Engelbert Humperdinck. Und auch die Sommerferien wurden wie in alten Zeiten genossen. Wieder einmal ging es ins Salzkammergut, diesmal an den Mondsee. Der Vater entspannt, die Mutter glücklich, das Kind in bester Laune und guter Verfassung. Dazu eine wunderschöne Landschaft und höchster Komfort – ein Spitzenhotel mit exzellenter Küche und ein abwechslungsreiches Freizeitangebot, in diesem Umfang und in dieser Zeit ein eher seltenes Privileg. Allein die Hin- und Rückreise im Dienstwagen des Vaters war für die Neunjährige ein großes Erlebnis. Aber das Beste an der Reise war, dass Hannelore während des Urlaubs die ungeteilte Aufmerksamkeit ihres Vaters genießen konnte.

* * *

Speer, um das dringliche Problem der nachlassenden Waffenproduktion zu besprechen. Speer, wichtigster Auftraggeber der HASAG,

Mit ihrem zehnten Geburtstag begann für Hannelore automatisch die Mitgliedschaft in einer NS-Organisation. Die Nachwuchsorganisation der NS-Frauenschaft, in der Mutter Renner zu den prominenten Mitgliedern zählte, war der Bund Deutscher Mädel (BDM) für die 10- bis 18-Jährigen. Darin eingeschlossen war der Jungmädelbund (JM) für die 10- bis 13-jährigen Mädchen. Hannelore Renner gehörte, wie Millionen anderer Kinder, ab sofort und selbstverständlich dazu. Seit 1939 wurden alle Jugendlichen des Deutschen Reiches zu einer Mitgliedschaft in der Hitlerjugend (HJ) oder im Bund Deutscher Mädel zwangsverpflichtet. Nach dem Willen der Naziführung sollten die Jungen zu »politischen Soldaten« und die Mädels zu »starken und tapferen Frauen« erzogen werden. Die Jungmädels sollten sich bereits in »Handarbeit und Kochen« auskennen und für die »Wärme des heimatlichen Herdes« sorgen lernen.

Im Herbst 1943 bestand Hannelore mit Bravour die Aufnahmeprüfung für die Leipziger Höhere Mädchenschule, die 1933 in »Gaudigschule« umbenannt worden war. Der Name verwies auf den Reformpädagogen Hugo Gaudig, zu dessen didaktischem Konzept die freie geistige Arbeit und eine offene Persönlichkeitsbildung gehörten. Gaudig legte Wert auf Individualität und eine Erziehung zu eigenständigem Denken. Doch längst waren diese Erziehungsmethoden verpönt, und das NS-Regime versuchte mit Erfolg, die Lehrerschaft der Gaudigschule ideologisch zu unterwandern. Hannelore hatte sich seit ihrer Einschulung längst an den morgendlichen Appell mit Hitlergruß vor Unterrichtsbeginn gewöhnt. Auch bei den Jungmädel-Treffen war der »Deutsche Gruß« verpflichtend, eine Selbstverständlichkeit, die vor allem für die Jüngeren nicht zwangsläufig mit dem nationalsozialistischen Personenkult um Adolf Hitler gleichgesetzt wurde. Es gehörte einfach dazu und wurde naturgemäß nicht hinterfragt. »Heil Hitler« ging Jungmädels wie Hannelore eines war, ebenso geläufig über die Lippen wie »Guten Morgen«. Dass der Vater auch zu Hause gerne Uniform trug, war ein gewohntes Bild; ebenso, dass bei den rauschenden Festen im Hause Renner die braune Prominenz ein- und ausging.