Cover

Paul Veyne

Palmyra

Requiem für eine Stadt

Aus dem Französischen
von Anna Leube
und Wolf Heinrich Leube

C.H.Beck

Zum Buch

Palmyra ist seit 1980 Teil des UNESCO-Welterbes. Die kulturelle Bedeutung dieser jahrtausendealten Oasenstadt, die so reich an archäologischen Denkmälern ist, hat sie nun zum Ziel des islamistischen Terrors werden lassen. Dort, wo seit unvordenklichen Zeiten Kultur geschaffen und gepflegt wurde, haben Dschihadisten mit dem Baal-Tempel ein einzigartiges antikes Bauwerk gesprengt. Den Hüter der Ruinenstadt Palmyra, Khaled al-Asaad – Archäologe, Generaldirektor der Altertümer von Palmyra von 1963 bis 2003 – haben sie umgebracht: Der 82-Jährige hat sich selbst unter der Folter noch geweigert, seinen Peinigern zu verraten, wo er antike Kunstwerke vor ihnen in Sicherheit gebracht hatte, in deren Besitz sie sich bringen wollten, um sie – wie in vergleichbaren Fällen – zu verkaufen und damit ihre Verbrechen zu finanzieren.

Der französische Althistoriker Paul Veyne, der Palmyra intensiv erforscht und sich im Laufe eines Gelehrtenlebens profundes Wissen über die einstige Handelsmetropole, ihre Geschichte, ihre Bauwerke, ihre Götter und ihre Kultur erworben hat, hat mit diesem Buch eine ebenso schöne wie traurige Elegie für die geschändete Königin der Wüste geschrieben.

Über den Autor

Paul Veyne ist Mitglied der École française de Rome. Seit 1976 lehrt er als Professor römische Geschichte am Collège de France. Er hat vielfach einschlägig zur Geschichte Palmyras publiziert. Bei C.H.Beck ist von demselben Autor lieferbar: Als unsere Welt christlich wurde. Aufstieg einer Sekte zur Weltmacht (2011).

Inhalt

Tafelteil

Einführung

1: Reichtum in der Wüste

2: Eine monumentale antike Stadt

3: Kapitalist in jenen Zeiten

4: Die Antike in der Antike

5: Palmyra unter den Cäsaren

6: Ein syrischer Stamm und eine hellenisierte Stadt

7: Das Imperium retten

8: Das Epos Palmyras

9: Eine hybride Identität

10: Mit den Göttern speisen

11: Die Religion der Palmyrener

12: Die palmyrenischen Porträtbüsten

Schlusswort

Anmerkungen

Bildnachweis

Für Khaled al-Asaad, Archäologe, Generaldirektor
der Altertümer von Palmyra von 1963 bis 2003,
ermordet, weil er sich
«für Götzenbilder interessierte»

Tafelteil

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Abb. 1  Gesamtansicht der archäologischen Stätte vor Mai 2015

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Abb. 2  Grabturm, zerstört Anfang September 2015

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Abb. 3  Hypogäum (überwölbter Grabbau) der Drei Brüder

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Abb. 4 und 5  Baal-Tempel, zerstört vom «Islamischen Staat» am 30. August 2015

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Abb. 6  Baalschamin-Tempel, zerstört vom IS am 23. August 2015

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Abb. 7  Die Agora

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Abb. 8  Das Theater

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Abb. 9  Grabbüste der Aqmat, Ende 2. Jahrhundert n. Chr.

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Abb. 10   Verschleierte Frauen in einer Prozession (Detail eines Reliefs am Baal-Tempel)

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Abb. 11   Mosaik im Haus der Kassiopeia (Ausschnitt), 3. Jahrhundert n. Chr.

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Abb. 12. und 13  Die Große Kolonnade

Einführung

Solange ich meinen Beruf als Forscher auf dem Gebiet des griechisch-römischen Altertums ausgeübt habe, bin ich immer wieder nach Palmyra gekommen. Mit der Zerstörung der Stadt durch die Terrororganisation IS ist ein ganzes Stück unserer Kultur und der Gegenstand meiner Studien buchstäblich in die Luft geflogen.

Vor etwa fünfzehn Jahren konnte ich dank Marie-Claude Char, der ich einmal mehr danken möchte, ein umfangreiches Vorwort für einen schönen Kunst- und Fotoband von Gérard Degeorge[1] veröffentlichen. Der Text wurde 2005 in einem Sammelband, den ich zusammen mit anderen herausgegeben habe, neu aufgelegt, erweitert und mit wissenschaftlichen Annotationen versehen.[2]

Das vorliegende Buch hingegen ist viel kürzer, weniger gelehrt und wendet sich an den interessierten Laien. Es war für mich der Anlass, neue Fragen zu stellen, denn das aktuelle Geschehen bringt uns in Zugzwang.

Warum verwüstet – oder verkauft – eine Terrorgruppe die Denkmäler einer längst vergangenen Zeit, die für niemanden eine Gefahr darstellen? Warum wird diese Stadt zerstört, die von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt worden war? Warum all die Massaker, warum das Leiden, die Folterung, die Enthauptung des Archäologen Khaled al-Asaad am 18. August 2015? Ihm ist dieses Buch gewidmet.

Trotz meines fortgeschrittenen Alters empfinde ich es als meine Pflicht als Gelehrter und als Mensch, meiner Bestürzung über diese unbegreifliche Verwüstung Ausdruck zu verleihen und ein Bild zu zeichnen von dem, was einst die Pracht von Palmyra war und was man künftig nur noch in Büchern betrachten kann.

1

Reichtum in der Wüste

Die griechisch-römische Ausgrabungsstätte Palmyra, das jüngste Opfer der terroristischen Barbarei, ist vielleicht – zusammen mit dem nahe bei Neapel gelegenen Pompeji und der gewaltigen Ruinenstadt Ephesus an der türkischen Küste – die eindrucksvollste, die je von Archäologen zutage gefördert wurde. Um 200 nach Christus gehörte die Stadt zum großen Imperium Romanum, das sich auf dem Höhepunkt seiner Macht von Andalusien bis zum Euphrat und von Marokko bis nach Syrien erstreckte. Wenn in dieser Kaufmannsrepublik ein fremder Reisender eintraf, ein griechischer oder italienischer Händler zu Pferde, ein Ägypter, ein Jude, ein von Rom entsandter Beamter, ein römischer Steuereintreiber oder ein Soldat, kurz, ein Bürger oder Untertan des Reiches, so erkannte der Ankömmling auf den ersten Blick, dass er in einer anderen Welt angelangt war. In den Straßen hörte er eine ihm unbekannte Sprache – Aramäisch, damals eine bedeutende Kultursprache; überall entdeckte er Inschriften in einer geheimnisvollen Schrift.

Jeder seiner wohlhabenden Gesprächspartner beherrschte Griechisch, damals die Lingua franca wie heute das Englische, aber sein Name enthielt kehlige, schwer verständliche und nicht leicht auszusprechende Laute. Viele Passanten waren anders als die übrigen Bewohner des Römischen Reiches gekleidet. Ihre Gewänder waren nicht drapiert, sondern geschneidert wie unsere heutige Kleidung, und die Männer trugen weite Hosen, Jagd- und Kriegsbekleidung, die viel Ähnlichkeit hatte mit jener des römischen Erbfeinds, der Perser. Denn Rom und Persien, so schreibt ein damaliger Zeitgenosse, «hatten die Welt zu beiden Seiten des Euphrat unter sich aufgeteilt». Die vornehmen Herren des Import-Export-Geschäfts trugen einen Dolch am Gürtel und setzten sich damit über das allgemeine Waffenverbot in der Stadt hinweg. Die Frauen waren mit einer fast bodenlangen Tunika und einem Tuch bekleidet, das nur ihr Haar verhüllte; ihre Stirn war geschmückt mit einem bestickten Band, und ihr Haupt wurde bekrönt von einem geflochtenen Turban. Andere wiederum trugen weite, gebauschte Hosen. Im Gegensatz zu einigen anderen Gegenden der hellenischen Welt verschleierten die Frauen in Palmyra ihr Gesicht nicht. Und erst ihr Schmuck! Manche schmückten sogar das zweite Glied des kleinen Fingers mit einem Ring. Zwar lebte man mitten in der Wüste, doch allenthalben nahm man den Reichtum wahr; die Statuen waren aus Bronze, nicht etwa aus Marmor, und im großen Tempel gab es Säulen, die Kapitelle aus vergoldeter Bronze trugen.

Nach Süden und Osten hin war die Wüste bis zum Horizont übersät mit einer Fülle prachtvoller Monumente: Mausoleen, überwölbte Grabbauten und mehrstöckige rechteckige Türme (Tafelteil, Abb. 2 und 3). Es handelte sich um Grabstätten vornehmer Familien, in deren Hand ein Teil des Handels des Römischen Reiches mit Persien, Indien und China lag; sie beerdigten ihre Toten – anders als im übrigen Reich, wo man bevorzugt dem griechisch-römischen Brauch der Einäscherung folgte.

Im Norden, außerhalb der Stadt, konnte der Besucher seltsame Tiere sehen: Im Umkreis ausgedehnter Magazine lagerten Kamelkarawanen; das Nomadentum war noch deutlich spürbar. Blickte man zum Palmenhain und zur Stadt zurück mit ihren Ölbäumen und Weingärten, so überragte der architektonische Komplex des Baal-Heiligtums, das vor kurzem zerstört wurde, die einstöckigen Häuser und verstärkte den Eindruck, dass man sich in einer anderen Kultur befand. (So ähnlich wirkt heute ein Minarett auf den Besucher aus dem Westen.) Dieser Tempel des Baal, des wichtigsten Gottes von Palmyra, erhob sich am Ende einer langen Kolonnade, die den Besucher zunächst bekannt anmutete, war sie doch ein Zeichen für die Zugehörigkeit zur «wahren» Kultur, und auch der Tempel selbst erschien auf den ersten Blick durch seine Silhouette vertraut, denn sie glich allen anderen Heiligtümern im Reich. Ebenso waren die Details dem Ankömmling geläufig, denn der Tempel mit seinen Säulen entsprach dem allgemein verbindlichen architektonischen Kanon. Auch dessen korinthische Kapitelle waren ihm wohlbekannt – und erst recht seine ionischen Kapitelle, die freilich im Jahre 200 längst aus der Mode gekommen waren.

Doch auf den zweiten Blick wirkte das Bauwerk irritierend: Man stand vor dem seltsamen Heiligtum eines fremden Gottes. Der monumentale Eingang befand sich nicht etwa auf der Vorderseite, wie man eigentlich hätte annehmen müssen, sondern überraschenderweise auf einer der beiden Langseiten. Hoch oben ragten Zinnen empor (Tafelteil, Abb. 4 und 5), wie es sie nur im Orient gab. Zudem hatte der Bau Fenster – einen Tempel mit Fenstern, wie Wohnhäuser sie hatten –, das hatte man noch nie gesehen. Das Erstaunlichste aber war das Dach: Anstelle eines Satteldachs, wie man es von jedem anderen Tempel kannte, besaß das Gebäude eine Terrasse, genau wie die Wohnhäuser. In diesen Breiten stieg man auf die Terrasse, um die Mahlzeiten einzunehmen, dort wurde gefeiert und auch zur Gottheit gebetet – auf die Gefahr hin, dass man hinunterfiel, wie es einem jungen Mann passierte (jedenfalls wird das in der Apostelgeschichte berichtet).

Der fremde Besucher hatte also wirklich allerhand gesehen, was ihn befremden konnte: Im Römischen oder vielmehr Griechisch-Römischen Reich war alles einheitlich. Architektur, Wohnung, Schrift und Literatur, Bekleidung, Wertvorstellungen und Religion glichen sich von Schottland bis zum Rhein, von der Donau bis zum Euphrat und zur Sahara – zumindest in der besseren Gesellschaft. Palmyra war zwar ein Stadtstaat, ein zivilisierter, ja kultivierter Ort, doch gefährlich nahe sowohl an der nomadischen Nichtzivilisation als auch an einer anderen Zivilisation, nämlich der persischen oder gar einer noch weiter entfernten. Und der Fremde neigte zur Verallgemeinerung: «Die Syrer sind eine üble Rasse, ein kakon genos», wie es ein römischer oder byzantinischer Garnisonssoldat auf einen Stein an belebter Stelle gekratzt hat. Der Fremde täuschte sich: Palmyra war keine syrische Stadt wie die anderen – ebenso wenig, wie das seinerzeit mit der byzantinischen und der osmanischen Kultur in Verbindung stehende Venedig ganz Italien entsprach.

2

Eine monumentale antike Stadt

Ich möchte nun, wie einst als Geschichtsprofessor, den Fremdenführer durch die Vergangenheit spielen.

Um heutzutage nach Palmyra zu gelangen, fliegt man in vier Stunden von Paris nach Damaskus und fährt von dort zweihundert Kilometer weiter auf einer asphaltierten Straße, die eindeutig der antiken Trasse folgt; nach vier Stunden Fahrt durch eine Wüste aus Staub und Steinen, wo kümmerliches Gras wächst, ist der Anblick des grünen Palmenhains und der weißen Kolonnade, der gewaltigen Überreste einer untergegangenen Kultur, jedes Mal aufs Neue eine Überraschung. Die zahlreichen Touristen entdecken bei ihrer Ankunft nicht den «verlorenen Schmuck des antiken Palmyra», der Baudelaire träumen ließ (es wurde so gut wie kein Schmuck gefunden), sondern einen modernen Marktflecken mit Hotels und Restaurants aller Preiskategorien.

Wendet sich der Besucher um – hat nun also das Dorf im Rücken –, so ist ihm die Sicht auf den Horizont versperrt durch eine halb verfallene, überwältigende baukastenartige Anlage (Tafelteil, Abb. 1): Aus Würfeln und Säulen aus weißem Kalk (Marmor ist in ganz Syrien unbekannt) hat ein Riesenkind da, wo Wüste und Palmenhain waren, zum Spaß anderthalb Kilometer monumentaler Mauern und Kolonnaden errichtet, die wie zur Parade aufgestellt sind. Im ganzen Gelände verstreut liegen herabgefallene Bauteile. Man hat weniger den Eindruck von Ruinen als vielmehr den einer Stadt, die gerade abgebrochen wird. Es liegen keine unförmigen Konglomerate römischer Zementklumpen (wie so häufig in Rom selbst), keine Gewölbeteile, keine Bögen herum, es gibt hier nur Horizontale und Vertikale. Eine Architektur aus Hausteinen, deren transparente Logik den Sinnen genügt: Der Besucher glaubt, alle Elemente vor sich zu haben, die ausreichen, um im Geiste aus dem, was er sieht, zu rekonstruieren, was einmal war; die Struktur ist identisch mit der sichtbaren Form, Inneres und Äußeres sind eins.

Auf der Ausgrabungsstätte, so wie die Archäologen sie angelegt haben, ist kein einziges modernes Bauwerk zu sehen; hier ist die Zeit ein für allemal stehen geblieben. Was den heutigen Besucher am meisten verblüfft und auch bereits den Reisenden in der Antike in Staunen versetzt hat, war das große, inzwischen in die Luft gesprengte Heiligtum und eine lange Säulenreihe, diese «Gassen von Palmyra, diese Säulenwälder in der Ebene der Wüste», von denen Hölderlin träumte. Der Handel mit der weiten Welt hat einst diese aramäische Oase verwandelt, so wie er aus ein paar schlammigen Inseln an der Adriatischen Küste eine Stadt wie Venedig entstehen ließ. Die Kolonnade repräsentierte die Urbanität der Avantgarde und des Alltagslebens, das Heiligtum des Gottes Baal war der Markusdom dieses Wüstenhafens.

Dieser Tempel war kein Schmuckkästchen, kein Reliquienschrein wie die Tempel in Griechenland und in Rom; er war die Wohnstatt Baals, des Heiligsten der Heiligen, und dort thronte sein Standbild. Das Bauwerk erhob sich inmitten einer rechteckigen Umfriedung von über zweihundert Metern Seitenlänge. Nach innen, entlang der vier Seiten, wurde dieser Bezirk zu einem Viereck aus Wandelhallen (nennen wir sie überdachte Höfe), die auf Säulen ruhten. Nach außen bestand er aus einer nahezu fensterlosen Mauer, die den Tempel umfing – so wie die prächtigen Moscheen Istanbuls mit ihren weiträumigen Innenhöfen von der übrigen Stadt getrennt sind. Weder die Anlage selbst noch ihre Dimensionen waren außergewöhnlich: Überall, wo genügend Platz war, umgab man die Tempel gerne mit einer solchen Umfriedung.

Diese überdachten Höfe hatten nicht allein eine ornamentale Funktion und dienten auch nicht nur zum Schutz vor der Sonne: Pilger fanden darin einen Rastplatz, Händler verkauften Devotionalien, die dem Gott als Votivgaben geweiht wurden, aber auch, so stelle ich mir vor, Geflügel, das sich weniger Begüterte als Opfergabe leisten konnten. Auf den Verputz der rückwärtigen Mauer krakelten Pilger den schriftlichen Beweis ihres frommen Besuchs im Tempel oder ihren Dank an die Gottheit, die ihre Gebete erhört hatte. Und ganz gewiss füllte sich die weite Umfriedung am jährlichen Fest des Gottes mit viel Volk.