Cover

Lilian Loke

Auster und Klinge

Roman

C.H.Beck

Inhalt

I

1: Absichten

2: Bald

3: Gefallen

4: Die Taube und das gute Pferd

5: In einer perfekten Welt

6: Die teuerste Bibliothek der Welt

7: Kannibalen

8: Patient Zero

9: Die Scheibe

10: Eine gute Geschichte

11: Vögelchen

12: Die schwächste Stelle

II

1: I am a machine

2: Sand

3: Call of Duty

4: Kochwäsche

5: Vivisektion

6: Die Guten

7: Bis zum Hals

8: Parasiten

9: Halbherz

10: Besuch

III

1: Ein Fest

2: Tap, tap, tap

3: Kanaille

4: Fallen

5: Die eigene Haut

6: Sandburg

7: Reden

8: Fast

9: Versuche

«Why then, the world’s mine oyster, which I with sword will open.»

William Shakespeare, The Merry Wives of Windsor

«Wir sollten nicht verschont werden. Wir sollten von Zeit zu Zeit richtig aufgestört werden. Wie lange ist es her, seit du richtig verstört warst? Aus einem triftigen Grund, einem wesentlichen Grund?»

Ray Bradbury, Fahrenheit 451

I

1

Absichten

Ein Murmeln aus Dutzenden Mündern erfüllt das Callcenter, während Georg auf seinem Merkblatt herumkritzelt, stets lächeln beim Sprechen, Verständnis zeigen, Essverbot am Platz, Georg zeichnet Herzkranzgefäße, Aorta, Muskelgewebe mit schnellem, fließendem Strich quer über die schnörkellose Computerschrift. Das menschliche Herz, ein Klopfen, Pochen, Jagen, Stechen, ein Rhythmus in Brust, Kehle, in jeder Faser, wenn wir lieben, hassen, fürchten, leiden, Sitz der Seele oder bloß Blutpumpe, ein zuckender Klumpen Fleisch – Georg dreht rasch das Blatt um, als der Abteilungsleiter durchs Büro geht wie ein Lehrer bei einer Klassenarbeit, ihm einen kurzen prüfenden Blick zuwirft.

Georg schätzt, in Törners Augen ist er wohl eine Personalnotlösung, Schublade Alt und braucht das Geld, dreiundvierzig, brotloser Akademieabschluss, null Erfahrung im Vertrieb, geschweige denn im Beschwerdemanagement, doch andere Bewerber waren offenbar noch untauglicher, obwohl Georg sich das schwer vorstellen kann. Er macht den Callcenterjob erst seit vier Wochen, tatsächlich hat er dringend Geld gebraucht, weil sich der Kater alle Knochen gebrochen hat beim Sturz vom Dach in den Hof, dann hieß es tausendfünfhundert Euro für die Operation oder eben keinen Kater mehr. Dabei gehört ihm das Vieh nicht mal, ist ihm vor einem halben Jahr zugelaufen und hat sich entschieden zu bleiben, was heißt, dass es jeden Tag kommt, wenn es ihm passt, um zu fressen, zu schlafen oder Georg die Hosenbeine vollzuhaaren, bevor es wieder spazieren geht. Auf den Aushang Kater zugelaufen hat niemand reagiert, das Tierheim wollte Georg ihm nicht antun, aber einen Namen hat er ihm nicht gegeben, er sagt Kater, dem Tier ist es egal. Dank des Katers hat Georg jetzt den ganzen Tag Leute am Telefon, die ihn zur Sau machen, weil ihr Handy, Laptop, Drucker nicht mehr funktionieren, Georg ist erste Anlaufstelle, bevor es gegebenenfalls zur Technik geht. Der Job war ein Fehler. Mein Gerät, brandneu, alle wollen, ich habe, macht mich glücklich, Bedürfnisse, mein Gerät, Schnäppchen, größer, flacher, schneller, andere Farbe als der Vorgänger, mein Gerät, wieso schon kaputt? Er hätte sich besser um den Putzjob in der Kolonne am Flughafen beworben, aber dort haben sie Referenzen verlangt, die er nicht hatte. Hier haben sie nichts verlangt, du kriegst eine unbezahlte Schulung und los. Er muss sich nach einer anderen Arbeit umsehen, aber wenn die vom Callcenter mitkriegen, was er den Kunden inzwischen den ganzen Tag erzählt, setzen sie ihn ohnehin vor die Tür. Telefonate werden aufgezeichnet, außer, der Kunde widerspricht, was dieser aus Faulheit oder Komplizenschaft selten tut, schließlich sind Callcenteragenten alles Affen, Qualitätskontrolle ist gut. Demnächst wird vermutlich ein Qualitätsmanager mit lautem Knall in einer Wolke Schwefelrauch erscheinen, Georg am Kragen packen und aus dem Großraumbüro schleifen, bis dahin telefoniert er.

«Servicecenter, guten Tag.»

«Ja, hallo? Endlich, Gott sei Dank! Das Display meines Handys fällt dauernd aus, das Ding ist eine Unverschämtheit!»

Ein angestrengtes Schnauben rauscht in der Leitung, in der Stimme des Anrufers liegt die übliche Mischung aus Wut, Leid und Erleichterung, die Warteschleife überwunden zu haben, und natürlich der Hoffnung auf ein Heilsversprechen für das kaputte Gerät. Georg lehnt sich auf seinem Stuhl zurück.

«Innereien wie die Ihres Telefons werden sechs Tage die Woche in Zwölf- bis Fünfzehn-Stunden-Schichten zusammengeschraubt, bei einem Monatslohn von vierzig bis zweihundertfünfzig Euro, aber das können Sie sich ja denken beim Preis für Ihr Gerät. Außerdem möchte der Hersteller, dass Sie bald ein neues kaufen, spätestens nach Garantieablauf.»

Kurz herrscht Stille am anderen Ende, dann überdreht die Stimme des Anrufers so stark, dass es in der Leitung scheppert: «Wollen Sie mich verarschen? Ich habe über vierhundert Euro dafür bezahlt!»

«Wussten Sie, dass sich die Leute in der chinesischen Elektronikindustrie reihenweise umbringen? Sie klettern aufs Fabrikdach und springen in den Tod.»

«Sagen Sie, sind Sie geistesgestört? Nennen Sie das Kundenservice? Ich will Ihren Vorgesetzten sprechen, ich –»

«Tut mir leid, das geht nicht, bleiben Sie dran, ich verbinde Sie mit dem Techniksupport.»

Georg dachte, seine Zeit beim Krisentelefon würde ihm helfen hier im Callcenter, rein nervlich, aber das ist zu optimistisch gewesen. Die Telefonseelsorge macht er bald zehn Jahre, zwei Mal im Monat, Krankheit, Scheidung, Todesfall, Geld-, Alkohol-, Drogenprobleme, Selbstmordgedanken, Georg hört zu, erzählt auch von sich, wenn der Anrufer fragt, verbindet auf Wunsch mit einem Psychologen, aber die meisten wollen das nicht, wollen mit einem normalen Menschen sprechen, was immer das ist.

Georg solle sich eine Beschäftigung suchen, bei dem er sein Sprechen trainiere, etwas, das ihm gefalle, riet der Sprachtherapeut, als das Stottern plötzlich wieder ausbrach, nachdem Georg es jahrelang im Griff gehabt hatte. Das Krisentelefon ist eine von Georgs Sprachtherapien, er stottert seit seinem sechsten Lebensjahr, aber er hat gelernt, es zu kontrollieren, Atmung, Zwerchfell, Tempo, Rhythmus. Wörter, über die er stolpert, schiebt er nach hinten im Satz, umgeht sie notfalls. Au-Au-Auto. Er sagt Wagen. Die meisten merken nichts. Das Schlimmste ist, wenn Leute denken, dein Verstand wäre so verkrüppelt wie dein Sprechen. In Georgs Kindheit war das Stottern ein Monster, das ihm die Zunge aus dem Hals reißen wollte, heute ist es bloß noch ein kurzer Spuk, ab und zu. Beim Krisentelefon, abgeschirmt von drei Pappstellwänden mit Notfallnummern, stottert er nie. Manchmal fühlt er sich wie ein Priester im Beichtstuhl, nur Absolution erteilt er nicht, aber er glaubt, wenn du gibst, wird dir gegeben. Viele schweigen lange, bevor sie sprechen, manche legen einfach wieder auf, manche weinen bereits, wenn sie anrufen. Er hat gelernt, die Gespräche nach der Schicht hinter sich zu lassen, auch wenn er sich fragt, wie viele von denen, die mit ihm über Selbstmord gesprochen haben, jetzt noch am Leben sind. Ob er geholfen oder Fehler gemacht hat. «Ich sterbe auch nicht mit jedem Patienten», sagte eine der anderen Ehrenamtlichen, eine Krankenschwester. «Du sprichst mit ihnen, Georg, du hörst sie, das ist viel.»

Aber die Art Abhärtung hilft ihm hier nicht weiter.

«Servicecenter, guten Tag.»

«Ich habe ein Problem mit meinem Laptop, der Lüfter macht komische Geräusche, ich habe aber noch Garantie.»

«Wussten Sie, dass –»

Um zwölf macht Georg Pause in der Kaffeeküche, Barbara sitzt am Tisch wie ein Häuflein Elend, vor ihr eine Tupperdose voll Nudelsalat, dick Mayonnaise, Wurst, Erbsen, bei dessen Anblick Georg jedes Mal übel wird, ein paar nennen Barbara hinter ihrem Rücken Tonne, Presssack, Jabba the Hutt und ähnlich Charmantes, aber Barbara ist eine der wenigen gewesen, die überhaupt Hallo gesagt haben, als Georg hier angefangen hat. Er sieht Angst in ihren Augen, Herr Törner steht am Küchentresen, redet mit falscher Freundlichkeit auf sie ein. Ob Barbara nicht mal Gas geben wolle. Die Kollegen hätten so viel mehr Biss, das sei ja auch eine Frage von Stolz, niemand sei gerne Bodensatz.

Barbara ist in der Vertriebsabteilung für einen Druckerpatronenhändler, ihre Zahlen sind nicht überragend, aber darum geht es Törner nicht, Törner, ein untersetzter, halbglatziger Kerl, frisst Barbaras Angst wie Brot, er genießt es, auf seinen Leuten rumzuhacken, einfach, weil er es kann. Georg beobachtet die beiden einen Moment schweigend, er hat Leute so satt, die ihr Maul aufmachen, bloß um Schmerz zu erzeugen. Es heißt, kleine Sünden bestrafe Gott sofort, aber Georg glaubt nur an Chaos, Zufall. Die Einzigen, die bei Sünden zusehen, falls überhaupt einer zusieht, sind Komplizen oder Gaffer, unbeteiligte Dritte. Georg bemerkt Törner hinter sich, erkennt den Schimmer seines hellen Hemds im Metall des Kaffeeautomaten, als Georg eine Tasse unter den Auslass stellt, die Maschine beginnt zu brummen, lässt in einem dünnen Strahl Kaffee in die Tasse rinnen. Wenn jemand einem anderen etwas antut, weil der ihm zuvor etwas angetan hat, heißt das Rache. Georg betrachtet die wirbelnden Schaumbläschen in der dunklen Flüssigkeit. Wenn ein unbeteiligter Dritter dem, der einem anderen etwas angetan hat, etwas antut, heißt das Strafe. Eine Frage, die sich Georg und Evelyn als Teenager gestellt haben: Wenn du Superkräfte hättest, würdest du den Helden spielen oder sie nur zu deinem Vorteil nutzen? Was ist mit normalen Begabungen? Was stellst du damit an? Georg fragt sich, ob auf alles zu scheißen, auch eine Begabung ist.

Er sieht Herrn Törner auf sich zukommen, verbrühen will er ihn nicht, aber vor allem sich selbst nicht, er schüttet Milch in den Kaffee, nimmt die Tasse, wendet sich Törner mit einer raschen Drehung zu, als der direkt hinter ihm stehen bleibt. Törner entfährt ein Schrei, die Tasse kippt klimpernd vom Unterteller, Törner weicht zurück, aber über sein Hemd, Jackett, seine Hose und Schuhe ergießt sich ein brauner Schwall, bevor die Tasse zu Boden fällt, in zwei saubere Teile zerspringt – «Sie Vollidiot! Sehen Sie sich an, was Sie angerichtet haben!»

Georg entschuldigt sich, reicht Törner Küchenpapier, er werde die Reinigung bezahlen, er werde – Törner entreißt ihm die Rolle, versucht, sein Hemd zu trocknen, der Kaffeefleck prangt dunkel auf seiner Brust, das Jackett zieren braune Spritzer, auch Georgs Hemd ist besudelt, aber das war es wert. Törner läuft aus der Küche, verschwindet in der Personaltoilette.

«Oh Gott, Georg, ausgerechnet dem Törner aufs Hemd –», Barbara starrt ihn mit einer Mischung aus Bestürzung und Schadenfreude an. Georg liest die Scherben vom Boden auf.

«Ja, ich bin manchmal sehr ungeschickt.»

Barbaras Augen werden groß, als Georg zu lächeln beginnt.

«War das etwa mit Ab-?»

«Schh …» Georg legt einen Finger auf die Lippen, zwinkert ihr zu, Barbara presst die Hand auf den Mund, unterdrückt ein Lachen.

2

Bald

Als der Wärter ihn durch die Gitterschleusen in den Hof führt, spürt Victor seinen Herzschlag bis zum Hals, er hat sich verzehrt nach diesem Tag, genießt das Klacken des Schlosses, das lautlose Schwingen der letzten Tür, den Blick auf ein schlichtes Stück Straße, das ihm schön vorkommt, weil es Freiheit verheißt, trotzdem erfasst ihn beim Anblick Angst. «Herr Ellischer», der Wärter reicht ihm die Hand, Victor fühlt, wie trocken und warm sie ist, wie feucht und kalt seine eigene. «Viel Glück. Und drehen Sie sich nicht um, wenn Sie gehen. Wer zurückschaut, kommt zurück.»

Victor schultert seine Tasche, eine kalte Brise schlägt ihm entgegen, als er auf die Straße tritt, den Blick geradeaus. Nie wieder die Zelle, der Gestank auf den Gängen, nie wieder das schmale Rechteck Himmel, zerschnitten von Gittern, nie wieder in der Gefängnisküche literweise Eintopf kochen, Kartoffeln schälen, Zwiebeln hacken, nie wieder gefilzt werden bis auf die Haut, weil einer der Sparschäler abhandengekommen und zu spät im Spalt zwischen Herd und Spüle gefunden worden ist. Victor legt den Kopf in den Nacken. So viel Himmel. Er kann gehen, wohin er will, aber weiß nicht, wohin, der Himmel kommt ihm gleißend vor, ein Blau, so leuchtend, dass es in den Augen schmerzt. Am Ende der Straße entdeckt er eine Bushaltestelle, setzt sich für einen Moment, spürt seinen Herzschlag rasch und heftig in jeder Faser seines Körpers, er weiß nicht, ob das noch Angst ist oder schon Glück. Drei Busse lässt er vorüberziehen, bis er endlich einsteigt. «Wohin?», fragt der Fahrer, Victor befühlt das dünne Bündel Scheine in seiner Hosentasche, das bisschen, was er im Gefängnis verdient hat. Er wird seiner Tochter ein Geschenk kaufen.

Im Spielwarenladen steht er etwas verloren vor den Regalen, zu viel Licht, zu viele Leute, Kinderstimmen, Quengeln, Betteln, Lachen, betrachtet die Stofftiere, zu viel Auswahl, Bären in allen Größen, Hunde, Katzen, berührt das weiche Fell – «Kann ich Ihnen helfen?» Victor zuckt zusammen, als eine Verkäuferin neben ihn tritt, ihn mustert, als wüsste sie alles, du bist ein Lügner und Dieb. Seine Wangen werden heiß, aber er hält dem Blick stand, lächelt sie an, bis sie sein Lächeln erwidert. Er wird nicht rot, seine Stimme bleibt ruhig, er war immer ein guter Blender, das ist wie Fahrradfahren, das verlernt man nie.

Kim hatte den Fuchs in den Geschichten geliebt, die er ihr abends vorgelesen hatte. Der Fuchs und der Rabe mit dem Käse. Wie schön du singen kannst, Rabe, bitte sing mir was. Der eitle Rabe öffnet den Schnabel, krächzt sein Lied oben auf dem Baum, da fällt ihm der Käse aus dem Schnabel, und der Fuchs schnappt ihn sich.

«Ich suche einen Stofffuchs. Haben Sie so was?»

Als er Richtung U-Bahn läuft, entdeckt er einen Blumenladen. «Was hast du verbrochen?», hat Sina jedes Mal scherzhaft gefragt, wenn er ihr Blumen geschenkt hat. Diesmal werden Blumen wenig bringen. Aber irgendwo muss er anfangen.

Victor spürt, wie ihm die Kehle eng wird, als Sina die Tür öffnet, sie trägt einen etwas verschlissenen grauen Pullover, das honigblonde Haar offen, ihr Gesicht grimmig und schön zugleich, als sie sich eine lose Strähne hinters Ohr streicht. Victor nimmt ihren vertrauten Duft wahr, rosig und einen Hauch herb. Er hat sie die ganze Zeit über nicht gesehen, nur einmal während der Untersuchungshaft hat sie ihn besucht.

«Sag mir, dass nichts davon wahr ist, was sie behaupten.»

Als er ihr sagen musste, dass alles stimme, kam sie nicht mehr. Er schrieb ihr, anfangs antwortete sie noch auf jeden Brief, dann wurden die Briefe und Telefonate immer seltener.

«Erwartest du, dass ich auf dich warte?»

«Nein … aber ich hoffe.»

Irgendwann brach sie den Kontakt ganz ab. «Wir sprechen, wenn es vorbei ist», sagte sie zuletzt. «Es fühlt sich an, als wäre ich eingesperrt mit dir, aber es ist deine Haft.» Er schrieb ihr seinen Entlassungstermin, er komme früher raus wegen guter Führung, aber auch darauf antwortete sie nicht.

«Victor», sagt sie jetzt nur, ihre Stimme ist ruhig und fest, aber ihr Gesicht ist blass. Er will sie in die Arme schließen, doch wagt es nicht. «Ich habe dich vermisst», sagt er, «ich habe euch schrecklich vermisst.» Als sie nicht antwortet, fügt er hinzu: «Tut mir leid, ich hätte anrufen sollen», dann streckt er ihr etwas ungeschickt den Blumenstrauß entgegen. «Hier, für dich.»

Sina hebt die Brauen, als ihr Blick auf den Strauß fällt, ein kleines Ungetüm, Victor hat dem Händler einen kompletten Bund Alstroemeria abgekauft, endlich lächelt sie, wenn auch dünn und mit einem Anflug von Zynismus. «Hast du jetzt auch noch einen Blumenladen ausgeraubt?»

«Ich würde eher sagen, es war umgekehrt.»

Sie muss lachen, dann schließt sie die Augen, atmet tief durch; als sie wieder aufsieht, liegt Traurigkeit in ihrem Blick, aber sie nimmt den Strauß.

«Mama? Wer ist da?»

Victor spürt, wie ihm die Tränen kommen, als Kim sich neben Sina in den Türrahmen drückt, um auf den Hausflur zu spähen. Wie sehr sie gewachsen ist, bald wird sie fünf, ihren vierten Geburtstag hat er verpasst. Mit großen Augen sieht sie zu ihm auf, kurz fürchtet er, sie erkenne ihn nicht, doch dann ruft sie: «Papa!», er beugt sich zu ihr hinunter, sie fällt ihm um den Hals. «Papa, du bist zurück!» Es ist das Schönste, was er seit dreizehn Monaten gehört hat.

«Komm.» Sina lässt ihn in die Wohnung. Hier hat sich kaum etwas verändert, die Flurwände immer noch tapeziert mit Kims Bildern aus dem Kindergarten, im Wohnzimmer die kleine Couchgarnitur, der dicke Vorlegeteppich, der Esstisch aus hellem Holz. Sina und er haben alles gemeinsam eingerichtet, nur Plattenbau, aber 21. Stock, Blick über die ganze Stadt.

«Ich habe dir auch was mitgebracht, Kimmi.» Victor holt das in Geschenkpapier eingeschlagene Stofftier aus seiner Reisetasche. Als Kim den Fuchs auspackt, lacht sie freudig auf, drückt ihn an sich. «Der ist toll! Ist der aus Madagaskar?»

Sina blickt Victor fast ängstlich an, als Kim das fragt. Er nickt zögerlich. «Ja, Schatz.»

«Aber in Madagaskar gibt es doch gar keine Füchse.»

«Richtig … deshalb ist ein Stofffuchs dort was ganz Besonderes.»

Kim scheint zufrieden mit seiner Antwort, streicht dem Stofftier über den Kopf, Victor nimmt sie auf den Schoß, küsst sie aufs Haar. Madagaskar. Ihre absurde Notlüge. Papa arbeitet eine Weile im Ausland, dann kommt er wieder nach Hause. Auf dem Couchtisch lag die DVD des Kinderfilms, den Kim so gern hatte, Madagascar, «Papa arbeitet dort in einem schönen Hotel», war das Erste, was Sina eingefallen war, sie hatte es sofort bereut, aber nicht über sich gebracht, Kim die Wahrheit zu sagen.

«Kim, zeig dem Fuchs mal dein Zimmer, Papa und ich müssen kurz alleine sprechen.» Unwillig rutscht Kim von Victors Schoß und läuft hinaus, Sinas graue Augen mustern Victor einen Moment lang erschöpft. «Du hast abgenommen», sagt sie, «sieh dir an, wie dein Hemd sitzt.» Mit den Fingerspitzen fährt sie ihm über den Kragen, aber als er ihre Hand nehmen will, zieht sie sie zurück. Wo er heute Nacht bleibe. Victor betrachtet seine abgewetzte Reisetasche. Er habe gedacht, vielleicht hier, aber vermutlich keine gute Idee. Sina atmet aus, schüttelt den Kopf, sie brauche noch Zeit, sie hoffe, er verstehe das. Victor nickt, steht von der Couch auf. Je länger er bleibt, desto schwerer wird es werden, wieder zu gehen.

Kim bricht in Tränen aus, als er sich verabschiedet. «Wieso gehst du wieder?» Victor blickt zu Sina, die versucht, Kim in den Arm zu nehmen, aber Kim schluchzt auf, klammert sich an Victor wie eine Ertrinkende. Papa komme morgen wieder, er müsse noch ein paar Dinge erledigen, er komme morgen Abend, um sieben, sagt Sina schließlich, er lächelt ihr zu, auch wenn sie sein Lächeln nicht erwidert. Er darf wiederkommen. Er nimmt Kim in den Arm, hält sie, bis sie sich beruhigt hat, dann begleitet Sina ihn hinaus.

«Danke», sagt er. Sina nickt, schließt wortlos die Tür. Kurz verharrt er noch auf der Schwelle, dann verlässt er das Haus. Ein paar Jungs aus der Siedlung spielen Fußball bei den Garagen, sehen neugierig zu ihm herüber, einer lässt eine Kaugummiblase mit lautem Plock zerplatzen, grinst Victor an. Alles wie immer hier, als wäre er nie fort gewesen, doch es kommt ihm vor wie eine Pappkulisse. Er lässt die Wohnblöcke hinter sich wie damals vor dreizehn Monaten, als er zu seinem letzten Einbruch losgezogen war.

«Du siehst gut aus», hatte Sina gesagt, ihm über die Schultern seines neuen Kellnerjacketts gestrichen. «Lass dich nicht von zu vielen reichen, alten Damen angraben, klar?»

Sie hatte ihm einen Kuss zum Abschied gegeben, Victor hatte sie umarmt und an sich gezogen, den Kuss verlängert. Sein schlechtes Gewissen fraß ihn jedes Mal auf, wenn er behauptete, er fahre nach Bad Homburg ins Kurhotel zur neuen Stelle, die er seit ein paar Monaten hatte, gut bezahlt, hatte er ihr gesagt; was Sina nicht wusste, die Stelle war wieder nur ein Aushilfsjob, ein paar Stunden im Monat. Aber er würde mit dem Einbrechen aufhören. Bald. Er hatte es schon reduziert, seit Kim auf der Welt war, hätte nie gedacht, dass er das so gut könnte, so ein Baby. Anfangs überwachte Sinas Mutter mit Argusaugen, wie er sich anstellte, Windeln wechseln, Fläschchen machen, Kim die richtige Kleidung anziehen, bis sie endlich einsah, dass dem Baby in Victors Obhut weder der Hunger- noch der Kältetod drohte. Sina war stellvertretende Restaurantleiterin, er nur Stationskellner gewesen, als sie mit Kim schwanger wurde, ungeplant. «Ich pass aufs Kind auf», hatte er gleich gesagt, irgendwie wollte er das unbedingt, scheiß auf den Kellnerjob, Sina verdiente auch viel mehr als er. Und ein Vater mit Kinderwagen, ordentlich in Hemd und Sakko, der mit dem hübschesten Baby der Welt – was Kim zweifellos war – durch teure Wohngegenden spazierte, sah harmlos aus, kein Mensch verdächtigte ihn, wenn er dabei Häuser ausbaldowerte. War natürlich nicht in Ordnung, Kim auf Ausspähtour mitzunehmen, inzwischen machte er das nicht mehr so oft, Kim wurde bald vier. Außerdem hatten Sina und er endlich mit großem Tamtam vor einem Dreivierteljahr geheiratet, dreitägiger Ausnahmezustand mit Familie und Freunden in Südfrankreich in einem Strandhotel, querfinanziert durch ein paar extra Touren mit Fred. Vor Sina hatte Victor die Kosten natürlich heruntergespielt, Freundschaftsrabatt im Hotel als ehemaliger Mitarbeiter, außerdem hat man ja nur einmal im Leben vor zu heiraten, zumindest Victor, also wenn schon, denn schon. Perlhuhn, Lamm, Brasse, Ratatouille, Bouillabaisse, Mirabellentarte, Crème brûlée und eine ungeheure Menge Wein und Pastis, anschließend Flitterwochen, mit dem Wagen rüber nach Italien, sie hatten sich quasi die Halbinsel hinuntergegessen, von Parmesan und Schinken in der Emilia-Romagna bis zu Rumkuchen in Neapel. Mit dem Antrag hatte er sich auch richtig Mühe gegeben, Sascha hatte es zwar kitschig gefunden, aber Fred hatte breit gegrinst und beide Daumen gehoben, Verlobungsring vom Juwelier, weißgold, mit einem richtig schönen Stein –

«Bist du verrückt geworden?», hatte Sina ausgerufen, noch bevor er überhaupt seine Frage stellen konnte, ganz oben auf dem Hoteldach. Dort hatten sie sich vor fünf Jahren zum ersten Mal geküsst, damals hatte er das Schloss geknackt, diesmal hatte er einen Hoteltechniker überredet, ihm die Luke aufzusperren, Schampus und was zu essen hochzuschaffen.

«Wo hast du das Geld für so einen Ring her?»

«Na ja, gespart … Also … willst du? Du weißt schon … mich heiraten?» Er hatte das Gefühl, sein Herzschlag setze aus, als sie ihn einen schier endlosen Moment lang nur prüfend ansah. Den Ring wollte sie eigentlich nicht, aber sie wollte Victor, sagte Ja, das war die Hauptsache.

Er hatte die Touren wirklich reduziert, doch nach zwei, drei Monaten wurde das Kribbeln unerträglich, durchzog seinen ganzen Körper, wenn zu lang nichts gestiegen war. Dann ertappte er sich, wie er bei jedem Haus Fenster und Türen begutachtete, jeder gepflegte Vorgarten, teure Wagen in der Einfahrt, jede Alarmanlage war wie eine lockende Neonreklame, die ihn zu sich rief. Aber er würde aufhören. Endlich mit Sascha das Restaurant eröffnen. Anständiges Geld. Für Sina, für Kim. Bald.

Die Luft war eisig an jenem Abend, kleine Atemwolken bildeten sich vor Victors Mund, als er über den Parkplatz zum Auto lief, selbst in der Wagenkabine war es so kalt, dass sein Atem sich in der Luft kräuselte. Er drehte das Radio auf, fuhr Richtung Norden zu seiner Garage, dort stand ein Zweitwagen für die Touren, lagerte auch die übrige Ausrüstung, Tarnkleidung, Brillen mit Fensterglas, verschiedene Kopfbedeckungen, Blaumann, Paketboten-Outfit, Warnweste, Klemmbrett, Aktentasche, ein Stapel Wachtturm-Zeitschriften, Klatsch-, Auto-, Reisemagazine, Picks, Drähte, Bohrer, Ziehglocke, Störsender, aber meistens genügte ein Schraubenzieher. Victor trennte strikt seine zwei Leben, hatte das immer getan, egal, in welcher Stadt, welchem Land, aber seit Sina und Kim trennte er alles noch gewissenhafter. Die Garage lag auf einem trostlosen Gelände am Rande eines Gewerbegebiets nahe der Autobahn, der Vermieter, ein Frührentner, verbrachte die meiste Zeit des Jahres als Dauercamper in Spanien. Victor zahlte immer für ein Jahr im Voraus, der Mann hatte nicht mal seinen Ausweis sehen wollen, als Victor ihm das Geld hinlegte. «Können wir das unbürokratisch regeln?» Für den Vermieter war Victor Herr Christian Müller, dessen Frau nicht mitkriegen sollte, dass er einen Hobbyraum hatte, was dem Vermieter ein paar steuerfreie Extraeinnahmen bescherte.

Der Geruch von Abgas schlug Victor entgegen, er machte Licht, schloss das Tor hinter sich, wechselte seine Lederschuhe gegen ein neu gekauftes Paar aus Kunststoff, das er später wieder entsorgen würde. Schuhe, mit denen er einstieg, behielt er nie lange, wenn die Witterung feucht war wie heute und man in jedem Fall Fußspuren hinterließ. Sein Kellnerjackett tauschte er gegen einen Kapuzenpullover, die Winterjacke gegen einen schwarzen Kurzmantel mit hohem Kragen. Dann stieg er in den Wagen, brach zu dem Haus auf, das er in den letzten Wochen ausgeforscht hatte, frei stehend am Ortsrand, Achtzigerjahre-Bau, großer Garten, der Bewohner ein Mann um die siebzig. Jeden Morgen Punkt halb acht brach er zum nahe gelegenen Industriepark auf, silbergraues C-Klasse Coupé, neuestes Modell, kam erst gegen 19 oder 20 Uhr zurück. Der Mann lebte allein, zweimal hatte Victor geklingelt, einmal als Abo-Vertreter, einmal als Stromtechniker, niemand hatte aufgemacht, nachdem der Mann zur Arbeit aufgebrochen war, also keine Frau, nie gehabt, weggelaufen oder schon tot. Victor hatte sich die Sicherung des Hauses angesehen, keine Alarmanlage, keine Kameras, kein Hund, alte Fenster, große Terrassenfront, gut abgeschirmt durch Büsche. Eine schnelle, glatte Nummer.

Er parkte eine Straße weiter, eine hohe Mauer grenzte den hinteren Garten von der Straße ab, Victor entschied sich für die dreiste, aber unauffälligere Variante, falls ihn doch jemand sehen sollte, lief zur Vorderseite, einfach durchs Gartentor die Auffahrt hinauf. Als das Licht des Bewegungsmelders ansprang, wartete er im Schatten der Garagenwand, doch im Haus blieb es dunkel. Im Schutz der Büsche streifte er die Kapuze ab, zog Sturmmaske, Stirnlampe und Handschuhe über, dann lief er zur Terrasse, setzte den Schraubenzieher am Rahmen der Glastür an, hebelte sie mit ein paar gezielten Griffen auf. Eine angenehme Wärme strömte ihm entgegen, als er den Wohnraum betrat, der Lichtkegel seiner Lampe glitt über eine Schrankwand, eine lederne Couchgarnitur, einen neuen Plasmafernseher, aber der interessierte Victor nicht, heute arbeitete er ohne Fred, hieß, rein und raus, so schnell es ging. Er durchsuchte die Schubladen, fand bloß einen Koffer mit Silberbesteck, ließ ihn stehen, würde ihn nur mitnehmen, wenn er nichts Besseres fand. Das Haus sah nach Safe aus. Keinem guten, aber einem Platz, an dem alles gehortet wurde. Als er die Tür neben dem Wohnzimmer öffnete, empfing ihn ein großer Schreibtisch, eine Wand mit Regalen bis zur Decke. Rasch öffnete er alle Unterschränke, im letzten wurde er fündig, ein Safe mit elektronischem Zahlencode und Profilzylinder für einen simplen Kerbenschlüssel, kaum besser als die Dinger in Hotelzimmern. Victor brauchte nur ein paar Sekunden, um das Schloss zu öffnen, die Bolzen schnappten leise zurück, als er den Drehmechanismus betätigte. Im Safe lagen ein paar Bündel Fünfziger und Hunderter, Reisepass, Bankpapiere, Uhren, ein schweres goldenes Herrenarmband, Damenschmuck, dem Aussehen nach ein paar Jahrzehnte alt, Silber, Gold, Platin. Victor nahm bloß das Bargeld und wertvolle Edelmetall, vier der fünf Uhren, warf alles in den Rucksack, dann ging er in den ersten Stock, suchte das Schlafzimmer. Er fand es am Ende des Flurs, ein großer Raum mit bodentiefen Fenstern, doch als der Schein seiner Lampe das Bett traf, blieb Victor ruckartig stehen. Die Bettdecke war aufgeworfen, das Kissen zerdrückt, auf dem Nachttisch ein halb volles Wasserglas, zerknüllte Papiertaschentücher, ein Blisterstreifen Tabletten. Kurz verharrte Victor misstrauisch im Türrahmen, der Alte hatte keine Frau oder keine mehr, vermutlich litt deshalb der Haushalt, kein Grund, nervös zu werden, trotzdem wurden Victors Finger in den Handschuhen feucht. Eigentlich hatte er genug aus dem Safe für eine Tour, ein paar Tausend in bar plus Schmuck. Aber im Schlafzimmer horteten die Leute das meiste, das konnte er nicht auslassen. Nur ein kurzer Blick.

Im Nachttisch fand er eine Submariner, Edelstahl, aber immerhin, Manschettenknöpfe, Gold, steckte sie ein, dann öffnete er die Seitentür des Wandschranks, kontrollierte Boden und Fächer. Als er zur Doppeltür ging, glaubte er, ein Geräusch zu hören, ein seltsam gedämpftes Schaben, das ihn mitten in der Bewegung erstarren ließ. Er hielt den Atem an, lauschte angestrengt, aber hörte nichts als das wilde Rauschen seines eigenen Bluts. Vorsichtig ging er zum Fenster, warf einen Kontrollblick hinaus, unter ihm lag der dunkle Garten, einen Augenblick meinte er, jemand stehe an der Mauer, aber es war nur ein Busch, mach dir nicht ins Hemd, du brauchst zu lang, konzentrier dich. Er wandte sich wieder der Schrankfront zu, öffnete die Doppeltür, der Lichtkegel der Lampe glitt über ein Arsenal Anzüge und Hemden, penibel nach Farben sortiert. Doch ganz ordentlich, der Kerl, schoss es Victor durch den Kopf, als plötzlich ein Ruck durch den Stoff ging, Victor wandte sich nach rechts, der Lichtstrahl traf ein fahles, zerfurchtes Gesicht, wässrige Augen, Victor entfuhr ein Schrei, der ihm halb in der Kehle stecken blieb, einen Moment lang glaubte er, der Mann wäre tot, dann stürzte der Alte sich auf ihn. Für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Victor einen glänzenden Holzkleiderbügel im Schein seiner Leuchte, dann flammte ein greller Schmerz an der Schläfe auf, als der Mann ihn mit voller Wucht am Kopf erwischte, rücklings gegen den Nachttisch stieß, sodass Victor fast das Gleichgewicht verlor, das Wasserglas stürzte herab, zerschellte mit lautem Schlag auf dem Boden. Ein zweiter Hieb traf Victor im Gesicht, er spürte, wie ihm der Metallhaken durch die Sturmhaube die Wange aufriss, aber diesmal griff er nach dem Bügel, schlug ihn dem Mann aus der Hand, dass er mit lautem Klackern gegen den Schrank flog, doch der Alte war erschreckend schnell, packte Victor mit beiden Händen am Hals, drückte zu mit aller Kraft. Victor rang nach Luft, griff hinter sich, fühlte den kalten Glasschirm der Nachttischlampe, das Gewicht des Metallfußes, der Alte versetzte ihm einen Fausthieb, Victor schmeckte Blut, als ihm die Lippe aufplatzte, wich dem nächsten Schlag aus, riss die Lampe vom Nachttisch, traf den Mann in die Rippen, in den Bauch, schließlich gegen den Kopf, Blut strömte dem Mann in kleinen Bächen übers Gesicht, aber seine aufgerissenen Augen starrten Victor unverwandt an, die Hände wie Klauen um Victors Hals. Victor holte aus, schlug wieder zu in einem roten Nebel aus Angst und Wut, ein Knacken ertönte, als breche ein Ast, die Augen des Mannes weiteten sich, er ließ los, sackte zusammen, blieb reglos auf dem Boden liegen.

Einen Augenblick stand Victor nur da, hörte seinen eigenen jagenden Atem, betrachtete das Blut, das sich um den Kopf des Mannes ausbreitete, spürte Genugtuung, es ekelte ihn vor dem Gefühl, aber es war da, bevor Entsetzen aufkeimte. Du hast ihn umgebracht. Vielleicht hast du ihn umgebracht. Victor ließ die Lampe fallen, trat einen Schritt zurück. Noch einen. Sein Blick streifte den Wandschrank, wo der Mann sich versteckt hatte. Fiel auf das Handy am Boden des Schranks. Kurz war Victor wie gelähmt, als er begriff. Dann brach er in Panik aus, er machte kehrt, stolperte über den Teppich im Flur, schlug der Länge nach hin, stieß hart mit dem Kopf gegen die Wand, achtete nicht auf den Schmerz, raffte sich benommen auf, eilte die Treppe hinunter. Als er aus dem Haus stürzte, die Einfahrt hinunter, hörte er einen bellenden Schrei, sah die Polizisten vor dem Tor, die gezogene Waffe, keine fünf Meter von ihm entfernt: «Hände hinter den Kopf! Hände hinter den Kopf, habe ich gesagt!»

Victor wandte sich um, zwei Polizisten waren bereits im Garten, kamen auf ihn zu, eine Streife blockierte das Einfahrtstor, Victor sah wieder zu dem Beamten mit der Waffe direkt vor ihm, zu nah, einfach zu nah. Langsam hob er die Hände.

«Einen Arzt», rief er, als die Polizisten auf ihn zustürmten, ihn grob zu Boden zwangen. «Im Haus liegt ein Mann, er braucht einen Arzt –»