Verlag C.H.Beck
Die tiefgründige philosophische Analyse, die dieses Buch unternimmt, gilt einem Phänomen, das wir alle kennen. Seine Anfänge reichen wenigstens bis in die Altsteinzeit zurück, schon in der Antike wurde es professionell behandelt, doch erst im 20. Jahrhundert wissenschaftlichen Standards unterzogen: der Traum.
Wir träumen, wenn wir aufgehört haben zu denken, und doch ist der Traum nicht gedankenlos. Er zeugt von einem Denken unterhalb des Denkens. Seine massenmedial nach außen gekehrte Form ist der Film, der seinen Betrachter in eine Art Wachtraumleben hineinzieht. Der Traum selbst ist jedoch der Inbegriff des Innerlichen. Nur wer in sich versunken ist, kann träumen.
Es gibt jedoch einen historischen Punkt, an dem sich diese Gegensätze auf brisante Weise berührt haben. 1895 wurden in Paris die ersten Filme gezeigt. In Wien indessen «enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traumes», wie der «Enthüller» selbst später brieflich gestand. Welche Koinzidenz am Vorabend des 20. Jahrhunderts!
Für Christoph Türcke wird sie zum Ausgangspunkt einer philosophischen Mentalarchäologie. Sie spürt im Traum die Primärprozesse des Denkens, ja der gesamten Kulturbildung auf, die durch das Sensationstrommelfeuer der Massenmedien zunehmend bedroht sind. Türckes Traumanalyse führt hinab bis ins Triebleben und leitet daraus die beiden menschlichen Grundkräfte, Einbildungskraft und Sprache, so her, daß sich an der Grenze von Philosophie und Psychoanalyse ganz neue Perspektiven eröffnen.
Christoph Türcke ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Im Verlag C.H.Beck ist von ihm erschienen: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation (22011), Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift (2005).
Vorwort: Die Altsteinzeit in uns
1 Traum
Physisches und Psychisches
Halluzination
Symbol und Allegorie
Umkehrung
Opfer
Vorstellung
Mentaler Raum
Traumzeit
Gilgamesch
Wilde Deutung
2 Trieb
Konstanzprinzip
Erleben
Bahnen
Reizflucht
Gedächtnis
Trieblockerung
Seelischer «Apparat»
Idealbildung
Exzeß
Eros
Todestrieb
Inzest
Säuglingsmystik
Ursprungsmärchen
3 Wort
Eid
Übersetzte Naturerschütterung
Ritualakustik
Urworte
«Fort» – «Da»
Nominalismus – Realismus
Sprechakte
Unterwerfung des Namens
Traumzeit der Sprache
Universalgrammatik und Kategorien
Psychoanalytischer Strukturalismus
Redekur
Nachwort: High-Tech-Traumzeit
Dank
Personenregister
Sich auf den Traum einlassen heißt in den Untergrund gehen: allen festen Halt preisgeben, den das Establishment eingeschliffener Sitten und Gewohnheiten, Wahrnehmungs- und Denkformen zu bieten pflegt, und abtauchen in jene Vorzeit, jene disparate, diffuse halluzinatorische Empfindungs- und Bilderwelt, aus der menschliche Kultur sich einst mühsam erhoben hat. Für Menschen gibt es zweierlei Vorzeit: diejenige, die sie als Kleinkinder durchleben, ehe die Parameter der Kultur recht greifen, und diejenige, die die Menschheit als ganze schon durchgemacht haben muß, damit jeder einzelne sie noch einmal im Zeitraffer durchlaufen kann.
Nun ist zwar evident, daß unsere individuelle Vorzeit nie ganz aufhört. Niemand ist in der Lage, die Verletzungen und Wünsche seiner Kindheit so vollständig zu verarbeiten, daß rein gar nichts davon zurückbliebe. Deshalb bleibt jeder ein bißchen Kind; niemand wird hundertprozentig erwachsen, und die Gärungsmasse unserer Träume ist eine ständig wiederkehrende Erinnerung daran. Doch was hat sie noch mit der Vorzeit der Menschheit zu tun? Gärt auch die noch im Traumleben des 21. Jahrhunderts unbewältigt weiter? Ist sie dafür nicht viel zu lange her? Gewiß, sie ist in unvorstellbare Ferne gerückt. Gerade das aber bringt sie in die Nähe des Traums. Wenn wir träumen, verliert unser Zeitempfinden jegliche Verhältnismäßigkeit. Etwas Ähnliches geschieht, wenn wir versuchen, an den Menschheitsanfang zurückzudenken. Oder kann sich irgend jemand eine Spanne von 2,5 Millionen Jahren plastisch vorstellen? Damit sind auch die Fachleute für die Vorzeit, die Paläontologen, hoffnungslos überfordert. Und doch verfügen sie inzwischen über genügend biochemische Hilfsmittel, um aus Knochenresten, Erdformationen und Steinen eine Geschichte zu rekonstruieren, die einerseits so schemenhaft-undeutlich bleibt, daß sie nicht aufhört, wie ein Traum anzumuten, und sich andrerseits als wissenschaftliches Resultat ganz nüchtern erzählen läßt.[1]
In Ostafrika, um den Turkanasee, Richtung Victoriasee, also etwa im 8 Grenzgebiet des heutigen Kenia mit dem Sudan, mit Äthiopien, Uganda und Tansania, lebte eine Hominidenart – man nennt sie Homo rudolfensis –, mit der sich vor etwa 2,5 Millionen Jahren etwas Einzigartiges begab. Eine lange Trockenperiode hatte den tropischen Regenwald aus dieser Gegend zurückgedrängt und besagte Hominiden zu Savannenbewohnern gemacht. Indessen waren die Pflanzen, von denen sie sich hauptsächlich ernährten, durch die Trockenheit derart hart geworden, daß ihr Gebiß damit nicht mehr zurechtkam. Da lernten sie, handliche, scharfeckige Geröllsteine aus ihrer Umgebung zu Hilfe zu nehmen. Mit denen ließ sich die widerborstige Nahrung zerkleinern. Und während ihnen diese Tätigkeit, jahrtausendelang geübt, allmählich in Fleisch und Blut überging, entdeckten sie etwas noch viel Folgenreicheres: Man kann Geröllsteine auch scharfeckig machen, wenn sie es von Natur aus nicht sind. Man muß ihnen nur mit andern Steinen Eckstücke so abschlagen, daß eine Kante zurückbleibt.
Von der Tragweite dieser Entdeckung ahnten sie nichts. Doch begann mit ihr nichts Geringeres als die Steinzeit. Zwar geht auch schon bei Affen, wenn sie mit einem Stück Hartholz eine Nuß aufschlagen oder sich mit einem Stock eine Banane angeln, die Befriedigung des Hungers einen Umweg. Nur über ein Hilfsmittel kommt sie zum Ziel, nicht direkt. Aber mit der Bearbeitung von Stein durch Stein – und dadurch ist «Steinzeit» ja definiert – hörte dieser Umweg auf, bloß ein Schlenker zu sein. Er wurde zum Hauptweg. Auf ihm bekam das Verlangen nach Nahrung eine neue Drift. Statt der Nahrung selbst widmete es sich erst einmal hingebungsvoll dem Geröllstein. Auf ihn mußte immer und immer wieder, mit zahllosen Fehlversuchen und Neuansätzen, beharrlich und gezielt eingeschlagen werden, bis er so weit zugerichtet war, daß er seinerseits zur Nahrungszerkleinerung taugte. Die ganze Motorik des Organismus mußte sich darauf einstellen.
Dabei verschob sich die Aufmerksamkeit nicht nur von der Nahrung zum Werkzeug. Sie gewann auch neue Dichte und Nachhaltigkeit; wurde dem Geröllstein doch eine Zuwendung zuteil, wie sie die Nahrung, solange sie sich mit Zähnen und Klauen noch zerkleinern ließ, nie auf sich gezogen hatte. Zuerst ein Werkzeug zubereiten, um dann mit seiner Hilfe Nahrung zuzubereiten, und bei der ersten Zubereitung weit länger und intensiver verweilen als bei der zweiten, auf die es doch eigentlich abgesehen war: welch enorme Verschiebung und Verdichtung von Triebenergie war dazu erforderlich! Man darf sie getrost eine Umwälzung im Triebhaushalt der Natur nennen. Mit ihr begann eine Selbstzähmung, wie sie in der Naturgeschichte noch nicht vorgekommen war, eine Einübung von Triebaufschub, Ausdauer und Geduld, wie sie sich triebgesteuerte Wesen nur in größter Not, nie aber freiwillig auferlegen. Offenbar ging es um Leben und Tod: entweder dem Gebiß eine Hilfe verschaffen oder untergehen.
Die Geröllwerkzeuge (pebble tools), einfache Klingen und Schaber, die um den Turkanasee gefunden wurden, sind die unscheinbaren Denkmäler eines einige hunderttausend Jahre währenden Überlebenskampfes – und die ersten Spuren von Kultur. Kultur hat als Überlebensstrategie begonnen und sich zunächst unsäglich langsam entwickelt. Es mag viel in dieser Frühzeit geschehen sein, aber es ist so gut wie unmöglich, einzelne Ereignisse oder Handlungen aus ihr herauszumerken. Erst was unzählige Male wiederholt wurde, so daß es sich in einer Fertigkeit oder gar Technik niedergeschlagen hat, läßt sich überhaupt registrieren – also dann, wenn es sich längst, über Tausende oder Hunderttausende von Jahren hinweg, zu einem Ereignis- oder Handlungstypus verdichtet hat. Das altgriechische Wort typos heißt primär Schlag und meint zunächst die gezielte Schlagtätigkeit, durch die der Steinmetz oder Bildhauer aus einem Stein eine signifikante Gestalt herausschlägt, später dann auch die herausgeschlagene Gestalt selbst. So gesehen sind die pebble tools in genauem Wortsinn Archetypen: die ersten Typen, in denen sich Kulturbildung niedergeschlagen hat. An ihnen läßt sich übrigens deutlich ablesen, was Archetypen ausmacht. Sie sind sehr wohl ursprünglich und uralt, aber alles andere als ungeworden. Umgekehrt: Je älter sie sind, desto mühsamer hat ihre Herstellung erlernt werden müssen, desto länger hat es gedauert, bis sie zustande kamen.[2]
Für archetypische Zeitdimensionen sind zehntausend Jahre die kleinste sinnvolle Rechnungseinheit. Ein Unterschied von einem Jahrtausend läßt sich meistens ohnehin nicht feststellen. Die kompetentesten Fachleute können sich mühelos um zehn- oder fünfzigtausend Jahre verschätzen, und gemessen am kulturellen Entwicklungstempo macht das oft nicht einmal viel aus. Man bedenke: Eine Million Jahre nach den ersten pebble tools ist Kultur nicht weiter gediehen als bis zu mehreren Varianten von Faustkeilen und einer Nutzung von Feuer, über die nichts Näheres bekannt ist. Und eine weitere Million Jahre später gab es immer noch keine Menschen im engeren Sinne. Es bildeten sich erst allmählich das Gehirnvolumen, die Schädel- und Skelettproportionen, die Hand- und Fußform, die für Neandertaler und Homo sapiens typisch sind. Bei ihnen erst, den jüngsten der Hominiden, beginnt das Wort «Mensch» in vollem Sinne zu greifen. Anatomisch konstante Arten sind sie vielleicht erst seit 200.000 bis 150.000 Jahren, mit einer körperlichen Grundausstattung, die beim Neandertaler bis zu seinem Aussterben (vor ca. 27.000 Jahren), beim Homo sapiens bis heute weitgehend stabil blieb und etwas ermöglichte, was keiner andern Spezies je gelungen ist: jene Verschiebung und Verdichtung von Triebenergie, mit der Kultur begann, ihrerseits noch einmal so zu verschieben und zu verdichten, daß nicht mehr nur Naturmaterialien geformt wurden, die zu etwas anderem dienen, nämlich als Mittel zu Nahrungszwecken, sondern auch solche, die für etwas anderes stehen: etwas bedeuten, Zeichencharakter haben.
Die Verschiebung von der Mittel- zur Zeichenproduktion: das ist die Menschwerdung in engerem Sinne. Auch sie wird erst in einer Phase greifbar, wo sie längst eingeübt war. Der Übergang mag durchaus vierzig oder fünfzig Jahrtausende gedauert haben. Es gibt etwas, woran er sich noch gut studieren läßt: Gräber. Einerseits sind sie Behälter, um Angehörige zu bergen, also Mittel. Andrerseits sind sie weit mehr. Wer Angehörige bestattet, verscharrt sie nicht nur. Er bettet ihre sterblichen Überreste in einem eigens dafür hergerichteten Raum, der von nun an nicht mehr angetastet werden soll. Das ist ein feierlicher Akt. Er zelebriert etwas, auch wenn wir nicht genau wissen, was. Und etwas zelebrieren heißt auf etwas verweisen – etwas bedeuten. Gräber sind mit hoher Bedeutung aufgeladene Mittel und insofern auch Zeichen. Schmuck, Skulpturen und Wandmalereien schließlich sind überwiegend oder nur noch Zeichen. Sie sind, mit enormem Aufwand, eigens hergestellt worden, um etwas zu bedeuten, und geben eine Ahnung davon, welch ungeheure Wichtigkeit es hatte, der Natur eine Bedeutung zu verleihen.
Auch dabei muß es, wie einst bei der Werkzeugerfindung, zunächst um Leben und Tod gegangen sein, nur eben nun auf dem Niveau kollektiv praktizierter Riten. In der Kultur tat sich die Dimension des Kults auf. Das mag vor 50.000 Jahren geschehen sein, vielleicht aber, wenn der Verdacht, in der Wüste Kalahari habe es vor 70.000 Jahren bereits einen Schlangenkult gegeben, sich erhärten sollte,[3] auch schon viel früher. Jedenfalls hatten die Neandertaler vor ca. 40.000 Jahren hochentwickelte Grabstätten und Bestattungsriten. Schmuck, Skulpturen, Gemälde sind hingegen erst seit 30.000 Jahren und nur für unsere Spezies nachweisbar. Ihretwegen heißt sie Homo sapiens. Ihre spezifische sapientiä ist das große Rätsel, vor dem auch die Paläontologen staunend stehen. Es stellt gleichsam den Schlußstein der Altsteinzeit dar. Großes Gehirnvolumen, aufrechter Gang manuelle Geschicklichkeit, Disposition zu Triebaufschub: dies alles erklärt noch nicht die singuläre Verschiebungsleistung, die dem Homo sapiens die Sphäre der Bedeutung öffnete.
Dies Rätsel interessiert nicht nur Fachleute. «Die Erforschung der Hominiden ist auch die Erforschung von uns selbst. Das geht an die Substanz», sagt Friedemann Schrenk.[4] In der Tat: Die physische Grundausstattung, die der Homo sapiens vor ca. 200.000 Jahren erwarb, die Nervenzellenverbindungen, die sich in seinem Gehirn dabei festgezogen haben: dies alles schleppen wir Heutigen ja immer noch mit. Die Altsteinzeit ist in uns. Sie geht uns nichts an, solange sie lediglich den beruhigten Untergrund bildet, auf dem alle weitere Entwicklung unserer Spezies verläuft. Sie geht uns existentiell an, sobald dieser Untergrund aufgerührt wird.
Genau das tut die moderne Hochtechnologie. Sie läßt die Vergangenheit nicht ruhen, auch die fernste nicht. Ihr Blick ist zwar vornehmlich auf die Zukunft gerichtet, aber dabei beschwört sie die Altsteinzeit wieder herauf. Nicht nur in dem Sinne, daß sie der Paläontologie eine Fülle von Präzisionsmethoden beschert, so daß mit Karbon-, Kalium- oder DNS-Analysen atemberaubend genaue Befunde über Alter und Beschaffenheit von Knochen-, Gesteins- und Erdproben möglich werden. Die Hochtechnologie hat in sich selbst eine archäologische Dynamik. Was machen denn die Genetiker? Sie analysieren und registrieren nicht nur einen Genbestand, sie greifen auch in ihn ein. Genetisch behandelte Lebensmittel sind längst im Umlauf. Vereinzelt werden haarsträubende Experimente durchgeführt. «Im Jahre 1986 entnahmen Wissenschaftler Glühwürmchen das Gen für den in ihnen enthaltenen Leuchtstoff und pflanzten es Tabakpflanzen ein. Die Tabakblätter begannen zu leuchten.» Andere «fusionierten Embryonalzellen von einer Ziege und einem Schaf und setzten den so entstandenen neuen Embryo einer Leihmutter ein, die die Ziegen-Schaf-Chimäre erfolgreich austrug.»[5]
Zur akuten Gefahr, die von solchen Manipulationen für Gegenwart und Zukunft ausgeht, kommt noch ihre Rückwirkung auf fernste Vergangenheit hinzu. Sie setzen sich über Speziesgrenzen hinweg, die sich im Laufe von Millionen Jahren gefestigt haben. Sie versetzen die organische Natur wieder in den Zustand zurück, wo diese Grenzen noch nicht fest waren – und ziehen sie anders. So graben sie die Naturgeschichte gleichsam wieder auf und revidieren sie. Das Wort «Geschichtsrevisionismus» bekommt da eine ganz neue praktische Dimension. Besonders brisant ist es, wenn solche Revision am Menschen geschieht, und zwar nicht nur zur Krankheitsbekämpfung, sondern um den Genbestand des Homo sapiens zu korrigieren. Dann geht es darum, seine physische Grundausstattung «umzugraben» – sie gewissermaßen einer archäologischen Behandlung zu unterziehen. Ähnliches hat die Nanotechnologie vor. Wenn es ihr gelingen sollte, durch den Einbau winziger Röhrchen ins Gehirn die nervliche Erregung umzuleiten, und zwar nicht nur zur Ausschaltung defekter Nervenzellen, sondern auch zur Einschaltung angeblich zuwenig genutzter Hirnregionen, dann rührt auch sie die Naturgeschichte des Gehirns auf, wobei ihr die Nanoröhrchen als winzige archäologische Spaten dienen.
Über diesen Bestrebungen, die erst in den Anfängen sind, wird gern vergessen, daß die moderne Medientechnologie bereits seit gut hundert Jahren Mentalarchäologie betreibt. Im Jahr 1895 führten die Gebrüder Lumière im Pariser Grand Café die ersten Filme vor. Viel zeigten sie eigentlich nicht. Eine einzige Kameraeinstellung hält über etwa drei Minuten fest, wie Arbeiter bei Dienstschluß die Fabrik verlassen oder wie ein Zug in einen Bahnhof einfährt. Bloß diesen Vorgang, ohne weitere Vorkommnisse. Dennoch wurde wie gebannt zugeschaut. Einige sprangen sogar erschreckt auf, weil sie meinten, der in den Bahnhof einfahrende Zug halte direkt auf sie zu. Das liegt an der neuen optischen Distanzlosigkeit, die der Film herstellt. Im Kino sind die Augen des Zuschauers weit weniger seine eigenen als im Theater. Er sieht nun durchs Auge der Kamera. Er tritt gleichsam in ihren Blick ein. Ihre Bilder werden zu seinen Bildern und gehen ihm unter die Haut seines Wachbewußtseins, weil sie Bilder eines bewußtlosen Auges sind, das gleichsam filterlos sieht, ohne irgend etwas dabei zu fühlen, zu erinnern oder zu denken – und dadurch eine neue Sehwelt eröffnet: voll von Details, Verläufen und Zusammenhängen, die das kameralose Auge nie bemerken würde, also eine Welt des «Optisch-Unbewußten»[6], und zugleich eine Welt reflexionsloser Unmittelbarkeit. Ihre Bilder wirken mit der Intensität von Traumbildern, die dem Träumer ebenfalls als vollkommen real und unausweichlich erscheinen. Natürlich sind sie keine Traumbilder. Dazu sind sie viel zu scharf und genau, oft zudem viel zu sorgsam arrangiert. Aber sie laufen ab wie ein nach außen gekehrter Traum, der Traumbildern eine Schärfe und Präzision gibt, die sie von sich aus gewöhnlich nicht haben. Auch das Montageprinzip ist eine Schärfung des Traums. Die montierten Kameraeinstellungen folgen einander ähnlich unvermittelt, wie im Traum die Szene wechselt, nur schroffer. Es gibt jedes Mal einen Ruck, und jeder dieser Rucks entfaltet eine Doppelwirkung. Zunächst zieht er den Betrachter mächtig in seinen Bann. Doch alsbald läßt er ihn wieder wegdriften: in ein schwer definierbares Wachtraumleben – neben dem Film und doch in seinem Kraftfeld. Siegfried Kracauer hat das früh bemerkt. «Sobald das organisierte Ich des Zuschauers abgedankt hat, dringen seine unterbewußten oder unbewußten Erfahrungen, Befürchtungen und Hoffnungen an die Oberfläche und streben danach, die Führung zu übernehmen. Infolge ihrer Unbestimmbarkeit sind Filmbilder besonders geeignet, als zündender Funke zu wirken. Irgendein solches Bild kann im Kinobesucher Kettenreaktionen auslösen – eine Flucht von Assoziationen, die nicht mehr um ihre ursprüngliche Quelle kreisen, sondern aus seiner erregten Innenwelt aufsteigen.»[7]
Der Filmbetrachter ist selbstverständlich wach; anders könnte er dem Film gar nicht folgen. Dennoch ist seine Wachheit ein beträchtliches Stück weit in Richtung Traum und Hypnose abgesenkt. Die ohnehin unscharfe Grenze zwischen Schlaf, Traum und Wachsein ist, seit es den Film gibt, noch um einiges unschärfer geworden. Zwar ist er längst kein Kuriosum mehr, nicht einmal mehr ein erlesenes Freizeitvergnügen. Vorbei die Zeit, wo man sich die ganze Woche über auf den Kinobesuch am Wochenende freute. Bewegte Bilder gehören zum High-Tech-Alltag. Sie durchziehen nicht nur die gesamte Freizeit; sie haben auch die Arbeitswelt erobert. Die Koordination ganzer Produktions- und Verwaltungsvorgänge läuft über Bildschirme. Das hat zwar zur Folge, daß sich die einzelne Bildsequenz weniger tief eindrückt als in den frühen Kinozeiten. Dafür ist sie Bestandteil einer audiovisuellen Dauerbestrahlung geworden, die unablässig Worte in Bildern untergehen läßt und das Sensorium zwischen lauter aufmerksamkeitsheischenden Szenarien ruckartig hin und her wirft.
Sie sind es, die den Takt moderner Welterfahrung angeben. In globalem Maßstab und rund um die Uhr veranstalten sie «konzentrierte Zerstreuung»[8]. Schon Kleinkinder werden ihr dauerhaft ausgesetzt. Jugendliche verharren nirgends so ausdauernd wie vor laufenden Bildschirmen; im globalen Durchschnitt zwei bis fünf Stunden täglich. Ein Schelm, wer meint, dies alles bleibe ohne jede dissoziative Tiefenwirkung auf Motorik, Sensorik, Wahrnehmungs- und Denkweise. Wie sich Sitten lockern können, so auch Konzentrations- und Koordinierungskräfte, Vorstellungs- und Denkformen. Sind sie selber doch nichts anderes als Sitten, die sich zu Natur sedimentiert haben. Man muß gar nicht erst, wie einst Jacques Derrida, zu ihrer «De-Sedimentierung» aufrufen.[9] Mit der ist die audiovisuelle Dauereinwirkung nämlich schon ganztägig beschäftigt. Ebendarin besteht ja ihre Mentalarchäologie. In diesem Buch wird dem Verdacht nachgegangen, daß sie das nicht erfolglos tut, daß sie tatsächlich im Begriff steht, «die Altsteinzeit in uns» aufzurühren: jenen Bodensatz des Denkens, den erst mühselige, jahrtausendelange Nervenarbeit im Homo sapiens abgelagert hat – und der dann anmutete, als sei er «immer schon da» gewesen.
Der Bodensatz des Kaffees schmeckt nicht; aber all seinen Geschmack verdankt der Kaffee ihm. Und Kaffee schmeckt nur so lange, wie der Bodensatz unten bleibt. So auch beim Denken. Sein Bodensatz ist ein unappetitlicher Niederschlag von Blut, Schweiß und Anstrengung. Und dennoch: Alle Einbildungskraft, aller Scharfsinn, alle gedankliche Originalität, zu denen der Homo sapiens es je gebracht hat, verdanken sich ihm und haben nur aufsteigen können, indem er sich setzte. Es gibt keinen andern Bodensatz des Denkens als diesen altsteinzeitlichen, kein neues Modell, gegen den man ihn austauschen könnte. Wenn er aufgerührt wird, wenn er aufhört, der ruhige, verläßliche Untergrund des Denkens zu sein, dann ist auf eine bisher ungekannte Weise das Denken selbst bedroht. Nichts überflüssiger, als hier auch noch geisteswissenschaftlich nachzuhelfen und seinen Ehrgeiz dareinzusetzen, der scientific community möglichst viele literarische oder ästhetische Gebilde in desedimentiertem, disseminiertem, dekonstruiertem Zustand zu präsentieren – wie erlegte Hirsche.
Dem Bodensatz des Denkens gegenüber ist eine ganz andere Haltung angezeigt. Ich möchte sie «Achtung» nennen, durchaus mit einem Seitenblick auf den Bedeutungsumfang, den dieses Wort bei Immanuel Kant hat. In «Achtung» steckt zum einen das Beachten: eine Sache überhaupt erst einmal aufmerksam und detailliert zur Kenntnis nehmen. Und «Achtung» bedeutet zum andern stets Respekt. Nicht Zuneigung oder Liebe. Das hat Kant klar gesehen. Das moralische Gesetz, das er der Menschheit nahebringen wollte, war für ihn viel zu streng, als daß man es lieben könnte. Den Bodensatz des Denkens kann man erst recht nicht lieben. Er ist, wie sich noch zeigen wird, ein grauenhaftes Gebräu – und dennoch schlechterdings kostbar. Ohne ihn gibt es keine Menschheit.
Sofern Denken in diesem Gebräu steckt, kann man es sich kaum primitiv genug vorstellen; «primitive Denktätigkeit» aber ist Sigmund Freuds Definition des Traums.[10] An sie knüpft dieses Buch an. Wer begreifen will, was Denken ist, muß zu begreifen versuchen, was Träumen ist. Nirgends zeigt sich menschliches Denken in so primitiver Verfassung wie im Traum, selbst noch im 21. Jahrhundert. Zwar ist auch das Traumleben offen für Neues. Im letzten Jahrhundert haben sich darin sogar allerlei Versatzstücke der Industriekultur abgelagert. An seiner primitiven Verfahrensweise hat das nichts Grundsätzliches geändert. Auch die Traumbildung in Hochkulturen ist immer noch ungleich konfuser und realitätsuntüchtiger als das Wachleben der primitivsten jemals bekannt gewordenen Naturvölker. Insofern eröffnet der Traum, auch der zeitgenössische noch, eine Dimension von Vorzeit, an die keine Ethnologie je heranreicht. Andrerseits sind die simpelsten und primitivsten Traumgebilde, von denen wir wissen, ihrerseits schon in beträchtlichem Maße Kulturprodukte. Die Träume, die die älteste erhaltene Mythologie Herrschern, Heroen, Erzvätern oder Göttern zuschreibt, sind allesamt bereits Frühblüten menschlicher Erzählkunst. Und Kinder, die das Privileg haben, daß ihr Gestammel von ersten Träumen aufmerksam aufbewahrt wird, gehören längst Hochkulturen an. Unsere Träume sinken zwar in die Vorzeit zurück, jedoch nicht entfernt so weit, daß auch nur einer von ihnen an den Menschheitsursprung zurückgelangte. Wohl aber sind sie Wegweiser zu ihm hin, und auf den folgenden Seiten ist zu prüfen, ob sie nicht noch etwas mehr sind: seine Niederschläge und Chiffren, die ihn bis zu einem gewissen Grade lesbar machen.
Eine der großen Entdeckungen Freuds war ja, daß das, was wir als Traum erleben und ins Wachbewußtsein herüberretten, bloß der «manifeste Trauminhalt» ist: seine Fassade. Entscheidend ist, was dahinter vorgeht: das Innenleben des Traums, dem es gelingt, sich mit dieser Fassade zu umgeben. Für Freud besteht es aus zwei Mechanismen. Er nennt sie etwas bieder «die beiden Werkmeister»[11] des Traums. Aber ihre Namen lassen aufmerken: Verdichtung und Verschiebung. Ja, diese beiden Begriffe kamen bereits vor. Sie wurden sozusagen inkognito eingeführt, um jene Umleitungs- und Ballungskräfte in der Gattung Homo verstehen zu lernen, ohne die es zu pebble tools und Gräbern, kurzum zur Kultur, schwerlich hätte kommen können. Nun kann hinzugefügt werden: Es sind Begriffe, die dem Zentrum der Freudschen Theorie entstammen. Wenn Freud auf etwas stolz war, dann auf die Entdeckung von Verdichtung und Verschiebung. Sie «als Anzeichen des sogenannten psychischen Primärvorganges» herausgearbeitet und vom «Sekundärvorgang» unterschieden zu haben, der bloß ihre Hülle ist und sie mit der Außenwelt verträglich zu machen versucht: das steht in seiner Lebensbilanz ganz oben an. «Ich glaube, daß diese Unterscheidung bis jetzt unsere tiefste Einsicht in das Wesen der nervösen Energie darstellt.»[12]
Um so erstaunlicher, wie wenig Freud aus dieser Einsicht gemacht hat. Sie ist lebendig, wenn es ihm darum geht, die Träume seiner Patienten besser zu deuten, ihre Neurosen leichter aufzulösen, ja, überhaupt erst einmal den seelischen «Apparat» zu verstehen, aus dessen Tiefen sie aufsteigen. Aber wenn er über seine Patienten und ihre individuelle Vorzeit hinausschaut, sich um die Vorzeit der Gattung zu kümmern beginnt, intensive ethnologische Studien treibt, «die sogenannten Wilden» eigens als «direkte Abkömmlinge und Vertreter der früheren Menschen» und damit als «eine gut erhellte Vorstufe unserer eigenen Entwicklung» ins Visier nimmt und schließlich sogar riskiert, sämtliche Tabus und kulturellen Grundparameter aus dem Mord an einem mächtigen Urvater herzuleiten, den die menschliche Urhorde einst kollektiv begangen habe[13] – dann schlägt seine «tiefste Einsicht» kaum zu Buche. Es gibt hier einen eigenartigen blinden Fleck. Wenn es stimmt, daß der Traum «primitive Denktätigkeit» ist, dann müssen die «Werkmeister» des Traums wohl oder übel auch die «Werkmeister» des gesamten menschlichen Denkens sein, ja der Kultur überhaupt. Doch zu dieser Konsequenz hat Freud sich nicht durchgerungen, und an diesem heiklen Punkt zeigt sich die Ethnopsychoanalyse kaum weniger zögerlich als er.
Das ist kein bloßes Versehen. Man stelle sich einmal für einen Augenblick vor, Freud hätte bei der Abfassung der Traumdeutung die volle Reichweite von Verdichtung und Verschiebung als Kultur- und Denkbildnern bemerkt und sich rückhaltlos der Aufgabe gewidmet, die daraus resultiert. Die Psychoanalyse hätte eine ganz andere Richtung genommen. Sie wäre in weit höherem Maße Anthropologie, Kultur- und Erkenntnistheorie geworden als ohnehin schon. Und vor allem: Freud hätte Philosoph werden und weitgehend aufhören müssen, Arzt zu sein, wozu er sich nicht nur intellektuell nicht gerüstet fühlte, sondern auch um seiner Patienten und um seiner selbst willen nicht bereit war; lebte er doch, auch materiell, von der analytischen Kur und konnte nicht absehen, ob derart weite Ausflüge in philosophische Grundlagentheorie seiner praktischen Arbeit mit Neurotikern irgend zugute kommen würden. Kurzum, er hatte gute Gründe, gar nicht so genau wissen wollen, wie weit Verdichtung und Verschiebung tatsächlich reichen. Seine «tiefste Einsicht in das Wesen der nervösen Energie» überforderte ihn und bedrohte die von ihm begründete Kur. Und so ist seine «tiefste Einsicht» auch die schwerste intellektuelle Hypothek, die er aufgenommen und der Nachwelt hinterlassen hat. Hypotheken sind Forderungen. Ob man ihnen gewachsen ist oder nicht, sie wollen abgetragen sein. Und die hier in Frage stehende wird in dem Maße drückender, wie die hochtechnologische Mentalarchäologie voranschreitet. Wer soll ihre Tiefenwirkungen ins kollektive Bewußtsein heben, wer den Bodensatz des Denkens gegen seine Desedimentierung in Schutz nehmen, wenn nicht eine philosophisch über sich hinausgewachsene Psychoanalyse oder eine psychoanalytisch in sich gegangene Philosophie?
Wer immer sich allerdings dieser Aufgabe stellt, darf sich auf den Vorwurf gefaßt machen, lediglich Spekulation zu betreiben. Doch was heißt hier «lediglich»? Es ist Zeit, die Spekulation zu rehabilitieren. Gewöhnlich wird darunter heute nur noch eine bestimmte Form ungewisser Mutmaßung verstanden: etwa über den Ausgang des nächsten Fußballspiels oder über die Entwicklung von Aktien- und Grundstückspreisen. Als Spekulant gilt, wer aus diesen Ungewißheiten Profit zieht: Makler, Schieber, Schwadronierer. Doch speculator heißt wörtlich Ausspäher, Kundschafter, speculari etwas erspähen, was nicht offen zutage liegt. Damit kann sowohl Ausspionieren als auch Erforschen gemeint sein. Der Idealfall des speculator ist der Detektiv, der aus wenigen Spuren zweifelsfrei erschließt, wie sich der verborgene Sachverhalt tatsächlich zugetragen hat. Im Alltag kommt das Schließen allerdings oft über einen gewissen Plausibilitätsgrad nicht hinaus und ist vor Irrtum selbstverständlich nicht gefeit. Aber damit ist nicht alles, was bloß erschlossen ist, automatisch dubios. Vieles, was sich nicht ins Labor oder auf den Seziertisch zerren läßt, verhält sich dennoch nicht anders, als es sich schlußfolgerndem Denken darstellt. Jeder gerichtliche Indizienprozeß verfährt spekulativ. Er kann auf kein Geständnis bauen und den Täter gleichwohl unabweisbar überführen. Die Paläontologie wäre arbeitsunfähig, knüpfte sie nicht ständig ganze Ketten von Schlußfolgerungen an ihre raren Fundstücke. Und die hier zu entfaltende Achtung für den Bodensatz des Denkens kann nicht einmal äußere Fundstücke vorweisen. Sie muß alte Texte als Fundstücke lesen lernen: als Überbleibsel von noch viel Älterem, worüber die Texte selbst nicht sprechen. Das wäre ein schier aussichtsloses Unternehmen, gehörte zum Bodensatz des Denkens nicht auch eine bestimmte Eigendynamik, man könnte auch sagen, Trieblogik des Nervensystems. Sie wird sich als der Bündnispartner der hier veranstalteten Spekulation erweisen und gelegentlich Zusammenhänge derart unabweisbar machen, daß man sagen darf: Auch wenn die zugänglichen Fakten allein für einen Beweis nicht ausreichen, kann es sich nach menschlichem Ermessen schlechterdings nicht anders verhalten.
Der Weg in den Untergrund des Denkens wird in drei Schritten gegangen. Der erste führt mitten in den Traum hinein. Wer in ihn eintaucht und sich durch seine Eigenlogik treiben läßt, wird zu jener Vorzeit gelangen, wo der Traum noch nicht auf die Schlafphasen beschränkt war, wo es auch im Wachen keine Denkweise gab als seine. Um ihr auf die Schliche zu kommen, ist ein zweiter Schritt erforderlich: hinab zu dem spezifischen Triebleben, aus dem sie hervorgegangen ist. Der Punkt, an dem es spezifisch menschlich wurde, ist der animalische Tiefpunkt und Mittelpunkt der ganzen Untersuchung. Von ihm aus ergibt sich der dritte Schritt: die Triebdimension in der Wortbildung offenzulegen und zu zeigen, wie Traum und Sprache ineinandergreifen. Der Traum «spricht», aber die Sprache «träumt» auch.
Daraus ergeben sich die folgenden drei Kapitel: Traum – Trieb – Wort. Am Eingang steht unübersehbar, wie zur Abholung bereit, Freud. Er ist sozusagen der Vergil dieses Buches. Aber er wird führen, wohin er nicht will.
1 Cf. für das folgende: Friedemann Schrenk, Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, C.H.Beck, München 42003, S.71, 77f., 98, 100, 113, 115, 117
2 Genau dieser Entstehungsaspekt ging verloren, als der jüdische Platoniker Philon das Wort archetypos einführte, und zwar für das «Bild Gottes», nach welchem laut Bibel die Menschen geschafften sein sollen – womit der archetypos außer der Ursprünglichkeit auch noch die Eigenschaften des ewig Seienden, Ungewordenen angehängt bekam. Daran hat Carl Gustav Jung dankbar angeknüpft. Wenn man heute von Archetypen spricht, denkt man vornehmlich an das, was er darunter verstand: unbewußte Urbilder, die die tiefste, kollektive Schicht des menschlichen Seelenlebens ausmachen. «Diese Bilder sind insofern ‹Urbilder›, als sie der Gattung schlechthin eigentümlich sind, und wenn sie überhaupt je ‹entstanden› sind, so fällt ihre Entstehung zum mindesten mit dem Beginn der Gattung zusammen.» (Carl Gustav Jung, Die psychologischen Aspekte des Mutterarchetypus, Gesammelte Werke, Bd. 9/1, Walter-Verlag, Olten 1976, S. 94.) Es kann durchaus sinnvoll sein, von Archetypen zu reden, wenn ihre historischen Gestehungskosten mitbedacht und sie nicht mit dem Nebel des immer schon Daseienden, Unvordenklichen überzogen werden.
3 Ulrich Bahnsen, Heiliger Würger, DIE ZEIT, 14. Dezember 2006, S. 44
4 «Technik war der Zündfunke unserer Evolution». Der Frankfurter Paläontologe Friedemann Schrenk über die großen Momente in der Geschichte der Menschheit, Interview, Süddeutsche Zeitung, 11./12. Februar 2006, S. 24
5 Jeremy Rifkin, Das biotechnische Zeitalter. Die Geschäfte mit der Gentechnik, Goldmann, München 1998, S. 41
6 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Zweite Fassung, Gesammelte Schriften (ed. Tiedemann/Schweppenhäuser), Bd. I. 2, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974, S. 500
7 Siegfried Kracauer, Theorie des Films, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985, S. 225
8 Christoph Türcke, Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, C.H.Beck, München 2002, S.271
9 Jacques Derrida, Grammatologie, 1967, dt. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S. 23
10 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe, Bd. II, Fischer, Frankfurt am Main 1972, S. 539
11 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, l. c., S. 307
12 Sigmund Freud, Das Unbewußte, Studienausgabe, Bd. III, l. c., S. 145 und 147
13 Sigmund Freud, Totem und Tabu, Studienausgabe, Bd. IX, l. c., 1974, S. 295 und 425
Man sitzt in geselliger Runde am Kamin. Zu Füßen des Hausherrn hat sich der Jagdhund wohlig ausgestreckt und schläft. Plötzlich bellt er leise. «Er träumt», sagt der Hausherr; «das ist sein Hetzlaut.» Und die Abendgesellschaft beginnt darüber zu phantasieren, was er denn gerade «hetzen» mag: eine Katze, ein Reh oder einen Fuchs? Wir werden es nie erfahren. Er kann ja nicht in Worte fassen, was ihn im Schlaf hat bellen lassen. Aber daß hochentwickelte Säugetiere träumen, dafür gibt es nicht nur äußere Anzeichen, sondern einen Beweis aus dem neurologischen Labor. Erbracht wurde er zunächst für Menschen. Während ihres normalen Nachtschlafs, so fanden Aserinsky und Kleitman 1953 heraus, treten etwa alle 90 Minuten kurze Phasen erhöhter Gehirnaktivität mit raschen Augenbewegungen (Rapid Eye Movement, abgekürzt: REM) auf.[1] Die meisten Versuchspersonen, die in einer solchen REM-Phase geweckt wurden, bejahten, gerade geträumt zu haben. Damit schien festzustehen: REM-Zustände sind Traumzustände. Und da sich REM auch bei schlafenden Hunden, Katzen und andern Säugetieren nachweisen ließ, drängte sich der Schluß auf: Sie träumen ebenfalls.
Bald stieß die Forschung auf die Ursachen dafür. Tief im Stammhirn, in der sogenannten Brückenregion zwischen Rückenmark und Genickansatz, entdeckte sie eine Formation von Nervenzellen, die einen Botenstoff namens Acetylcholin freisetzt. Er löst die REM-Phasen aus. Nachweislich aktiviert er aber zugleich bestimmte höhere Hirnregionen. Offenbar regt er sie zur Erzeugung von Vorstellungsbildern an. Denn wenn seine Wirkung vorbei ist, also nach wenigen Minuten, endet auch der Traum. Es wird traumlos weitergeschlafen bis zur nächsten REM-Phase. Damit bot sich eine einfache physiologische Erklärung für das gesamte Traumgeschehen an. Träume werden biorhythmisch erzeugt, gewissermaßen durch einen nervlichen Zufallsgenerator im Stammhirn, der in regelmäßigen Abständen das Großhirn zu mehr oder weniger wirren Vorstellungsbildern reizt. Sinn haben sie nicht. Es gibt an ihnen weder etwas zu verstehen noch zu deuten.
Das war natürlich voreilig. Nicht alle aus dem REM-Schlaf geweckten Personen, so stellte sich bald heraus, konnten von Träumen berichten. Andere wiederum hatten Traumerlebnisse außerhalb der REM-Phasen. Es fanden sich sogar Personen, die wegen geschädigter Brückenregion unfähig zum REM-Schlaf waren, aber gleichwohl zu träumen vermochten. Umgekehrt war bei andern der REM-Schlafzyklus vollkommen intakt; dennoch träumten sie rein gar nichts. In ihrer Großhirnrinde, oberhalb der Augenhöhlen, war nämlich ein bestimmter Faserzug beschädigt, der gewöhnlich Impulse aus dem Mittelhirn an die höheren Etagen des Gehirns weiterleitet und sich immer dann als besonders aktiv zeigt, wenn der Organismus «appetitiv» ist, will sagen voller Drang nach äußeren Objekten, die seiner inneren Bedürfnisspannung abhelfen sollen. Diese Leitungsbahn des Wünschens erweist sich also ebenfalls als traumkonstitutiv. Nicht minder gilt das für die «okzipito-temporo-parietale» Übergangsregion hinter und über den Ohren in der Großhirnrinde. Sie spielt «bei der Umsetzung konkreter Wahrnehmung in abstraktes Denken […] sowie beim Behalten organisierter Erfahrung eine wesentliche Rolle». Wird sie verletzt, so fällt das menschliche Träumen ebenfalls ersatzlos aus.
Offensichtlich ist Träumen ein hochkomplexer Prozeß, kommt nicht nur durchs Stammhirn, sondern mindestens ebenso durchs Großhirn zustande, ist nicht nur, wie die REM-Forscher meinten, die wirre Erscheinungsform zyklischer, diffuser Erregung, sondern nicht minder ein Vorgang des Wünschens, Denkens und Erinnerns. Sie gehen im Traum eine Synthese ein. Allerdings kann die Neurophysiologie immer nur Orte im Gehirn angeben, die besonders aktiv sind, wenn diese Synthese stattfindet. Aber sie kann nie sagen, wie sie zustande kommt. Dazu gibt es keinen andern Weg, als den Traum von innen, von seiner Erlebensseite her, aufzunehmen und die «Arbeit» nachzuzeichnen, die sein Zustandekommen kostet, und dabei kommt man an Freuds Traumdeutung nicht vorbei. Durch die REM-Forschung schien sie überholt, durch die neuere Neurophysiologie hingegen hat sie einen neuen Unterbau bekommen.[2]
Auf den muß sie nun allerdings auch neu bezogen werden. Dazu hilft das Beispiel des träumenden Hunds. Es zeigt: Träumen ist nichts exklusiv Menschliches. Wer das Spezifische des menschlichen Traums begreifen will, muß sich erst einmal um dessen animalische Grundschicht kümmern. Das hat Freud in bestimmter Hinsicht durchaus getan. Seine Traumdeutung enthält einen ganzen Abschnitt über die «somatischen Traumquellen»[3]. Darin unterscheidet er «Leibreize», die aus dem Körperinneren kommen, wie Durst, Verdauungsstörungen oder sexuelle Spannung, und «Nervenreize», die von außen einwirken: Kälte, Hitze, Gerüche, Geräusche etc. Allerdings handelt Freud die somatischen Traumquellen mit größter Reserviertheit, ja mit gewissem Widerwillen ab, sah er sich doch umgeben von Forschern, die glaubten, das ganze Traumleben kausal aus ihnen herleiten zu können, als seien Träume stets direkte Abbildungen und Symbolisierungen von Leib- und Nervenreizen. Das ergibt skurrile Behauptungen. «Der menschliche Leib als Ganzes wird von der Traumphantasie als Haus vorgestellt, das einzelne Körperorgan durch einen Teil des Hauses. In den ‹Zahnreizträumen› entspricht dem Mundorgan ein hochgewölbter Hausflur und dem Hinabfall des Schlundes zur Speiseröhre eine Treppe» (TD 232). Gerade das Bestehen auf strenger Kausalität zwischen somatischen Reizen und psychischen Zuständen führt zu den willkürlichsten Zuordnungen; «so findet die atmende Lunge in dem flammenerfüllten Ofen mit seinem Brausen ihr Symbol, das Herz in hohlen Kisten und Körben, die Harnblase in runden, beutelförmigen oder überhaupt nur ausgehöhlten Gegenständen» (TD 233), phantasiert der Philosoph Johannes Volkelt beim Versuch, eine strenge Traumwissenschaft zu begründen. Und die anderen führenden Traumtheoretiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts – Karl Scherner, Ludwig von Strümpell oder Wilhelm Wundt – verfahren kaum anders. Sie kommen als gewissenhafte Methodiker der Kausalität daher, lassen aber bei ihrer Zurückführung komplexer Traumgebilde auf einfache körperliche Reize eine Deutungswillkür walten, die der von Schamanen kaum nachsteht.
Freud hat leichtes Spiel, wenn er ihnen nachrechnet, daß sie die Eigenständigkeit der Traumbildung gegenüber körperlichen Reizen gründlich verkennen. Doch macht er es sich mit dieser Eigenständigkeit nicht etwas zu leicht? Sie ist doch bloß relativ. Das vergißt er gelegentlich. Dann versteigt er sich etwa zu der Behauptung, «daß der Traum kein somatisches, sondern ein psychisches Phänomen ist».[4] Da sind die «somatischen Traumquellen» unversehens ausgeblendet. Das sogenannte Psychische wird wie eine eigene Substanz konzipiert: zwar vergänglich, einem Körper innewohnend, von dessen Stoffwechsel- und Nervenleistungen abhängig, beeinflußt und beeinträchtigt, aber dennoch als ein eigenes Sein mit eigenen Gesetzmäßigkeiten, philosophisch gesprochen, als ens per se. Freud wird hier fast zum Metaphysiker. Dabei ist es gar nicht nötig, die Seele substantialistisch zu denken, um ihre Eigenständigkeit zu sichern. Es genügt, sie als eine besondere nervliche Balanceleistung in höheren Organismen wahrzunehmen. Balance ist etwas höchst Erstaunliches: nie ganz zu durchschauen oder zu deduzieren. Sie ist nämlich nicht einfach eine Wirkung physischer Ursachen, sondern das Kunststück, körperliche Organe gegen ihre eigene Schwerkraft in ein höheres, gleichsam schwebendes Verhältnis zueinander zu bringen. Ein Stück weit gelingt das schon Kleinkindern, wenn sie stehen oder laufen lernen. Seiltänzer machen daraus dann ein Virtuosenstück.
Und wie es motorische Balanceleistungen gibt, so auch sensorische. Hier sind es «Leibreize» und «Nervenreize», die aus dem Trott ihrer natürlichen Abfuhr gebracht und allmählich in jenen koordinierten Schwebezustand versetzt werden, den man dann «seelisches Erleben» nennt. Auch hier gilt: Die Balance läßt sich allenfalls in Umrissen beschreiben; aber wie sie möglich ist und wirklich wird, läßt sich nicht erklären. Wird sie jedoch oft genug geübt, kann sie sich derart habitualisieren, daß sie wie eine Automatik abläuft und den Anschein erweckt, als sei sie die Leistung einer eigenen psychischen Substanz. Diesem Anschein ist die abendländische Metaphysik voll aufgesessen. Von Platon bis Hegel hat sie die Seele, zumindest die vernunftbegabte, die sogenannte Geistseele, als etwas in sich selbst Fundiertes erachtet und ihr eine eigene Essenz untergeschoben. «Hypostasierung» nennt man das. Zwar ist Balance etwas bewundernswert Eigenständiges und aus dem Balancierten nie zureichend herleitbar, Seele als nervliche Balanceleistung also etwas qualitativ anderes als Körper. Andrerseits ist diese Balance nichts als ein bestimmtes Verhältnis zwischen dem Balancierten, Seele also lediglich ein besonderer Aggregatzustand von Körperlichem.
Warum dieser Aggregatzustand beim Homo sapiens überdies noch jene spezifische Qualität gewonnen hat, die man «mental» nennt, wird sich im Laufe dieses Kapitels zeigen. Vorerst genügt der Hinweis, daß «das Psychische» keine eigene Domäne ist. Psychoanalytiker, die es für sich reservieren und der Neurowissenschaft nur eine Kompetenz für «das Physische» zugestehen wollen, setzen die alte Hypostasierung der Seele lediglich mit neuen Mitteln fort. Warum aber fürchten sie sich vor der Einsicht, daß «das Psychische» selbst bloß eine nervliche Balanceleistung ist? Hätten sie doch allen Anlaß, (sich) daran zu erinnern, daß der Gründer ihrer Disziplin Neurologe war – zwar einer, der sich nach und nach vom Ungenügen der Neurologie überzeugte, aber doch kein platter Konvertit. Freud hat als Psychoanalytiker keineswegs aufgehört, Neurologe zu sein. Deshalb ist er ein gewisses Schwanken auch nie losgeworden. Wenn er die Psychoanalyse gegen die Theologie profilierte, gab er sich stets als harter, illusionsloser Naturwissenschafter. Wenn er sie gegen die 23 Neurologie absetzte, wurde er zum Dechiffrierer von Bildern und Symbolen – mit einer gewissen Anfälligkeit für Keime des philosophischen Idealismus. Dies Schwanken war nicht nur sein persönliches Problem. Es gehört zur Psychoanalyse selbst; ist sie doch nichts anderes als über sich selbst hinausgewachsene Neurologie. Alle Versuche, sie eindeutig auf eine Seite festzulegen, als sei sie «eigentlich» eine Hermeneutik, die sich gelegentlich als Naturwissenschaft mißverstanden, oder «eigentlich» eine klinische Praktik, die sich gelegentlich in die Kulturtheorie verirrt habe, sind identitätslogische Verkürzungen – genauso wie alle Bemühungen, die Seele als eindeutig körperlich oder unkörperlich zu identifizieren.
So entsteht Lagermentalität. Weder Psychoanalyse noch Neurowissenschaft sind davon frei. Um so begrüßenswerter sind neuerliche Bestrebungen, sie zu überwinden.[5] Freilich ist die Wiederannäherung der beiden Disziplinen keine bahnbrechende Pioniertat, sondern lediglich eine überfällige Rückbesinnung auf den Ursprung der Psychoanalyse – auf ihr Entspringen aus der Neurologie. Damit aber steht auch das Entspringen des Traums aus «somatischen Quellen» neu zur Debatte. Es ist, wie sich bereits andeutete, etwas ernster zu nehmen, als Freud es tat. Woraus soll der Traum, als er sich einst in höheren Organismen zu bilden begann, anfangs denn gekommen sein, wenn nicht aus Somatischem? Was anderes als körperliche Reize läßt Hunde träumen? Zunächst einmal muß sich aus somatischen Quellen eine animalische Grundschicht des Träumens gebildet haben. Dann erst kann das Traumleben seine eigenen Wege gehen und sich zu einem komplexen, schwebenden Gebilde ausbalancieren; dann erst kommt nicht jeder einzelne Traum mehr direkt aus körperlichen Reizen; dann erst greift Freuds Kritik an der Traumforschung seiner Zeitgenossen. Und nie werden Leib- und Nervenreize ganz irrelevant für den Traum. Dafür, wie wirksam seine animalische Grundschicht noch in hochkultivierten Menschen ist, gibt Freud selbst das beste Beispiel.
«Da ist z.B. ein Traum, den ich mir beliebig oft, gleichsam experimentell, erzeugen kann. Wenn ich am Abend Sardellen, Oliven oder sonst stark gesalzene Speisen nehme, bekomme ich in der Nacht Durst, der mich weckt. Dem Erwachen geht aber ein Traum voraus, der jedesmal den gleichen Inhalt hat, nämlich daß ich trinke. Ich schlürfe Wasser in vollen Zügen, es schmeckt mir so köstlich, wie nur ein kühler Trunk schmecken kann, wenn man verschmachtet ist, und dann erwache ich und muß wirklich trinken.» (TD 142) Zwei physische Grundbedürfnisse sind hier in Konflikt geraten: Durst und 24 Schlaf. Schlaf aber, sagt Freud, «ist ein Zustand, in welchem ich nichts von der äußeren Welt wissen will […] und ihre Reize von mir abhalte. Beim Einschlafen sage ich also zur Außenwelt: Laß mich in Ruhe, denn ich will schlafen. Umgekehrt sagt das Kind: Ich geh’ noch nicht schlafen, ich bin nicht müde, will noch etwas erleben. […]. Unser Verhältnis zur Welt, in die wir so ungern gekommen sind, scheint es mit sich zu bringen, daß wir sie nicht ohne Unterbrechung aushalten. Wir ziehen uns daher zeitweise in den vorweltlichen Zustand zurück, in die Mutterleibsexistenz also. Wir schaffen uns wenigstens ganz ähnliche Verhältnisse, wie sie damals bestanden: warm, dunkel und reizlos. Einige von uns rollen sich noch zu einem engen Paket zusammen und nehmen zum Schlafen eine ähnliche Körperhaltung wie im Mutterleibe ein. […] Wenn das der Schlaf ist, so steht der Traum überhaupt nicht auf seinem Programm […] Es soll keine seelische Tätigkeit im Schlaf geben; rührt sich diese doch, so ist uns eben die Herstellung des fötalen Ruhezustandes nicht gelungen; Reste von Seelentätigkeit haben sich nicht ganz vermeiden lassen. Diese Reste, das wäre das Träumen.» (VL 105f.)