HILDEBRAND GURLITT
1895–1956
Die Biographie
C.H.Beck
Der Handel mit geraubter Kunst ist das größte Thema der NS-Vergangenheit, das noch auf seine Aufarbeitung wartet. Der Name Hildebrand Gurlitt steht für dieses ungesühnte Unrecht, seit die Welt von seiner lange verborgenen Kunstsammlung erfuhr. Doch wer war der Mann, der als junger Museumsdirektor für die moderne Kunst kämpfte und sie dann als «entartet» verkaufte? Der als «Vierteljude» Raubkunst für Hitlers Führermuseum erwarb und daran Millionen verdiente?
Meike Hoffmann und Nicola Kuhn legen die erste Biographie von Hitlers berüchtigtem Kunsthändler vor. Als Pionier der modernen Kunst ist Hildebrand Gurlitt in den 1920er Jahren vielbewundert. 1930 wird er als Museumsdirektor entlassen, als der Gegenwind von rechts zu stark wird, und verliert 1933 erneut seinen Posten. Doch kurz danach beginnt sein zweiter Aufstieg als Kollaborateur und Profiteur im Nationalsozialismus. Er verschafft dem Deutschen Reich Devisen durch den Verkauf von «Entarteter Kunst», geht nach Paris und erobert sich den Kunstmarkt in den besetzten Gebieten. Er wird reich mit Bildern, die er an Hitlers geplantes Museum in Linz verkauft – und ist schon 1948 als Direktor des Kunstvereins in Düsseldorf wieder in Amt und Würden. Gurlitts Biographie ist eine Geschichte von Tragik, Verbrechen und Verdrängung, die ihren Schatten bis in die Gegenwart wirft.
Meike Hoffmann ist promovierte Kunsthistorikerin und arbeitet seitvielen Jahren über den Kunsthandelim Nationalsozialismus. Nach den Spuren von Hildebrand Gurlitts Lebenhat sie in zahlreichen Archiven im In- und Ausland geforscht. Seit 2006 ist sie Projektkoordinatorin der Forschungsstelle «Entartete Kunst» an der Freien Universität Berlin. Siewar Mitglied der internationalen Taskforce «Schwabinger Kunstfund» und ist Mitarbeiterin der Folgeprojektezur Erforschung von Gurlitts Kunstsammlung.
Nicola Kuhn ist Kunstkritikerin und Redakteurin im Feuilleton des «Tagesspiegels». Sie hat Kunstgeschichteund Neuere Geschichte studiert undan der Freien Universität wie ander Universität der Künste in Berlingelehrt. 2013 wurde sie mit dem Kritikerpreis der hbs Kulturstiftungausgezeichnet.
Für Luzie, Lotti und Jens
Für Josefine, Jan und Jörg
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Vorwort |
Kapitel 1 |
Prolog: Eine doppelte Wende |
Kapitel 2 |
Die Gurlitts: Ein Familienporträt |
Kapitel 3 |
Schule der Kunst (1895 bis 1914) |
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Eine Kindheit und Jugend in Dresden |
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Cornelius Gurlitt und die künstlerische Moderne in Dresden |
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Erste Begegnungen mit den Malern der «Brücke» |
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Auf Linie gebracht: Nationalismus als Lehrinhalt |
Kapitel 4 |
Schule des Lebens (1914 bis 1918) |
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Eine Nation stürzt sich in den Krieg: Hildebrand Gurlitt wird Soldat |
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Zwischen Abenteuer und Grauen: Erfahrungen an der Front |
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Im Lande Ober-Ost |
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Auftrag Kultur: Hildebrand Gurlitt in der Presseabteilung des Militärs |
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Sehnsucht nach Frieden und einem neuen Leben |
Kapitel 5 |
Netzwerke (1918 bis 1920) |
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Aufbruch in die Selbstständigkeit |
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Universitätsbeginn in Frankfurt und der Verlust der Schwester |
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Studium in unruhiger Zeit |
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Familienbande und Freundschaften fürs Leben |
Kapitel 6 |
Die Kunst ruft – der Vater auch (1920 bis 1925) |
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Eine Chance für die Avantgarde |
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Der angehende Kunsthistoriker politisiert sich |
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Auf dem Sprung: Gurlitt als Kustos, Kritiker und Künstlerfreund |
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Eine Partnerin für das Leben |
Kapitel 7 |
Vorerst am Ziel – vorerst am Ende (1925 bis 1930) |
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Das Zwickauer König-Albert-Museum im Auftrieb |
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Gegenwind von rechts: Gurlitt muss gehen |
Kapitel 8 |
Vom Regen in die Traufe (1931 bis 1933) |
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Intermezzo in Dresden mit einem Großauftrag: Die Sammlung Kirchbach |
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Neubeginn in Hamburg beim Kunstverein |
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Gurlitt in seinem Element, der Kunstverein als Forum |
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Der Konflikt spitzt sich zu: Das zweite Aus |
Kapitel 9 |
Zwischen Geradlinigkeit und taktischen Manövern (1933 bis 1937) |
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Unter dem Radar: Aufbau einer neuen Existenz |
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Als Berater zu Diensten: Gurlitt kauft für Kirchbach ein |
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Häutungen: Offiziell Kunsthändler |
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Gefahr zieht herauf: Die Verschärfung der NS-Gesetze |
Kapitel 10 |
Der Pakt mit den Schergen (1937 bis 1941) |
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Ein Feldzug gegen die Moderne: Beginn der Beschlagnahmungen |
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Die Münchner Ausstellung «Entartete Kunst» als Fanal |
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Geschäftsmann für die Nationalsozialisten |
Kapitel 11 |
Im Auftrag des «Führers» (1941 bis 1944) |
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Gelegenheit macht Profiteure |
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Handel im Ausland: Gurlitt erweitert seinen Radius |
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Chefeinkäufer für das «Führermuseum» |
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Als Unterhändler unterwegs für deutsche Museen |
Kapitel 12 |
Ein Lastauto voller Kunst (1944 bis 1947) |
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Das Ende in Dresden |
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Unterschlupf im fränkischen Aschbach |
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Die Amerikaner kommen: Fragen an «Chiefdealer» Gurlitt |
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Eine Nachkriegskindheit: Cornelius und Benita Gurlitt |
Kapitel 13 |
Restitutionsversuche nach dem Krieg (1947 bis 1948) |
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Weiße Westen: Gurlitt wird entnazifiziert |
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Freigeist und Widerständler? Der einstige NS-Profiteur sucht sich Fürsprecher |
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Als «Nutznießer» unter Verdacht: Eine Denunziation |
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Heimholung einer Sammlung: Gurlitt erhält seine Bilder zurück |
Kapitel 14 |
Neuer Anfang, alte Schuld (1945 bis 1947) |
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Anknüpfungsversuche nach dem Krieg |
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Auf Kundensuche: Wiedereinstieg in den Kunsthandel |
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Deutschlandweit zerstreut: Von Depots und ausgelagerten Schätzen |
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Unerwünscht: Versuche einer Rückkehr ans Museum |
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Mission Dresden: Hildebrand Gurlitt engagiert sich in der alten Heimat |
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Gedankenspiele zwischen Dresden und Krefeld |
Kapitel 15 |
Ein gewichtiges Erbe (1948 bis 1956) |
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Wieder in Amt und Würden: Gurlitt wird Direktor des Düsseldorfer Kunstvereins |
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Ausstellungsmacher, Quartiermeister, Drahtzieher |
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Wiedergutmachungen: Rückgaben nach Frankreich |
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Alte Freunde, neue Heimlichkeiten |
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Tod eines Antreibers: Gurlitt stirbt im Zenit seines Düsseldorfer Schaffens |
Kapitel 16 |
Vom Dunkel ins Scheinwerferlicht |
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Eine Sammlung wird entdeckt |
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Ein Leben im Verborgenen: Der Sohn eines übergroßen Vaters |
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Die Sammlung Gurlitt und die Washingtoner Prinzipien |
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Alarmstufe Kunst: Die Taskforce wird gegründet |
Kapitel 17 |
Eine Sammlung sucht ihren Ort |
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Eine moralische Pflicht: Die Bundesregierung will die Restitutionen übernehmen |
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Das Kunstmuseum Bern als neue Bleibe |
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Im Erbstreit |
Kapitel 18 |
Folgen für öffentliche Museen und private Sammlungen |
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Perspektivwechsel auf die eigenen Bestände |
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Kirchners «Straßenszene»: Eine Restitution eröffnet die Diskussion in Deutschland |
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Alte Fristen, neue Gesetze |
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Ausnahmefall Privatmuseum |
Anhang |
Dank |
Der Fall Gurlitt hat die Welt aufgerüttelt, ein neues Licht auf privaten wie musealen Kunstbesitz geworfen. Die Öffentlichkeit nahm in den Monaten nach der Entdeckung des «Schwabinger Kunstfunds» am Thema Raubkunst Anteil wie nie zuvor. Unsere Biographie des Menschen hinter dem Fund erzählt die Geschichte der Bilder – woher sie stammten, was den Sammler motivierte, in welchem Zwielicht er sich bewegte. An seinem Leben, das sich über vier Epochen deutscher Geschichte erstreckte – Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik –, lassen sich tragische Dimensionen, verbrecherisches Handeln und die hartnäckige Verdrängung der eigenen Schuld aufzeigen. Gurlitts Weg erscheint bezeichnend für viele Deutsche, die im Nationalsozialismus unter Druck gerieten, mitmischten, sich verstrickten und sich nach dem Ende des «Dritten Reiches» einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht mehr stellen wollten.
Als Autorengespann, als Wissenschaftlerin und als Kunstkritikerin, haben wir die Zusammenarbeit an der Biographie Hildebrand Gurlitts als ausgesprochen fruchtbar empfunden. Meike Hoffmann entwickelte das Konzept – Nicola Kuhn stieß dazu. Jede von uns hat ihren Anteil eingebracht, und zu unserer Freude geschah dies nicht separiert, denn die Felder mischten sich – Quellen ausgewertet und formuliert haben wir beide. Basis des Buches sind die jahrelangen Recherchen von Meike Hoffmann in in- und ausländischen Archiven zum Kunsthandel in der NS-Zeit und insbesondere zu Hildebrand Gurlitt im Rahmen ihrer Forschungen an der Freien Universität Berlin. Auf Grundlage der von ihr aufgefundenen noch nicht ausgewerteten Selbst- und Fremdzeugnisse zu Hildebrand Gurlitt war es erst möglich, die Brüche und Ambivalenzen von dessen Lebensweg herauszuarbeiten. Am Fall Gurlitt wird sichtbar, welche Defizite bis heute in der Aufklärung von Kunstraub und Kunsthandel im «Dritten Reich» bestehen, wie viel Aufarbeitung die Museen noch zu leisten haben und dass auch die Gesetzgebung zur Restitution von Raubkunst neu überdacht werden muss.
Meike Hoffmann und Nicola Kuhn im Dezember 2015
Ein sonniger Tag verspricht es zu werden. Ende April hat das Thermometer in Hamburg schon 18 Grad erreicht. Der Frühling kommt mit aller Kraft, in den Vorgärten und Parks blühen die Rabatten, rund um die Alster, wo sich die Hansestadt von ihrer prächtigsten Seite zeigt, sprießt es. Auch die Häuser sind geschmückt für diesen besonderen Tag, den 1. Mai 1933, allerdings nicht vorsommerlich heiter. Die öffentlichen Gebäude sind beflaggt. Die Anordnung zum Hissen – neben der schwarz-weiß-roten Fahne des Kaiserreichs hat auch die Hakenkreuz-Flagge im Wind zu wehen – kommt direkt aus Berlin und ergeht an alle Städte im Deutschen Reich, denn Hitler hat den 1. Mai zum «Feiertag der deutschen Arbeit» erklärt. Das Reichspropagandaministerium und die Nationalsozialistische Betriebsorganisation haben überall Aufmärsche geplant, eine Machtdemonstration gigantischen Ausmaßes. Mit Paraden und Massenaufzügen im ganzen Land sucht die NSDAP die Arbeiterschaft hinter sich zu scharen, nur um am nächsten Morgen eine brutale Offensive gegen die Gewerkschaften zu eröffnen und sie zu zerschlagen. Die Funktionäre werden verhaftet, die Konten beschlagnahmt, die Gewerkschaftshäuser besetzt.
Ein Tag mit schlimmen Folgen sollte es werden. Welche Fortsetzung dieser 1. Mai 1933 haben würde, konnte damals niemand ahnen, aber eine eigentümliche Stimmung, eine Mischung aus Vorfreude auf das Spektakel, aus Machtlüsternheit, aus banger Sorge, dürfte geherrscht haben. Die Verfolgung von Kommunisten, Künstlern, Andersdenkenden, von Juristen und Finanzbeamten jüdischer Herkunft hatte sogleich nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 begonnen. Eine regelrechte Fluchtwelle erfasste das Land nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar, 37.000 Menschen emigrierten im Laufe des Jahres. Am 1. April kam es zu blutigen Ausschreitungen beim reichsweiten Boykott jüdischer Geschäfte. Eine knappe Woche später, am 7. April 1933, wurden mit dem «Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums» Professoren aufgrund ihrer jüdischen Herkunft oder politischen Einstellung ihrer Ämter enthoben. Der zum Feiertag erklärte 1. Mai unter dem Motto «Ehret die Arbeit und achtet den Arbeiter!» diente als weiterer Baustein im nationalsozialistischen Machtgefüge, die Integration der Arbeiter in die neue «Volksgemeinschaft» besaß bei den Nationalsozialisten höchste Priorität. Sie sollten das Fundament für den neuen Staat bilden.
Auch Hamburg präpariert sich für den neu deklarierten Feiertag, neben Berlin und München gilt die größte Stadt im Norden als wichtiger Ausgangsort für die nationalsozialistische Bewegung. Was hier geschieht, wird im Land wahrgenommen. Längst befindet sich Hamburg in Parteihand, seit Carl Vincent Krogmann bei der Senatswahl am 8. März zum Ersten Bürgermeister bestimmt worden ist. Trotzdem vollzieht sich der Wandel in den ersten Monaten langsam. Zwar übernimmt die NSDAP bei der Senatswahl im März die Führung, aber die Bürgerschaft, das Parlament der Hansestadt, hat Anteil an der Regierungsneubildung und stellt sechs der insgesamt zwölf Senatoren. Damit sieht es vorläufig so aus, als bliebe das parlamentarische System erhalten. Erst in einem zweiten Schritt wird Hamburg vollends gleichgeschaltet. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung lässt sich bereitwillig täuschen.
In der Hansestadt sind zum 1. Mai wie überall sonst auch Paraden geplant, Musikaufführungen finden statt, öffentliche Bekenntnisse zu Hitler als neuem Führer stehen auf dem Programm. Für die Hamburgische Universität ergreift der Mediziner und Prorektor Ludolph Brauer das Wort: «Wir bekennen uns zu unserem kraftvollen Reichskanzler Adolf Hitler […] Wir haben des Mannes, der uns von der deutschen Zwietracht erlösen sollte, sehnsüchtig geharrt. Nun ist er erstanden. Freudig wollen wir ihm dienen.» Der Anhänger der Deutschnationalen Volkspartei ruft pathetisch zu Vaterlandsliebe, Opferbereitschaft, Wehrhaftigkeit auf und verspricht stellvertretend für die Alma Mater: «In diesen hohen Idealen werden unsere Universitäten zu allen Zeiten dastehen, weil es Deutsche sind, die an ihnen walten.»[1]
Am 1. Mai bekunden nicht nur die Arbeiter, sondern auch andere gesellschaftliche Gruppen ihre Gefolgschaft gegenüber den neuen Machthabern. Wer sich an diesem Tag verweigert, und das an prominenter Stelle, muss mit Folgen rechnen. Nur fünf Minuten vom Universitätsgebäude entfernt, wo Prorektor Brauer seine flammende Rede hält, befindet sich damals in der Neuen Rabenstraße 25 der Hamburger Kunstverein. Auf dessen Dach flattert keine Fahne. Ohnehin fällt das Gebäude aus der Nachbarschaft heraus. Zwischen den klassizistischen Patriziervillen wirkt die kühle, glatte Fassade aus Glas und hell verputzten Flächen wie eine Kampfansage an die Umgebung, an Tradition und Norm. Die von dem Hamburger Architekten Karl Schneider zum Vereins- und Ausstellungshaus umgebaute Villa ist in ihrer modernen Erscheinung dem lokalen «Kampfbund für Deutsche Kultur» seit jeher ein Dorn im Auge. Und dann noch diese Provokation, eine Form der Sabotage beinahe: Ausgerechnet in dem gediegenen Viertel Rotherbaum mit seinen vielen öffentlichen Gebäuden wie der Universität, dem Fernsprechknotenamt, dem Norddeutschen Rundfunk und zahlreichen Museen bleibt die Fahnenstange hier leer.
Das Nichthissen der Flagge ist ein Akt der Verweigerung; die Nachteile für seine weitere Karriere kann sich Hildebrand Gurlitt, der Direktor des Hamburger Kunstvereins, ausmalen. Aus heutiger Sicht imponiert diese Tat zunächst – dann aber irritiert sie, denn Gurlitt kollaboriert nur wenig später mit den Nationalsozialisten, die ihn zu einem ihrer wichtigen Kunsthändler machen. Was ist das für ein Mensch, der nach bewiesener Standhaftigkeit dann doch überläuft und sich im Laufe der Zeit zunehmend bereichert? Was ist das für eine Tat, die einerseits Signalwirkung besitzt und später umso mehr die verlorene Orientierung bezeugt? Hildebrand Gurlitt trifft innerhalb weniger Jahre zwei Mal für sein Leben folgenschwere Entscheidungen, erst gegen und dann für das NS-Regime. Wie wird ein kritischer Geist zum Mitläufer, ein Vorkämpfer der Moderne zu deren Liquidator, ein Opfer zum Täter? Der abmontierte Fahnenmast steht für eine Haltung, von der am Ende nicht viel übrig bleibt, ein Bekenntnis, das zur Leerstelle mutiert.
Am 1. Mai 1933 jedoch zeugt dieses Bild von Entscheidungskraft. Hildebrand Gurlitt weiß, was er tut, er weiß auch, dass er hier in einer Grauzone agiert, da es sich beim Kunstverein nicht um ein städtisches Gebäude handelt und das Hissen der Hausfahnen darum hier nicht verpflichtend ist. Dass ein solcher Akt die Nationalsozialisten trotzdem an empfindlicher Stelle trifft, zeigen die zahlreichen Denunzierungen und anschließenden Verfahren gegen Personen, die sich am 1. Mai 1933 kritisch zur Hakenkreuz-Fahne geäußert haben sollen. Gurlitt hat seine Kontakte zu den Größen der Hamburger Politik, die er vorher geschickt zu nutzen wusste, unweigerlich zerstört. Es kommt, wie es kommen muss: Als Direktor kann er sich nur noch dreieinhalb Monate halten, dann verliert er seinen Posten. Als er am 15. August 1933 sein Amt niederlegt, geht mit ihm der gesamte Vorstand.[2] Der Wind hat sich endgültig gedreht. Carl Vincent Krogmann, der neue Bürgermeister, der dem gerade erst zwei Jahre amtierenden Hildebrand Gurlitt bislang gewogen war und den Kunstverein unterstützte, lässt ihn fallen. Der Zorn auf den renitenten Direktor ist selbst Wochen nach dessen Entlassung aus dem Amt noch nicht verraucht. Und die Folgen reichen weiter: Eine Laufbahn als Leiter einer Sammlung moderner Kunst, die Gurlitt seit seiner Studienzeit verfolgt hat, ist damit verbaut. Gurlitt hat sich ins Abseits manövriert. Als der Kunstvereinsdirektor gehen muss, wird er mit einem Publikationsverbot belegt, das ihm sowohl das öffentliche Reden als auch das Schreiben untersagt. Auch sein Anspruch auf eine Pension ist verwirkt.[3] Er steht damit zum zweiten Mal vor den Trümmern seiner Karriere, nachdem er schon in Zwickau als Direktor des König-Albert-Museums wegen seines Einsatzes für die moderne Kunst seines Amtes enthoben wurde.
Warum hat es Gurlitt darauf ankommen lassen? Warum gibt er sein Engagement für die Avantgarde vorerst auf? Was hat den als energisch und durchsetzungsstark geltenden Vorkämpfer der Moderne veranlasst, seine Ablösung zu provozieren? Der 1. Mai 1933 wird für Gurlitt zum Wendepunkt. Er muss erkennen, dass seine Vision einer modernen Kunst als Symbol für die deutsche Nation mit der Ideologie der Nationalsozialisten nicht zu vereinbaren ist. Der von Hitler ernannte «Tag der Arbeit» bezeugt ihm durch die schiere Masse seiner Teilnehmer, dass die Mehrheit in eine andere Richtung strebt. Jenes alle gesellschaftliche Schichten umfassende Publikum, das er seit seinen Anfängen als junger Kurator in Zwickau erreichen wollte, wird ihm nicht mehr folgen, er steht auf verlorenem Posten. Den Kunstverein als Instrument seiner pädagogischen Arbeit kann er nicht mehr einsetzen. Mit dem Nicht-Hissen der Hakenkreuz-Fahne signalisiert er nach außen Widerstand, hat zu diesem Zeitpunkt aber für sich schon resigniert. In der Öffentlichkeit beweist Gurlitt Standhaftigkeit, als privater Geschäftsmann aber lässt er sich nur allzu bald korrumpieren.
Der 1. Mai 1933 ist für Hildebrand Gurlitt schicksalhaft. Sein Leben scheidet sich in ein Davor und ein Danach. Später schreibt er rückblickend über sein Leben, es sei darin «in seinem Wechsel nicht viel Besonderes aber sehr viel typisch deutsches enthalten».[4] Damit dürfte er genau jene Ambivalenzen gemeint haben, denen er sich jedoch nie wirklich stellte. Sich selbst hat er als Taktiker gesehen, der für seine Mission, die Durchsetzung der Moderne, zu Umwegen gezwungen war. Auf diese Weise verbrämte er seine Verfehlungen im NS-Regime. Die Erfahrungen am Zwickauer Museum prägten ihn, das Desaster am Hamburger Kunstverein bestätigte ihn darin, den institutionellen Rahmen zu verlassen. Nur wenig später sollte sich zeigen, dass ihm in dieser Zeit auch sein inneres Korrektiv verloren ging.
Die Aussicht auf ein zweites Zwickau mag Hildebrand Gurlitt zu seinem widerständigen und zugleich fatalistischen Schritt am 1. Mai bewogen haben. Die Erinnerung an seine Niederlage als erster hauptamtlicher Direktor des dortigen König-Albert-Museums muss ihm im Nacken gesessen haben. Während seiner Amtszeit von 1925 bis 1930 war er einer ständigen Kritik aus rechtskonservativen Kreisen ausgesetzt, der die Richtung des jungen Museumsdirektors nicht passte. Gurlitt baute hier erstmals eine moderne Kunstsammlung auf und ließ das Interieur im Bauhaus-Stil gestalten. Unter Gurlitt wird das Museum zu einem Muster für die Museumsreform, mit der in der Weimarer Republik auf Grundlage einer liberalen Kulturpolitik Deutschland als Kulturnation wieder erstarken soll. Unter ihm verwandelt sich innerhalb kürzester Zeit ein verschlafenes Provinzmuseum in ein Haus mit überregionaler Ausstrahlung.
Doch Gurlitt muss sich tagtäglich bei der Stadt Zwickau rechtfertigen, Geld bekommt er kaum zur Realisierung seiner Pläne. Trotzdem setzt er sich zunächst durch, was ihm in Kollegenkreisen hohes Ansehen verschafft, wofür er regelrecht gefeiert wird. Die Stadt selbst, die Mehrheit der Bevölkerung hat kaum Verständnis für Gurlitts Ambitionen. In dem von Industrie und Arbeiterschaft geprägten Umfeld besitzt die Kultur allgemein keinen hohen Stellenwert. Seit Beginn der 1920er Jahre gewinnen die Nationalsozialisten an Terrain. Und so sieht sich Gurlitt bald schon Diffamierungen in der Presse ausgesetzt, die ihrem Unverständnis gegenüber der von ihm geförderten Kunst, ja Hass gegen die Moderne freien Lauf lässt. Nachdem die Hetze einmal begonnen hat, besitzt Gurlitt kaum noch eine Chance. Nichts hilft mehr, kein Intervenieren des Deutschen Museumsbundes, keine Petition von Kunstfreunden, nicht einmal von Politikern. Zum April 1930 wird Gurlitts Vertrag mit der Stadt Zwickau aufgelöst. Als einer der ersten Museumsdirektoren Deutschlands muss er wegen seines Engagements für die Avantgarde gehen.
Im Vergleich zu diesen Verwerfungen muss sich für Gurlitt im Frühjahr 1933 die Situation noch verhältnismäßig harmlos dargestellt haben. Erst recht zwei Jahre früher, als er in die Hansestadt übergesiedelt ist, um den Posten des geschäftsführenden Direktors am Hamburger Kunstverein anzutreten. In Hamburg ist die Familie Gurlitt seit 200 Jahren ansässig und schon immer im Kulturbereich tätig gewesen. Eine Gurlitt-Insel und eine Gurlittstraße im Stadtteil St. Georg erinnern bis heute daran. Ihre Benennung im Jahr 1840 geht zurück auf den Aufklärer und Lehrer Johann Gottfried Gurlitt, der das Hamburger Gymnasium Johanneum reformierte. Abgesehen von den familiären Bindungen, die Hildebrand Gurlitt Wohlwollen in der Stadt sichern, ist auch das kulturelle Klima hier sehr viel freundlicher als in Zwickau.
In Hamburg existiert vor 1933 eine pluralistische Kunstszene, die Moderne hat hier längst Einzug gehalten. Es gibt eine potente und einflussreiche Sammlerszene, auf die sich Gurlitt berufen kann. Und es gibt prägende Persönlichkeiten in öffentlichen Institutionen, allen voran Max Sauerlandt, Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe, sowie Gustav Pauli, Direktor der Hamburger Kunsthalle, und Fritz Schumacher, Oberbaudirektor der Hansestadt, die schon lange vor Hildebrand Gurlitts Ankunft 1931 für die Moderne eingetreten sind. Die Hansestadt rangiert gleich hinter Berlin als die progressivste Stadt der Weimarer Republik.
Aber auch in Hamburg hat Gurlitt bald Kämpfe auszufechten. Als besonders streitanfällig erweist sich die gemeinsame Bespielung des Kunstvereinsgebäudes mit der konservativen «Hamburgischen Künstlerschaft». Auch wenn Gurlitt um einen ausgewogenen Ausstellungsplan bemüht ist, gibt es immer wieder Auseinandersetzungen. Der offene Streit lässt nicht lange auf sich warten – 1932 wird eine Pressekampagne gegen Gurlitt eröffnet, ein aus Zwickau bekanntes Spiel. Die Attacken gegen ihn gipfeln im März 1933 darin, dass per Anordnung des Polizeipräsidenten eine Ausstellung der Hamburgischen Sezession im Kunstverein geschlossen wird – das erste Verbot einer Kunstausstellung im «Dritten Reich».
Dieser Schlag dürfte jedoch nicht der Grund für Gurlitts Entscheidung gewesen sein, die Kunstvereinsarbeit aufzugeben, denn gleich darauf beweist er noch einmal, dass ihm gerade in den Weg gestellte Hemmnisse ein Ansporn sind. Unmittelbar nach Schließung beginnt er mit der Vorbereitung einer unverfänglichen Altmeister-Ausstellung, um den Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit einer Schau italienischer Futuristen, einer im faschistischen Italien akzeptierten Richtung der Avantgarde, versucht er, das Ruder noch einmal herumzureißen. Als Eröffnungsredner kann er den mit ihm befreundeten Carl Vincent Krogmann gewinnen. Ein geschickter Schachzug, denn Krogmann gehört zu einer der einflussreichsten Kaufmannsfamilien der Hansestadt und steht für die alteingesessene Bürgerschaft in Hamburg, die das kulturelle Geschehen bis dahin prägte. Als Sammler und Förderer einer gemäßigten Moderne und zugleich NSDAP-Mitglied soll er dem in die Kritik geratenen Kunstvereinsdirektor den Rücken stärken. Doch mit der Entfernung des Fahnenmastes verspielt Gurlitt seine Gunst.
Als dies geschieht, ist eine Diffamierung der modernen Kunst als «entartet» noch nicht in Sicht. Ganz im Gegenteil gibt es im ersten Jahr nach der nationalsozialistischen Machtübernahme reichsweit Versuche, zumindest einen Teil der Avantgarde, den Expressionismus, zur neuen Staatskunst zu erheben. Joseph Goebbels, damals schon Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda und damit einer der einflussreichsten Politiker im Kulturbereich, bekennt zu Beginn des Nazi-Regimes noch seine Wertschätzung für die moderne Kunst. Er äußert sich lobend über die Skulpturen von Ernst Barlach sowie die Malerei von Emil Nolde und Edvard Munch, umgibt sich sogar selber mit Werken dieser Künstler in seinen Privaträumen und Büros. Gemeinsam mit ihm setzt sich vor allem der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund vehement für die Moderne ein und verteidigt den Expressionismus als eine bodenständige deutsche Kunst mit spezifisch nordischer Ausdrucksform. 1933 ist also noch nicht absehbar, welche Zukunft der Moderne bevorsteht, zumal sie seit jeher Kritik ausgesetzt ist, seit den 1920er Jahren insbesondere durch völkisch-reaktionäre Kreise. Viele Museumsdirektoren und Künstler verkennen die aufziehende Gefahr.
Auch Gurlitt wird damals weder mit verstärkten Angriffen noch mit einem abrupten Ende der Anerkennung moderner Kunst in der Öffentlichkeit gerechnet haben. Die weitere Entwicklung des Kunstvereins nach Gurlitts Amtsniederlegung gibt ihm gewissermaßen recht: Zunächst ist kein Bruch sichtbar. Nach ihm übernimmt Krogmann selbst den Vorsitz und ändert nur wenig am Programm. Alle Künstler, die Gurlitt vorher ausgestellt hat, sind weiterhin in der Neuen Rabenstraße zu sehen. Erst 1936 wird hart eingeschritten, eine weitere Ausstellung geschlossen, der amtierende Direktor des Kunstvereins abgesetzt, der Verein direkt dem Ressort des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda zugeordnet und das Gebäude in der Neuen Rabenstraße zwangsversteigert.
Gurlitt aber hat mittlerweile sein Auskommen im Kunsthandel gefunden, der einzige Weg, der ihm offengeblieben sei, wie er später behauptet. Diese Option mag ihm zunächst zwar kaum behagt haben, sieht er sich doch als Museums-, nicht als Geschäftsmann, dem Kunst weniger Ware denn ideeller Wert ist. Im Handel aber tritt er als Vermittler für gleichgesinnte Sammler auf, später sogar als angeblicher Beschützer der verfemten Kunst, als es gefährlich wird, sie offiziell anzubieten. Hier beginnt schleichend der Prozess eines moralischen Vagierens, als zwischen Gewinn und Rettung nicht mehr klar zu trennen ist und jüdische Sammler ihre Schätze schnellstmöglich zu niedrigen Preisen abzustoßen suchen.
Die zweite Wende seines Lebens aber kommt für Hildebrand Gurlitt in dem Moment, als er offiziell einwilligt, für die Nationalsozialisten den Verkauf der als «entartet» an den Pranger gestellten Kunst zu übernehmen, um dem Reich Devisen zu beschaffen. Vier Jahre hat er als Kunsthändler selbstständig gearbeitet, nun darf er als «Vierteljude» in dem Gewerbe nicht länger tätig sein, es sei denn, er nützt dem Reich. Gurlitt ist zwar kein Mann der Partei, aber geschätzt als Kenner und bestens vernetzt. Er wird gebraucht und lässt sich willig benutzen. Geschickt deckt er sich in dieser Zeit mit Werken der Moderne ein, von denen viele in seine Sammlung eingehen. Den endgültigen Pakt mit dem verbrecherischen Regime schließt er wenige Jahre darauf. Gleich nach der Besetzung Frankreichs geht er nach Paris und beginnt sich dort den Kunstmarkt zu erobern. Zügig baut er den Radius seines Handels aus: Belgien, Holland, Ungarn. Von den Alliierten wird er später als «Chiefdealer» eingestuft, er selbst versucht seine Position jedoch herunterzuspielen.
Aus dem mutigen, moralisch integren Mann, als der er am 1. Mai 1933 in Hamburg gelten muss, ist ein Schieber geworden, der seine Verfehlungen, seinen Selbstbetrug nicht einmal erkennen will, als er sich 1945 vor den Alliierten erklären soll. Wie so viele versäumt er es nach dem Krieg, sich Rechenschaft abzulegen und für die vorangegangenen Jahre Verantwortung zu übernehmen. Gurlitt wird nochmals Direktor eines Kunstvereins, diesmal in Düsseldorf, und schickt seine von den Alliierten zurückerhaltene Sammlung auf Reisen. Er unterstützt die institutionalisierte Rückführung von Werken, die er einst selbst als Händler erworben hatte. Die Nachfragen jüdischer Privatsammler aber blockt er ab. Die Chance zur Revision ergreift er nicht. Damit lädt Hildebrand Gurlitt eine zweite Schuld auf sich, die er seinen Kindern vererbt. Er sieht sich weiterhin als Herold der Moderne, der nun endlich wieder offen zeigen kann, wofür er sich immer schon engagiert hat. Dass er sich diskreditiert hat, verdrängt er perfekt. Die Szene mit dem fehlenden Fahnenmast steht retrospektiv für sein gesamtes Leben. Er wich zurück, zu offenem Widerstand sollte er sich nie bekennen. Eine klare Haltung zu den politischen Verhältnissen legte er nicht an den Tag, um sich die Machthaber gewogen zu halten. Auch im neuen System der Bundesrepublik fügt er sich problemlos ein, in dem er kaum hinterfragt seine Arbeit fortsetzen kann. Die Klärung seines Lebens, der von ihm gemachten Fänge hinterlässt er den überforderten Erben.
Wann immer sich Paul Theodor Ludwig Hildebrand Gurlitt, so der vollständige Name, mit seinem Lebenslauf vorstellt – ob bei Bewerbungen für das Zwickauer Museum oder den Hamburger Kunstverein, ob bei seinen Auskünften für die alliierten Streitkräfte nach 1945 –, stets führt er stolz seine Familie an und nennt deren prominenteste Mitglieder, allen voran seinen Vater Cornelius Gustav Gurlitt, den bekannten Architekturhistoriker. Die Familie ist seine Rechtfertigung, nach hohen Ämtern zu greifen. Bei Verhören in der Nachkriegszeit dient sie als Verteidigung, als Nachweis für seinen tadellosen Hintergrund. Die Gurlitts sind eine regelrechte Dynastie, die namhafte Maler, Musiker, Kunsthistoriker und Galeristen, Theologen, Pädagogen und Archäologen hervorgebracht hat. Mit der familiären Erwartung, ebenfalls etwas Großes zu leisten, ist Hildebrand Gurlitt aufgewachsen. Im liberal gesinnten, bildungsbürgerlich geprägten Elternhaus, wo Gelehrte und Künstler, Architekten und Forscher ein- und ausgehen, wird er von Anfang an darauf vorbereitet, ein Gurlitt zu werden, an den sich die Nachwelt ebenfalls erinnern möge.
Als Hildebrand am 15. September 1895 in Dresden geboren wird, lebt der berühmte Großvater Louis Gurlitt (1812 bis 1897) noch zwei Jahre. Die Bilder des Landschaftsmalers werden den Enkel sein ganzes Leben begleiten. Für den jungen Hildebrand ist Louis Gurlitt zunächst die überragende Figur in dem großen Familienpanorama. Seine Bilder hängen zuhause an der Wand und erzählen anschaulich vom bewegten Leben des Großvaters. Es sind Gebirgslandschaften aus Tirol, schwedische Fjorde und norwegische Wasserfälle, Studien vom Golf von Neapel, von Positano, Capri, Sorrent und griechischen Ausgrabungsstätten, Skizzen aus Dalmatien, Spanien und Lissabon. In Hamburg, Wien, Kopenhagen, in Düsseldorf, Gotha, Dresden, Berlin hat Louis Gurlitt gelebt und gearbeitet, von dort aus hat er seine Exkursionen auf dem ganzen Kontinent angetreten, um im Sinne Alexander von Humboldts einen Zyklus europäischer Landschaften zu schaffen. Durch Louis Gurlitt kommt die Welt ins Dresdner Elternhaus. Er war in ärmlichen Verhältnissen im damals noch dänischen Altona aufgewachsen. Der Vater führte eine Golddrahtzieher-Werkstatt und vertrieb später «Essenzen» nach Rezepten eines Mediziners. Das Talent des jungen Louis wurde dennoch früh erkannt und gefördert, vielleicht auch weil in dieser Zeit noch sein Urgroßonkel Johann Gottfried Gurlitt (1754 bis 1827) am Hamburger Johanneum wirkte.
Dieser war damals schon eine Berühmtheit, in Erinnerung an sein Wirken an dem traditionsreichen Gymnasium wurde die 120 Meter lange Insel nahe dem Ostufer der Hamburger Außenalster nach ihm benannt. Als einer der großen Pädagogen der damaligen Zeit war seine Arbeit vom Geist der Aufklärung geprägt. Er studierte Theologie und Mathematik, klassische und orientalische Sprachen, lernte Arabisch, Chaldäisch und Koptisch. Statt an die Universität ging er jedoch schließlich in den Schuldienst, da er sich als Sohn eines Schneidermeisters eine Gelehrtenexistenz nicht leisten konnte. In seiner «Einleitung in das Studium der schönen Kunst des Altertums» aus dem Jahr 1799 heißt es: «Wenn die sogenannten strengen Wissenschaften unsern Verstand aufklären, mit Kenntnissen bereichern, und durch Berichtigung unserer Begriffe aufs Herz wirken, so bleibt dagegen der Kunst und Wissenschaft des Schönen der Vorzug eigen, daß sie unser Gefühl verfeinert, in uns schnelle und lebhafte Empfindung des Schönen und Guten und das Interesse dafür habituell macht, unser Herz zur Sanftmut stimmt, unsere Leidenschaften mildert, und das Gefühl der Tugend zum Enthusiasmus erhebt.»[1] Johann Gottfried Gurlitt formulierte damit ein Bekenntnis, das für viele seiner Nachfahren gelten sollte.
1802 wechselte er von Magdeburg nach Hamburg an das fast 200 Jahre alte Johanneum, eine der bedeutendsten Bildungsstätten der Hansestadt, um ihm als Rektor wieder zu Ansehen zu verhelfen. Es gelang ihm, während seiner über ein Vierteljahrhundert währenden Tätigkeit dem Johanneum neue Strahlkraft zu verleihen. Die pädagogische Linie zog sich in der Familie fort. Sie spielte auch bei Louis Gurlitts Sohn Ludwig (1855 bis 1931), dem Reformpädagogen und Wegbereiter der Wandervogel-Bewegung, eine wichtige Rolle, ebenso bei dessen Sohn Winfried Gurlitt (1902 bis 1982), einem Anthroposophen. Die Ideen einer dem Kind zugewandten Erziehung schlugen sich auch im Elternhaus Hildebrands nieder, sie prägten auch ihn. Nicht zuletzt die Entscheidung, seine eigenen Kinder Cornelius und Benita 1946 auf die Odenwaldschule zu schicken, kam vor diesem Hintergrund zustande. Das zu Jahrhundertbeginn gegründete Internat galt damals noch als Vorzeigeschule der Reformbewegung, die nicht nur bei Kleidung, Ernährung, Lebensgestaltung neue Wege suchte, sondern auch eine liberalere Pädagogik entwickelte.
Louis Gurlitt, der Großvater, aber tritt nicht als Person, sondern durch seine Werke konkret in Hildebrands Leben. Als Galerist wird der Enkel später mit ihnen handeln. Die Gemälde des Landschaftsmalers hängen heute in vielen vornehmlich norddeutschen Museen, in Flensburg, Kiel, Hannover, natürlich auch in der Hamburger Kunsthalle. Dorthin wird Hildebrand Gurlitt 1941 das Gemälde «Ansicht von Rom» (1845) zusammen mit Johann Fabers Bild «Mönch auf einer Terrasse am Nemi See» (1818) tauschen – als Entschädigung für zuvor als «entartet» beschlagnahmte Werke. Familiengeschichte, Kunst und Handel, politisches Kalkül und Vorteilsnahme verschränken sich hier ineinander. Seit im NS-Regime die Moderne unerwünscht ist, erlebt das 19. Jahrhundert eine ungeheure Nachfrage. Louis Gurlitts Landschaften, die auch Albert Speer begeistert sammelt, bieten heitere Stille und harmlose Idylle. Sein gemalter Rom-Blick vom Kapitolinischen Hügel über Forum und Palatin auf die Albaner Berge, vom sanften Licht der Abendsonne beschienen, wirkt wie aus der Zeit gefallen – das vollkommene Gegenteil zur Großstadt-Hektik und den Farbexplosionen in der zeitgenössischen expressionistischen Malerei. Das als Ersatz in die Sammlung der Hamburger Kunsthalle gelangte Gemälde befindet sich noch immer dort. Louis Gurlitts Spezialität waren stimmungsvolle Landschaften, in denen Mensch und Natur noch miteinander harmonieren, darin Häuser und Städte, die kein Elend kennen. Anlässlich der Louis-Gurlitt-Gedächtnisausstellung im November 1910 in der Berliner Galerie von Fritz Gurlitt bezeichnete der Kunstkritiker und Publizist Karl Scheffler diesen Blick als Sicht aus «Kinderaugen».[2] Er zeigt eine unversehrte Natur vor der Zäsur der industriellen Revolution.
Diese Haltung hatte Louis Gurlitt sich aus einer glücklichen Kindheit bewahrt, von der er in seinen «Jugenderinnerungen» schreibt. Er kehrt darin an seine Anfänge als junges Talent zurück, das die musisch begabten Eltern förderten, erzählt von seiner ersten Ausbildung bei Günter Gensler, einem Freund der Familie, und schließlich der vierjährigen Lehre beim Landschaftsmaler Siegfried Detlev Bendixen, einem Schüler Jacques-Louis Davids.[3] Zum Studium ging der mittlerweile 20-Jährige an die Kopenhagener Kunstakademie. Mit Unterbrechungen lebte er zehn Jahre lang in Dänemark, wurde Akademiemitglied und erhielt Aufträge vom König. Von Dänemark aus begab sich Gurlitt auf seine ersten ausgedehnten Reisen in den Norden. 1837 ließ er sich in München nieder und stieß dort zu einem Kreis nordischer Künstler um Christian Morgenstern. Neben skandinavischen Landschaften erweiterte er nun sein Repertoire um bayerische Motive.
1842/43 ging der beständig umziehende Künstler nach Düsseldorf, denn hier war Gurlitts genuines Genre, die Landschaftsmalerei, hoch gefragt. Hier begegnete er den wichtigsten Vertretern der Düsseldorfer Malerschule, Lessing, Schadow, Schirmer, den Brüdern Andreas und Oswald Achenbach – die rheinische Metropole galt in dieser Zeit als Mekka der Landschaftsmaler. Auch die Gründung des Kunstvereins für die Rheinlande und Westfalen, Hildebrand Gurlitts späterer Wirkungsstätte, ging auf diesen Boom zurück; der Kunstverein sollte durch Ausstellungen für die Verbreitung der Düsseldorfer Malerei sorgen. Louis Gurlitt aber zog mit seiner Frau weiter und ließ sich in Rom nieder, wo 1844 der erste Sohn Wilhelm zur Welt kam; die Mutter verstarb kurz nach dessen Geburt. Der Witwer blieb zunächst in Rom und befreundete sich mit der Schriftstellerin und später berühmten Berliner Salonière Fanny Lewald (1811 bis 1889), die er im Umkreis von Friedrich Hebbel, Arthur Schopenhauers Schwester Adele und Ottilie von Goethe kennenlernte. Ihre jüngere Schwester Elisabeth (genannt Else) heiratete er 1847.
Die Schwestern Lewald und ihre sieben Geschwister entstammten einer aufgeklärten jüdischen Familie. Fanny war das erste Kind des Kaufmanns David Marcus, der 1831 seine Familie in Lewald umbenennen ließ, nachdem die beiden Söhne bereits 1826 und Fanny 1829 zum protestantischen Glauben übergetreten waren. Die Familie nahm damit am großen Assimilationsprozess der Juden im 19. Jahrhundert teil, um gleichberechtigte Aufnahme in die bürgerliche Gesellschaft zu finden. Durch die Konversion wollte der Vater seinen Söhnen eine freie Berufswahl, der Tochter die Hochzeit mit einem christlichen Mann ermöglichen, worin zum damaligen Zeitpunkt ihre größte Perspektive bestand. Selbst auf wissensdurstige junge Frauen wie Fanny warteten nur Haushalt, Handarbeit, Klavierspiel, ihnen blieb die Universität verschlossen. Trotzdem entwickelte sich Fanny zu einer der ersten Schriftstellerinnen in Deutschland, die vom Verkauf ihrer Bücher leben konnten, sie wurde zur Vorkämpferin gleichberechtigter Bildung für Frauen.
Aus der Ehe zwischen Louis Gurlitt und Fannys zwölf Jahre jüngerer Schwester Elisabeth (1823 bis 1909) gingen sechs Kinder hervor. Deren jüdische Abstammung wurde schicksalhaft für die Familie, als sie 1933 den NS-Behörden ihren Stammbaum darlegen musste. Die groteske Situation spricht aus dem Brief, den Cornelius Gurlitt, Hildebrands Vater, am 31. Mai 1933 an seine Schwester schrieb: «Die Zeit bringt viel Ärger. Meine Söhne, wie ich, haben Erklärungen abzugeben, ob wir Arier sind. Das ist sehr schwer, denn niemand weiß, was ein Arier sei. […] Ich und meine Söhne sind, wie alle Mitglieder von Verbänden, aufgefordert worden, ihr Ariertum nachzuweisen. Wir wollen und können nicht unsere so heiß geliebte Mutter und Großmutter verleugnen. Aber entschuldigt sind die, die in den Kriegen Deutschlands teilnahmen. So Onkel Emanuel, Otto, ich, Wilibald, Cornelia, Hildebrand. Wir haben vier Eiserne Kreuze in der Familie.»[4] Cornelius Gurlitt täuschte sich, das Eiserne Kreuz bedeutete nur kurze Zeit einen Schutz. Schon zwei Jahre später wurde er mit den Nürnberger Rassengesetzen zum «Halbjuden» erklärt, seine Kinder waren danach «Vierteljuden». Als pensionierter Hochschulprofessor konnte er zwar nicht mehr entlassen werden, wie es seinem ältesten Sohn Wilibald als Musikwissenschaftler an der Universität Freiburg widerfuhr, aber der 85-Jährige wurde seiner Ehrenämter entkleidet und verlor die Ehrenpräsidentschaft beim Bund Deutscher Architekten. Auch den selbstständigen Galeristen Hildebrand Gurlitt brachte die Kategorisierung als «Vierteljude» 1938 in Bedrängnis. Durch die offizielle Berufung zum Kunsthändler der Nazis entzog er sich der Verfolgung und bewegte sich unter dem Radar immer schärfer werdender Überprüfungen. Die Bedrohung aber diente ihm nach dem Krieg als Erklärung für alle Verstrickungen mit dem Regime. Zu emigrieren hatte er nie in Erwägung gezogen.
Es ist eine besondere Volte der Gurlittschen Familiengeschichte, dass Landschaftsmalerei im Stil Louis Gurlitts bevorzugt Eingang in das in Linz geplante «Führermuseum» finden sollte. Louis Gurlitts Gemälde strahlen zwar Beschaulichkeit aus, doch vermitteln sie durch die Internationalität ihrer landschaftlichen Motive geistige Freiheit und Weltoffenheit. Auch Alexander von Humboldt hatte das erkannt, der den Maler am Hof Friedrich Wilhelms IV. einführte. In Berlin erhielt Gurlitt deshalb den Auftrag, 30 europäische Landschaften für eine eigens zu erbauende öffentliche Halle zu malen. Der Ausbruch der 1848er-Revolution aber verhinderte Humboldts Plan, die Familie zog nach Nischwitz bei Leipzig weiter, wo der Maler das Schloss von Baron Christian Friedrich von Ritzenberg mit einem Zyklus italienischer Landschaften ausschmückte. Von dort aus ging es für die Familie nach Wien, Gotha, zuletzt wieder Berlin. Mit 85 Jahren starb Louis Gurlitt 1897. Er hinterließ ein immenses Werk, das seine rege Reisetätigkeit abbildet. Auch von ihm kehrten einige Werke mit dem Auftauchen des «Schwabinger Kunstfunds» zurück in den Blick der Öffentlichkeit.
Sieben Kinder, eine Tochter und sechs Söhne, hinterließ der Patriarch. Wilhelm Gurlitt (1844 bis 1905), der Älteste und Lieblingsbruder von Hildebrands Vater Cornelius, wurde 1855 als erster Professor auf den neu begründeten Lehrstuhl für Klassische Archäologie an der Universität Graz berufen. Er leitete in Graz außerdem ab 1900 den Steiermärkischen Kunstverein und öffnete damit die Stadt der modernen Kunst. Seine Tochter Brigitta (1889 bis 1956), Gitta genannt, besuchte mit Cornelia Gurlitt, der Schwester Hildebrands, die Malschule in Dresden. Über längere Zeit war sie immer wieder Gast bei deren Familie. Sie wurde später für ihren Cousin Hildebrand als Restauratorin tätig. Otto (1848 bis 1905), der nächstälteste Sohn Louis Gurlitts, ging als Banker nach London. Zu seinen Finanzprojekten gehörte die Gründung einer zehn Millionen Pfund schweren Dependance einer New Yorker Brauerei.[5] Wirtschaftlich erfolgreich war auch das jüngste der Geschwister, Hans Gurlitt (1857 bis 1928), der es als Landwirt und schließlich Kaffeehausbesitzer zu Wohlstand brachte. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: «Ihr habt die Titel und ich die Mittel!»
Berühmtheit erlangte auch der fünfte Sohn, Ludwig (1855 bis 1931), dessen Zwillingsschwester Else (1855 bis 1936) wie der Vater malte. Ludwig wurde ein bedeutender Reformpädagoge, in dessen Klasse am Steglitzer Gymnasium die Wandervogel-Bewegung ihren Ausgang nahm. Offiziell wurde sie 1901 von seinem ehemaligen Schüler Karl Fischer ins Leben gerufen, den die Wanderaktivitäten an seiner Schule dazu animierten, einen Verein zu gründen. Als erster und einziger Pädagoge trat Ludwig Gurlitt ein Jahr später dem Verein bei und sorgte als Erwachsener für die behördliche Anerkennung des Vereins durch das Kultusministerium, denn nach preußischem Recht durften Schüler keinen eigenen außerschulischen Verein gründen. Gurlitt war damit zumindest Geburtshelfer der von Steglitz ausgehenden Jugendbewegung, die Alternativen zur Enge des städtischen Lebens, zum rigiden schulischen Lernen suchte. Diese freiere Existenz hofften die «Stadtkinder» in der Natur zu finden. Der Wandervogel gehörte damit zu diversen neuen Bewegungen um die Jahrhundertwende, wie die Freikörperkultur oder die Lebensreformbewegung, die auch den Hintergrund der expressionistischen Kunst bildeten.
Im Jahr seines Beitritts zum Wandervogel gab Ludwig Gurlitt die polemische Schrift «Der Deutsche und sein Vaterland» heraus, eine Abrechnung mit den damaligen Schulformen, die ungeheure Verbreitung fand. Innerhalb von nur einem Jahr wurde sie acht Mal neu aufgelegt. «Unsere Erziehung, die so tyrannisch über jeden Schritt der Jugend wacht und von Stunde zu Stunde die Ziele und die Aufgaben und dazu die Mittel vorschreibt, zerstört durch ihren pedantischen Betrieb die elementaren Naturkräfte, die nach eigener freier Entwicklung drängen», so der Autor, der stattdessen das britische Schulsystem für vorbildlich hielt.[6] Deutschnational orientiert, warf Gurlitt gleichzeitig den Gymnasien vor, das Vaterland zu verachten. Die Streitschrift trug ihm die Feindschaft seiner Kollegen ein, 1907 wurde er frühpensioniert. Er blieb in Steglitz, hielt Vorträge, publizierte schulreformerische Schriften und gründete 1911 in Zehlendorf ein Internat nach seinem pädagogischen Ideal, das jedoch scheiterte. Sein Sohn Winfried Gurlitt (1902 bis 1982), Hildebrands Cousin, schlug eine ähnliche Richtung wie der Vater ein, indem er sich einem anderen Zweig der Reformbewegung zuwandte, der Anthroposophie. 1923 begegnete er Rudolf Steiner, dessen Ideen er fortan als Buchhändler, Referent und Galerist verbreitete. Seine erste Frau Mercedes Meyer-Ludolph stieß nach ihrer Scheidung zu Hildebrand Gurlitt in dessen Hamburger Kunsthandlung.
Wie sein Bruder Ludwig wirkte auch Fritz Gurlitt (1854 bis 1893) in Berlin. Als Galerist stand er der beruflichen Sphäre seines Vaters noch am nächsten. 1880 gründete er in der Behrenstraße 29 die auf zeitgenössische Kunst spezialisierte «Galerie Fritz Gurlitt», die zeitweilig auch unter der Bezeichnung «Kunsthandlung» oder «Kunst-Salon» geführt wurde. Mitte der 1880er Jahre erhielt er den Titel Hofkunsthändler. Mit seiner Galerie wurde er zu einem wichtigen Wegbereiter der Moderne in Deutschland, bei ihm waren zeitgenössische Maler zu sehen, Makart, Lenbach, Defregger, Menzel, Uhde und Klinger. Fritz Gurlitt engagierte sich insbesondere für Böcklin, Thoma und Liebermann. 1883 zeigte er in seinen Räumen die erste Schau französischer Impressionisten in Deutschland mit Werken von Manet, Monet, Renoir, Degas, Sisley und Pissarro, lange bevor sie in Frankreich Anerkennung fanden.
Als Fritz Gurlitt 1893 knapp 40-jährig an Syphilis starb, hinterließ er seine Frau Annarella (1858 bis 1935) und vier Kinder. Der älteste Sohn Wolfgang (1888 bis 1965) stieg 1907 in das Geschäft mit ein, 1912 erhielt er Prokura, zwei Jahre später wurde er offizieller Mitinhaber. Unter seiner Ägide verfolgte die Galerie allerdings kein so avantgardistisches Programm wie zu Zeiten des Vaters. Wolfgang war eher der abwägende Geschäftsmann, wogegen Fritz als früher Förderer der Moderne immer wieder finanziell ins Risiko ging. Der Sohn führte 1914 einen neuen Geschäftszweig ein und gründete als Ergänzung zur Galerie den Kunstverlag Gurlitt GmbH. 1918 kam die Gurlitt-Presse hinzu. Hier ließ er graphische Einzelwerke, Mappenwerke, reich illustrierte Bücher sowie einen alljährlich erscheinenden Almanach mit Originalgraphik drucken und verlegen. Künstlerbücher und Graphik erfreuten sich in dieser Zeit großer Popularität bei den Sammlern, die nach dem Krieg über weniger Finanzen verfügten. In der Weimarer Republik diente die Graphik als Medium, um weitere Bevölkerungskreise, auch Käuferschichten zu erreichen. In seinem ersten Jahr als Prokurist der Galerie zeigte der junge Gurlitt eine «Brücke»-Ausstellung, die erste geschlossene Präsentation der Künstlergruppe in Berlin. Zugleich war es ihre letzte, denn im darauffolgenden Jahr löste sich die Vereinigung auf. Gurlitts Schwerpunkt lag bei expressionistischer Kunst, bis 1924 besaß er die Alleinvertretungsrechte für Max Pechstein. Außerdem engagierte er sich für österreichische Malerei, insbesondere für Egon Schiele; mit Oskar Kokoschka und Alfred Kubin war er persönlich befreundet.