Ein Gespräch
Verlag C.H.Beck
Ein Bundeskanzler außer Dienst und ein amerikanischer Historiker deutscher Herkunft tauschen Erinnerungen, Erfahrungen und Argumente aus, die um die großen Fragen ihres Jahrhunderts kreisen. Helmut Schmidt und Fritz Stern diskutieren mal im Konsens, mal im Widerspruch, und analysieren die aktuelle Lage. Ob sie über Bismarck oder den Nahost-Konflikt sprechen, über den Zweiten Weltkrieg oder den Aufstieg Chinas, über Obama oder die Finanzkrise – stets geht es scharfsinnig und kurzweilig zu.
«Fangen Sie an, Fritz» – mit diesem Satz beginnt ein außergewöhnliches Gespräch unter Freunden. Helmut Schmidt und Fritz Stern kennen sich seit vielen Jahren und haben sich im Sommer 2009 zusammengesetzt, um über Themen zu reden, die ihnen am Herzen liegen. Welche Erfahrungen und Lehren lassen sich aus der Geschichte ziehen? Wie fällt die Bilanz des gemeinsam erlebten 20. Jahrhunderts am Ende aus? Wer von den vielen, denen sie im Laufe ihres Lebens begegnet sind, hat bei ihnen den größten Eindruck hinterlassen? Das Ergebnis ist ein ebenso anregendes wie lebendiges, oft freimütiges und nicht selten witziges Buch, in dem sich der Politiker und der Historiker die Bälle zuspielen, Pro und Contra diskutieren, stets auf eine pointierte Darlegung ihrer eigenen Position bedacht – und auch die Anekdoten kommen nicht zu kurz. Zwei kluge alte Männer streifen durch das 20. Jahrhundert und die Welt von heute, und der Leser genehmigt sich eine Prise Weisheit.
«Ein wunderbares, altersweises Vermächtnis in Buchform.»
Stern
«Ein Buch über die Weltlage und die Weltgeschichte, über die Neugierde auf die Gegenwart und über die Lust an der Einmischung.»
Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Helmut Schmidt, geb. 1918 in Hamburg, Bundeskanzler von 1974 bis 1982, ist seit 1983 Herausgeber der ZEIT. Zuletzt erschien von ihm «Außer Dienst» (13. Auflage 2009).
Fritz Stern, geb. 1926 in Breslau, ist em. Professor für Geschichte an der Columbia University und u.a. Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels. Zuletzt erschien von ihm «Fünf Deutschland und ein Leben» (9. Auflage 2009).
Die ersten vier Auflagen dieses Buches erschienen 2010.
5. Auflage. 2011
Impressum
6. Auflage. 2011
© Verlag C.H.Beck oHG, München 2010
Umschlaggestaltung: www.kunst-oder-reklame.de
Umschlagfoto: © Hannah Schuh & Arne Mayntz;
Daniel Biskup/laif
ISBN Buch 978 3 406 60132 3
ISBN eBook 978 3 406 61513 9
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Literatur – Sachbuch – Wissenschaft
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Bei einer Gedenkfeier in Berlin im April 1976 für Ernst Reuter, den wir beide besonders verehren, sind wir uns zum ersten Mal begegnet. Seither haben wir uns immer wieder über Fragen der Geschichte und der Politik ausgetauscht. Wir fühlten uns verbunden, und im Laufe der Jahre ist daraus eine Freundschaft geworden. Als im Oktober 2007 im Literaturhaus Hamburg die Erinnerungen von Fritz Stern «Fünf Deutschland und ein Leben» vorgestellt wurden, saßen wir anschließend in kleiner Runde zusammen und redeten ein wenig weiter. Beim Aufbruch meinte Nina Grunenberg, die an unserem Tisch gesessen und uns zugehört hatte, sie bedauere sehr, dass das Gespräch nicht aufgenommen worden sei. Wir sollten es fortsetzen, beim nächsten Mal aber unbedingt ein Tonband mitlaufen lassen.
Im darauf folgenden Sommer trafen wir uns am Brahmsee. An den ersten beiden Tagen unterhielten wir uns wie gewöhnlich, aber am dritten Tag führten wir eine Neuerung ein. Jeder notierte sich vorab ein paar Fragen, die er dem anderen gern stellen wollte, und das anschließende Gespräch nahmen wir auf Tonband auf. Unterstützt wurden wir dabei von unseren Frauen, die sich lebhaft am Gespräch beteiligten; auch den weiteren Fortgang der Arbeit verfolgten sie mit Kritik und Zuspruch. Loki Schmidt und Elisabeth Sifton gilt deshalb an dieser Stelle unser erster Dank.
Die Abschrift des Gesprächs ermutigte uns, weiterzumachen. Das dreitägige Treffen, aus dem schließlich dieses Buch hervorging, fand vom 22. bis 24. Juni 2009 im Hause Schmidt in Hamburg-Langenhorn statt. Gegen 11.00 Uhr fingen wir an und unterhielten uns bis in den frühen Abend, erst dann wurde das Aufnahmegerät abgeschaltet. Mittags machten wir eine kleine Pause, und bei herrlichem Wetter schnappten wir frische Luft im Garten.
Aus den Abschriften des dreitägigen Gesprächsmarathons erstellte Thomas Karlauf, der uns auch bei der Vorbereitung der Gespräche eine unersetzliche Hilfe war, die Textgrundlage. Die Einteilung in drei Vormittage und drei Nachmittage wurde beibehalten, und auch sonst folgt der Text weitgehend dem tatsächlichen Verlauf des Gesprächs. Hier und da mussten einzelne Passagen zu größeren Themenblöcken zusammengefasst und Stichworte ergänzt werden, das Material aus der ersten Gesprächsrunde im Sommer 2008 war einzuarbeiten. Namen und Daten wurden geprüft, gelegentliche kleine Irrtümer und Unsicherheiten stillschweigend behoben. Alles aber, was ein lebendiges Gespräch ausmacht – das Kursorische, Mäandernde, Improvisierte – wurde so weit wie möglich beibehalten; das gleiche gilt für den Sprachduktus. Es sei bemerkt, dass der frühere Teil unseres Gesprächs vor der Wahl von Obama stattfand, der Hauptteil danach.
Jeder von uns hat seinen Teil des Textes anschließend überarbeitet. Dabei war uns klar, dass es nicht Ziel eines solchen Gesprächsbandes sein kann, dieses oder jenes Thema auch nur entfernt erschöpfend zu behandeln. Es ging uns mehr darum, die vielen Themen, die uns bewegen, zur Sprache zu bringen, die eigene Position mit der des anderen zu vergleichen und da, wo wir unterschiedlicher Meinung sind, unsere Argumente auszutauschen. «Unser Jahrhundert» sollte kein Geschichtsbuch werden. Deshalb haben wir uns darauf verständigt, die spontane Antwort und das frei gesprochene Wort im Zweifelsfall stehen zu lassen und den Text weder durch gelehrte Nachbesserung noch durch die Regeln der Hochsprache ins Prokrustesbett zu zwängen. Am 2. und 3. Dezember 2009 trafen wir uns in Berlin zur gemeinsamen Endredaktion.
Nicht jede unserer Antworten, nicht jedes unserer Urteile ist bis ins Letzte begründet. Wir wissen, dass wir in einem solchen Gespräch den vielen Aspekten eines Themas kaum gerecht werden können. Wir wissen auch, dass Alter nicht notwendigerweise Weisheit fördert. Wir hoffen aber, dass die Vielfalt der Themen, der lebendige Wechsel von Rede und Widerrede, für manche Stelle entschädigt, die der Leser als ungenügend empfinden mag. Ein amerikanischer Historiker deutscher Herkunft und ein deutscher Politiker außer Dienst tauschen Erinnerungen, Erfahrungen und Argumente aus, die um die großen Fragen ihres Jahrhunderts und ihrer Welt kreisen. Als wir unsere Gespräche begannen, war uns klar, dass wir keine abschließenden Antworten finden würden, dass wir aber in dieser oder jener Frage vielleicht ein Stück weiter kämen. Am Ende empfanden wir unsere Gespräche als eine große gegenseitige Bereicherung. Wenn auch der eine oder andere Leser Gewinn daraus zieht, wäre dies für uns ein schöner Lohn.
Unser Dank geht an Detlef Felken, Nina Grunenberg, Thomas Karlauf, Wolf Lepenies, Mark Mazower und Theo Sommer sowie an Birgit Krüger-Penski, Rosemarie Niemeier und Armin Rolfink.
Helmut Schmidt, Fritz Stern
Berlin, den 3. Dezember 2009
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Schmidt:
Fangen Sie an, Fritz.
Stern: <<
Helmut, in Ihrem Buch «Außer Dienst» haben Sie mehrmals erwähnt, wie wichtig Geschichtsbewusstsein für einen Politiker ist. Dass mir das besonders einleuchtet, können Sie sich vorstellen. Meine Frage lautet: Warum und in welchen Momenten ist Ihnen Geschichtsbewusstsein von Nutzen gewesen?
Schmidt:
Ich muss vorwegschicken, dass ich schon als fünfzehn-, sechzehnjähriger Schüler selbständig, auf die naive Weise eines Schuljungen, sehr viel über Geschichte gelesen habe. Wir hatten einen Klassenlehrer – Hans Römer hieß er –, der war gleichzeitig Geschichtslehrer. Eigentlich sollte er sich um die Ottonen kümmern. Aber kaum war er in der Klasse, meldete ich mich – ich oder ein zweiter Schüler, der hieß Jürgen Remé – und fragte ihn etwas zur jüngsten Geschichte: Sagen Sie mal, wie war das eigentlich wirklich mit der Emser Depesche und mit Bismarck? Dann haben wir eine Stunde lang eifrig diskutiert, die ganze Klasse hörte zu, und wenn es klingelte, hieß es: Lest bis zum nächsten Mal im Geschichtsbuch weiter bis Seite sowieso. – Aber um auf Ihre Frage zu antworten, Fritz: Unter dem Aspekt der Nützlichkeit habe ich die Geschichte nie betrachtet. Immerhin habe ich als Schüler zum Beispiel das Schicksal des Napoleonischen Feldzugs gegen die Russen deutlich vor Augen gehabt. Und als Hitlers Krieg gegen Russland losging, war mir klar, dass Deutschland den Krieg verlieren musste. Es würde den Deutschen genauso ergehen wie den Franzosen: Anfangserfolge, aber am Ende würden die Russen mit ihren Massen und dank ihres großen rückwärtigen Raums gewinnen. Mit dieser Vorstellung stand ich im Juni 1941 im Übrigen nicht allein, Loki hat das ähnlich gesehen. Aber ob dieses Wissen nützlich war, möchte ich bezweifeln.
Stern:
Konnte man darüber mit anderen Wehrmachtsangehörigen sprechen, oder musste man diese Sicht der Dinge für sich behalten?
Schmidt: <<
Sicherlich hat es in höheren Stäben und unter Generalstabsoffizieren Gespräche über den vermutlichen Ausgang des Krieges gegeben, aber zu diesen Kreisen hatte der Muschkote Schmidt keinen Zutritt. Ich erinnere mich, dass ich im Sommer 1941, als der Russlandfeldzug losging, einen Freund meines Vaters traf, der war eine Generation älter als ich, der hieß Onkel Hermann für mich. Onkel Hermann hatte die Uniform eines Hauptmanns der Luftwaffe an, und ich hatte die Uniform eines Leutnants der Luftwaffe an. Wir trafen uns im Hause der Witwe eines gemeinsamen Freundes von Onkel Hermann und meinem Vater in Bremen. Ich habe ihm gesagt: Das wird so enden wie der Feldzug Napoleons in Moskau. Geschlagen werden wir nach Hause gehen, und am Ende des Krieges werden wir alle in Erdlöchern hausen. Nur wenn wir Glück haben, werden wir in Baracken hausen, und der neue deutsche Baustil wird «Barack» heißen. Onkel Hermann war empört – er war, glaube ich, ein bisschen Nazi-angehaucht, das weiß ich aber nicht. Das Gespräch hat jedenfalls nicht zu einer Anzeige geführt. Ich vermute, dass es solche Gespräche in manchen Ecken gegeben hat.
Stern:
Ich nehme an, dass das Gespräch nach dem Dezember 1941, nach dem Rückschlag vor Moskau –
Schmidt:
Dieses Gespräch, das ich erinnere, war ganz eindeutig ein halbes Jahr früher.
Stern:
Das ist ungewöhnlich. Wenn sich einfache Soldaten in der Wehrmacht Sorgen über den Ausgang des Krieges machten, dann, würde ich annehmen, erst mit dem Rückschlag vor Moskau.
Schmidt:
Unter den Obergefreiten – wenn die unter sich waren – hat es sicher an tausend Stellen solche Gespräche gegeben.
Stern:
Ich meine ja nur, dass der Vormarsch in den ersten Monaten so erstaunlich war, dass man vermuten könnte –
Schmidt:
Ja, dieser erfolgreiche Vormarsch bis in den Dezember hinein hat sicherlich viele Kritiker zunächst mal gedämpft.
Stern:
Am Anfang haben viele doch sicher geglaubt, nach all den Siegen, die die Wehrmacht schon erfochten hat, wird es auch dieses Mal gut gehen. Das bezeugen auch die Resultate der neueren Forschung.
Schmidt: <<
Es gab keine Begeisterung – gab es nicht, definitiv nicht. – Wenn ich Sie fragen würde nach Ihren Eindrücken vom Kriegsjahr 1941, was Sie für ein Gefühl hatten, als der Russlandfeldzug anfing, was würden Sie antworten? Hatten Sie da schon das Gefühl, das geht schief? Wie alt waren Sie?
Stern: <<
Ich war fünfzehn, und ich erinnere mich ganz genau, dass ich am 22. Juni 1941, als der Angriff auf die Sowjetunion losging, ein Gefühl der Erleichterung verspürte. Die Briten konnten es nicht alleine schaffen, das war klar; wir, die Amerikaner, waren noch nicht im Krieg. Allein die Tatsache, dass die Russen mit ihrem Millionenheer jetzt im Krieg mit den Nazis waren, würde den Deutschen zu schaffen machen. Und dann war man doch alarmiert, weil man sah, wie enorm schnell der Vormarsch ging und welche Verluste die Russen hatten. Ich erinnere mich sehr genau an den 6. Dezember. Da kam der erste Gegenangriff der Russen vor Moskau. Das war ein ungeheurer Rückschlag für die Wehrmacht. Die dann folgende Woche war eine weltgeschichtliche Woche: erst der japanische Angriff auf Pearl Harbor und dann, mehr oder weniger gleichzeitig, Hitlers Kriegserklärung an die Adresse der Vereinigten Staaten. Gleichzeitig begann die Radikalisierung der Ausrottungspolitik gegenüber den Juden. Hitlers Kriegserklärung an die USA ist mir immer noch etwas unverständlich.
Schmidt:
Völlig unverständlich!
Stern:
Es hat jedenfalls Roosevelt die Sache ungeheuer erleichtert, denn wie er sein Land, das mehrheitlich gegen jede Einmischung war, jemals dazu gebracht hätte, in den Krieg einzutreten, weiß ich nicht. Hitler hat ihm mit der Kriegserklärung gewaltig geholfen. Und dann war es Roosevelts Entscheidung – und die seines wichtigsten militärischen Beraters George C. Marshall –, dass die westliche Front, also Hitler, der Hauptgegner, der erste Gegner war. Das war entscheidend und wäre ohne die Kriegserklärung Hitlers sehr viel schwieriger geworden.
Schmidt:
Vermutlich hätte Pearl Harbor ausgereicht, um den Kriegseintritt auszulösen.
Stern:
Den Kriegseintritt gegen Japan, ja, absolut. Aber Roosevelt war überzeugt, dass Hitler die größere Gefahr darstellt. Also den Einsatz zu erweitern und zu sagen, gleichzeitig führen wir mit den Engländern den Krieg gegen Deutschland, das wäre schwer gewesen. Das hat Hitler ihm erleichtert.
Schmidt:
Ich wollte noch einmal zurückkommen auf Ihre Ausgangsfrage, ob es innerhalb der Wehrmacht, unter den Soldaten, solche Gespräche gegeben hat. Ich erinnere mich an ein zweites Beispiel, es stammt von Anfang 1945. Wir waren im Rückzug aus der Ardennenoffensive. Ich war mit meiner Batterie Teil eines Panzerkorps mit einer hohen lateinischen Nummer – die Nummer habe ich vergessen. Es war klar wie dicke Tinte, dass alles in einer Katastrophe enden würde. Und ich sagte zu meinem Kommandeur: «Das ist doch alles Unsinn, was wir hier machen. Hier werden immer noch viele Menschenleben geopfert, es wäre doch viel vernünftiger, die Amerikaner so weit nach Deutschland rein zu lassen, wie sie nur wollen, und dafür im Osten zu halten, solange es geht.» Da sagte der Kommandeur: «Das will ich nicht gehört haben.» Das war alles.
Stern:
Sehr anständig!
Schmidt:
Ja.
Stern:
Aber eben ganz kurz vor dem Ende.
Schmidt:
Das muss gewesen sein in der zweiten Hälfte Januar 1945.
Stern:
Ich sage es noch mal: Von außen gesehen, kann ich mir nicht vorstellen, dass ein gewöhnlicher Soldat bei dem schnellen Vormarsch zwischen 22. Juni und 6. Dezember nicht das Gefühl hatte, es ist zwar alles sehr blutig und die Kosten sind sehr hoch, aber wir werden schon gewinnen.
Schmidt:
Also ich war bloß ein gewöhnlicher Soldat, ein kleiner Leutnant. Dieses Gefühl habe ich nicht gehabt.
Stern:
Das ist wahrlich erstaunlich. Polen in fünf Wochen niedergeworfen, Frankreich in sechs Wochen niedergeworfen, und dann diese enormen Geländegewinne bis in den Spätherbst in Russland – da müssen viele Soldaten das Gefühl gehabt haben, es läuft doch ganz gut.
Schmidt:
Normalerweise ist der einfache Soldat, der Gefreite oder der Obergefreite, nicht geneigt, sich über den Ausgang des Krieges Gedanken zu machen. Für ihn geht es darum, wann hat er den letzten Brief von seiner Frau oder seiner Freundin bekommen, kriege ich heute Abend was Ordentliches zu essen –
Stern:
Überlebe ich –
Schmidt:
Wie vermeide ich es, in russische Gefangenschaft zu kommen. Der einfache Soldat hatte Angst vor der russischen Gefangenschaft, er hatte Angst vor schwerer Verwundung. Das waren die seelischen Bedrängnisse, unter denen er litt, nicht die Frage, wie der Krieg ausgeht.
Stern:
Aber es gab einen – wie soll ich sagen – qualitativen Unterschied zwischen dem Russlandfeldzug und den Feldzügen davor. Das wäre die Frage: Hat der einfache Soldat die Brutalität –
Schmidt:
Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe keinen der vorangegangenen Feldzüge mitgemacht. Wohl aber kann ich beurteilen den seit Generationen eingeübten Gehorsam der Deutschen. Die große Masse der Deutschen wusste: Wir haben den Ersten Weltkrieg verloren. Sie hatte Zweifel, wie dieser Zweite Weltkrieg ausgeht. Aber sie wusste: Mein Vater hat im Ersten Weltkrieg die Befehle befolgt, und ich muss das auch tun. Unabhängig davon, ob man einen Befehl vernünftig fand oder nicht: Dass er befolgt wurde, war selbstverständlich. Ebenso selbstverständlich war aber auch, dass man, wenn es ging, versucht hat, Befehle zu umgehen.
Stern:
So viele Deutsche waren es nicht, die zwischen 1918 und 1933 wirklich davon überzeugt gewesen waren, dass die Deutschen den Ersten Weltkrieg verloren hatten. Die meisten haben wirklich an den Dolchstoß geglaubt.
Schmidt:
Das stimmt, aber während des Zweiten Weltkrieges haben diese Zweifel für uns junge Soldaten keine Rolle mehr gespielt.
Stern:
Das heißt, um auf unser Thema zurückzukommen, man lernt aus der Geschichte?
Schmidt: <<
Ich nehme an, Fritz, dass dies jetzt eine rhetorische Frage ist. Sie wollten wissen, ob ich Nutzen aus meinen Kenntnissen der Geschichte gezogen habe, und da habe ich auf das Beispiel Napoleon verwiesen, das mir 1941 zu einer realistischen Einsicht des Russlandfeldzugs verholfen hat. Ich hätte ebenso gut auf die fünfziger Jahre verweisen können – da war ich ein junger Abgeordneter –, als mir die Kenntnis, die sehr oberflächliche Kenntnis der polnischen Geschichte geholfen hat, die Pläne des damaligen polnischen Außenministers Adam Rapacki zu verstehen. Es gab zwei Rapacki-Pläne, einen ersten und eine etwas modifizierte zweite Auflage, die ich als junger Redner – ich war damals vielleicht vierzig Jahre alt – im Parlament behandelt und begrüßt habe. Ich habe eine Rede gehalten, die darauf hinaus lief, der Westen solle die gedanklichen Ansätze von Herrn Rapacki aufnehmen und darüber in Verhandlungen eintreten, wohl wissend, dass der Westen das nicht tun würde. Es ging darum, in Mitteleuropa eine atomwaffenfreie Zone zu schaffen, und zu dieser Zone sollten gehören auf östlicher Seite Polen, dazu die DDR und später auch die Tschechoslowakei, und auf westlicher Seite die Bundesrepublik.
Stern:
Polen ist ein gutes Beispiel. Wie wichtig die Kenntnis der historischen Tatsachen ist, kann man nirgendwo besser erkennen als am deutsch-polnischen Verhältnis. Würden Sie ähnlich wie Richard von Weizsäcker sagen, dass aus der historischen Verantwortung des Zweiten Weltkrieges heraus die Deutschen eine besondere Verantwortung gegenüber den Polen haben?
Schmidt:
Eine sehr hohe Verantwortung gegenüber den Polen. Der Ausdruck «besondere Verantwortung» klingt so, als ob sie besonders sei im Verhältnis zu unserer Verantwortung gegenüber anderen Staaten und Regierungen.
Stern:
Ich würde trotzdem von «besonderer Verantwortung» sprechen wollen. Die Verwüstung Polens – ich meine –
Schmidt:
Für mich ist der polnische Nachbar unter dem Gesichtspunkt der deutschen Geschichte von ungeheurer Bedeutung. Nachrangig nur gegenüber der Bedeutung des französischen Nachbarn. Vorrangig gegenüber der Bedeutung des entfernten Nachbarn Russland oder des noch etwas entfernteren Nachbarn England.
Stern:
Deutsche und Franzosen haben viele Kriege geführt, Franzosen haben im 17. Jahrhundert Teile von Deutschland verwüstet. Aber es kam nie zu einer so unmenschlichen Besatzung wie der deutschen Besatzung Polens, angefangen im September 1939. Nie und nirgends hat eine deutsche Armee so viele Gräuel geschehen lassen außer in Polen und dann später in Russland.
Schmidt:
Ich stimme dem zu. Es ging aber voraus, am Ende des 18. Jahrhunderts, die dreimalige Aufteilung Polens unter das zaristische Russland, das Königreich Preußen und Österreich. Das ging voraus. Diese drei polnischen Teilungen habe ich in der Schule gelernt. Später wurde Polen noch zweimal geteilt, nämlich das vierte Mal zwischen Hitler und Stalin und das fünfte Mal unter dem Diktat Stalins. In Wirklichkeit sind es fünf polnische Teilungen.
Stern:
Eigentlich hat Stalin Polen nicht geteilt, sondern die Grenzen verschoben. Wenn die Deutschen aufgrund dessen, was 1939 bis 1945 in Polen passiert ist, eine – vielleicht können wir uns auf dieses Wort verständigen – herausragende Verantwortung gegenüber den Polen haben, dann müsste das Gleiche eigentlich auch gegenüber den Russen gelten.
Schmidt:
Das würde ich nicht unterschreiben wollen. Denn schließlich und endlich haben die Russen den Krieg gewonnen –
Stern:
Und zweitens waren sie selber auch schuldig an schlimmen Ausschreitungen im Osten Europas, das heißt, eine besondere Verantwortung gibt es hier nicht.
Schmidt:
So ist es.
Stern:
Polen ist nun einmal eine schwächere Nation, die, wie Sie schon gesagt haben, immer wieder durch ihre Nachbarn verwundet wurde. Es liegt eingeklemmt zwischen zwei mächtigen Nachbarn im Westen und im Osten. Die Polen haben bitter unter diesen Nachbarn leiden müssen, vor allem als deren Herrscher Hitler und Stalin hießen. Aber vielleicht genügt es, wenn die Deutschen sich ihrer Verantwortung bewusst sind, und die Polen sollten sich à la longue nicht immer nur als Opfer fühlen. Die Polen sollten vielmehr sehen, dass viele Deutsche nicht nur das Gefühl der Verantwortung haben, sondern auch versuchen, es in die Praxis umzusetzen.
Schmidt:
Das Verhältnis ist nach wie vor schwierig. Keiner würde behaupten wollen, dass eine Freundschaft besteht. Wenn man zuhört, wenn die Brüder Kaczynski reden, weiß man, dass sie aus ihrem nationalen Geschichtsbewusstsein heraus reden. Man hat dafür Verständnis, aber es führt nicht zur Freundschaft.
Stern:
Nein.
Schmidt:
Das Verhältnis war bereits nach dem Ersten Weltkrieg vergiftet. Es gab zwar zwischen einigen Deutschen und einigen Franzosen – siehe Stresemann, Briand – den beiderseitigen Willen zur Verständigung. Aber diesen Willen hat es auf deutscher Seite gegenüber den Polen nicht gegeben.
Stern:
Überhaupt nicht.
Schmidt:
Gustav Stresemann wollte Teile der ehemaligen preußischen Provinzen zurück haben, er wollte Teile von Oberschlesien zurück haben, und er hat ein Ost-Locarno abgelehnt.
Stern:
Absolut. Und leider haben die Franzosen und Engländer nicht auf einem Ost-Locarno bestanden. Gleichwohl muss man hinzufügen, dass Stresemann eine friedliche Revision der polnischen Grenzen wollte.
Schmidt:
Er war kein Kriegstreiber, nein, das nicht. Er wollte eine Revision.
Stern:
Ein Ost-Locarno wäre in Deutschland politisch sehr viel schwieriger durchzusetzen gewesen. Dafür gab es in Weimar bestimmt keine Mehrheit.
Schmidt:
Die Deutschen waren auch nicht begeistert von dem West-Locarno!
Stern:
Kann man wohl sagen. Aber für ein Ost-Locarno war nicht einmal ein politischer Wille da. Man sah das als nicht notwendig an, man wollte keine Normalisierung.
Schmidt:
So ist es. – In diesem Zusammenhang, finde ich, sollte man erwähnen, dass die Polen immer sehr auf die Vereinigten Staaten von Amerika als den Hort der Freiheit geguckt haben.
Stern:
Ja, vor allem auch nach dem Ersten Weltkrieg. Das hängt auch damit zusammen, dass Wilson in seinen Vierzehn Punkten die Erneuerung eines polnischen unabhängigen Staates zur Bedingung eines Friedensschlusses in Europa erklärt hat.
Schmidt:
Das hat dazu beigetragen, dass besonders viele Leute aus Polen nach Amerika gegangen sind.
Stern:
Richtig. Chicago war mal die zweitgrößte polnische Stadt in der Welt.
Schmidt: <<
Besonders viele polnische Einwanderer haben sich auch ein bisschen nördlich von Chicago, am Ufer des Michigansees, niedergelassen. Kommt nicht auch Brzezinski von dort?
Stern:
Er ist, soviel ich weiß, in Warschau geboren; groß geworden ist er auf der andern Seite der Seen, in Montreal.
Schmidt:
Ich kannte Brzezinski seit den fünfziger Jahren. Für mich war immer deutlich, dass er in extremer Weise die Russen hasste und in extremer Weise die Deutschen hasste. Ich habe ihm nie ein abgewogenes Wort zugetraut, muss ich bekennen. Wegen seiner totalen Ablehnung dieser beiden Nachbarvölker.
Stern:
Da ich ihn wirklich gut kenne, kann ich Ihnen nur zu fünfzig Prozent Recht geben. Gegen die Russen hatte er dieses Gefühl, gar keine Frage. Gegen die Deutschen hat er sich, spätestens beim Eintritt der Bundesrepublik in die NATO, die amerikanische Einstellung zu eigen gemacht: «Wir brauchen die Deutschen». Liebe war das zwar nicht, aber jedenfalls eine andere Einstellung, als er sie gegenüber den Russen hatte.
Schmidt:
Ich weiß nicht, ob ich das erzählen soll, aber ich hätte ihn beinahe mal rausgeschmissen aus meinem Büro. Er war damals Sicherheitsberater von Jimmy Carter, und in dieser Eigenschaft besuchte er den deutschen Bundeskanzler. Er redete in einer Weise mit mir, dass mir beinahe der Kragen geplatzt ist: arrogant, überheblich und aggressiv.
Stern:
Haben Sie mal jemanden rausgeschmissen?
Schmidt:
Einen Erzbischof, der im Auftrag des Vatikans einen Papstbesuch in Deutschland vorbereiten sollte, den hätte ich beinah rausgeschmissen. Er hatte einen polnischen Namen, ich glaube aber, dass er Amerikaner war, denn nach meiner Erinnerung sprach er ein amerikanisches Englisch. Er ging davon aus, der Besuch des Papstes in Deutschland muss ein Riesenerfolg werden, und das kostet euch ungefähr 25 Millionen D-Mark. Werde ich nie vergessen! Der Bundespräsident hat ihn dann wohl tatsächlich hinauskomplimentiert.
Stern:
Ich habe Brzezinski Ende der fünfziger Jahre kennen gelernt, da kam er zu uns nach Columbia, wir waren Kollegen, hatten einen gemeinsamen Freund und haben uns dann ebenfalls angefreundet. Nach meinem ersten längeren Gespräch mit ihm habe ich zu dem gemeinsamen Freund gesagt: «The most interesting unhistorical mind, I’ve ever met.» Ein hochinteressanter, aber theorielastiger Mensch. Von Geschichtsbewusstsein oder historischem Denken war er ziemlich frei, er hat alles von der Politikwissenschaft her gesehen. Wir sprachen – ich glaube, das war Anfang der sechziger Jahre – über Ungarn, wir hatten das Land gerade besucht, unabhängig voneinander, und ich erzählte ihm, wie mich im Oktober 1956 der sowjetische Einmarsch bewegt hat und die Unterdrückung, und dass ich geweint hätte. Da nahm er einen Stift, malte eine Karte aufs Papier und sagte: «Na ja, wenn man hier eine amerikanische Nuklearwaffe benutzt hätte und dort, wäre der Einmarsch unmöglich gewesen.» Ich war entsetzt.
Schmidt:
Für mich ist und bleibt er ein polnischer Romantiker.
Stern:
Also polnisch ganz bestimmt, aber über das Wort Romantiker würde ich mit Ihnen streiten, denn es gab etwas Realpolitisches bei ihm –
Schmidt:
Romantischer Realpolitiker! – Wir müssen aufpassen, Fritz, dass wir uns nicht verlieren. Eigentlich sollte Zbig Brzezinski in unserem Buch keine allzu große Rolle spielen.
Stern:
Richtig. Ich wollte nur noch kurz erzählen, dass ich Mitte der sechziger Jahre, als ich mich gegen den Vietnamkrieg engagierte, gern auch Zbig dabei haben wollte. Ich habe damals in Columbia eine Gruppe von Professoren organisiert, die sich mit der Frage befassen sollte, was können wir tun, um die amerikanische Vietnampolitik zu ändern. Beim Mittagessen in der Universität sagte ich Zbig ehrlicherweise, für mich ist der Krieg in Vietnam ein Verhängnis, denn er verstößt gegen unsere eigenen nationalen Interessen. Das konnte er nicht nachvollziehen. Da sagte ich zu ihm: «Ich muss Ihnen gestehen, ich habe einen Sohn, der ist siebzehn Jahre alt, und das spielt sicher eine Rolle in meinem Denken.» Die Antwort von Zbig werde ich nie vergessen: «Ich habe auch einen Sohn, der ist fünfzehn. Ich würde es vorziehen, wenn wir die Sache jetzt hinter uns bringen.» Und damit meinte er, wie ich glaube, nicht nur Vietnam. Wenn es zu einem Krieg mit China kommen sollte, dann lieber jetzt, wenn sein Sohn noch nicht dabei sein musste. Erschreckend! Verstehen Sie mich?
Schmidt:
Sehr gut. Deshalb sollten wir ja auch das Thema wechseln. Auf die Gefahr hin, in die Überheblichkeit des alten Mannes zu geraten, der alle jüngeren Leute für weniger tüchtig hält als die eigene Generation –
Stern:
Zu der ich immerhin auch gehöre –
Schmidt:
Im Bewusstsein dieser Gefahr blicke ich ihr ins Auge und behaupte: Die heutige Generation der Politiker interessiert sich relativ wenig für Geschichte. Das gilt jedenfalls in meinem Land, in Deutschland. Meine Vermutung ist, dass es in Amerika nicht viel besser ist.
Stern: <<
Da gebe ich Ihnen völlig recht. Ich glaube, dass das Ahistorische bei den Amerikanern auch aus ihrer Geschichte stammt. Von zwei großen Meeren beschützt, ergab es Sinn, Isolationist zu sein, und außerdem hatte man das wohltuende Gefühl, wir sind ein ganz neues Experiment. So etwas wie uns gab es noch nie. Außer der berühmten Ostküstenelite, die die alte Bildung pflegte, war deshalb niemand besonders an Geschichte interessiert. Man meinte, die USA hätten ihre eigene, erstaunliche Geschichte unabhängig von anderen Ländern. Und das ist heute noch schlimmer.
Schmidt:
Die alte Ostküstenelite hat ihre überragende Bedeutung für das Schicksal der amerikanischen Nation verloren, ein Teil der Bedeutung ist inzwischen abgewandert in den Süden und nach Kalifornien. Und in Texas interessiert man sich schon gar nicht für die Geschichte Europas. Eher für die Geschichte des Mittleren Ostens, soweit daher das Öl kommt.
Stern:
Das ist ganz richtig. Immerhin ist in den Colleges und Universitäten in Amerika das Grundstudium der sogenannten westlichen Zivilisation unabdingbar, um überhaupt einen Abschluss zu erreichen, allerdings erst seit dem Ersten Weltkrieg. Aber auch das hat in den letzten Jahren abgenommen. Wegen der Globalisierung muss man sich jetzt eben auch um die anderen Länder kümmern. Aber viele unserer Studenten wissen nicht mal über die eigene amerikanische Geschichte Bescheid.
Schmidt:
Woher kam dieses neue Experiment, von dem Sie eben sprachen? Geht das zurück auf die Pilgrim-Fathers?
Stern:
Weniger auf die Pilgrim-Fathers als vielmehr auf die Founding-Fathers. Das Gefühl eines neuen politischen Experiments kam mit der Unabhängigkeitserklärung und noch mehr mit der Verfassung. Die religiöse Fundierung, die unter den Pilgrims natürlich noch eine ganz starke Rolle gespielt hat, wurde im 18. Jahrhundert säkularisiert. Bei der Begründung der Vereinigten Staaten war die Trennung von Staat und Kirche selbstverständlich. Den Gründungsvätern, oder wie immer man sie nennen will, war bewusst: Kirche und Staat müssen getrennt sein.
Schmidt:
Woher haben sie das gewusst?
Stern:
Aus den negativen Erfahrungen, die sie aus Europa kannten, aus der historischen Erfahrung.
Schmidt:
Es spielt in der Declaration of Independence nach meiner Erinnerung keine Rolle. Oder doch? Es spielt in der amerikanischen Constitution auch keine Rolle. Oder doch?
Stern:
Doch. Es steht ganz klar in der Verfassung, im berühmten stets zitierten ersten Amendment.
Schmidt:
Aha.
Stern:
Die Religionsfreiheit kam im Übrigen nicht sofort. Es gab auch unter den Pilgrims rigorose Unterdrückung, zum Beispiel von Katholiken und anderen christlichen Glaubensbekenntnissen. Weil es aber von Anfang an gemischte Religionen in den Vereinigten Staaten gab, hat sich die Frage nach religiöser Freiheit allmählich durchsetzen können.
Schmidt:
Die Leute, die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert sind, waren zu einem großen Teil Iren, die waren selbstverständlich alle römische Katholiken. Zu einem großen Teil waren es Polen, die waren selbstverständlich ebenfalls alle römische Katholiken. Zu einem erheblichen Teil waren es Deutsche, die waren teils Protestanten, teils Katholiken. Aber alle kamen aus Staaten, in denen die Einheit von Kirche und Staat keine Rolle spielte.
Stern:
Aber in Irland war die Kirche doch ungeheuer mächtig, unabhängig davon, welche Rolle der Staat spielte. Und der Antikatholizismus in Amerika darf auch nicht unterschätzt werden – politisch gesehen. Gerade die Iren hatten im 19. Jahrhundert eine schwierige Zeit, sich durchzusetzen. Erst mit John F. Kennedy ist ein Katholik Präsident geworden.
Schmidt:
Meine Frage lautet: Woher kommt eigentlich dieses Überlegenheitsgefühl, dieser besondere amerikanische Messianismus? Dieses Gefühl der Amerikaner, wir haben das beste politische System der Welt, und das wollen wir jetzt auch den anderen beibringen, war ja nicht nur hilfreich. Könnte man so formulieren: Amerika hat den christlichen Missionarismus ersetzt durch einen demokratischen und kapitalistischen Missionarismus?
Stern:
Amerikanischer Prägung, ja.
Schmidt:
Auf christlicher Grundlage?
Stern:
Auf christlicher Grundlage, ja, aber man muss hinzufügen, toleranter –
Schmidt:
Das Christentum war niemals tolerant.
Stern:
Eben!
Schmidt:
Weder das katholische noch das evangelische Christentum sind je tolerant gewesen.
Stern:
Sie sagten eben, die alte Ostküstenelite habe an Einfluss verloren –
Schmidt:
Das würde ich so stehen lassen.
Stern:
Ich will Ihnen gar nicht widersprechen. Ich will Sie fragen, woran Sie es festmachen?
Schmidt:
Was wir heute in der Finanzwelt erleben, ist ein absolutes Versagen der alten Ostküstenelite.
Stern:
Sie haben, wie immer, eine kurze und präzise Antwort. Ich zögere ein wenig, weil es wirklich eine sehr komplexe Materie ist. Es hängt einerseits zusammen mit der demographischen Entwicklung, andererseits ist es das eigene Versagen, wie das sehr oft bei Eliten der Fall ist. Ich würde damit anfangen, zu sagen, die alte Ostküstenelite wurde gespalten mit dem New Deal. Einige haben damals mitgemacht, aber bei vielen kam es zu einer bitteren Feindschaft gegen Roosevelt; es gab damals noch, wenn ich so sagen darf, eine anständige republikanische Opposition, die dann allerdings immer weniger von Anstand geprägt wurde. Und das ist weiß Gott nicht besser geworden. Jedenfalls fing die Vormacht der Ostküstenelite schon damals an zu wackeln.
Schmidt:
Mir scheint die demographische Entwicklung, die Sie erwähnt haben, eine große Rolle zu spielen. Die Tatsache, dass Kalifornien inzwischen der volkreichste Staat geworden ist, hat dazu beigetragen, dass der Einfluss, der von Los Angeles ausgeht auf die öffentliche Meinung in Amerika, gewaltig gestiegen ist.
Stern:
Richtig.
Schmidt:
Und dasselbe gilt für Texas. Und dasselbe gilt für all die Pensionäre in Florida oder in Arizona.
Stern:
Außerdem gab es in der amerikanischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte immer ein populistisches Ressentiment gegen die Ostküstenelite.
Schmidt:
Das gilt wahrscheinlich schon für den Mittleren Westen.
Stern:
Ja. Ein gewisses Misstrauen gegenüber den sogenannten gebildeten und eingebildeten –
Schmidt:
Und deren guten Manieren –
Stern: <<
War für den amerikanischen Populismus immer ein sehr, sehr lohnendes Objekt. Dieses Ressentiment konnte zu bestimmten Zeiten richtig aufgepeitscht werden. George Bush Jr. zum Beispiel machte gegen Ende seiner zweiten Amtszeit gern süffisante Anspielungen auf Menschen, die in Martha’s Vineyard französischen Weißwein trinken. Das antielitäre Denken war in Amerika immer präsent.
Schmidt:
Bush Vater war ein typischer Vertreter der Ostküste. Man kann die beiden Bushs – Vater und Sohn – als Beispiel nehmen für den Abstieg der Ostküste. Bei Vater Bush war die Kenntnis der Welt außerhalb der Vereinigten Staaten von erheblicher Bedeutung; er hatte auch Urteilsvermögen in Bezug auf Probleme außerhalb des amerikanischen Kontinents. Der Sohn nicht mehr. Der Sohn ist nicht an der Ostküste aufgewachsen wie der Vater, sondern in Texas groß geworden.
Stern:
Ja, aber er wurde in Yale erzogen. Man versuchte zumindest, ihn in Yale zu erziehen.
Schmidt:
Man kann den Vater zur Ostküste rechnen, den Sohn nicht.
Stern:
Ich würde nur hinzufügen, dass es eine Leistung des jungen Bush war, den Vater aufzuwerten. Ich sage das ironisch: Dadurch dass er so schlimm war, denkt man weniger kritisch zurück an den alten Bush. Insgesamt aber würde ich den Vater kritischer sehen als Sie.
Schmidt:
Ich habe ein Gefühl der Dankbarkeit gegenüber dem alten Bush, denn Helmut Kohl hätte die Vereinigung der beiden deutschen Nachkriegsstaaten nie zustande gebracht ohne die Hilfe von Bush Vater.
Stern:
Das will ich gar nicht bestreiten; ich sehe ihn aber vor allem innenpolitisch, und da sage ich: Er war der Mann, der uns Dan Quayle gebracht hat. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an den Vizepräsidenten erinnern. Wenn man so jemanden zum Vizepräsidenten macht, ist das eine Art Verachtung für das Amt!
Schmidt:
Wir haben schon komische Vizepräsidenten erlebt –
Stern:
Quayle war etwas ganz Besonderes. Auch die Ernennung von Clarence Thomas in den Obersten Gerichtshof entsprach in keiner Weise der alten Tradition der Ostküste. Ich kann Sie sehr gut verstehen, was die Außenpolitik anlangt, und stimme zu, dass ein großer Unterschied bestand zwischen Vater und Sohn. Ich will nur nicht, dass man vergisst, was er innenpolitisch angerichtet hat. Außerdem war die Verachtung für die Aristokratie auch bei ihm schon ein Stück vorhanden, nicht erst bei seinem Sohn. Und bei beiden – Vater und Sohn, beim Sohn noch viel ausgeprägter – gab es diese entsetzliche Geldgier und den Hang, sich mit Leuten zu umgeben, die dieser Gier ergeben sind.
Schmidt:
Lassen Sie uns noch beim Thema Außenpolitik bleiben. Würden Sie zustimmen oder würden Sie es einschränken oder ablehnen, wenn ich sage: Seit zweihundert Jahren ist die Außenpolitik der Vereinigten Staaten durch drei Tendenzen gekennzeichnet, die sich abgewechselt haben, zum Teil auch überlappt haben, nämlich erstens Isolationismus, später auslaufend in Unilateralismus; zweitens Imperialismus, auch auslaufend in Unilateralismus; und drittens Internationalismus. Diese drei Tendenzen wurden allesamt mehr oder minder idealistisch begründet oder verbrämt. Kann man das so sagen, oder würden Sie das anders sehen?
Stern:
Ich würde das Verlangen Amerikas hinzufügen, der Welt einen gewissen idealistischen Schub zu geben. Anfangs noch als friedliches Vorbild, wie bei den Unterzeichnern der Declaration of Independence. Sie wussten, das ist ein Signal, das es noch nicht gegeben hat, dass sich ein Land unabhängig macht und sich zugleich berufen fühlt, der Weltöffentlichkeit die Gründe und Prinzipien klar darzulegen – wie John Adams in seinem letzten Brief geschrieben hat, die Unabhängigkeitserklärung bleibt ein Beispiel für die Welt. Was den Isolationismus anlangt, so möchte ich hinzufügen, dass man sich der Umwälzungen in der Welt durchaus bewusst war; der Isolationismus war pragmatische Politik. Und am Anfang war man ja weitgehend unabhängig vom Rest der Welt. Der Isolationismus war immer vermischt mit Stolz und einem Schuss politischer Vernunft. In den besten Momenten amerikanischer Außenpolitik waren Realismus und Idealismus vereint.
Schmidt: <<
Die Monroe-Doktrin kam ungefähr ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeitserklärung.
Stern:
Richtig.
Schmidt:
Wenn ich das richtig verstehe, war sie einerseits unilateralistisch und isolationistisch, aber andererseits erklärte sie die beiden Hälften des amerikanischen Kontinents zum Hinterhof der Vereinigten Staaten: Da habt ihr anderen nichts zu suchen, das geht euch nichts an.
Stern:
Das ist völlig richtig. Verkündet wurde die Monroe-Doktrin 1823, zu einer Zeit, als die meisten Länder Südamerikas sich von Spanien und Portugal befreit haben und die USA dort keine erneute europäische Vormacht dulden wollten – ohne übrigens die Macht zu haben, so eine Politik durchzusetzen.
Schmidt:
Im Kern geht diese Politik wohl zurück auf Thomas Jefferson. Er war es, der das warnende Wort von den «Entangling Alliances» geprägt hat, oder?
Stern:
Ich bin nicht sicher. Das, was damit gemeint ist, stand jedenfalls im Zentrum der Abschiedsrede von George Washington. Es hat ja eine gewisse Tradition in Amerika, dass die Abschiedsrede eines Präsidenten, die Farewell Address, eine besondere Wichtigkeit hat.
Schmidt:
Inzwischen ist die Inaugurationsrede wichtiger geworden.
Stern:
Richtig, aber Washingtons Farewell Address ist immer noch ein wichtiges Dokument, das übrigens in den 1930er Jahren von Isolationisten gern zitiert wurde: Amerika solle die Weisheit von Washington befolgen und sich aus Europa heraushalten – wozu verzwickte Allianzen, wenn die Interessen Amerikas nicht unmittelbar betroffen sind. Das war gegen Franklin Roosevelt gerichtet.
Schmidt: <<
Ende des 19. Jahrhunderts hat Alfred Thayer Mahan eine völlig neue, den Globus umspannende Konzeption einer Welt-Seemacht entwickelt, die in frontalem Widerspruch stand zur Monroe-Doktrin. Das muss doch eigentlich zu Kontroversen geführt haben in den USA.
Stern:
In den siebzig Jahren, die seit Jefferson vergangen waren, hatte sich Amerika sozusagen selbst entdeckt, man hatte den Westen kolonialisiert –
Schmidt:
Ja, aber dazu brauchte man keine Schiffe.
Stern:
Alles per Pferd. Go West, Young Man! Als man dann angekommen war, kamen imperialistische Gelüste auf. Nicht zufällig zu einem Zeitpunkt, wo der Imperialismus in Europa auf seinem Höhepunkt war. Und Alfred Mahan war in dem Sinne mehr historischer Denker als Stratege – mit Sicherheit war er kein politischer Berater. Dass er einen solchen Einfluss haben würde, war ihm wohl nicht bewusst. Sein Buch erschien 1890, Amerikas imperialistischer Aufbruch begann 1898, mit dem Krieg gegen Spanien und dem Aufbau einer starken Position im Stillen Ozean. Ich bin ihm übrigens in Deutschland mindestens so oft begegnet wie in den USA; als ich mich mit der Vorkriegsgeschichte von 1914 beschäftigte, mit dem unglücklichen Flottenbau, bin ich immer wieder auf seinen Namen gestoßen.
Schmidt:
Heute wird sein Buch wohl nur noch von Fachleuten gelesen.
Stern: <<
Das Buch von Mahan über die Seemächte hatte wohl ein ähnliches Schicksal wie Alexis de Tocquevilles Buch über die Demokratie in Amerika – ohne die beiden vergleichen zu wollen. Tocquevilles Amerika-Buch ist wohl das größte Buch, das je über Amerika geschrieben wurde, heute aber weitgehend vergessen. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als man sich in den USA mit der Zukunft von Demokratie beschäftigte, wurde es häufiger gelesen, weil es im Geist eines gemäßigten, vernünftigen liberalen Konservatismus verfasst ist. Auch ich habe es als junger Student bald nach dem Krieg gelesen und bewundert.
Schmidt:
Für mich war das Wichtigste bei Tocqueville die Schilderung der machtpolitischen Gleichstellung Amerikas und Russlands. Das war in den 1830er Jahren, als das Buch geschrieben wurde, geradezu visionär.
Stern:
Das steht im letzten Kapitel des ersten Bandes, ein paar Sätze nur, aber eine sehr hellsichtige Prophezeiung.
Schmidt:
Eine Prophezeiung, die ich später auf die Situation des Kalten Krieges zwischen der Sowjetunion und Amerika projiziert habe.
Stern:
In Amerika wurde er vor allem von der «intellektuellen Klasse» gelesen, aber nicht wegen der Prophezeiungen, sondern wegen seiner Analyse, was eine Demokratie bedeutet und wo ihre Gefahren liegen. Bei einer großen Veranstaltung 1959 in Philadelphia zum 100. Todestag von Tocqueville habe ich einen Vortrag über ihn und seine liberale Grundposition gehalten. Er hat das Verhältnis von demokratischer Ordnung und Politik, aber auch von demokratischer Gesellschaft und Kultur analysiert und schon weitgehend die Gefährdung der Kultur durch die Demokratie erfasst; er glaubte an die Zukunft der Demokratie, aber hat auch ihre Schattenseiten erkannt. Er war schließlich nicht umsonst ein Mann aus altem französischen Adel.
Schmidt: <<
Tocquevilles Prophezeiung von den beiden großen Mächten der Zukunft, Amerika und Russland, ist für das 20. Jahrhundert in Erfüllung gegangen. China tauchte bei ihm nicht auf. Das bringt mich zu meiner nächsten Frage. Werden die Vereinigten Staaten von Amerika den Wiederaufstieg Chinas zur Weltmacht in Gelassenheit ertragen, auch wenn er unter kommunistischem Vorzeichen erfolgt, ohne eine demokratische Verfassung?
Stern:
Sie haben irgendwo mal geschrieben, dass man sich hüten sollte, über die Zukunft Aussagen zu treffen, weil man sich damit nur lächerlich macht. Ich will es trotzdem auf mich nehmen. Mit Gelassenheit werden die Amerikaner es sicher nicht ertragen. Von Amerika aus gesehen gibt es im Augenblick, wie es das schon früher gegeben hat – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts –, die Möglichkeit, China gegen Russland auszuspielen. Wenn aber China als Alleinmacht, als alleinige aufsteigende Macht den Vereinigten Staaten gegenüber steht, wird das eine sehr schwierige Aufgabe sein. Wie man damit fertig wird in Amerika, ist mir unklar. Es wird im Wesentlichen zwei verschiedene Strömungen geben: Eine Strömung, die sehr jingoistisch und aggressiv reagiert – ja man muss sich gegen China wappnen, was immer das heißen mag – und eine andere Richtung, die sagt: Es ist nun mal so, man muss irgendwie zu einem Modus operandi kommen.
Schmidt:
Warum muss man sich wappnen? Besteht die Besorgnis, dass China ein imperialistischer Großfaktor der Weltpolitik werden könnte, der Amerika bedroht? Wenn ich die chinesische Geschichte einigermaßen richtig im Hinterkopf habe, war China eigentlich niemals eine imperialistische Macht, nicht im Laufe von viertausend Jahren. Die Chinesen waren sich immer selbst genug; sie waren zufrieden, wenn die ausländischen Fürsten nach China zu Besuch kamen, vor dem Kaiser Kotau machten, Geschenke mitbrachten, Tribut zahlten, und dann wurden sie in Gnaden wieder nach Hause entlassen. Heute ist das Land, der Zahl der Menschen nach, das Vierfache bis Fünffache der Vereinigten Staaten. Der Intelligenzquotient ist der gleiche, nur fehlt den Chinesen im Moment noch die Möglichkeit, diese Intelligenz in allen Bereichen auszubilden.
Stern:
Noch! Die Betonung liegt auf dem Wort noch. Und da muss man sagen, dass Amerika selber zum Aufstieg Chinas sehr viel beigetragen hat, gerade was Technologie anlangt und Ausbildung. Wenn Sie heute an irgendeine amerikanische oder kanadische Universität gehen, fällt Ihnen sofort auf, wie viele Asiaten da sind, und dass diese Asiaten –
Schmidt:
Tüchtiger sind als die amerikanischen und fleißiger –
Stern:
Fleißiger ohne Frage, und in dem Sinne auch tüchtiger. Ob sie intelligenter sind, kann ich nicht beurteilen. Für Mathematik oder Naturwissenschaften scheinen sie jedenfalls besonders begabt zu sein.
Schmidt:
Nicht alle asiatischen Studenten in Amerika kommen aus China. Aber die von dort kommen, gehen heutzutage wohl größtenteils zurück?
Stern:
Ja, das ist richtig. Früher war das anders. Da wollten die Ausländer, die nach Amerika kamen, sich in Amerika durchsetzen.
Schmidt:
Aber die Chinesen selber unternehmen auch unglaubliche Anstrengungen; was sie auf dem Felde der universitären Ausbildung geschaffen haben im Laufe der letzten fünfzehn Jahre, ist erstaunlich. Und ich würde vorhersagen: Es dauert nicht mehr lange, dann kann kein Mensch aufsteigen ins Politbüro oder gar in den Ständigen Ausschuss des Politbüros, der nicht akademische Titel mitbringt, und zwar akademische Titel aus dem eigenen Lande. Der Ausbau der Universitäten und der Bildung hat inzwischen ein unvorstellbares Ausmaß angenommen.
Stern:
Wobei zu bemerken ist: Ausbau ist nicht notwendigerweise mit Qualität verbunden, im Gegenteil.
Schmidt: