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Zum Buch

Seit mehr als einem Jahrhundert ist Karl May (1842–1912) ein Autor von herausragender Popularität. Seine Romane haben Millionenauflagen erzielt, mit seinen Figuren Winnetou und Old Shatterhand hat er das Indianer- und Wildwestbild von Generationen deutscher Leser geprägt, er hat postum in den 1960er Jahren eine der erfolgreichsten Filmserien in der Geschichte des deutschen Kinos inspiriert und führt bis heute ein vitales Nachleben auf diversen Freilichtbühnen. Gleichzeitig scheiden sich an May seit jeher die Geister. Arno Schmidt erhob einige seiner späten Romane in den Rang von Weltliteratur, während Klaus Mann eine direkte Verbindungslinie zwischen «Old Shatterhands Maximen und Taktiken» und den Gräueltaten des Nationalsozialismus sah.

Helmut Schmiedt, einer der besten Kenner der Materie, legt nun zum 100. Todestag des «Volksschriftstellers» eine umfassende, reich bebilderte Biographie vor, die Werk und Persönlichkeit Mays auf faszinierend neue Weise miteinander in Beziehung setzt. In seiner ebenso spannenden wie klugen Darstellung präsentiert er uns eine Persönlichkeit, die sich zwischen Ardistan und Dschinnistan, zwischen den Niederungen elender Verhältnisse und den luftigen Höhen eines sagenhaften schriftstellerischen Erfolgs, zwischen Wirklichkeit und Phantasie so beharrlich und intensiv wie wenige andere Schriftsteller verirrte – und gleichwohl die Überzeugung vermittelte, einen geraden Lebensweg zu gehen.

Über den Autor

Helmut Schmiedt, geb. 1950, lehrt als Professor für Germanistik an der Universität Koblenz-Landau und ist stellvertretender Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft. Leben und Werk Karl Mays bilden seit vielen Jahren einen seiner Forschungsschwerpunkte. Zuletzt veröffentlichte er Dr. Mabuse, Winnetou & Co. Dreizehn Klassiker der deutschen Unterhaltungsliteratur (2007).

 

 

 

 

 

Johann Wolfgang von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit (1811ff.) zählt zu den berühmtesten Werken ihrer Art. Wie so vieles von Goethe hat sie prägend gewirkt und nachfolgende Autoren beeinflusst, sei es, dass sie zu Nachahmungen reizte, sei es, dass man sich in pointierter Form von ihr abzugrenzen versuchte. Bekannt geworden sind insbesondere die ersten Sätze von Goethes Betrachtung des eigenen Lebens. Gleich zu Beginn von Dichtung und Wahrheit erhält der Leser Informationen zum Stand der Gestirne:

Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, Merkur nicht widerwärtig, Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.[1]

Karl Mays Autobiographie Mein Leben und Streben (1910), sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Buch, beginnt mit dem Kapitel ‹Das Märchen von Sitara›, dessen erster Absatz folgendermaßen lautet:

Wenn man von der Erde aus drei Monate lang geraden Weges nach der Sonne geht und dann in derselben Richtung noch drei Monate lang über die Sonne hinaus, so kommt man an einen Stern, welcher Sitara heißt. Sitara ist ein persarabisches Wort und bedeutet eben ‹Stern›.[2]

Anschließend wird der Leser auf mehreren Druckseiten detailliert über Ausdehnung und Struktur von Sitara unterrichtet. Von Belang ist vor allem, dass dieser Stern aus zwei großen Teilen besteht, dem elenden, von grausamen Verhaltensregeln beherrschten Ardistan und dem wunderschönen, paradiesisch anmutenden Dschinnistan; es ist unendlich schwierig und strapaziös, von Ardistan nach Dschinnistan zu gelangen. Das nächste Kapitel von Mein Leben und Streben trägt dann die Überschrift ‹Meine Kindheit› und beginnt mit dem Satz: «Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.»[3]

Johann Wolfgang von Goethe, der vielen als größter deutscher Dichter gilt, und Karl May, den man den alles in allem erfolgreichsten deutschen Unterhaltungsschriftsteller nennen darf: Beide leiten also ihre Selbstdarstellungen mit dem Blick aufs Firmament ein, und manches deutet darauf hin, dass diese Gemeinsamkeit nicht auf einem Zufall beruht; die Parallellektüre fördert weitere Übereinstimmungen zutage. Sie lassen in der Summe keinen Zweifel daran, dass May Teile seiner Autobiographie in Anlehnung an die ein Jahrhundert vorher veröffentlichte Selbstdarstellung des Weimarer Klassikers modelliert hat, und der Umstand, dass May im siebten Kapitel von Mein Leben und Streben ausdrücklich auf das wohlwollende Verständnis zu sprechen kommt, das Goethe in den Gesprächen mit Eckermann für die konstruktive enge Anlehnung an fremde Texte aufgebracht hat, bestätigt indirekt, wie aufschlussreich der vergleichende Blick im Fall der beiden Autoren ist.

Es handelt sich bei diesen intertextuellen Beziehungen allerdings nicht um ein simples Abschreiben oder Paraphrasieren: Schon die einleitenden Passagen setzen ja vor dem Hintergrund des gemeinsamen Grundmotivs höchst unterschiedliche Akzente. Geht man ihnen nach, so lässt sich bereits in Ansätzen mancherlei über Karl May erkennen, das von elementarer Bedeutung für sein Leben und Werk und vor allem für sein Selbstverständnis ist.

Zunächst einmal fällt auf, dass May seine Darstellung – anders als Goethe – eben nicht mit handfesten Daten und Fakten eröffnet, sondern mit der Anspielung auf Literarisches: Er knüpft nicht nur unausgesprochen an Goethe an, sondern setzt explizit auch ein mit der Präsentation eines von ihm erfundenen ‹Märchens›, und erst in Verbindung damit und in Abhängigkeit davon kommt er später konkret auf sich selbst zu sprechen. Dabei muss man berücksichtigen, dass der Sitara-Mythos nicht eigens für die Autobiographie produziert wurde, sondern ein Schlüsselmotiv für Mays gesamtes Spätwerk bildet: Der Roman Ardistan und Dschinnistan (1907–1909) verweist schon im Titel auf ihn, und in Mays einzigem Drama Babel und Bibel (1906) – aus dem in Mein Leben und Streben ausführlich zitiert wird – spielt Sitara eine herausragende Rolle. Der Autobiograph lässt sein Ich also im Zuge einer komplexen literarischen Inszenierung auftreten, die Person Karl May debütiert mit Hilfe von Texten Goethes und Karl Mays.

Dabei erweist sich die Beziehung zu Dichtung und Wahrheit als höchst ambivalent, denn May überbietet und unterbietet Goethes Schilderung zugleich. Er überbietet sie, indem er nicht kurz und pointiert, wie Goethe, von real existierenden Himmelskörpern schreibt, sondern mit vielen Details einen Kosmos sui generis kreiert. Goethe arbeitet, bei allem deutlich erkennbaren Stilisierungswillen, mit Größen, über die jedes Konversationslexikon informiert, und wer will, kann sich sogar kundig machen, wie es damals, zur Zeit der Geburt des Frankfurter Knaben, tatsächlich um ihre Konstellation bestellt war; insofern bleibt Goethe in diesem Zusammenhang bei den Tatsachen. Karl May dagegen phantasiert nichts Geringeres als eine Privatmythologie herbei, um dem eigenen Auftritt den Weg zu ebnen.

May unterbietet Goethes Darstellung aber auch: Weist Goethes Sternen-Introitus in lichte Höhen, so deuten Mays Gestirne in Abgründe menschlichen Seins – «Ich bin im niedrigsten, tiefsten Ardistan geboren, ein Lieblingskind der Not, der Sorge, des Kummers.» Die Himmelskörper der wohlsituierten Frankfurter Bürgerfamilie wirken konstruktiv zusammen, um indirekt schon von einer glanzvollen Zukunft des Neugeborenen zu künden; einer davon, der Mond, ist ob seiner Renitenz sogar behilflich, die Geburt auf den angemessen auffälligen Zeitpunkt zu verlegen: «mittags mit dem Glockenschlage zwölf». Nichts dergleichen bei May: Die zitierte eigene Mythologie ist gut genug, als Wegweiser zu dienen, aber dann stellt sich heraus, dass Mays Platz an der finstersten, bedrückendsten Stelle des allegorischen Sitara-Kosmos zu finden ist. Eine düsterere Einführung der eigenen Person ist nicht denkbar: im Hinblick auf das Märchen von Ardistan und Dschinnistan nicht und ebenso wenig im Vergleich zu den Darlegungen Goethes.

Dieser Kontrast setzt sich an fast allen Stellen fort, an denen Mays Kindheitsschilderung motivisch Dichtung und Wahrheit nahe rückt. Goethe ergänzt den Bericht über seine Geburt mit dem Hinweis auf Komplikationen, die aufgrund der Ungeschicklichkeit der Hebamme eingetreten seien, fügt aber hinzu, dieser Umstand habe zu einer Verbesserung des Hebammenunterrichts in der Stadt Anlass gegeben und sich insofern letztlich segensreich ausgewirkt. May nennt im Anschluss an den zitierten ersten Satz über die eigene Person den Vater einen armen Weber, kommt danach auf besonders triste Todesfälle in seiner Familie zu sprechen, von denen sich einer zu Weihnachten abgespielt habe, und fügt generalisierend hinzu: «Ueberhaupt ist Weihnacht für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit gewesen.»[4]

Auch berichten beide Autoren über exzessive frühe Lektüreerfahrungen: Goethe hat den Orbis pictus des Amos Comenius, Ovids Verwandlungen, Robinson Crusoe, Die Insel Felsenburg sowie viele andere durchweg geschätzte, der Bildung wie der Unterhaltung dienliche Schriften gelesen; May dagegen erwähnt «alte Gebetbücher, Rechenbücher, Naturgeschichten, gelehrte Abhandlungen, von denen ich kein Wort verstand», die er auf Anordnung des Vaters gleichwohl zum Teil sogar habe abschreiben müssen.[5] In beiden Fällen hat ein Puppentheater für die Ausbildung des literarischen Interesses eine maßgebliche Rolle gespielt, doch auch hier klaffen die Erinnerungen weit auseinander: Goethe hat ein Puppentheater geschenkt bekommen und gestaltet damit in seinem Giebelzimmer eigene Aufführungen vor Zuschauern; May besitzt weder ein eigenes Puppenspiel noch die Möglichkeit zu solch raumgreifenden Darbietungen, sondern besucht ein paar Mal öffentliche Aufführungen einer Wanderbühne. Hier wie dort flüchten die Söhne gelegentlich vor den Anforderungen, die ehrgeizige Väter an sie stellen, zu den Angehörigen aus der noch einmal älteren Generation, und wieder könnten die Differenzen nicht größer sein: Das Domizil der Goethe’schen Großeltern, in einer anderen Straße als das Elternhaus gelegen, «schien ehmals eine Burg gewesen zu sein», und zu ihm gehören ein «ziemlich breite(r) Hof» sowie ein reichhaltig gefüllter «Garten, der sich ansehnlich lang und breit hinter den Gebäuden hin erstreckte»;[6] wenn der kleine May seine Großmutter besucht, muss er lediglich in ein anderes Zimmer des ärmlich ausgestatteten Elternhauses gehen, dessen Garten winzig klein ist.

Während Goethe also durchweg von Umständen und Ereignissen berichtet, die er schon damals als angenehm empfunden hat und die er auch noch im Rückblick – mit kleinen Einschränkungen – als im besten Sinne zukunftsweisend und förderlich ansieht, spricht May in seiner Bilanz früher Lebenserfahrung von deprimierenden Verhältnissen und belastenden, schädlichen Einflüssen. Während dem einen der Weg nach Weimar und ins Pantheon der Weltliteratur schon vorgezeichnet scheint, führt jener des anderen in Abgründe.

Aufschlussreich im übergreifenden Sinne sind die Schilderungen des jüngeren Autors selbst dann, wenn man die Frage umgeht, ob sie sich eher den faktisch vorhandenen Lebensumständen oder einer absichtsvollen literarischen Zurichtung verdanken. Mays Neigung, mit Schwarz-Weiß-Mustern zu argumentieren – wie hier in den stillschweigenden Kontrastierungen gegenüber Goethe, aber auch mit der streng antithetisch strukturierten Sitara-Welt –, wird sich als Konstante seiner Lebensführung wie auch seiner literarischen Arbeit erweisen. Dass er sich unter literarischen Vorzeichen inszeniert und deutet – als Bewohner Ardistans und ein wenig auch als Anti-Goethe –, ist ein Leitmotiv seines Lebens, das Phasen des Glücks und des Triumphs ebenso begleitet wie Zeiten des Misserfolgs. Die Anmaßung, Teile der eigenen Vergangenheit nach Parametern zu rekonstruieren, die von einem Idol der bürgerlichen Hochkultur abgeleitet sind, erhellt Art und Ausmaß des May’schen Selbstbewusstseins – auch wenn er sich keineswegs darüber hinwegtäuscht, dass er innerlich niemals völlig aus jenem persönlichen Ardistan herausgekommen ist, von dem er so eloquent berichtet.

Das Spiel mit den stillen Goethe-Referenzen hat in seiner Wirkung aber auch noch eine ganz andere, ins Grundsätzliche weisende Seite: Es zeigt, auf welch unterschiedliche Weise man Mays Texte lesen kann. Wer die Referenzen nicht bemerkt, dem wird dennoch ein durchaus eindrucksvolles, im Großen und Ganzen schlüssiges Bild von der Person des Verfassers vermittelt, eine kohärente Erzählung; wer sie entdeckt, dem erschließen sich unerwartete Zusammenhänge von beträchtlicher Komplexität.

Wir stoßen hier auf ein Grundproblem der Beschäftigung mit Karl May: auf die eklatante Differenz zwischen Mays Wahrnehmung als einem beliebten Jugend- und Volksschriftsteller einerseits und als anspruchsvollem Literaten andererseits. Seit mehr als einem Jahrhundert ist er ein Autor von herausragender Popularität. Er hat mit seiner Figur Winnetou das Indianerbild von Generationen deutscher Leser geprägt, hat mit Titeln wie Durchs wilde Kurdistan und In den Schluchten des Balkan Formulierungshilfen noch für Journalisten gegeben, die Jahrzehnte später über die betreffenden Regionen berichteten, hat postum in den 1960er Jahren eine der erfolgreichsten Filmserien in der Geschichte des deutschen Kinos inspiriert, führt bis heute ein vitales Nachleben auf diversen Freilichtbühnen und hat sich überhaupt als ein multimedial präsentes Objekt der Kommerzkultur erwiesen – bemerkenswert und nahezu konkurrenzlos, wenn man bedenkt, dass er eine Person aus dem 19. Jahrhundert ist. Wer will, kann sein Zimmer mit 30 cm großen May-Figuren und einer Wanduhr ‹Winnetou› dekorieren, eine Krawatte ‹Karl May› tragen, seinen Bleistift mit einem Karl-May-Spitzer schärfen, sich auf verschiedenen Tonträgern den kompletten Schatz im Silbersee von Gert Westphal vorlesen lassen und dem Ave Maria, das dem Leser von Winnetou III bei Winnetous Tod entgegenschallt und das Karl May tatsächlich in Töne gesetzt hat, in einer Aufnahme des Dresdner Kreuzchors lauschen. Die in Millionenauflagen kursierenden Romane um die Helden Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar, die all dem zugrunde liegen, gelten weithin als naiv-unterhaltsame, primär für jugendliche Leser bestens geeignete und in fortgeschrittenem Alter mit nostalgischer Rührung genießbare Literatur; dass in der Generation der Urgroßväter gegen ihn eingewandt wurde, er sei einst kriminell gewesen und aus einer vergifteten Quelle könne doch kein reines Wasser fließen, dass die Großväter, Väter und Mütter ihn demzufolge oft nachts heimlich unter der Bettdecke lesen mussten, bestätigt das Bild vom ebenso wirkungsmächtigen wie trivialen Großkomplex Karl May unter entgegengesetzten Vorzeichen.

Ganz anders steht es allerdings, wenn man auf die nun ebenfalls schon Jahrzehnte währende analytische Beschäftigung mit Person, Werk und Wirkung blickt: Ihr zufolge hat man es mit einem höchst komplexen und komplizierten ästhetischen Phänomen zu tun, das nur an der Oberfläche harmlos und als pure Unterhaltung erscheint, im Übrigen aber ob seiner Vielschichtigkeit für jedwede wissenschaftliche Untersuchung ein dankbares Objekt bietet – von Studien zu den Strukturen seiner Erzählkunst über geschlechtsspezifische Recherchen bis zu Fragen nach den verzwickten literaturhistorischen Zusammenhängen, in denen Mays Werk zu verorten ist, nach seinem kolonialistischen Gehalt und nach den eklatanten Widersprüchen in seiner Rezeption; man kann die gesamte Methoden- und Interessengeschichte der Literaturwissenschaft anhand der May-Forschung anschaulich illustrieren und daraus auf die hohe Dignität ihres Gegenstands schließen. Derart ausgeprägte Diskrepanzen zwischen den Eindrücken eines Massenpublikums und der Forschung gibt es bei den allermeisten Größen der Literaturhistorie nicht, mögen sie Lessing oder Kleist, Fontane oder Kafka, Grass oder Handke heißen; wer Texte dieser Autoren liest, tut das in der Regel mit dem Bewusstsein, sich auf beträchtlichen kulturellen Höhen zu bewegen.

Eine Biographie kann diese Diskrepanzen nicht auflösen, doch vermag sie eine Persönlichkeit vorzustellen, die sich – um das Bild in Mays Selbstinszenierung aufzugreifen – zwischen Ardistan und Dschinnistan so beharrlich und intensiv wie wenige andere Schriftsteller verirrte und dabei die Überzeugung vermittelte, einen geraden Weg zu gehen. Mag sein, dass sich aus dieser Spannung letztlich beides ableiten lässt, sowohl das Geheimnis seines Massenerfolgs als auch der intellektuelle Reiz, der von Karl May und seinem Werk bis heute ausgeht.

 

 

 

Wie sah nun konkret jenes Ardistan aus, in das Karl Friedrich May am 25. Februar 1842 um 22 Uhr hinein geboren wurde, in dem er seine frühe Kindheit, seine Volksschulzeit (1848–1856) und auch noch einen beträchtlichen Teil seines späteren Lebens verbrachte?

May gilt gewöhnlich als Schriftsteller sächsischer Herkunft; aber diese Lokalisierung trifft, wenn man es historisch genau nimmt, nicht ganz zu. Sein am Rande des Erzgebirges liegender Geburtsort Ernstthal war Teil der Schönburger Lehns- und Rezessherrschaften, eines jener für die Zeit vor 1871 typischen kleinstaatlichen Gebilde; die Ernstthaler waren also Untertanen der Grafen von Schönburg. Diese hatten damals allerdings einen Großteil ihrer Souveränität durch enge Bindung an das mächtige Sachsen bereits eingebüßt, und 1878 wurde ihr Territorium vollständig in das sächsische Gebiet eingegliedert. Der Ort Ernstthal vereinigte sich 1898 mit dem benachbarten Hohenstein zur Stadt Hohenstein-Ernstthal.

Mays Vater war der Weber Heinrich August May (1810–1888), seine Mutter dessen Ehefrau Christiane Wilhelmine (1817–1885). May entstammte somit einem Milieu, das – in den Worten seines ersten bedeutenden Biographen Hans Wollschläger – einen «Modellpunkt des sozialen Elends der Zeit»[1] bildete, ein gesellschaftliches Biotop, an dem sich die Verwerfungen im Umfeld der Industriellen Revolution mit schreckenerregender Präzision studieren lassen. Die Bewohner der Gegend lebten seit langem überwiegend vom Textilgewerbe, zumeist allerdings mehr schlecht als recht; einer Hungersnot in den Jahren 1771/72 erlag jeder vierte Einwohner der Stadt. Zur Zeit der von Napoleon verhängten Kontinentalsperre, nach 1806, profitierten die Ernstthaler Heimweber davon, dass die konkurrierenden Billigwaren aus England vorübergehend nicht nach Deutschland gelangten; danach aber verschärfte sich ihr Elend umso mehr. Die zunehmende Ausbreitung der maschinellen Herstellung drückte die Preise des Produzierten; das Geschäftsgebaren ausbeuterischer Unternehmer und Zwischenhändler – das May in seinem Roman Der verlorne Sohn (1884–1886) und Gerhart Hauptmann in seinem Drama Die Weber (1892) schildern sollten – nutzte die Situation der Ärmsten aus, und die Misswirtschaft der schönburgischen Administration, die ihre Verluste durch eine hohe Abgabenlast der Bevölkerung zu kompensieren suchte, tat ein Übriges. Um 1840 verzeichnete Ernstthal 2700 Einwohner; «vier von fünf Erwerbstätigen arbeiten als Heimweber und verdienen etwa ein Drittel von dem, was als Existenzminimum gilt.»[2]

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Abb. 1: Ansicht von Hohenstein und Ernstthal um 1837

Mays Vorfahren waren überwiegend Bauern und Handwerker und insbesondere in der Generation der Großväter und Urgroßväter durchweg Weber; der leibliche Großvater väterlicherseits ist unbekannt, Heinrich August May war vermutlich nicht der leibliche Sohn des zur Zeit seiner Geburt noch lebenden ersten Ehemanns von Mays Großmutter. Zwar gab es unter den Ahnen der Familie, wie die Forschung rekonstruiert hat, den einen oder anderen, der beruflich ganz andere Wege ging, darunter einen Hofprediger und sogar einen Schriftsteller namens Gottfried Dexelius (1658–1707); aber im Großen und Ganzen spiegeln sich in der Geschichte der Vorfahren Karl Mays just die überwiegend düsteren sozialen und materiellen Lebensumstände, die für die Bevölkerungsmehrheit charakteristisch waren.

Sie spiegeln sich auch in Einzelschicksalen der Familie. Im Jahr 1818 verunglückte der Ehemann der Großmutter väterlicherseits beim Sturz in eine Schlucht; im Sterberegister wurde als Todesursache «unordentliche Lebensart» verzeichnet, vielleicht eine Umschreibung für Trunkenheit als konkrete Unfallursache. Der Großvater mütterlicherseits erhängte sich 1832; diesmal wurden «Trunkenheit und Verzweiflung» auch amtlich als Ursache festgehalten. Die Schicksale der Geschwister Karl Mays zeigen ebenfalls das Ausmaß der materiellen Not: Er war das fünfte von vierzehn Kindern, die seine Mutter zwischen 1836 und 1860 zur Welt brachte, acht Mädchen und sechs Jungen; davon starben neun in den ersten Wochen und Monaten. Von den Söhnen war nur Karl ein längeres Leben beschieden, von den Schwestern überlebten ihn zwei und erreichten ein hohes Alter: Christiane Schöne (1844–1932) und Karoline Wilhelmine Selbmann (1849–1945). Derart hohe Kinderzahlen waren in den Familien der damaligen Zeit zwar nicht unüblich, und auch die Kindersterblichkeit war weit verbreitet, aber Parallelfälle deuten darauf hin, dass die exorbitanten Todesziffern der Familie May zum großen Teil milieubedingt waren: So wurden in der Ehe des berühmten Historikers und späteren Nobelpreisträgers Theodor Mommsen, eines an renommierten Universitäten beschäftigten Professors, zwischen 1855 und 1874 sogar sechzehn Kinder geboren, von denen nicht weniger als zwölf die Eltern überlebten.

May bietet in seiner Autobiographie eindrucksvolle Schilderungen des Elends, das ihm und seiner Familie um die Mitte des Jahrhunderts beschieden war. Neben unzulänglicher Hygiene und schweren Krankheiten kommt vor allem der quälende Hunger zur Sprache:

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Abb. 2: Geburtshaus Karl Mays in Ernstthal

Es mangelte uns an fast Allem, was zu des Leibes Nahrung und Notdurft gehört. Wir baten uns von unserm Nachbar, dem Gastwirt ‹Zur Stadt Glauchau›, des Mittags die Kartoffelschalen aus, um die wenigen Brocken, die vielleicht noch daran hingen, zu einer Hungersuppe zu verwenden. Wir gingen nach der ‹roten Mühle› und ließen uns einige Handvoll Beutelstaub und Spelzenabfall schenken, um irgend etwas Nahrungsmittelähnliches daraus zu machen. Wir pflückten von den Schutthaufen Melde, von den Rainen Otterzungen und von den Zäunen wilden Lattich, um das zu kochen und mit ihm den Magen zu füllen. Die Blätter der Melde fühlen sich fettig an. Das ergab beim Kochen zwei oder drei kleine Fettäuglein, die auf dem Wasser schwammen. Wie nahrhaft und wie delikat uns das erschien![3]

Ein Bittgesuch, das Ernstthaler Gemeindevertreter 1844 an die schönburgische Gesamtkanzlei richteten, bezeugt den Wahrheitsgehalt derartiger Darstellungen: «Ja es sind neuerdings in der That Fälle hier vorgekommen, daß Menschen, die sich zu betteln schämten, buchstäblich verhungert sind.»[4] Die hässliche Kehrseite des ökonomisch zukunftsweisenden 19. Jahrhunderts tritt hier in aller Deutlichkeit zutage.

Unter diesen Umständen half es wenig, dass die Familie zeitweise in einem eigenen kleinen, freilich mit großen Abgaben belasteten Haus wohnte, welches der Mutter 1837 durch eine Erbschaft zugefallen war. Im April 1845, drei Jahre nach Karls Geburt, musste es verkauft werden, und die Mays bezogen eine Mietwohnung am Ernstthaler Marktplatz. Immerhin ließ sich ein Teil des Verkaufserlöses höchst sinnvoll verwenden: Die Mutter finanzierte damit 1845/46 in Dresden eine sechsmonatige Ausbildung zur Hebamme, deren erfolgreicher Abschluss mit einer Anstellung bei der Stadt Ernstthal belohnt wurde. Christiane Wilhelmine May sollte diese Tätigkeit über Jahrzehnte hinweg ausüben und damit maßgeblich zur Sicherung der Existenzgrundlage ihrer Familie beitragen.

Alles in allem erscheint also durchaus nachvollziehbar, warum May das in Mein Leben und Streben beschworene Ardistan metaphorisch als seine Geburtsstätte reklamierte: Verlässliche Informationen zur Geschichte und zur damaligen Situation der Familie May bestätigen seine düstere Sicht auf die frühen Lebensjahre. Das gilt allerdings nur für die sozialhistorisch verbürgten materiellen Umstände und für das, was Akten und Urkunden überliefern.

Im Hinblick auf die übrigen Aspekte der Lebensverhältnisse und innerfamiliären Beziehungen sieht es anders aus: Hierfür gibt es im Wesentlichen nur eine einzige Art von Quellenmaterial, nämlich die autobiographischen Schriften Mays. Anders, als dies bei Autoren aus höheren sozialen Milieus oft der Fall ist, existieren weder briefliche Zeugnisse noch Tagebücher oder sonstige Dokumente, und weil May erst lange nach seinem Tod zu einem Objekt ernsthafter Forschung avancierte, sind auch kaum zuverlässig belegte mündliche Äußerungen von Personen überliefert, die noch aus eigener Anschauung über seine Kindheit und Jugend hätten berichten können. Letztlich stehen uns in Bezug auf die Charaktere seiner Eltern, den familiären Alltag und insbesondere den Umgang mit ihm selbst, dem offensichtlich hoch begabten Sohn, nur Mays eigene Darlegungen zur Verfügung. Die eine oder andere seiner Mitteilungen berührt zwar größere Zusammenhänge, die mit Hilfe weiterer Quellen verifizierbar sind. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass Mays Verweise auf seine frühen Theatererlebnisse keineswegs aus der Luft gegriffen sind: Es hat jene Gastspiele tatsächlich gegeben, von denen er berichtet, sie als kleiner Junge gesehen zu haben. Abgesehen davon wird sich jedoch das Bild, das über die skizzierten Umstände hinaus von seiner Kindheit und Jugend zu gewinnen ist, lediglich durch seine schriftlich tradierten, subjektiven Erinnerungen formen müssen, je nach Interpretation möglicherweise auch gegen sie.

Fragt man nämlich pauschal nach dem Wahrheitsgehalt der autobiographischen Schriften, darf als Grundannahme gelten, dass es sich in besonders zugespitzter Form um Texte handelt, die mit dem Ziel der Selbstrechtfertigung verfasst wurden. May schrieb sie allesamt während seiner letzten Lebensjahre, als er – nicht ohne eigene Schuld – unter intensiven publizistischen Angriffen zu leiden hatte und sich in eine fast unüberschaubare Zahl juristischer Auseinandersetzungen verstrickt sah. Stärker noch als bei anderen Autoren des Genres muss man also nicht nur den literarischen Charakter in Rechnung stellen, wie ihn die verdeckten Bezüge zu Dichtung und Wahrheit schon erkennen lassen, sondern auch den mal mehr, mal weniger offen formulierten Zweck, in schwieriger Zeit entgegen allen machtvoll geführten Attacken einen unbedingt positiv stimmenden Eindruck von der Person des Verfassers zu vermitteln. May hat dieses Feld geradezu hingebungsvoll bestellt: Mein Leben und Streben sowie einige kleinere Texte, die ebenfalls für die Öffentlichkeit bestimmt waren, wurden in juristischen Zusammenhängen ergänzt durch drei weitere umfangreiche autobiographische Arbeiten (Frau Pollmer, eine psychologische Studie; Ein Schundverlag und seine Helfershelfer; An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes in Berlin), die erst lange nach Mays Tod publiziert wurden.

Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie sich fortwährend zwischen auftrumpfenden Gesten und heftiger Klage über unverschuldet erlittene Not hin und her bewegen. Ihr prekärer Status wird deutlich, wenn man ein paar jener Äußerungen einander gegenüberstellt, in denen May interessegebunden erläutert, zu welchem Zweck er Mein Leben und Streben geschrieben haben will. Der Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld erhält eine dezidiert pragmatische Erklärung, derzufolge May dieses Buch schreibe, damit «es mir die Prozesse gewinnen hilft. Es hat nur diesen einen Zweck, weiter keinen».[5] Den Lesern hingegen wird ein völlig anderer, edlerer Sinn suggeriert, der sich indirekt auf die altehrwürdige, durch Augustinus und Rousseau geprägte Tradition der Autobiographie als einer großen Konfession beruft: «Ich schreibe also, um zu beichten. (…) ich beichte meinem Herrgott und mir selbst, und was diese beiden sagen, wenn ich geendet habe, wird für mich maßgebend sein.»[6] Einer der kleineren autobiographischen Texte Mays heißt denn auch Meine Beichte (1908).

All diese Umstände sind zu berücksichtigen, wenn man sich mit Hilfe von Mays Selbstdarstellungen in Lebensbereiche vorwagt, über die keine sonstigen Dokumente vorliegen. Dabei erweist es sich als außerordentlich hilfreich, die spezifische Argumentationsweise des Autors nicht aus den Augen zu lassen, denn May hat sich einiger gedanklicher Strukturen bedient, auf die hin er nahezu alles ordnet, was er überhaupt zur Sprache bringt.

Zu diesen Strategien gehört die Methode der Darstellung in Schwarz-Weiß-Kategorien; May verwendet sie in Mein Leben und Streben, der einzigen Schrift mit ausführlichen Darlegungen zur Kindheit, in geradezu exzessiver Weise. So präsentiert er seinen Vater als einen charakterlich höchst widersprüchlichen Menschen: «die eine Seele unendlich weich, die andere tyrannisch, voll Uebermaß im Zorn, unfähig, sich zu beherrschen»;[7] der Vater verfügt also nicht über eine einzige psychische Apparatur, die unter den Einflüssen katastrophaler Lebensbedingungen und wechselnder Stimmungen mal dieses, mal jenes Verhalten zeitigt, sondern über deren zwei, die einander wesensfremd sind und konträr gegenüberstehen – ganz so, wie später in Mays Romanen Gut und Böse zumeist säuberlich geschieden sind, als gebe es keine charakterlichen Schattierungen, keine Verbindung vom einen zum anderen psychischen Komplex und mithin keine Persönlichkeiten gemischter Natur. Der Autor berichtet einerseits von großer Fürsorglichkeit, von «heitersten und friedlichsten Augenblicken», und davon, dass der Vater sich oft «herzgewinnend» verhalten habe; er spricht andererseits aber auch vom Empfinden des Kindes, ständig «auf vulkanischem Boden» zu wandeln, und der Angst, beim geringsten Anlass entweder mit einem «dreifach geflochtene(n) Strick, der blaue Striemen hinterließ»,[8] oder mit einem ‹birkenen Hans› verprügelt zu werden – ein Vorgang, den der Vater bis ins Sadistische trieb, indem er den ‹birkenen Hans› zur Steigerung der Elastizität einweichte und die Züchtigung so lange fortsetzte, bis er «nicht mehr konnte».[9] Zu den positiven Eigenschaften des Vaters gehört angeblich auch eine überdurchschnittliche künstlerische Begabung: «Er schnitzte und bildhauerte gern, und was er da fertig brachte, das hatte Schick und war gar nicht so übel.»[10] Belegt ist, dass Heinrich August May vom Webergesellen zum Meister aufstieg und dass er in späteren Jahren, als sich die wirtschaftliche Lage der Familie verbessert hatte, eine ehrenamtliche Tätigkeit im Armenausschuss seiner Heimatstadt ausübte.

Auch die Charakterisierung der Mutter gerät extrem, weist allerdings die Besonderheit auf, dass bei ihr jegliche dunkle Seite mit geradezu verdächtiger Konsequenz ausgeblendet wird und – das mag man wörtlich nehmen – das Bild einer überirdisch strahlenden Persönlichkeit entsteht:

Meine Mutter war eine Märtyrerin, eine Heilige, immer still, unendlich fleißig, trotz unserer eigenen Armut stets opferbereit für andere, vielleicht noch ärmere Leute. Nie, niemals habe ich ein ungutes Wort aus ihrem Mund gehört. Sie war ein Segen für jeden, mit dem sie verkehrte, vor allen Dingen ein Segen für uns, ihre Kinder. Sie konnte noch so schwer leiden, kein Mensch erfuhr davon.[11]

Auch Mays Selbstbeschreibung weist in allen Einzelheiten diesen Hang zum Extremen auf. Wenn es zutrifft, dass der Vater, wie oben schon dargelegt, den Sohn regelmäßig zur exzessiven Lektüre und gar zum Abschreiben unverdaulicher Sachbücher zwang, so drängte er ihn bereits damit in eine Außenseiterposition unter seinesgleichen. In Mein Leben und Streben variiert May diese Rollenzuweisung in immer neuen Schattierungen und stilisiert sie zum Signum seiner Existenz: So trägt das dritte Kapitel des Werkes den lakonischen Titel ‹Keine Jugend›; darin heißt es, ein «echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen».[12] Auch habe sich eine pragmatische, der Realität zugewandte Einstellung zum Leben nie entwickelt, «ich blieb ein Kind für alle Zeit».[13]

Die dauerhafte Fixierung auf ein kindliches Verhalten verknüpft May mit einem Phänomen, das er zum einen als den Gipfelpunkt seiner Isolation begreift und zum anderen als Erklärung für die späteren Phantasieleistungen des Schriftstellers Karl May anbietet: mit der zeitweiligen Blindheit, an der er in seinen frühen Lebensjahren gelitten haben will. Kurz nach der Geburt – so stellt der Autobiograph es dar – habe er durch eine von den elenden Verhältnissen hervorgerufene Krankheit sein Augenlicht vollständig verloren, es aber Jahre später dank der Kunst von Ärzten zurückgewonnen, die seine Mutter während ihrer Hebammenausbildung kennen gelernt hatte. Diese langwierige und gravierende Beeinträchtigung sei verantwortlich für eine spezielle Form des Umgangs mit der Außenwelt: Der kleine Karl musste, um sie sich «wahr und plastisch» vorstellen zu können, «innerlich ein Bild» von ihr entwerfen, ein Bild, das umso höhere Autorität für ihn gewann, je reichhaltiger er es auszugestalten vermochte.[14] Zunächst einmal scheint der Gedanke durchaus naheliegend, in solch einer früh erfahrenen Ausprägung machtvollen inneren Sehens den Urgrund jener späteren Fähigkeit zu entdecken, mit großer Überzeugungskraft von Erlebnissen in Ländern und Lebensverhältnissen zu berichten, die der Autor nicht aus eigener Anschauung kannte. Lange Zeit hat die Forschung diese von May suggerierte These zur Erklärung seiner Phantasieleistungen denn auch dankbar aufgenommen.

Mittlerweile ist sie allerdings davon abgerückt, denn die Prämisse ist offensichtlich falsch: Dass ein Mensch sein Augenlicht vollständig einbüßt und dann geheilt wird, ohne dass Spuren der Erkrankung zurückbleiben, ist medizinisch nicht denkbar; bei May müsste es aber so gewesen sein, denn in späteren Jahrzehnten hatte er nur kleinere altersspezifische Beeinträchtigungen des Sehvermögens zu ertragen, wie seine heute noch vorhandenen Brillengläser verraten. Vorstellbar ist allenfalls eine vorübergehende, wahrscheinlich von selbst ausheilende Beeinträchtigung der Sehfähigkeit, die etwa ein starker Vitamin-A-Mangel hervorgerufen haben könnte.

Mays irreführender Bericht über die frühkindliche Erblindung mag unterschiedlichste Assoziationen auslösen. Es könnte sich um einen Versuch handeln, mittels der zugespitzten Darstellung eines in der Realität geringfügigen Leidens die ihm selbst höchst rätselhafte literarische Begabung psychologisch herzuleiten. Vielleicht darf man ihn auch verstehen als Metapher für einen ebenso umfassenden wie folgenreichen psychischen Blackout oder, mit wieder ganz anderer Akzentuierung, als Bemühen des Autors, sich unterschwellig in die Tradition des blinden Sehers hineinzuzaubern, der der Wahrheit einer körperlich nicht geschauten Welt näher kommt als jeder andere. Im Kontext der zentralen Argumentation von Mein Leben und Streben trägt die Legende von der Blindheit jedenfalls wesentlich dazu bei, die Aura des Besonderen zu verstärken, die schon den jungen Karl May umgibt.

Aber May belässt es, wie im Fall des Vaters, nicht bei der Pointierung einer einzigen extremen Seite seiner Persönlichkeit. Er fügt ein gegenläufiges Element hinzu, das den Außenseiter in die Mitte der Gesellschaft zurückbefördert: das emphatische Bekenntnis zu einer politisch und weltanschaulich konservativen Grundhaltung. Schon als kleiner Junge will May aus gegebenem Anlass darüber nachgedacht haben, dass in der steten Besinnung auf «Gott, König und Vaterland (…) das wahre Glück» liegt, und «später hat dann das Leben an diesen drei Worten herumgemodelt und herumgemeißelt; aber mögen sich die Formen verändert haben, das innere Wesen ist geblieben.»[15]

Der Autobiograph behandelt das Thema in Verbindung mit den revolutionären Ereignissen der Jahre 1848/49, die seine Heimat in besonders heftige Turbulenzen stürzten: Im April 1848 kam es zu einer großen Volksversammlung und zum Sturm auf das Waldenburger Schloss, die Residenz des Fürsten Otto Viktor von Schönburg-Waldenburg, das in Flammen aufging. Mays Vater engagierte sich im Februar 1849 bei der Gründung des Ernstthaler Vaterlandsvereins, einer linksdemokratischen Gruppierung, und als im Mai desselben Jahres in Dresden eine Revolte gegen König Friedrich August II. ausbrach, machten sich zwei Freischarenzüge von Hohenstein aus auf den Weg, die Aufständischen zu unterstützen. Das Eingreifen preußischer Truppen zugunsten des Königs bewog die Revolutionäre jedoch zur Umkehr.

Nichts von all dem findet sich sachlich korrekt in Mays Schilderung wieder. Vom Sturm auf das Schloss ist ebenso wenig die Rede wie vom revolutionär gesonnenen Vaterlandsverein. Stattdessen berichtet May in Mein Leben und Streben, die antimonarchistische Haltung habe sich in Hohenstein und Ernstthal rasch in ihr Gegenteil verkehrt, und der Marsch auf Dresden verwandelt sich analog dazu in ein Unternehmen, das nicht etwa dem Sturz, sondern dem Schutz des Königs und somit der Verteidigung der bestehenden Verhältnisse gedient habe; May gestaltet diesen Zug in seiner Beschreibung überdies mit komischen, nahezu klamaukhaften Facetten aus. Als biographisches Detail fügt er an, der an der Aktion beteiligte Vater habe zur Steigerung seiner strategischen Fähigkeiten mit ihm militärische Übungen auf freiem Feld durchgeführt: «Vater war bald Leutnant, bald Hauptmann, bald Oberst, bald General; ich aber war die sächsische Armee.»[16]

Die Losung von Gott, König und Vaterland, die den Aufbau von Heinrich Heines berühmtem Gedicht Die schlesischen Weber mit sozialkritischer Intention prägt, ist Karl May nach eigenen Worten «nicht nur zu Fleisch und Blut, sondern zu Geist und Seele geworden» – mehr ist in dieser Hinsicht nicht möglich.[17] Das strikte Bekenntnis zu den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, wie sie seit Mays Kindheit und noch zur Zeit der Niederschrift von Mein Leben und Streben herrschten, steht in auffälligem, ja radikalem Gegensatz zum Bild eines Menschen, der sich rückblickend zu einem völligen Außenseiter eben jener Gesellschaft erklärt; dieses Spannungsverhältnis wird ausgewiesen als eine für das weitere Leben überaus folgenreiche Prägung.

Wir stoßen in Mays Darstellung der eigenen Kindheit noch auf eine weitere wichtige Schwarz-Weiß-Konstellation: Als Gegenbild zu seinen Berichten über Not und Elend knüpft er leitmotivartig eine Kette von Tröstungen, die allesamt mit Spiel, Phantasie und Kunst verbunden sind. In diesem Zusammenhang spielt die Großmutter väterlicherseits eine zentrale Rolle, Johanne Christiane Kretzschmar (1780–1865), die im Haus ihres Sohnes wohnte und sich in besonderem Maße um ihren Enkel kümmerte. May schreibt ihr einen überragenden Einfluss auf seine Entwicklung zu und hebt insbesondere hervor, sie habe seine Phantasie durch ausgiebiges und mitreißendes Erzählen von Märchen angeregt; diese sollen großteils aus einer – bibliographisch nicht nachweisbaren, vermutlich also fiktiven – Anthologie mit dem Titel Der Hakawati stammen, wobei das syrisch-arabische Wort Hakawati soviel wie ‹Märchenerzähler› bedeutet. An anderer Stelle erwähnt May auch seinen Paten Christian Weißpflog als inspirierenden Erzähler.

Wie bereits erwähnt, hat der kleine Karl wohl tatsächlich einmal ein Puppentheater besucht; es war dies «ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat».[18] Ewas später gastierte eine Schauspielertruppe in Ernstthal, und nach seinem von der Schwester Karoline Selbmann vage bestätigten Bericht kam es unter kuriosen Umständen in diesem Zusammenhang sogar zu einem kleinen Auftritt des jungen May.

Die überdurchschnittliche Begabung Karl Mays wurde erkannt. Im Jahr 1854 erhielt er privaten Fremdsprachenunterricht, zu dessen Finanzierung er in einer Hohensteiner Schankwirtschaft arbeiten musste: Er stellte auf der Kegelbahn die umgeworfenen Pins wieder auf. Zur Schankwirtschaft gehörte, wie damals vielfach üblich, eine Leihbibliothek, die unter anderem einige der international bekanntesten Unterhaltungsromane des 19. Jahrhunderts enthielt, etwa Eugène Sues Geheimnisse von Paris und Der Graf von Monte Christo von Alexandre Dumas, sowie Ritter- und Räuberromane deutscher Provenienz, wie Rinaldo Rinaldini, der Räuberhauptmann von Goethes Schwager Christian August Vulpius. May beklagt zwar im Rückblick, dass diese Romane mit ihren oft außerhalb der Gesellschaft agierenden Helden mitverantwortlich für seine spätere sozialethische Desorientierung gewesen seien, räumt aber ein, er habe sie mit gewaltiger Begeisterung geradezu verschlungen und auch im Familienkreis vorgelesen. Zu den helleren Seiten seines Lebens trug also schon früh eine literarische Gattung bei, die den Outlaw als den besseren Menschen feiert.

May nahm jedoch nicht nur passiv entgegen, was ihm an kulturellen Gütern begegnete, sondern wurde in Ansätzen auch früh selbst kreativ tätig. So will er als kleiner Junge Mitschüler auf deren Bitten hin durch ausgiebiges Geschichtenerzählen unterhalten haben: «Alle Tage ein anderes Märchen, eine andere Geschichte, eine andere Erzählung.»[19] Von dem Kantor Samuel Friedrich Strauch erhielt er kostenlos Unterricht im Geigen-, Klavier- und Orgelspiel; musikalische Fähigkeiten bis hin zum Komponieren sind aus späterer Zeit bezeugt, und auch der Ich-Held der großen Abenteuerromane bietet gelegentlich überraschende Proben eines entsprechenden Könnens, indem er beispielsweise in China Geige und Gitarre (Am Stillen Ocean) und in Montevideo die Orgel (Am Rio de la Plata) spielt.

Inmitten aller materiellen und familiären Nöte scheint der junge May also Glückserlebnisse fast ausschließlich über das Spiel, über Künstlerisches und Literarisches gefunden zu haben. Wenn der Bericht der Autobiographie zutrifft, ging er aber noch einen Schritt weiter. Zu einem nicht näher bezeichneten Zeitpunkt – die offiziöse Chronik zu Mays Leben datiert ihn «Ende 1855/Anfang 1856»[20] – will May heimlich das Elternhaus verlassen haben, um nach Spanien zu wandern und dort bei einem der edlen Räuber, von denen er in den Romanen der Leihbibliothek gelesen hatte, Hilfe für die notleidende Familie zu erbitten; der Ausflug soll einen Tag gedauert und bei Verwandten in der Nähe von Zwickau geendet haben. Mag der Wirklichkeitsgehalt dieser Episode auch fraglich sein, so verweist sie doch auf ein Verhalten, das künftig immer wieder zutage tritt: Erstmals überwuchert die Phantasie den Realitätsbezug mit handfesten Konsequenzen für das Alltagsleben; May antwortet auf eine de facto vorhandene Misere mit dem Versuch, zu ihrer Lösung die Tröstungen der Phantasiewelt heranzuziehen.

 

 

 

Im Jahr 1856 wird Karl May konfirmiert, und seine Schulzeit, die offenbar ohne Komplikationen verlaufen ist, endet; im Abgangszeugnis findet sich als Hauptzensur «in Kenntnissen und Fertigkeiten» die Note II und «in Sitten» die Note I.[1] Anschließend reagiert er zunächst sehr konventionell auf die Erkenntnis, dass seine persönlichen Fähigkeiten durchaus geeignet sind, ihn weit aus dem proletarischen Milieu des Elternhauses hinauszuführen: Er strebt einen Beruf mit höherem Sozialprestige an. Das vorübergehend ins Auge gefasste Medizinstudium, das an einer Universität zu absolvieren wäre, ist jedoch bei weitem nicht bezahlbar. Stattdessen beginnt May die für seine Familie unter großen Entbehrungen gerade noch finanzierbare Ausbildung an einem Schullehrerseminar, für die er überdies eine kleine Unterstützung durch den Grafen von Schönburg-Hinterglauchau erhält. Es wird ihm nach einigen Umwegen gelingen, diese Ausbildung erfolgreich abzuschließen und erste Schritte in dem gewählten Beruf zu unternehmen; zugleich bildet sich dabei aber die Basis für ein dann umso radikaleres Scheitern der bürgerlichen Karriere.

May bewirbt sich am evangelischen Seminar Waldenburg, das gut drei Stunden Fußmarsch von Ernstthal entfernt liegt. Nachdem er die Prüfung bestanden hat, wird er dort Ende September 1856 als Proseminarist aufgenommen, ein Jahr später steigt er ins Hauptseminar auf. Er wohnt im Internat des Seminars; an Wochenenden besucht ihn regelmäßig seine Schwester Christiane, um frische Wäsche zu bringen und die schmutzige zum Waschen abzuholen.

Die Vorstellung, May führe nunmehr, da er der Aufsicht des strengen Vaters entronnen ist, ein freieres, selbstständiges Leben, ginge völlig in die Irre; mit romantischen Phantasien von einem unbeschwerten Studentendasein, wie sie in zahlreichen Darstellungen überliefert sind, hat die Realität dieses Seminaralltags nicht das Geringste zu tun. Eher erinnert sie an den Drill, den man mit der Ausbildung streng kasernierter Soldaten verbindet.

Zu dieser Zeit liegen die deutschen Revolutionsjahre noch nicht lange zurück, in denen sich bemerkenswert viele Lehrer als engagierte Demokraten erwiesen haben. Höheren Ortes sieht man sich deshalb genötigt, den Druck auf die angehenden Pädagogen noch weiter zu verstärken: Das Ziel ihrer Ausbildung besteht ausschließlich darin, perfekt dienende Vermittler eines elementaren Wissens heranzubilden; die künftigen Lehrer und durch sie dann auch ihre Schüler sollen zu staats- und kirchentreuen Untertanen erzogen werden, zu viel Bildung und falsches Gedankengut könnten sich als bedrohlich und subversiv erweisen. Bei den Unterrichtsinhalten stehen daher in Waldenburg neben den Grundfertigkeiten im Rechnen, Schreiben und Lesen traditionelle religiöse Unterweisungen eindeutig im Vordergrund; auch andere Fächer, sogar die Geometrie, werden in amtlichen Verordnungen auf christliche Standpunkte verpflichtet, und der umfangreiche Musikunterricht erfolgt primär im Hinblick auf Kirchenmusik. Als May später seine Ausbildung beendet, erwirbt er damit denn auch zugleich die Qualifikation zum Vikar.

Organisatorisch manifestiert sich die reaktionäre Ausrichtung in einer strengen Reglementierung des Tagesablaufs. Außerhalb der Ferien dürfen die Zöglinge das Seminar nur an Feiertagen sowie an Markt- und Kirmestagen verlassen. Für jeden Werktag ist die Teilnahme an zwei Andachten verbindlich vorgeschrieben, an Sonntagen umfasst der Besuch verschiedener kirchlicher Veranstaltungen insgesamt mehrere Stunden. Ein dichter Unterrichtsplan sieht kaum freie Zeiten vor; es ist nur schwer möglich, besondere Interessen zu entwickeln und zu verfolgen, und es scheint, als wolle man bei den Zöglingen jede Entwicklung zu einer eigenen Individualität von vornherein verhindern.

Der Eindruck, die Waldenburger Regelungen zielten darauf, «gut funktionierende Nürnberger Trichter zu produzieren, denen die Milch der regierungsfrommen Denkungsart reibungslos entströmte»,[2] ergibt sich keineswegs nur für den Betrachter aus einer anderen, liberaler gesonnenen Zeit, sondern wird auch schon von zeitgenössischen Beobachtern formuliert. In den Chemnitzer pädagogischen Blättern des Jahres 1869 beispielsweise erschien ein von Anhängern der Pestalozzi-Diesterweg’schen Pädagogik formulierter Kommentar mit ganz ähnlicher Tendenz: Sie hielten dem Seminarleiter Dr. Schütze «starren Confessionalismus» und einen «pietistischen Geist» vor, der «durch eine mönchische Ascese alle Herzensfrische und Lebensfreudigkeit erstickt», konstatierten eine «peinliche, klösterliche Zucht» und hatten noch keinen Waldenburger Zögling gefunden, der «nicht über die drakonische Strenge der Seminardisciplin (…) geklagt hätte».[3]

May stößt hier also wiederum auf Gott, König und Vaterland als zentrale Orientierungsgrößen – aber es freut ihn nicht. Im Rückblick der Autobiographie beklagt er das Fehlen emotionaler Wärme; der Unterricht sei «kalt, streng, hart» gewesen, es habe ihm – und nun folgt eine sehr charakteristische Formulierung – «jede Spur von Poesie» gefehlt,[4