Eine Biographie
C.H.Beck
Otto von Bismarck war der bedeutendste deutsche Staatsmann des 19. Jahrhunderts – und er ist zugleich höchst umstritten. Von der Heldengestalt des Reichsgründers bis zum Wegbereiter der deutschen Katastrophe reichen die Urteile. Eberhard Kolb, einer der angesehensten Bismarckforscher, befreit den „Eisernen Kanzler“ in seiner eleganten kleinen Biographie vom Staub der Legenden und Ideologien. Mit souveräner Kennerschaft schildert er Leben und Politik des preußischen Junkers, der zum europäischen Staatsmann wurde.
Eberhard Kolb war bis zu seiner Emeritierung Professor für Geschichte an der Universität zu Köln. Er ist Mitherausgeber der „Neuen Friedrichsruher Ausgabe“ von Bismarcks Gesammelten Schriften. Bei C.H.Beck sind in der Reihe „Wissen“ von ihm erschienen: Gustav Stresemann (2003), Der Frieden von Versailles (2005) und Bismarck (22014).
I. Prolog: Wirken in einer Zeit beschleunigten Wandels
II. Junge Jahre eines altmärkischen Junkers (1815–1847)
III. Vom Gutsherrn zum Politiker (1847–1851)
IV. Als Diplomat in Frankfurt, Petersburg, Paris (1851–1862)
V. Großpreuße und Reichsgründer (1862–1871)
VI. Konsolidierung und Friedenswahrung (1871–1890)
VII. Nach dem Abschied von der Macht (1890–1898)
VIII. Epilog: Bismarck im Widerstreit
Zeittafel
Stammtafel
Karte
Nachweis der Zitate
Literaturhinweise
Bildnachweis
Personenregister
Bildteil
Otto von Bismarcks Lebensspanne umfaßte beinahe das ganze 19. Jahrhundert. Es waren von ungeheurer Dynamik erfüllte Jahrzehnte: tiefe politische Umbrüche, rasante wirtschaftliche und technische Entwicklungen, ein stürmisches Bevölkerungswachstum und einschneidende Veränderungen des sozialen Gefüges, verbunden mit starken Säkularisierungsprozessen und dem Verlust traditioneller Lebenswelten.
Die Geburtsstunde des späteren Reichsgründers stand im Zeichen dramatischer weltpolitischer Ereignisse. Während in Wien Europas Fürsten und Staatsmänner tagten, unternahm der aus der Verbannung von der Insel Elba nach Frankreich zurückgekehrte Napoleon seinen letzten Versuch einer Rückeroberung der Macht. Auf die Achterklärung der verbündeten Mächte antwortete er am 2. April 1815 mit einem Manifest an die Völker Europas. An eben jenem Tag erschien in der Berliner Spenerschen Zeitung eine Anzeige, in der Ferdinand von Bismarck «die gestern erfolgte Entbindung meiner Frau von einem gesunden Sohne» allen Bekannten und Freunden zur Kenntnis brachte. Wenige Wochen später, nach der Schlacht von Waterloo (18. Juni 1815), endete defnitiv die napoleonische Ära, und der Wiener Kongreß verabschiedete jene Beschlüsse, durch die das nachnapoleonische Europa und die deutsche Staatenwelt neu strukturiert wurden.
Nach 1815 war der «Deutsche Bund» ein lockerer Zusammenschluß von 35 Fürstenstaaten und vier Freien Städten, von denen zunächst nur wenige eine geschriebene Verfassung und parlamentarische Vertretungen besaßen – am Ende des Jahrhunderts bestand ein kompaktes Deutsches Reich von 55 Millionen mit einem nach gleichem (Männer-) Wahlrecht gewählten Reichstag, funktionierenden staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und einem voll ausgebildeten Parteiwesen. Die Reichshauptstadt Berlin, 1815 eine Residenzstadt mit 200.000 Einwohnern, zählte bei Bismarcks Tod 1898 knapp zwei Millionen Einwohner und war die am schnellsten wachsende Hauptstadt in Europa. Mehr als die Hälfte aller Deutschen lebte jetzt in Gemeinden mit über 5000 Einwohnern – 1815 waren es nur zehn Prozent gewesen. Das Agrarland Deutschland hatte sich im Lauf des Jahrhunderts zu einem mächtigen Industriestaat entwickelt, der um 1900 Großbritannien in der Stahl- und Roheisenproduktion überrundete, führend vor allem auch in den «neuen» Industrien, der chemischen und der Elektroindustrie. Waren um 1800 zwei von drei Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig, so hatte hundert Jahre später die Beschäftigtenzahl in Industrie und Handwerk diejenige in der Landwirtschaft überholt.
In Bismarcks Geburtsjahr und noch viele Jahre danach reiste man mit der Postkutsche. Von Berlin nach Breslau war man vier volle Tage unterwegs, von Berlin nach Königsberg gar eine ganze Woche. Als Bismarck starb, verfügte das Deutsche Reich über ein Eisenbahnnetz mit einer Gesamtlänge von rund 50.000 Kilometern; in wenigen Stunden reiste man von einer deutschen Großstadt zur andern.
Was am Anfang und bis weit ins 19. Jahrhundert geschrieben wurde, privat und amtlich, brachte man säuberlich von Hand zu Papier. Am Ende des Jahrhunderts gab es bereits die Schreibmaschine, in den 1850er Jahren schon hatte sich der Telegraf durchgesetzt, seit den 1880er Jahren war das Telefon auf dem Vormarsch. Jetzt wurden auch die ersten Automobile konstruiert, und 1890 unternahm Otto Lilienthal seine Flugversuche.
Im Lauf des Jahrhunderts hatte sich in Deutschland eine breit gefächerte Öffentlichkeitskultur herausgebildet. Die Zahl der Zeitungen und Zeitschriften wuchs vor allem nach der Reichsgründung rapide. Gab es um 1850 im deutschen Raum etwa 1500 Zeitungen, so stieg die Zahl bis 1898 auf rund 4000 – mit gesteigerter Auflage, größerem Seitenumfang und sinkendem Preis pro Nummer. Auch die Buchproduktion schoß in die Höhe, sie versiebenfachte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts. 1875 wurden 12.000 Titel veröffentlicht, 1910 waren es über 30.000. Die Erfindung der Setzmaschine (1884) und der Zwillingsrotationsmaschine (1895) ermöglichten rasche Produktionssteigerung und hohe Auflagen.
Deutschland wurde im 19. Jahrhundert zu einem Land der Schulen mit allgemeiner Schulpflicht und einheitlicher Verwaltung durch den Staat. Die Zahl der einklassigen Volksschulen ging – zugunsten der mehrklassigen – ständig zurück, die Analphabetenquote tendierte am Jahrhundertende – im Unterschied zu Italien, Frankreich, selbst England – gegen Null. Das höhere Schulwesen expandierte. Gab es in Preußen in Bismarcks Geburtsjahr 91 Gymnasien, so waren es 1900 einschließlich der Oberrealschulen 349. Die Studentenzahl stieg von rund 6000 (im späteren Reichsgebiet) auf knapp 50.000 in Bismarcks Todesjahr. Die deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts wurden zum vielbewunderten Vorbild für zahlreiche andere Staaten in Europa und Übersee, wie überhaupt das gesamte deutsche Bildungssystem international als vorbildlich galt.
So könnte man lange fortfahren, um den stürmischen, oft atemberaubenden Wandel auf nahezu allen Gebieten in jenem Jahrhundert zu charakterisieren, in dem Bismarck lebte und wirkte. Es ging hier lediglich darum, wichtige säkulare Trends sichtbar zu machen, die maßgebliche Rahmenbedingungen für diejenigen schufen, die in dieser Zeit beschleunigten Wandels politisch agierten, eines Wandels, der nicht nur die Oberfläche des politischen Systems, sondern die Tiefen der gesamten Gesellschaft erfaßte.
Kaum eine Bismarck-Biographie verzichtet darauf, die komplexe Persönlichkeit des Reichsgründers auf die unterschiedlichen Erbanlagen zurückzuführen, die ihm durch ein höchst ungleiches Elternpaar zuteil wurden. Der Vater Ferdinand von Bismarck entstammte dem altmärkischen Uradel. Die dem Ritterstand angehörende Familie, stolz darauf, schon vor den Hohenzollern in der Mark Brandenburg ansässig gewesen zu sein, hatte das Leben von Landedelleuten geführt und dem preußischen Staat seit Jahrhunderten Offiziere gestellt, aber keine großen Begabungen hervorgebracht. Ferdinand war fünfunddreißig Jahre alt, als er in Preußens Unglücksjahr 1806 die kaum siebzehnjährige Louise Wilhelmine Mencken zum Traualtar in der Potsdamer Garnisonskirche führte. Ihr Vater, ein hochangesehener Beamter, hatte drei preußischen Königen als enger Mitarbeiter gedient, zunächst als Kabinettssekretär, dann als Kabinettsrat; neben Beamten zählte er auch namhafte Gelehrte zu seinen Vorfahren. Altersunterschied, soziale Herkunft, Bildungsgrad und lebensweltliche Prägungen machten Ferdinand und Louise Wilhelmine von Bismarck zu einem recht inhomogenen Paar, das menschlich nicht gut miteinander harmonierte; als glücklich wird man diese Ehe kaum bezeichnen können. Doch es bleibt reine Spekulation, auf die divergenten Erbteile zu verweisen, um Bismarcks widersprüchliche Persönlichkeit plausibel zu erklären oder gar zu postulieren, die Gegensätze der unterschiedlichen Elternteile hätten ihn zu einer «problematischen Natur» gemacht. Gegenüber derartigen Deutungen empfiehlt sich Vorsicht – schon allein auf Grund der Tatsache, daß Bismarcks älterer Bruder Bernhard, mit denselben Erbanlagen ausgestattet, eine nicht aus dem Rahmen fallende Karriere als Gutsherr und Beamter (Landrat) gemacht hat.
Ferdinand und Louise Wilhelmine von Bismarck hatten sechs Kinder. Drei starben im frühen Kindesalter, die anderen drei – neben Otto der 1810 geborene Bernhard und die 1827 geborene Malwine – überschritten alle das achtzigste Lebensjahr – wie der Vater das siebzigste (die Mutter erlag knapp fünfzigjährig einem Krebsleiden). Otto von Bismarck ist am 1. April 1815 in Schönhausen geboren, dem rund fünfzig Kilometer nördlich von Magdeburg nahe dem rechten Elbufer gelegenen Stammsitz der väterlichen Familie. Aber nicht hier in Schönhausen, sondern in Hinterpommern verlebte der jüngere der beiden Söhne seine Kindheitsjahre, denn durch den Tod eines Vetters erbten die Eltern die Rittergüter Kniephof, Jarchelin und Külz im Kreis Naugard (nordöstlich von Stettin) und verlegten im Frühjahr 1816 den Wohnsitz der Familie von Schönhausen auf das Gut Kniephof. Von dort aus bewirtschafteten sie die drei Rittergüter, während Schönhausen verpachtet wurde.
Bismarck ist später nicht müde geworden, Kniephof als das Paradies seiner Kindheit zu preisen. Im herrlichen Park des Gutshauses keimte seine lebenslange Liebe zum Wald und zu den Bäumen. Doch die paradiesischen Jahre in Kniephof dauerten nicht lange. Im Alter von sechs Jahren mußte er die ländliche Idylle mit der fernen Residenzstadt vertauschen: Die Eltern gaben ihn in eine Schülerpension in Berlin, in der bereits der ältere Bruder Bernhard untergebracht war. In der Plamannschen Anstalt, in der vorwiegend Söhne des ostelbischen Landadels ihre Schulbildung erhielten, herrschte ein patriotischer Geist, der Franzosenhaß und Turnertum mit straffer Disziplinierung verband. Von einem «künstlichen Spartanertum» hat Bismarck später gesprochen. An die sechs Jahre, die er in dieser Erziehungsanstalt verbrachte, hat er sich sein Leben lang mit Erbitterung und Abscheu erinnert. Man kennt die Formulierungen in seinen «Gedanken und Erinnerungen». 1864 äußerte er zu einem engen Mitarbeiter: «Meine Kindheit hat man mir in der Plamannschen Anstalt verdorben, die mir wie ein Zuchthaus vorkam.» Seiner Mutter hat er es sehr verdacht, daß sie ausgerechnet im Juli und August auf ihre Badereise ging und die Söhne deshalb nicht einmal die Ferienwochen im geliebten Kniephof verbringen durften. Nach Auflösung der Plamannschen Anstalt 1827 besuchten die beiden jungen Bismarcks das Gymnasium, zunächst das Friedrich-Wilhelm-Gymnasium in der Friedrichstraße (1827–1830), dann Otto das Gymnasium zum Grauen Kloster in der Klosterstraße (1830–1832). In diesen Jahren bewohnten die beiden eine Wohnung in Berlin, welche die Eltern gemietet hatten und in der sie selbst die Wintermonate verbrachten. Waren die Eltern nicht in Berlin, wurden Otto und Bernhard von einer Haushälterin betreut, die man aus Schönhausen hergeholt hatte, während tüchtige junge Hauslehrer die Aufsicht führten und sich vor allem um die fremdsprachlichen Fertigkeiten ihrer Zöglinge bemühten. In diesen Jahren erwarb Bismarck seine – später vielbewunderte – Fähigkeit, perfekt Französisch und fließend Englisch zu sprechen.
Seinen Konfirmandenunterricht erhielt Bismarck vom berühmten Theologen Schleiermacher. Dieser scheint ihn allerdings nicht übermäßig beeindruckt zu haben; er war, wie man gesagt hat, Bismarcks Lehrer, dieser aber nicht sein Schüler. Nach der Einsegnung (Ostern 1830) war seine Entwicklung zur Skepsis gegenüber Theologie und Gottesglauben nicht mehr aufzuhalten. Noch nicht siebzehnjährig bestand Bismarck an Ostern 1832 das Abitur und konnte jetzt die Universität beziehen.
Am liebsten wäre er an die Universität Heidelberg gegangen. Aber seine Mutter war dagegen, weil sie befürchtete, ihr Sohn könne sich dort das von ihr verabscheute Biertrinken angewöhnen. So fiel die Wahl auf Göttingen, die Hochschule des jungen Adels, der sich auf den Staatsdienst vorbereiten wollte. Anfang Mai 1832 immatrikulierte sich Bismarck als Student der Rechte und der Staatswissenschaften, wenige Wochen später trat er der – überwiegend bürgerlichen – Landsmannschaft Hannovera bei. Bismarcks drei Göttinger Semester sind von Legenden umrankt, doch authentische Zeugnisse sind spärlich. Zweifellos erlebte er diese Zeit als Befreiung von der bisher erduldeten Bevormundung. Der hochaufgeschossene und überschlanke Siebzehnjährige mit dichtem hellblondem Haar und einem Gesicht voller Sommersprossen tauchte begeistert in ein ausgelassenes studentisches Leben und Treiben ein, mit Trinkgelagen und Schuldenmachen, provozierendem Gebaren und Karzerstrafen. Intensiv engagierte sich Bismarck in seinem Corps und brillierte auf dem Fechtboden. Seinem Bruder berichtete er im Januar 1833, seit Michaeli sei er vierzehnmal auf der Mensur gestanden und habe «fast immer meinen Gegner glänzend abgeführt. Wenigstens bin ich nur das eine Mal blutig getroffen.» Nicht nur ein gewandter Fechter war der junge Bismarck, sondern auch ein ausdauernder Reiter, ein guter Schwimmer und ein begehrter Tänzer – nur gegen das Turnen legte er, aufgrund der leidvollen Erfahrungen in der Plamannschen Anstalt, eine tiefe Abneigung an den Tag.
Zum Vorlesungsbesuch gibt es nur wenige Angaben. Am Fachstudium scheint er kaum Interesse gehabt zu haben; die einzige Vorlesung, die er eifrig besuchte, war die des Historikers Arnold Heeren über das europäische Staatensystem. Auf die Frage, was er studiere, war seine Antwort: «Diplomatie.»
Nach drei Göttinger Semestern wechselte Bismarck im Winter 1832/33 für drei weitere Semester an die Universität Berlin. Die meistzitierten Zeugnisse aus dieser Zeit sind seine Briefe an den Göttinger Corpsbruder Gustav Scharlach, abgefaßt in jenem schnoddrigburschikosen, von bissiger Selbstironie bis zu sprühendem Sarkasmus reichenden Ton, der im Milieu des studentischen Verbindungswesens gepflegt wurde – dies gilt es zu berücksichtigen, wenn man aus diesen Briefen Rückschlüsse auf Wesensart und Befindlichkeit des jungen Bismarck ziehen will. Das von ihm in diesen Briefen gezeichnete kraftmeierische Selbstbild enthüllt nur die eine Seite. Es gab eine andere Seite. Er war ein aufgeweckter, belesener junger Mann, der die Oper besuchte, viel französisch und englisch sprach, sich routiniert in Berlins aristokratischen Zirkeln bewegte, vor allem im großen Kreis verwandter oder befreundeter Familien, und der zu echter Freundschaft fähig war. Die engsten Gefährten der Berliner Studienzeit, der baltische Aristokrat Graf Alexander Keyserling und der Amerikaner John L. Motley, wurden zu Lebensfreunden. Motley, später amerikanischer Botschafter in Wien und London, ließ in seinem Jugendroman «Morton’s Hope»(1839) Bismarck in der Figur eines Otto von Rabenmark auftreten: «Auf der Kneipe und auf der Straße treibt er es toll; auf seinem Zimmer, inmitten der Pfeifen und Silhouetten, wirft er die Narrenmaske ab und redet mit Morton ‹vernünftig›.»
Höchst erstaunlich ist indessen, daß wir keinerlei Zeugnisse besitzen über die damalige politische Gesinnung Bismarcks, dessen späteres Leben ganz in der Politik aufging. Nach der französischen Julirevolution 1830 kam es auch in vielen deutschen Staaten zu innenpolitischen Konflikten, die im Hambacher Fest (Mai 1832) und im Frankfurter Wachensturm (April 1833) gipfelten; liberale und konservative Tendenzen gewannen immer deutlichere Konturen. Den jungen Bismarck scheinen diese Auseinandersetzungen innerlich nicht berührt zu haben.
Wenn er sein juristisches Studium auch mehr lässig als eifrig betrieben hat – im Mai 1835, zum frühestmöglichen Termin, bestand Bismarck die «Auskultatorprüfung», wie man damals das Erste juristische Staatsexamen nannte: mit «Recht gut» in Erklärung des Corpus iuris und «Hinreichend» in Rechtstheorie. Wenige Wochen zuvor hatte er seinen zwanzigsten Geburtstag gefeiert.
Zielstrebig, die Diplomatenlaufbahn fest im Blick, begann Bismarck die weitere Ausbildung – doch bald sollten die Dinge einen anderen Lauf nehmen. Zunächst aber durchlief er als «Auskultator» die üblichen Stationen am Berliner Kammergericht und als Protokollführer beim Stadtgericht. Seinem Göttinger Studienfreund Scharlach berichtete er, er lebe leidlich zufrieden; von morgens acht bis abends acht sei er fleißig, ziehe sich dann um und gehe in Gesellschaft. «Ich bin zwar fortwährend exzessiv verliebt, wechsele aber häufig den Gegenstand meiner Neigung». Zugleich klagte er über pekuniäre Unannehmlichkeiten, seine «Alten» seien in dieser Beziehung unduldsam, so komme es, daß er zwei sehr drückende Posten in Göttingen immer noch nicht bezahlt habe.
Noch ehe das erste Jahr der Referendarzeit um war, entschloß sich Bismarck, von der Justiz zur Verwaltung überzutreten. Er hatte nämlich erfahren, daß der preußische Außenminister keine hohe Meinung von der Eignung ostelbischer Junker fürs diplomatische Geschäft habe; die Verwaltung schien eine günstigere Ausgangsposition für eine Bewerbung zu bieten als die Justiz. So richtete er im Januar 1836 ein Gesuch an den Aachener Regierungspräsidenten, das erforderliche Examen in Aachen ablegen zu dürfen – auf ein rheinisches Präsidium fiel die Wahl, weil der Kursus dort kürzer war als in den alten Provinzen. Das Gesuch wurde bewilligt. Die beiden schriftlichen Prüfungsarbeiten schrieb Bismarck im Frühjahr 1836 in Schönhausen. Von dort ließ er Freund Scharlach wissen: «Du würdest über mich lachen, wenn Du jetzt bei mir wärest. Seit vollen vier Wochen sitze ich hier in einem verwunschenen Schlosse, mit Spitzbogen und vier Fuß dicken Mauern, einigen dreißig Zimmern wovon zwei möbliert, prächtigen Damasttapeten, deren Farbe an wenigen Fetzen noch zu erkennen ist, Ratten in Masse, Kamine, in denen der Wind heult … Dabei bin ich nie so zufrieden gewesen wie hier; ich schlafe nur sechs Stunden und finde große Freude am Studieren, zwei Dinge, die ich lange Zeit für unmöglich hielt.» Die beiden Prüfungsarbeiten wurden mit «Sehr gut» und «Gelungen» bewertet, in der mündlichen Prüfung gab es das Prädikat «sehr gut befähigt». Anfang Juli 1836 erfolgte die Vereidigung und die Beförderung zum Regierungsreferendar. Damit konnte Bismarck den Dienst am Regierungspräsidium Aachen aufnehmen.
Doch das mondäne Bad mit Gästen aus aller Welt bot dem lebenshungrigen jungen Mann nicht nur zahlreiche Möglichkeiten zur Zerstreuung, sondern auch handfeste Verlockungen. Besonders wohl fühlte sich der ostelbische Junker im Kreis aristokratischer englischer Gäste, wobei den Hauptanziehungspunkt für ihn die jungen Ladies bildeten. Ein erstes Techtelmechtel war bald zu Ende, da sich herausstellte, daß die Dame ihre familiären Verhältnisse allzu sehr geschönt hatte. Doch dann wurde es ernst. Der Zweiundzwanzigjährige entflammte in leidenschaftlicher Zuneigung zu einer siebzehnjährigen Britin «von blondem Haar und seltener Schönheit», Isabella Loraine Smith aus englischem Landadel. Hals über Kopf stürzte sich Bismarck in eine stürmische Affäre, in der er viel aufs Spiel setzte, auch seine berufliche Zukunft. Um die Angebetete mit ihrer Familie auf deren Deutschlandreise begleiten zu können, erbat er einen längeren Urlaub. Von Juli bis September 1837 war er unterwegs und überschritt dabei den erteilten Urlaub, ohne um eine Verlängerung nachzusuchen. Wie er diese Monate stärkster innerer Erregung durchlebt hat – darüber wissen wir kaum etwas. Freund Karl Friedrich von Savigny erhielt Ende August einen Brief aus Frankfurt; darin sprach Bismarck von «meiner Familie (ein Ausdruck, den ich vorläufig Ihrer Verschwiegenheit empfehle)» und kündigte die definitive Verehelichung für März zu Scarsdale in Leicestershire an. Vom beabsichtigten Hochzeitstermin im Frühjahr erfuhr auch Scharlach Mitte September aus Straßburg. Weshalb die Verbindung in die Brüche ging, ist unbekannt. Ernst Engelberg meint, manches lasse darauf schließen, «daß beide Seiten, der junge Bismarck und der alte Loraine, finanzielle Überlegungen angestellt haben, die am Ende eine Ehe ausschlossen.»
Zweifellos stark verharmlosend hat Bismarck das berauschende, aber kostspielige Abenteuer seinem Freund Scharlach gut sieben Jahre später in eher humoristischer Manier geschildert: Die bildschöne Engländerin habe ihn dazu verleitet, monatelang in ihrem Kielwasser zu fahren. «Ich nötigte sie endlich zum Beilegen, sie strich die Flagge, doch nach zweimonatlichem Besitz ward mir die Prise von einem einarmigen Obristen mit fünfzig Jahren, vier Pferden und 15.000 rl. Revenüen wieder abgejagt. Arm im Beutel, krank am Herzen, kehrte ich nach Pommern heim.» So war es: Ende September trat Bismarck die Heimreise an – allein, aber belastet durch einen ungeheuren Schuldenberg, denn am Spieltisch in Wiesbaden hatte er horrende Summen verspielt («über 1700 Taler, die zu andern Zwecken bestimmt waren»).
Da er sich in Aachen unmöglich gemacht hatte und dort auch von Gläubigern verfolgt wurde, beantragte er die Versetzung ans Regierungspräsidium Potsdam, die auch gewährt wurde. Wie der Aachener Regierungspräsident mit feiner Ironie schrieb, sollte ihm ermöglicht werden, «zu einer angestrengteren Tätigkeit in den Amtsgeschäften zurückzukehren, nach welcher Sie bei den gesellschaftlichen Verhältnissen in Aachen vergeblich strebten.»
Die Tätigkeit in Potsdam war nur von kurzer Dauer. Zum einen trat Bismarck jetzt seinen lange hinausgezögerten Militärdienst an (bei den Gardejägern), zum andern reifte im Sommer 1838 sein Entschluß, aus dem Staatsdienst auszuscheiden und ein Leben in Freiheit als Gutsherr zu führen. Einer Kusine, die ihn beschworen hatte, im Staatsdienst zu bleiben, legte er wortreich die Gründe dar, die ihn zu seinem Entschluß bewogen hätten. In dem seitenlangen Schreiben beteuerte er, von Hause aus sage ihm «die Natur der Geschäfte und die dienstliche Stellung unserer Staatsdiener» nicht zu, sein Ehrgeiz strebe mehr danach zu befehlen als zu gehorchen, er wolle Musik machen, wie er sie für gut erkenne oder gar keine. Zudem sei er überzeugt, «daß, vom rein materiellen Standpunkt aus betrachtet, ich meine Tätigkeit vorteilhafter in der Landwirtschaft als im Staatsdienst verwerte.» Den wichtigsten, vielleicht den eigentlichen Grund für seine Entscheidung verschwieg er, auch gegenüber dem Vater (der eine Abschrift dieses Briefes erhielt): Mit dem Gehalt eines Staatsdieners würde er nicht in der Lage sein, den drückenden Schuldenberg abtragen zu können. Das schien eher möglich, wenn nach Sanierung der schlecht verwalteten väterlichen Güter die Landwirtschaft satte Gewinne abwarf.
Daher kam Bismarck im Spätsommer 1838 um Beurlaubung ein, und wenn er die förmliche Entlassung aus dem Staatsdienst auch erst im Oktober 1839 beantragte, so war die Entscheidung doch im Sommer/Herbst 1838 gefallen: Ferdinand von Bismarck überließ seinen beiden Söhnen die pommerschen Güter auf ihr künftiges Erbteil, er selbst nahm mit der zwölfjährigen Tochter Malwine seinen Wohnsitz in Schönhausen (die schwerkranke Mutter suchte ärztliche Hilfe in Berlin und erlag dort am 1. Januar 1839 ihrem Krebsleiden).
Etwa zwei Jahre lang leiteten die beiden Brüder von Kniephof aus die Güter gemeinsam, zusammen rund 55o Hektar Ackerland, Wiesen oder Weiden, Wälder und Wasserflächen, für pommersche Verhältnisse allerdings nicht übertrieben viel. Als Bernhard 1841 zum Landrat des Kreises Naugard gewählt wurde, in die Kreisstadt zog und heiratete, wurde eine Teilung vorgenommen: Bernhard übernahm Külz, Otto erhielt Kniephof und Jarchelin. Er wurde auch Kreisdeputierter und vertrat in dieser Funktion mehrfach den Landrat, ferner wurde er zum ritterschaftlichen Abgeordneten im pommerschen Provinziallandtag gewählt.
Über dem immer wieder genüßlich ausgemalten Bild vom «tollen Bismarck» der pommerschen Jahre darf nicht übersehen werden, daß der nun als Landwirt Tätige sich rasch und konzentriert in agrarische Fragen eingearbeitet hat, sich kundig machte über Bodenqualitäten und Wertverhältnisse von Gütern, aktuelle landwirtschaftliche Fachliteratur konsultierte, in agrarischen Gesellschaften aktiv war und Grundsätze moderner betriebswirtschaftlicher Führung praktizierte, bei strikter Beschränkung von Ausgaben und persönlichem Aufwand. So gelang es, die heruntergekommenen Güter in relativ kurzer Zeit wieder in die Höhe zu bringen und sie – wenn auch immer noch verschuldet – gewinnbringend zu bewirtschaften. Daneben hat Bismarck in diesen Jahren viel gelesen, Goethe, Schiller und Jean Paul sowie zeitgenössische Lyrik von Uhland bis Heine und philosophische Schriften (Spinoza vor allem, die Junghegelianer, David Friedrich Strauß). Häufig vertiefte er sich in die Atlanten und Spezialkarten, die er in großer Zahl besaß. Bei aller Verwurzelung in einer bestimmten Tradition des preußischen Landadels reichten sein geistiger Radius und seine Interessen weit über das Niveau seiner Standesgenossen hinaus.
Vergeblich warb er 1841/42 um die Hand der Gutsbesitzerstochter Ottilie von Puttkamer auf Pansin. Ihre Mutter wies die Werbung in kränkender Weise zurück, und die Tochter beugte sich allzu willig dem mütterlichen Geheiß – für Bismarcks Selbstwertgefühl ein schwerer Schlag, den er durch eine mehrmonatige Reise nach Schottland, England, Frankreich und die Schweiz zu kompensieren suchte. «Halb und halb geheilt» kehrte er zurück, wie er einen Freund wissen ließ; ihm seien «die Freiersfüße gänzlich erfroren, und ich kann mir gar nicht denken, wie das Wesen beschaffen sein müßte, welches mich in Versuchung führen sollte, mich um ihre Hand zu bewerben …»
Solange es darum ging, die pommerschen Güter zu sanieren und zu wirtschaftlichem Erfolg zu führen, fand Bismarck Genügen an der Tätigkeit als Gutsherr und genoß den lebhaften gesellschaftlichen Verkehr im Kreis der pommerschen Standesgenossen mit Bällen, Theateraufführungen, Teenachmittagen und sonstigen Unternehmungen. Doch als das Ziel einer wirtschaftlichen Konsolidierung erreicht war, wurde ihm der Wirkungskreis zu eng, es stellte sich tiefe Unzufriedenheit mit dem Landjunkerdasein ein. Gegenüber Scharlach klagte er über «eine an Lebensüberdruß grenzende Gelangweiltheit durch alles, was mich umgibt»; er «treibe willenlos auf dem Strom des Lebens ohne anderes Steuer als die Neigung des Augenblickes, und es ist mir ziemlich gleichgültig, wo er mich ans Land wirft». Ausdruck dieser von schwermütigen Stimmungen begleiteten Orientierungslosigkeit war der Antrag auf Wiederaufnahme in den Vorbereitungsdienst beim Potsdamer Regierungspräsidenten (April 1844). Der Antrag wurde bewilligt, allerdings mit einem frostigen Zusatz, in dem auf den mangelnden Eifer bei der früheren Beschäftigung hingewiesen wurde. Am 3. Mai trat Bismarck den Dienst an, schon zwei Wochen später erbat er einen kurzen Urlaub wegen der schweren Erkrankung seiner Schwägerin – und aus diesem Urlaub kehrte er nicht in den Dienst zurück, wie einst in Aachen! Er habe «die Leute und die Geschäfte grade so schaal und unersprießlich gefunden wie früher», so zu Scharlach. Es war deutlich: Bismarck befand sich in einer tiefen Lebenskrise.
Ein vorläufiger Ausweg aus der existentiellen Krise eröffnete sich, als Bismarck in nähere Berührung mit dem Kreis pommerscher Pietisten kam, der sich um Adolf von Thadden auf Trieglaff gruppierte und dem auch Bismarcks Schulkamerad Moritz von Blanckenburg angehörte, der mit Thaddens Tochter Marie verlobt war. Der in diesem Kreis herrschende Geist kritikloser Bibelgläubigkeit und einer gefühlsbetonten ständigen Suche nach dem Sichtbarwerden der Hand Gottes im täglichen Leben war Bismarck allerdings fremd, aber ihn beeindruckte, wie diese Menschen das Wort Gottes zur Richtschnur ihres Sinnens und Handelns nahmen. Zwar nervte ihn der stürmische Bekehrungseifer seines Freundes Moritz von Blanckenburg, der ihn mit geistlichen Briefen bombardierte; doch mit dessen Verlobter Marie sprach er ausführlich über Religion und Christentum. Dabei entwickelte sich eine intensive freundschaftliche Beziehung, ja Liebe, die nicht nur unerfüllt, sondern sogar unausgesprochen bleiben mußte. In Marie, so Lothar Gall, begegnete Bismarck einem Menschen «mit einer Lebenszuversicht und einer inneren Sicherheit, wie er sie zu diesem Zeitpunkt vor allem anderen für sich selbst ersehnte». Bismarck hat den pietistischen Lebensstil nicht übernommen und sich auch nicht zu einem dogmatisch starren Christentum bekehrt, «aber er hat den Glauben an einen persönlichen Gott, an ein Jenseits und an die christliche Heilslehre wiedergewonnen. All das kam ihm nicht plötzlich …, es kam allmählich, unter innern Hemmungen und Rückfällen in die Skepsis, die ihn so lange beherrscht hatte.»
Bei der Hochzeitfeier von Moritz von Blanckenburg und Marie von Thadden im Oktober 1844 begegnete Bismarck erstmals seiner späteren Frau. Marie hatte ihn als Tischherrn ihrer zwanzigjährigen Freundin Johanna von Puttkamer zugeteilt, die als Brautführerin fungierte. Die beiden sahen sich in der Folgezeit gelegentlich auf dem Blanckenburgschen Gute Kardemin, ohne sich jedoch zunächst näherzukommen.
Das Jahr 1845 brachte einen Einschnitt in Bismarcks Leben. Vierundsiebzigjährig starb der Vater, und die Söhne teilten sich das Erbe. Bernhard bekam zu Külz jetzt Jarchelin hinzu, Otto zu Kniephof das väterliche Schönhausen, wohin er im folgenden Jahr übersiedelte (Kniephof verpachtete er). Nun lebte er also wieder auf dem Stammsitz der Familie in der Altmark, und er war von vornherein fest entschlossen, im neuen Wirkungskreis eine Rolle zu spielen. Rasch gelang es ihm, den Deichhauptmann, der bei einem großen Elbhochwasser versagt hatte, aus der Stellung zu verdrängen; er selbst übernahm diese Funktion – es war sein erstes selbständiges öffentliches Amt. Ferner ließ er sich zum Stellvertreter des ritterschaftlichen Abgeordneten im sächsischen Provinziallandtag wählen, und auch das Amt des Landrats im Kreis Jerichow schien in Reichweite. Darüber hinaus schaltete sich Bismarck nun in überregionale ständische Aktivitäten ein, nämlich in die Auseinandersetzungen um die Neugestaltung der Patrimonialgerichtsbarkeit. Heftig antibürokratisch eingestellt, machte er sich stark für die Bewahrung gutsherrlicher Selbständigkeit und wandte sich dezidiert gegen die von der Regierung angestrebte Ausweitung staatlicher Befugnisse. Bei diesen Verhandlungen kooperierte er eng mit einfußreichen konservativen Standesgenossen, insbesondere mit dem Präsidenten des Magdeburger Oberlandesgerichts Ernst Ludwig von Gerlach, der – mit Adolf von Thadden verschwägert – als Speerspitze der preußischen Konservativen agierte. Die Perspektiven, die sich mit all diesen Aktivitäten verbanden, scheint Bismarck als so zukunftsträchtig eingeschätzt zu haben, daß er 1846 ein an ihn herangetragenes Angebot zum Wiedereintritt in den Staatsdienst (in respektabler Position: Kommissarius bei Meliorationsarbeiten in Ostpreußen) abschlägig beschieden hat, obwohl ihm sein Bruder zuredete, auf das Angebot einzugehen.
Wie ein Blitz traf ihn Ende Oktober 1846 die Nachricht von einer lebensgefährlichen Erkrankung der geliebten Marie von Blanckenburg; ihr Tod Anfang November erschütterte ihn tief. Der Schwester Malwine bekannte er: «Es ist eigentlich das erste Mal, daß ich jemand durch den Tod verliere, der mir nahestand und dessen Scheiden eine große und unerwartete Lücke in meinen Lebenskreis reißt. Der Verlust der Eltern steht in einer andern Kategorie; er ist nach dem Laufe der Natur vorauszusehen.»
Noch in den Sommerwochen vor ihrem plötzlichen Tod hatte Marie eine Harzreise ihres Freundeskreises organisiert, bei der sich eine fröhliche Gruppe junger Leute romantischem Landschaftsgenuß hingab, mit Mondscheinnächten, Mendelssohnschen Liedern und religiösen Disputen. Mit von der Partie waren Bismarck und Johanna von Puttkamer, die auf dieser Reise Gefallen aneinander fanden. Die zweiundzwanzigjährige Johanna war wie Marie fromm und doch lebenszugewandt: «Ihre Gesichtszüge waren nicht regelmäßig schön, aber durch sprechende blaue Augen eigentümlich belebt und von tiefschwarzem Haar umschattet», so beschreibt sie Bismarcks späterer Mitarbeiter Robert von Keudell, mit dem die musikalisch begabte Johanna damals gelegentlich gemeinsam musizierte. Einen Monat nach Maries Tod trafen sich Bismarck und Johanna wieder im Blanckenburgschen Haus, und bei dieser Begegnung wurden sie sich einig, den Bund fürs Leben zu schließen. Dabei waren allerdings Hindernisse zu überwinden, denn die pietistischen Eltern Johannas waren keineswegs entzückt beim Gedanken an einen Schwiegersohn Bismarck, von dem sie «viel Übles und wenig Gutes» gehört hatten. Kurz vor Weihnachten 1846 brachte Bismarck sein erstes diplomatisches Schriftstück zu Papier, den vielzitierten langen Werbebrief an Heinrich von Puttkamer, ein Schlüsseldokument Bismarckschen Wesens. Klug auf die Mentalität des Empfängers abgestimmt, ließ Bismarck in «rückhaltloser Offenheit» und geschliffener Diktion sein bisheriges Leben Revue passieren, um am Schluß zu bemerken, er könne kaum eine ohne weiteres günstige Entscheidung auf seinen Antrag erwarten, er bitte aber darum, ihm Gelegenheit zu geben, «mich über solche Gründe, die Sie zu einer abschlägigen Antwort bestimmen können, meinerseits zu erklären, ehe Sie eine definitive Ablehnung aussprechen». Herr von Puttkamer reagierte zurückhaltend auf den Werbebrief, aber Bismarck kämpfte jetzt mit ganzem Einsatz. Kurzentschlossen reiste er Anfang Januar 1847 nach Reinfeld ins hinterste Hinterpommern – und binnen weniger Stunden war die Verlobung perfekt. Seiner Schwester Malwine telegrafierte er am 12. Januar die zwei Worte: «All right», und seinem Bruder schrieb er kurz darauf: «Ich fand dort keine ungünstige Stimmung, aber Neigung zu weit aussehenden Verhandlungen, und wer weiß, welchen Weg diese genommen hätten, wenn ich nicht durch eine entschlossene accolade [Umarmung] meiner Braut, gleich beim ersten Anblick ihrer, die Sache zum sprachlosen Staunen der Eltern in ein anderes Stadium gerückt hätte, in welchem binnen fünf Minuten alles in Richtigkeit geriet.» Und er fuhr fort: «Im übrigen glaube ich ein großes und nicht mehr gehofftes Glück gemacht zu haben, indem ich, ganz kaltblütig gesprochen, eine Frau von seltnem Geist und seltnem Adel der Gesinnung heirate; dabei liebenswürdig sehr und facile á vivre, wie ich nie ein Frauenzimmer gekannt habe.» Tatsächlich fand Bismarck in Johanna eine Frau, wie er sie brauchte: Sie war ihm ein Leben lang treu, organisierte mit Geschick das häusliche Umfeld, war den Kindern eine umsichtig sorgende Mutter und vor allem: sie identifizierte sich bedingungslos mit ihres Gatten Auffassungen, Entscheidungen und Vorgehensweisen; seine Freunde waren ihre Freunde, seine Feinde ihre Feinde.
Lange Jahre hat Bismarcks Dasein im Zeichen eines hohen Maßes an Unsicherheit und Unstetigkeit bei der Suche nach der ihm gemäßen Lebensform gestanden. Jetzt, mit der Verlobung und den weiteren Ereignissen des Jahres 1847, begann ein neuer Lebensabschnitt, der ihm die Chance bot, seine innere und äußere Existenz auf eine stabile Grundlage zu stellen und den aufgestauten Hunger nach Wirksamkeit zu befriedigen.
1847 darf mit Fug und Recht als Schlüsseljahr der Bismarckschen Existenz bezeichnet werden. Zum einen legte die Verlobung mit Johanna von Puttkamer, der im Juli die Hochzeit folgte, ein stabiles Fundament für sein persönliches Leben. Zum andern betrat er durch den Eintritt in den Vereinigten Landtag die politische Bühne und fand so den ihm gemäßen Wirkungskreis. Damit endete die Zeit unsteten Suchens nach einer Existenz, der frustrierende Zustand der Bindungs- und Perspektivlosigkeit.
Von der Verlobung war bereits die Rede. Ende Januar 1847 brach Bismarck von Reinfeld auf, um in Schönhausen beim erwarteten Eisgang der Elbe seines Amtes als Deichhauptmann zu walten. Zu diesem Zeitpunkt stand im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses die von König Friedrich Wilhelm IV. angekündigte Einberufung eines «Vereinigten Landtags», eines Ständeparlaments, zusammengesetzt aus den Mitgliedern aller Provinziallandtage, eine Versammlung von rund sechshundert Männern (unter ihnen auch Bismarcks väterlicher Freund Adolf von Thadden und sein Schwiegervater Heinrich von Puttkamer).
Bismarck wollte unbedingt Mitglied des Vereinigten Landtags werden. Die Aussichten dafür waren allerdings zunächst nicht günstig, da er im sächsischen Provinziallandtag lediglich als Stellvertreter fungierte. Nichts ließ Bismarck unversucht, um zu erreichen, daß einer der ritterschaftlichen sächsischen Abgeordneten auf die Mitgliedschaft verzichtete und so der Stellvertreter zum Zuge kommen würde. Aber diese Bemühungen führten nicht zum Erfolg. Am 11. April eröffnete der König den Vereinigten Landtag ohne einen Abgeordneten Bismarck. Erst als eine schwere Erkrankung den Abgeordneten von Brauchitsch zur Niederlegung seines Mandats zwang, trat Bismarck an dessen Stelle Anfang Mai – als jüngstes Mitglied – in den Landtag ein. Daß ihm schließlich doch noch das Mandat zufiel, war also ein Zufall, und man darf deshalb einen Augenblick lang spekulieren, wie sich Bismarcks weiterer Lebensweg wohl gestaltet hätte, wenn ihm der Vereinigte Landtag nicht als Sprungbrett zu einer steilen politischen Karriere gedient hätte. Wäre er dann – trotz seines Ehrgeizes und Gestaltungswillens – ein Landedelmann geblieben? Zufall hin, Zufall her – Bismarck hat etwas daraus gemacht. Als der Landtag im Juni geschlossen wurde, war der bis dahin nicht über sein lokales Umfeld hinausgetretene altmärkische Junker ein in ganz Preußen bekannter Mann, mit dem scharfkantigen Profil eines bedingungslosen Vorkämpfers der Krone, der Prototyp eines ultrakonservativen Heißsporns.