Cover

Johannes Grave

BILD UND ZEIT

Eine Theorie
des Bildbetrachtens

C.H.Beck

ZUM BUCH

Bei der Betrachtung von Bildern wird dem Faktor Zeit meist keine besondere Bedeutung beigemessen. Anders als bei einem Text scheint beim Bild alles auf den ersten Blick gegenwärtig zu sein. Tatsächlich aber sind in Bildern verschiedene Zeitebenen miteinander verschränkt – so z.B. die Zeitspanne, die man vor dem Werk verbringt, die im Bild dargestellte Zeitlichkeit oder die Alterung des Bildträgers. Die Wahrnehmung von Bildern lässt sich daher nicht als simultane Schau eines gegebenen Ganzen verstehen, sondern vollzieht sich in einer eigenen Zeit. Dabei kann das Sehen vorgezeichneten Spuren folgen oder auch aus einer Fülle von Angeboten auswählen. Johannes Grave geht der Frage nach, wie Bilder die Zeit ihrer Betrachtung auf eine Weise beeinflussen, die sich vom Blick auf andere Dinge und von der Lektüre eines Textes unterscheidet. Das Buch ist ein Plädoyer dafür, sich beim Blick auf Bilder Zeit zu nehmen und sich ganz in ihren Bann ziehen zu lassen.

«Johannes Grave entwickelt eine so glitzernde wie fundamentale neue Bildtheorie mit sehr praktischen Folgen: Nach der Lektüre hat man das Gefühl, daß man keine Bilder mehr anschauen kann, ohne daß einem die Bilder selbst in die tiefste Seele blicken. Das Buch ist auch ein Appell für ein Tempolimit beim Betrachten – weil sich nur so all die Widersprüche entfalten können, die die langsam fließende Zeit in den Bildern versteckt hat.» Florian Illies

ÜBER DEN AUTOR

Johannes Grave ist Professor für Neuere Kunstgeschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. 2020 wurde er für seine Forschungen zur Renaissance und zur Kunst um 1800 mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis ausgezeichnet.

INHALT

ZU DIESEM BUCH

ANNÄHERUNGEN

I. Der Akt des Bildbetrachtens.
Ausgangsüberlegungen

Die vielfältige Verstrickung des Bildes in Zeit

Die rezeptionsästhetische Temporalität als blinder Fleck der Forschung

«Folgeweisung», «Erlebniszeit» und Blickbewegung: Ansätze der Forschung

Rezeptionsästhetische Ansätze und ihre Potenziale

II. Augenblick, Blickwanderung und Widerstreit:
Kunsthistorische Streifzüge

Augenblick versus Zerstreuung

Blickwanderungen und Kontemplation

Widerstreite zwischen Erscheinen und Verbergen

GRUNDLAGEN

III. Ebenen der rezeptionsästhetischen Temporalität.
Eine idealtypische Differenzierung

1. Bildlich Dargestelltes

2. Formale Bildelemente

3. Farben und Farbrelationen

4. Emergenz der Bildelemente

5. Dualität des Bildes

Potenziale und Realisierungen

IV. Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität

Linienzug und Rhythmus

Differenzielle Strukturen

Emergenzen von Form

Form, Struktur und Zeit

V. Zwiespalt und Zeit. Die Dualität des Bildes und ihre rezeptionsästhetischen Implikationen

Die Zwiespältigkeit des Bildes

Zwiespalt ohne Spannung?
Die Bildbetrachtung als seeing-in

Oszillationen der Aufmerksamkeit

VI. Werk und Wirkung – Bild und agency. Zur Aktualität der phänomenologischen Unterscheidung zwischen Kunstwerk und ‹ästhetischem Objekt›

Der Werkbegriff der Kunstgeschichte

Von der Wirkmacht des Werks zur agency des Bildes

Eine phänomenologische Grundunterscheidung:
Kunstwerk und ‹ästhetisches Objekt›

Zur Aktualität der Differenz zwischen Kunstwerk und ‹ästhetischem Objekt›

VII. Bilder in Kontexten und Situationen: Zur Bedeutung von Verkettungen und Zurichtungen

Pictorial oder Iconic Turn?

Verkettungen

Zurichtungen

Umrisse einer Theorie der Bilder und der Bildpraktiken

PERSPEKTIVEN

VIII. Können Bilder Rhythmen aufweisen? Rechtfertigungen einer problematischen Redeweise

Auftakt:
Die problematische Rede von Bildrhythmen

Bestimmungsversuche:
Bewegung, Ordnung, Antizipation

Rezeptionsästhetischer Erklärungsversuch:
Bildrhythmen und die Zeit der Betrachtung

Einspruch:
Die Sprunghaftigkeit des Auges

Phänomenologische Erwiderung:
Rhythmische Formentstehung

IX. Bild, Zeit und Geschichte.
Eine Skizze

Verflechtungen zwischen Geschichtstheorien
und Bildkonzepten

1. Frank Ankersmit

2. Walter Benjamin

3. Georges Didi-Huberman

Vorläufige Schlussfolgerungen

Die Zeitlichkeit von Bildern und ihre Implikationen für die historische Erfahrung

Präsenz in Abwesenheit

X. Bildpolitik.
Annäherungen an einen schwierigen Begriff

Politische Ikonographie:
Politisches im Bild

Aufteilung des Sinnlichen und
Politik der Bilder

Bilder als politische Denkräume?

Ausblick:
Das gesellschaftliche Imaginäre

XI. Denkräume der Besonnenheit: Geschichte und Politik in einem Werk Caspar David Friedrichs

Zum historischen und politischen Hintergrund von Friedrichs Bild

Vergangenheit und Geschichte

Die Zeit des Bildbetrachtens und der «Denkraum der Besonnenheit»

EPILOG

Anmerkungen

Zu diesem Buch

I. Der Akt des Bildbetrachtens.
Ausgangsüberlegungen

Überarbeitete Fassung von: Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper und Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 1), Hannover 2014, S. 51–66 (mit freundlicher Genehmigung des Wehrhahn Verlags).

II. Augenblick, Blickwanderung und Widerstreit: Kunsthistorische Streifzüge

Der letzte Abschnitt (Widerstreite zwischen Erscheinen und Verbergen) erschien erstmals in: Der Akt des Bildbetrachtens. Überlegungen zur rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes, in: Michael Gamper und Helmut Hühn (Hg.), Zeit der Darstellung. Ästhetische Eigenzeiten in Kunst, Literatur und Wissenschaft (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 1), Hannover 2014, S. 66–71 (mit freundlicher Genehmigung des Wehrhahn Verlags).

III. Ebenen der rezeptionsästhetischen Temporalität. Eine idealtypische Differenzierung

Deutlich überarbeitete Fassung des von mir verfassten Abschnitts II in: Boris Roman Gibhardt, Johannes Grave, Frida-Marie Grigull und Reinhard Wegner, Bild – Blick – Zeit. Die rezeptionsästhetische Temporalität des Bildes, in: Michael Bies und Michael Gamper (Hg.), Ästhetische Eigenzeiten. Bilanz der ersten Projektphase (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 14), Hannover 2019, S. 57–87, hier S. 60–64 (mit freundlicher Genehmigung des Wehrhahn Verlags).

IV. Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität

Überarbeitete Fassung von: Form, Struktur und Zeit. Bildliche Formkonstellationen und ihre rezeptionsästhetische Temporalität, in: Michael Gamper, Eva Geulen, Johannes Grave u.a. (Hg.), Zeit der Form – Formen der Zeit (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 2), Hannover 2016, S. 139–162 (mit freundlicher Genehmigung des Wehrhahn Verlags).

V. Zwiespalt und Zeit. Die Dualität des Bildes und ihre rezeptionsästhetischen Implikationen

Unveröffentlichter Vortrag, Jena 2016, Tagung «Augenreiz, Blickspur, Bilddauer. Erfahrungen von Zeit im Bild». – Einige Formulierungen wurden übernommen aus einer kurzen Skizze des Gedankengangs: In Zeit verstrickt. Warum wir Bilder nicht in einem Augenblick erfassen, in: Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Studienjahr 2014/2015, Greifswald 2016, S. 38–45.

VI. Werk und Wirkung – Bild und agency. Zur Aktualität der phänomenologischen Unterscheidung zwischen Kunstwerk und ‹ästhetischem Objekt›

Überarbeitete Fassung von: Werk und Wirkung – Bild und agency. Zur Aktualität der phänomenologischen Unterscheidung zwischen Kunstwerk und ästhetischem Objekt, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 65 (2020), H. 1, S. 87–102 (mit freundlicher Genehmigung des Felix Meiner Verlags).

VII. Bilder in Kontexten und Situationen: Zur Bedeutung von Verkettungen und Zurichtungen

Überarbeitete Fassung der von mir verfassten Abschnitte I–III zur Einleitung, in: Johannes Grave, Britta Hochkirchen und Joris C. Heyder (Hg.), Vor dem Blick. Zurichtungen des Bildersehens, Bielefeld 2022.

VIII. Können Bilder Rhythmen aufweisen? Rechtfertigungen einer problematischen Redeweise

Überarbeitete Fassung von: Können Bilder Rhythmen aufweisen? Rezeptionsästhetische und phänomenologische Rechtfertigungen einer problematischen Redeweise, in: Boris Roman Gibhardt (Hg.), Denkfigur Rhythmus. Probleme und Potenziale des Rhythmusbegriffs in den Künsten (Ästhetische Eigenzeiten, Bd. 18), Hannover 2020, S. 49–71 (mit freundlicher Genehmigung des Wehrhahn Verlags).

IX. Bild, Zeit und Geschichte. Eine Skizze

Überarbeitete Fassung von: Pictorial Temporality and the Times of History. On Seeing Images and Experiencing Time, in: Marek Tamm und Laurent Olivier (Hg.), Rethinking Historical Time. New Approaches to Presentism, London 2019, S. 117–129 (mit freundlicher Genehmigung von Bloomsbury Academic, an imprint of Bloomsbury Publishing Plc).

X. Bildpolitik. Annäherungen an einen schwierigen Begriff

Überarbeitete Fassung von: The Politics of Pictures: Approaching a Difficult Concept, in: Social Epistemology 33/5 (2019), S. 442–451 (mit freundlicher Genehmigung des Verlags Taylor & Francis).

XI. Denkräume der Besonnenheit: Geschichte und Politik in einem Werk Caspar David Friedrichs

Epilog

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

ZU DIESEM BUCH

«Nicht alles ist zu allen Zeiten möglich»,[1] hielt Heinrich Wölfflin 1915 in seinen Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen fest, um die Einsicht zuzuspitzen, dass die künstlerischen Darstellungsformen und vor allem das Sehen einer geschichtlichen Veränderung unterliegen. Mit guten Gründen erwartet man von der kunsthistorischen Forschung eine besondere Sensibilität für die historische Bedingtheit von Kunstwerken und Phänomenen der visuellen Kultur. Bereits im Namen der Disziplin scheint sich ein Bekenntnis zur Geschichtlichkeit von Kunst zu äußern. Dabei ist neben der Wandelbarkeit von Darstellungs- und Wahrnehmungsstilen auch an die Historizität des Bildverständnisses und nicht zuletzt des Kunstbegriffs zu denken. Insofern muss sich die Kunstgeschichte selbst als ein historisches Phänomen begreifen: Der Kern ihrer Praxis – die Erforschung von menschlichen Artefakten als Kunstwerken mit eigener Geschichte – ruht auf Voraussetzungen, die ihrerseits historisch bedingt sind.

Es ist daher eher irritierend und erklärungsbedürftig, wenn eine Kunsthistorikerin oder ein Kunsthistoriker an Zeugnissen weit auseinanderliegender Epochen sehr ähnliche Beobachtungen macht. Wenn Objekte, die unter gänzlich unterschiedlichen Bedingungen entstanden sind, überraschende Verwandtschaften aufweisen sollen, liegt der Verdacht nahe, dass sich der vermeintliche Befund lediglich einer anachronistischen Rückprojektion oder gar einer persönlichen Idiosynkrasie verdankt. Ein solcher Verdacht stand am Anfang dieses Buches, das auf eine beunruhigende Selbstbeobachtung zu antworten versucht: Im Zuge meiner eigenen kunsthistorischen Arbeiten war mir nach und nach aufgefallen, dass ich in meinen Analysen unterschiedlicher Bilder zu durchaus vergleichbaren Ergebnissen kam. Sowohl bei Studien zur italienischen Malerei der Frührenaissance als auch in meinen Arbeiten über die Kunst um 1800 stieß ich immer wieder darauf, dass ich in Bildern interne Spannungen oder Widersprüche zu beobachten meinte, die darauf drängen, in einem zeitlichen Prozess der Betrachtung ausgetragen zu werden. Natürlich erweisen sich die Umstände, die mutmaßlichen Zwecksetzungen und die konkreten Umsetzungen dieser bildinternen Widerstreite als sehr unterschiedlich. Und dennoch scheint diesen Fällen gemeinsam zu sein, dass sie mit Wahrnehmungsangeboten konfrontieren, die den Betrachter dazu anregen, im Verlauf einer längeren Bildrezeption sehr verschiedene Eindrücke zu gewinnen.

1. Bartolomeo Montagna, Noli me tangere, um 1490–1500, Öl auf Holz, 160 × 172 cm, Berlin, Staatliche Museen, Gemäldegalerie

An zwei recht beliebig herausgegriffenen Beispielen lässt sich dieser Befund kurz veranschaulichen: Ein Altargemälde Bartolomeo Montagnas (Abb. 1) spielt regelrecht mit verschiedenen Wahrnehmungen und Suggestionen, die sich nicht miteinander vereinbaren lassen.[2] Zunächst stellt sich der Eindruck ein, dass unser Blick durch eine arkadenartige Architektur in eine Landschaft geführt wird, in deren Zentrum die Begegnung des auferstandenen Christus mit Maria Magdalena erscheint. Doch wird diese Sichtweise plötzlich fraglich, wenn das Auge auf die äußerst flachen Pilaster trifft, die mit auffällig weit vorkragenden Konsolen die schweren Bögen tragen sollen. Denn die Logik der Architektur macht es hier zweifellos erforderlich, dass sich unmittelbar hinter den Pilastern, die im Deutschen ja nicht ohne Grund als Wandpfeiler bezeichnet werden, eine Mauer befindet. Damit aber erweist sich die zentrale Szene mit dem Auferstandenen als ein Bild im Bild, d.h. als äußerst kunstvolle illusionistische Malerei, die eine Wand verdeckt, auf der wiederum die Pilaster aufliegen. Doch selbst wenn der Betrachter diese Schlussfolgerung aus der architektonischen Logik gezogen hat, lässt sich der Eindruck, die mittleren Bildfiguren seien gleichermaßen ‹real› und ‹lebendig› wie die beiden Heiligen in der schmalen vorderen Raumzone, nicht gänzlich verdrängen. Denn zum Beispiel der Kardinalshut des Heiligen Hieronymus und der ihn begleitende Löwe finden in der Landschaft ihren Platz. Montagna legte es offenkundig darauf an, zwei miteinander widerstreitende Eindrücke anzuregen, denen nur nacheinander oder im Wechsel, mithin in einem zeitlichen Prozess, Rechnung getragen werden kann. Bei einer eingehenderen Beschäftigung mit der religiösen Funktion des Gemäldes und mit der spezifischen Problematik der dargestellten Szene lassen sich für diese ungewöhnliche Lösung gute Gründe anführen. Denn der einzigartige Status des auferstandenen Christus, der den religiösen Kern des dargestellten Themas ausmacht, lässt sich nicht einfach vergegenwärtigen; er kann nur vermittelt werden, wenn sich der Betrachter der Erfahrung des im Bild angelegten Widerspruchs aussetzt.

Mit der hier skizzierten Strategie stand Bartolomeo Montagna in der frühen Renaissance keineswegs allein. Das vielfach beobachtbare Spiel mit Widersprüchen und Paradoxien könnte man daher als eine frühe Reaktion auf die gerade erst erschlossenen neuen Möglichkeiten der Linearperspektive verstehen. Die Perspektive erlaubte es, das im Bild Dargestellte dem gewohnten Erscheinungsbild von Menschen oder Gegenständen in der Wirklichkeit anzunähern. Durch gezielte logische Brüche oder andere bildinterne Widerstreite konnte aber auch unter diesen neuen Voraussetzungen weiterhin die Differenz zwischen Bild und Realität geltend gemacht werden.

2.  Philipp Otto Runge, Die Lehrstunde der Nachtigall (zweite Fassung), 1804/05, Öl auf Leinwand, 104,7 × 85,5 cm, Hamburger Kunsthalle

Allerdings lassen sich vergleichbare Widerspruchserfahrungen, die nur im zeitlichen Vollzug der Betrachtung ausgetragen werden können, auch an Bildern aus ganz anderen Zeiten machen, die sich völlig anderen Themen zuwenden. Philipp Otto Runges Gemälde Die Lehrstunde der Nachtigall (Abb. 2) hat offenkundig weder von der Zweckbestimmung noch vom Themenkreis her – Runges Bild nimmt auf eine gleichnamige Ode von Friedrich Gottlieb Klopstock Bezug – Gemeinsamkeiten mit dem Altarbild Bartolomeo Montagnas.[3] Dennoch meine ich auch in diesem Fall bildinterne Spannungen auszumachen, die dem Betrachter den zeitlichen Prozess der Bildrezeption bewusst machen können. In dem ovalen Binnenbild stellt Runge die Nachtigallenmutter und ihr Kind dar, um jene Lehrstunde im Singen bzw. Flöten vor Augen zu führen, von der Klopstocks Ode handelt. Doch zeichnen sich bereits auf einer rein inhaltlichen Ebene Widersprüche ab, wenn man in den auf der schmalen Rahmenleiste des Binnenbildes geschriebenen Versen Klopstocks von einer Aufforderung zum Flöten erfährt, während im Bild selbst die Hand der Mutter das Kind am Musizieren hindert. Mindestens ebenso wichtig sind Spannungen anderer Art. Das Binnenbild lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Dargestellte: Mutter und Kind sind plastisch herausgearbeitet, ihre Umgebung weist Räumlichkeit auf. Der Blick wird mithin in einen Bildraum geführt, damit er sich dort auf die beiden zentralen Figuren konzentrieren kann. Eine völlig andere Blickregie und Erfahrung impliziert jedoch der Rahmen. Vor allem die vergleichsweise kleine Schrift auf der inneren Rahmenleiste hat hier erhebliche Folgen für die Bildbetrachtung. Sie veranlasst den Betrachter, von einer mittleren Sehdistanz in eine Nahsicht zu wechseln, verlangt ihm für die Lektüre der Verse halsbrecherische Kopfbewegungen ab und stößt ihn durch die ungewöhnliche Nähe des Auges zum Gemälde nicht zuletzt auf die Bildfläche mit ihrer eigenen Materialität. Statt eines Bildraumes mit plastischen Figuren drängt sich nun der Bildträger, die bemalte Leinwand, in den Fokus. Tritt der Betrachter anschließend wieder zurück, so konzentriert sich der Blick erneut auf das im Bild Dargestellte. Runge spielt also wie Bartolomeo Montagna damit, dem Betrachter im Verlauf des Rezeptionsprozesses sehr unterschiedliche, ja miteinander konkurrierende Erfahrungen zu eröffnen. Auch in diesem Fall lassen sich spezifische Gründe dafür anführen, warum dem Maler an einem solchen Vorgehen gelegen sein konnte. Die widersprüchlichen Eindrücke, die ein aufmerksamer Betrachter sammelt, stoßen ihn darauf, dass sich auch sein eigenes Tun, das Sehen, in einem zeitlichen Prozess vollzieht, so dass sich die Malerei, die vermeintlich auf einen Augenblick beschränkt ist, als eine der Dichtung ebenbürtige Zeitkunst erweist. Auf diese Weise kann Runges Gemälde mehr für sich in Anspruch nehmen, als nur eine schlichte Illustration von Klopstocks Ode zu sein. Es erweist sich als eine Dichtung mit den Mitteln der Malerei.

So sehr sich die kurz vorgestellten Beispiele ihrerseits auch historisch kontextualisieren lassen, bleibt dennoch das Unbehagen, dass ihre mutmaßlichen Gemeinsamkeiten über die Epochengrenzen hinweg dem Verdacht einer anachronistischen Rückprojektion ausgesetzt sein könnten. Liegt die beschriebene Verwandtschaft tatsächlich der Sache nach vor oder verdankt sie sich nur einer déformation professionnelle des Kunsthistorikers, der nicht umhinkommt, die Bilder verschiedener Epochen von dem Standpunkt seiner eigenen Zeit aus zu betrachten? Dieses Misstrauen ließe sich verringern, wenn aufgezeigt werden könnte, dass es sich bei den Gemeinsamkeiten um Potenziale handelt, die vielen oder gar allen Bildern eigen sind, deren konkrete Nutzung und Entfaltung zu verschiedenen Zeiten aber sehr unterschiedlich ausfallen konnte. Es ist diese Hypothese, der das vorliegende Buch nachgeht; und dieses Ansinnen wiederum macht es erforderlich, über die Grenzen des Faches Kunstgeschichte hinauszugehen, um das Gespräch mit anderen Disziplinen, namentlich der Philosophie und der Psychologie, zu suchen.

Im Zentrum dieses Buches steht daher die Frage, ob und auf welche Weise Bilder auf die Zeitlichkeit ihrer Betrachtung Einfluss nehmen. Wenn unser Sehen – wie jede andere menschliche Tätigkeit auch – ein zeitlicher Prozess ist,[4] dann liegt die Vermutung nahe, dass es für die Dauer und innere Strukturierung dieser Zeit der Betrachtung einen Unterschied macht, ob wir einen Alltagsgegenstand, eine Naturaussicht oder aber ein Bild vor Augen haben. Diese Frage stellt sich für Bilder in besonderer Weise, weil wir uns nicht selten eigens Zeit für ihre Betrachtung nehmen. Die Zeit, die wir dabei investieren, scheint auf den ersten Blick nur Mittel zum Zweck zu sein, um zu einer Beobachtung oder Einsicht zu gelangen. Die folgenden Überlegungen sollen jedoch der Hypothese nachgehen, dass der Zeit des Bildbetrachtens ein eigener Wert zukommen könnte – mit anderen Worten: dass wir die Art und Weise, wie wir mit Bildern umgehen, erst verstehen, wenn wir uns die Bedeutung der Zeitlichkeit der Bildbetrachtung bewusst machen.

Wenn ich mich im Folgenden auf diese Leitidee konzentriere, werden andere Aspekte unweigerlich in den Hintergrund rücken. Über weite Strecken werde ich nicht gezielt darauf achtgeben, wie die jeweilige Betrachterin oder der jeweilige Betrachter individuell verkörpert wird. Meine Überlegungen sehen davon ab, Fragen von Gender, Herkunft, Klasse, Alter etc. näher zu behandeln; die Verwendung des generischen Maskulinums markiert so gesehen auch einen blinden Fleck des folgenden Gedankengangs. Ebenso wird nicht eigens darauf eingegangen, dass auch unser Sehen verkörperlicht ist, dass es mithin nicht ohne den Körper, dessen oft unscheinbare Bewegungen und sensomotorisches Wissen zu denken ist.[5] Diese Blickverengung erfolgt nicht, weil ich der Meinung wäre, dass die genannten Faktoren nicht von grundlegender Bedeutung sind. Sie begründet sich daraus, dass mit dem folgenden Gedankengang erkundet werden soll, welchen Beitrag Studien zum Bildbetrachten erbringen können, die sich bewusst auf den Pol des Bildes konzentrieren. Für den Versuch, den spezifischen Anteil des Bildes in der Interaktion mit Betrachterinnen und Betrachtern zu ermessen, erscheint es mir vertretbar, die Instanz des Rezipienten in einem ersten Schritt ohne jede Spezifizierung zu belassen, wenngleich unbestreitbar ist, dass jede Bildbetrachterin und jeder Bildbetrachter immer schon in vielerlei Hinsicht bestimmt und situiert ist. Ich vertraue dabei darauf, dass der Erkenntnisgewinn, der sich aus dem Scharfstellen der Wahrnehmung für einen Aspekt ergibt, dafür zu entschädigen vermag, dass wichtige andere Phänomene kaum in den Blick kommen.

Die Frage, wie Zeit zu begreifen, zu konzeptualisieren und vorzustellen ist, wird ebenfalls nicht ausführlich diskutiert werden können. Die Philosophie des 20. Jahrhunderts – zu denken ist etwa an Henri Bergson – sowie die Überwindung eurozentrischer Scheuklappen haben die Aufmerksamkeit für die Vielfalt der Zeitvorstellungen, Zeitbegriffe und Zeittheorien geschärft, die sich teilweise weit von der sog. Uhrenzeit oder vom Konzept einer gerichteten, linearen Zeit entfernen. Der Reichtum solcher Zeitvorstellungen ist jüngst durch das umfassende Kompendium Formen der Zeit zur Geltung gebracht worden.[6] Für das mit dem vorliegenden Buch verfolgte Vorhaben scheint es mir jedoch sinnvoller, sich nicht voreilig auf die Seite einer Konzeption von Zeit zu schlagen, sondern den Begriff – soweit möglich – unbestimmt zu lassen. Zwar fließen unvermeidlich kulturell bedingte, namentlich europäisch geprägte Vorannahmen in meine Argumentation ein. Doch sollte der Kern des Gedankengangs auch Bestand haben, wenn man ihn vor dem Hintergrund anderer Zeitvorstellungen nachvollzieht.

Während im Folgenden mithin in bewusst unbestimmter Weise auf Betrachter und Zeit Bezug genommen wird, versuchen meine Überlegungen umso mehr jene Charakteristika und Eigenschaften von Bildern zu ergründen, die für die Zeit des Bildbetrachtens relevant sein könnten. Darauf liegt das Hauptaugenmerk des Buches. Es soll vor allem den Blick dafür schärfen, wie Bilder bereits vor einer Darstellung zeitlicher Ereignisse oder Prozesse die Temporalität ihrer Rezeption mitprägen.

Der Umgang mit Bildern und mit Kunstwerken verdient eine weitere Vorbemerkung: Die wichtigsten Leitgedanken meiner Ausführungen zielen darauf, unser Verständnis von Bildern im Allgemeinen zu vertiefen. Der Gang der Argumentation steuert im ersten Teil des Buches bewusst darauf zu, mit den Kapiteln IV und V Eigenschaften in den Blick zu nehmen, die auch für viele Bilder jenseits der Kunst oder gar für alle statischen und materiell gebundenen Bilder relevant sind. Wo ich auf Beispiele zu sprechen komme, handelt es sich zwar im Regelfall um Bilder, die zugleich Kunstwerke sind; allerdings liegt deren Status als Kunstwerk nicht im Zentrum meines Erkenntnisinteresses. Dass ein Nachdenken über die Zeitlichkeit der Bildbetrachtung mit einigem Gewinn bei Bildern der Kunst ansetzen kann, dürfte jedoch kein Zufall sein. Denn es ist gut vorstellbar, dass ähnliche Überlegungen, wie sie im Folgenden entfaltet werden, auch frühere Bildbetrachter umgetrieben haben, die in hohem Maße Anlass hatten, über Bilder, ihre Eigenschaften und ihre Potenziale nachzudenken.[7] Das gilt insbesondere für bildende Künstlerinnen und Künstler. Sie könnten bereits früher in ihrem eigenen Idiom, nämlich dem des Bildes, gedanklich exploriert haben, was hier mit dem weniger anschaulichen Instrumentarium der Sprache versucht werden soll.

*

Auch dieses Buch ist unvermeidlich mit der Zeit seiner Entstehung verbunden. Die meisten Kapitel sind über einen Zeitraum von knapp zehn Jahren zunächst als Vorträge und Aufsätze entstanden. Schon früh wurden sie aber auf das Ziel eines zusammenhängenden Buches hin ausgerichtet. Meine Beschäftigung mit der Zeit des Bildbetrachtens hat dabei erheblich von den verschiedenen Kontexten profitiert, in denen ich daran arbeiten durfte. Erste Anregungen verdanken sich meiner Zeit am Basler Forschungsschwerpunkt «Bildkritik» (eikones) und am Deutschen Forum für Kunstgeschichte, Paris. Von 2013 bis 2020 bot zudem das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Schwerpunktprogramm «Ästhetische Eigenzeiten» (SPP 1688) einen denkbar produktiven Rahmen, um den Fragen nachzugehen, auf die ich zuvor gestoßen war. Wesentliche Fortschritte hat das Projekt 2014/15 während meiner Zeit am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald gemacht. Weitere wichtige Impulse habe ich als Fellow der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz an der Freien Universität Berlin erhalten, wo ich 2017 zu Gast war.

Dem Verlag C.H.Beck danke ich dafür, dass er sich auf dieses Buch einlässt. Alexandra Schumacher sei für Vorschläge und Nachfragen ebenso gedankt wie Beate Sander für die Bildrecherche. Für Anregungen und kritische Hinweise habe ich zudem zahlreichen Kolleginnen und Kollegen zu danken, von denen ich hier nur einige stellvertretend nennen kann: Amrei Bahr, Andreas Beyer, Gottfried Boehm, Georges Didi-Huberman, Michael Gamper, Peter Geimer, Eva Geulen, Boris Roman Gibhardt, Frida-Marie Grigull, Joris Corin Heyder, Britta Hochkirchen, Helmut Hühn, Etienne Jollet, Klaus Krüger, Helga Lutz, Christin Neubauer, Eberhard Ortland, Dirk Oschmann, Ulrich Pfisterer, Max Pommer, Bettina Rolke, Raphael Rosenberg, Reinold Schmücker, Ludger Schwarte, Ralf Simon, Klaus Speidel, Reinhard Wegner, David Wellbery und Lambert Wiesing. Arno Schubbach hat dankenswerterweise das Manuskript einer kritischen Lektüre unterzogen, und Michael F. Zimmermann hat auf Teile des Textes mit zahlreichen neuen Denkanstößen geantwortet, die mir gezeigt haben, wie viele Fragen auch weiterhin offen sind.

ANNÄHERUNGEN

I. Der Akt des Bildbetrachtens.
Ausgangsüberlegungen

Die verstreute Forschung zur Zeitlichkeit von Bildern steht noch immer auf irritierende Weise im Bann von Gotthold Ephraim Lessings Laokoon. Obwohl die scharfe Differenzierung in Raum- und Zeitkünste, die Lessing dem Discourse on Music, Painting and Poetry von James Harris entlehnt hatte, schon seit langem kritisiert und zurückgewiesen wird,[1] verzichtet kaum ein Beitrag zur Debatte darauf, einschlägige Passagen aus dem Laokoon zu zitieren. Nicht wenige Studien zum Verhältnis von Bild und Zeit sind von dem Anliegen bestimmt, gegen Lessings wirkmächtige These zu zeigen, dass auch Bilder über genuin zeitliche Qualitäten verfügen. Doch hat bereits Lessing selbst in eher beiläufigen Bemerkungen seiner Schrift eine Sensibilität dafür erkennen lassen, dass Bildern eine spezifische Zeitlichkeit eignet. Ausgerechnet in jener Passage, mit der er den Begriff des ‹fruchtbaren Augenblicks› einführt, bemerkt er, dass Werke der bildenden Kunst es erfordern, «nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholter maßen betrachtet zu werden».[2] Nicht zuletzt die performative Akzentuierung des Gedankens, die Lessing mit der Wiederholung des Wortes «betrachtet» vorgenommen hat, lässt ahnen, welche Bedeutung er dieser keineswegs trivialen Bestimmung einer Zeiterfahrung vor Bildern beimaß. Mochte die Relation der Bildzeichen aus seiner Sicht allein Gesetzen der räumlichen Anordnung folgen, so war ihre Wahrnehmung nicht ohne einen zeitlich erstreckten und zugleich durch Wiederholungen strukturierten Prozess der Betrachtung zu denken. Was sich in Lessings vermeintlich marginalem Nebensatz andeutet, weist auf eine Theorie der rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes voraus, die bis heute nicht ausgearbeitet worden ist. Mit einer eingehenden Untersuchung der Zeitlichkeit des Betrachtens von Bildern wird aber nicht nur ein bisher vernachlässigter Bereich der Bildforschung ausgeleuchtet. Vielmehr verbindet sich mit diesem Vorhaben das Anliegen, eine neue Perspektive auf die alte Frage nach der sogenannten Macht des Bildes zu gewinnen. Es ist, so eine These dieses Buches, in erheblichem Maße die rezeptionsästhetische Temporalität, aus der Bilder ihre ganz eigene Wirkmacht beziehen.

Die vielfältige Verstrickung des Bildes in Zeit

Dass Bilder auf besondere Weise in Zeitlichkeit verstrickt sind,[3] ist immer wieder bemerkt worden: Sie verdanken ihre Entstehung einem Moment oder einem Prozess, der sie mit einer bestimmten Zeit verbindet. Zugleich aber weisen zahlreiche Bilder über diese Entstehungszeit hinaus, da sie den Blick auf andere Zeiten zurück- oder vorauslenken, indem sie historische Ereignisse und Erzählungen aus der Vergangenheit vor Augen führen oder aber Ausblicke in eine Zukunft bieten (die freilich vom Standpunkt eines späteren Betrachters schon wieder der Vergangenheit angehören kann). Neben der Prägung durch ihre Entstehungszeit sind Bilder auch Zeitspannen unwillkürlicher Alterung oder Momenten gezielter Umgestaltungen unterworfen. In solchen Vorgängen zeichnen sich vielfältige Spuren der Zeit in das Bild als materiellen Gegenstand ein, die auch das, was das Bild zu sehen gibt, modifizieren können. Selbst aber wenn signifikante Veränderungen weitgehend ausbleiben, macht das Fortschreiten der Zeit etwas mit einem Bild; so können zum Beispiel seine Rahmung, seine räumliche Situierung oder auch der soziale und kulturelle Kontext, in dem es steht, Wandlungen unterworfen sein. Und nicht zuletzt kann das Bild Ausgangspunkt einer eigenen Geschichte seiner Rezeption werden, indem es etwa besondere Wertschätzung erfährt, als Vorbild für andere Bilder gilt oder zum umstrittenen Gegenstand von Debatten wird. Doch auch damit erschöpft sich noch nicht das Repertoire an Zeiten, in die Bilder verstrickt sein können. Insofern Bilder erst dadurch zur Geltung kommen, dass sie betrachtet werden, verbinden sich die gerade skizzierten Zeitschichten mit den Erfahrungen, Erinnerungen und Erwartungen ihrer Betrachter. Dazu gehören nicht zuletzt die persönlichen Geschichten, die individuelle Betrachter mit Bildern verbinden, die sie mehrfach oder in besonderen Situationen gesehen haben.

In einen ebenso produktiven wie schwer durchdringbaren Zusammenhang treten die genannten Zeitschichten von Bildern im Moment der Bildbetrachtung. Was sich gedanklich versuchsweise differenzieren lässt, verschränkt sich im Vollzug der Rezeption auf eine Weise, die im konkreten Fall keine trennscharfe Unterscheidung erlaubt. Bilder zeichnen sich daher durch einen konstitutiven Anachronismus aus.[4] Ihre ‹unreine›, vielfältige und nicht klar fixierbare Zeitlichkeit ist keineswegs angemessen erfasst, wenn sie datiert, in eine Chronologie eingeordnet und aus ihrem jeweiligen historischen Kontext heraus erklärt wird. Bilder können gewohnte Ordnungen der Zeit durchbrechen. Sie gleichen darin nicht so sehr einem bewussten, gezielten Rückgriff auf das Gedächtnis als vielmehr dem Auftauchen von Erinnerungen, das sich nicht gänzlich steuern lässt.

Welche engen Grenzen dem Vorhaben gesetzt sind, diese verschiedenen zeitlichen Aspekte von Bildern klar zu differenzieren und präzise zueinander ins Verhältnis zu setzen, lassen die vergleichsweise wenigen systematischen Annäherungen an das Problem erahnen. Selbst die geläufigste und weithin akzeptierte Unterscheidung in 1.) die geschichtliche Zeit des Bildes (in seiner Materialität und Dinglichkeit), 2.) die Zeit der Bildrezeption und 3.) die Zeit der bildlichen Darstellung, die von Heinrich Theissing vorgeschlagen worden ist,[5] birgt nicht wenige Probleme. Die der Darstellung inhärente Zeit hat Theissing als «Bildzeit» bezeichnet, «welche durch die ‹dargestellten Zeitsituationen› und mehr noch durch ihre zeitliche Darstellungsweise zur Anschauung kommt».[6] Doch bereits in diesem Zusatz deuten sich Unschärfen an, die offenkundig in der Sache liegen und sich auch durch das Bemühen um definitorische Präzision kaum beherrschen lassen. Denn Theissings «Bildzeit» umfasst sowohl zeitliche Eigenschaften des Dargestellten als auch temporale Qualitäten der Darstellungsmittel; neben der Ikonographie und der Bildnarration berührt sie daher auch formale und bildstrukturelle Fragen. Dass Theissing diese Aspekte nicht scharf trennt, erscheint zunächst sinnvoll, ist es ihm auf diese Weise doch möglich, eine verengte Sicht auf das Problem der Darstellung von zeitlichen Verläufen im Bild zu umgehen. Und dennoch wird angesichts dieser Entscheidung die gerade erst etablierte Dreiteilung der Temporalitäten des Bildes wieder fraglich, da insbesondere dessen formale und bildstrukturelle Eigenschaften unweigerlich den Prozess der Rezeption beeinflussen, ja in ihm eigentlich erst zur Geltung kommen können. Die Scheidung zwischen «Betrachtungszeit» und «Bildzeit» erweist sich daher als äußerst fragil. Dabei sind es nicht nur die Interdependenzen zwischen der Temporalität der Rezeption und jener Zeit, die der Darstellung selbst inhärent ist, die eine allzu strikte und stabile Differenzierung der verschiedenen Zeitebenen nicht erstrebenswert erscheinen lassen. Denn auch die Zeit der Bildproduktion und der anschließende materielle Alterungsprozess des Bildes können sich auf vielfältige Weise mit der von Theissing so genannten «Bildzeit» und mit der Zeiterfahrung des Rezipienten verflechten. Gegenstandsbezeichnende Konturlinien oder formale Strukturierungen des Bildes gehen nicht selten auf Linienzüge zurück, die auch als Spur der Bildproduktion betrachtet werden können und in ihrem dynamischen Verlauf etwas vom Moment der Bildentstehung erfahren lassen. Selbst kontingente Alterungsspuren wie das Krakelee im Ölgemälde ziehen bisweilen im Prozess der Rezeption Aufmerksamkeit auf sich und können sich gar den das eigentliche Bild konstituierenden Linien angleichen, so dass es für einen Augenblick schwerfällt, sie vom Dargestellten zu differenzieren. Wer dem Verhältnis von Bild und Zeit genauer nachgehen will, wird daher nicht umhinkommen, alle auf den ersten Blick unterscheidbaren zeitlichen Phänomene im Blick zu behalten und mit zahlreichen Übergängen und Grenzverwischungen zu rechnen.

Die rezeptionsästhetische Temporalität als blinder Fleck der Forschung

Die Bildwahrnehmung kann als der Vorgang gelten, in dem diese verschiedenen, nie endgültig abgrenzbaren Zeitebenen immer wieder neu zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Jede Bildbetrachtung geht mit zahlreichen Verschiebungen der Aufmerksamkeit einher und bietet Anlass zu entsprechend vielen unterschiedlichen Zeiterfahrungen. Der Betrachter eines frühneuzeitlichen Historienbildes wird sich zumeist auf den dargestellten Moment und die in ihm implizierte Handlung zu konzentrieren versuchen. Zuvor hat er seinen Gegenstand aber vielleicht bereits als Kunstwerk von hohem Alter wahrgenommen. Ebenso kann ein Linienzug, der zunächst die Kontur einer im Bild handelnden Figur markiert, bei genauerer Betrachtung als rasch hingeworfene Spur einer Künstlerhand Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Vielzahl von Faktoren, die über derartige Wechsel in der Fokussierung von Aspekten des Bildes entscheidet, scheint zunächst allzu groß und unkontrollierbar, um diese Vorgänge jenseits empirischer Studien zu untersuchen. Dazu wären neben dem Bild, dem in ihm Dargestellten, der formalen Gestaltung und der materiellen Erscheinung vielfältige situative Einflüsse und die individuelle Disposition der Betrachter zu berücksichtigen – mithin sehr viele Parameter, die sich selbst für modellhafte Situationen des Betrachtens kaum erschöpfend erfassen lassen.

Damit ist jedoch keineswegs ausgeschlossen, dass es möglich und sinnvoll ist, jenseits einer Analyse konkreter individueller Wahrnehmungsvollzüge über die Interaktion zwischen Bild und Betrachter nachzudenken und dabei vor allem den Anteil des Bildes genauer in den Blick zu nehmen. Es ist diese Fragestellung, die den Weg zu einer Untersuchung der rezeptionsästhetischen Temporalität des Bildes weist und damit eine strikte Trennung zwischen «Betrachtungszeit» und «Bildzeit» unterläuft. Denn die Rezeptionsästhetik nimmt Phänomene und Prozesse in den Blick, durch die das Bild und seine visuell erfassbaren Eigenschaften gleichsam mit dem subjektiven Wahrnehmungsprozess verschaltet werden. Sie richtet ihr Augenmerk in besonderer Weise auf jene Spezifika des Bildes, die Einfluss darauf nehmen, wie das Zusammenspiel von Bild und Betrachter ausgestaltet werden kann. Die Rezeptionsästhetik birgt daher auch das Potenzial, dem prozessualen Charakter der Bildbetrachtung konsequent Rechnung zu tragen. Im Zentrum einer rezeptionsästhetischen Analyse des Verhältnisses von Bild und Zeit steht die Frage, inwiefern und auf welche Weise die materiellen, formalen, sinnlich erfahrbaren, darstellenden und ausdeutbaren Eigenschaften des Bildes die Zeiterfahrung des Betrachters disponieren, beeinflussen, befördern oder einschränken. Folgt man dieser Fragestellung, so wird zwar nur ein Teilaspekt der sehr viel umfassenderen und ungleich komplexeren Zeit der Bildbetrachtung beschrieben; zugleich aber ist damit die Schnittstelle zwischen Betrachtungszeit und Bildzeit gewonnen.

Doch harrt diese rezeptionsästhetische Temporalität einer umfassenden Untersuchung.[7] Sowohl in den Forschungen zur Zeitlichkeit des Bildes als auch in der kunsthistorischen Rezeptionsästhetik lassen sich allenfalls Ansätze dazu ausmachen, die Interaktion zwischen Bild und Betrachter in ihrer zeitlichen Beschaffenheit präziser zu erfassen. Mit wenigen Ausnahmen, die es ausführlicher zu diskutieren gilt, haben Studien zur Zeitlichkeit des Bildes die Temporalität des Wahrnehmungsprozesses von der dem Bild inhärenten Zeit geschieden und als Untersuchungsfeld von empirischen Forschungen verstanden. Die Frage nach der «Betrachtungszeit», so stellte etwa Heinrich Theissing fest, berühre vor allem «Wahrnehmungspsychologie und Informationstheorie», weshalb jede ihr gewidmete Untersuchung «den Rahmen einer kunstwissenschaftlichen Arbeit»[8] überschreite.

Dass temporale Qualitäten auch seitens der kunsthistorischen Rezeptionsästhetik kaum behandelt wurden, kann zunächst erstaunen, da die literaturwissenschaftliche Rezeptionsästhetik, der sich wesentliche theoretische und methodische Anregungen für das kunsthistorische Pendant verdanken, durchaus eine Sensibilität für Zeitphänomene aufweist. Insbesondere dort, wo die Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers an die Narratologie anschließt, stößt sie zu anspruchsvollen und komplexen Analysen von Zeiterfahrungen bei der Lektüre vor. Beim Transfer der Rezeptionsästhetik in die Kunstgeschichte scheinen diese Aspekte jedoch – vielleicht sogar bewusst – in den Hintergrund gerückt worden zu sein. Während Wolfgang Kemp Leitbegriffe wie den «impliziten Leser» oder die «Leerstelle» mit Gewinn für Bildanalysen adaptierte,[9] blieb die Zeitdimension implizit und wurde nicht Gegenstand von rezeptionsästhetischen Analysen. Im Rückgriff auf Überlegungen Isers wird dieser Faden nochmals aufzunehmen sein.