Giovanni Boccaccio
VON BERÜHMTEN FRAUEN
Ausgewählt und neu übersetzt
von Martin Hallmannsecker
Mit einem Nachwort
von Kia Vahland
C.H.BECK textura
Bis zu seinem Tod 1375 überarbeitete Boccaccio immer wieder sein Werk «De mulieribus claris», eine Sammlung von über 100 Porträts berühmter Frauen. Charmant und mit geistreichem Witz stellt er starke Frauen wie Minerva, die Göttin der Weisheit, die Prophetin Carmenta, die Malerin Thamaris, die Rednerin Hortensia und Proba, die Dichterin, vor. Nicht immer sind sie tugendhaft, heilig erst recht nicht, aber ihnen allen ist gemeinsam, dass sie sich durch ihre Tapferkeit, ihre Geisteskräfte und ihre Beharrlichkeit in der Männerwelt durchgesetzt haben – und so sind diese eindrucksvollen Geschichten auch heute noch von großer Aktualität.
Für die vorliegende Ausgabe wurden die schönsten Texte ausgewählt und neu übersetzt sowie mit den Holzschnitten der ersten deutschen Ausgabe (1473) illustriert.
Giovanni Boccaccio, 1313 in oder bei Florenz geboren, gestorben am 21. Dezember 1375 in Certaldo bei Florenz, ist neben Francesco Petrarca und Dante Alighieri der bedeutendste Dichter und Humanist Italiens.
Martin Hallmannsecker ist Althistoriker und Übersetzer. Die Übersetzung wurde gefördert durch ein Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds.
Kia Vahland ist Kunsthistorikerin sowie Meinungsredakteurin und Kunstkritikerin bei der Süddeutschen Zeitung.
Prolog
Von Eva,
der ersten Mutter
Von Semiramis,
der Königin der Assyrer
Von Minerva
Von Medea,
der Königin der Kolcher
Von Medusa,
der Tochter des Phorkys
Von Nikostrata oder Carmenta,
der Tochter von König Ionios
Von Helena,
der Gattin von König Menelaos
Von Camilla,
der Königin der Volsker
Von Penelope,
der Gattin des Odysseus
Von Dido oder Elissa,
der Königin der Karthager
Von Nikaula,
der Königin der Äthiopier
Von Sappho,
einer jungen Frau aus Lesbos
und Dichterin
Von Lucretia,
der Gattin des Collatinus
Von Leaina,
einer Prostituierten
Von Thamaris,
der Tochter des Mikon
Von Olympias,
der Königin Makedoniens
Von der Prostituierten Flora,
Göttin der Blüten und Gattin des Zephyrus
Von Marcia,
der Tochter des Varro
Von Sulpicia,
der Gattin des Fulvius Flaccus
Von Drypetrua,
der Königin von Laodikeia
Von Sempronia,
der Tochter des Gracchus
Von Curia,
der Gattin des Quintus Lucretius
Von Hortensia,
der Tochter des Quintus Hortensius
Von Cornificia,
einer Dichterin
Von Kleopatra,
der Königin der Ägypter
Von Epicharis,
einer Freigelassenen
Von Proba,
der Gattin des Adelphus
Von Zenobia,
der Königin von Palmyra
Von der Päpstin Johanna,
einer Engländerin
Von Camiola,
einer Witwe aus Siena
Von Johanna,
der Königin von Jerusalem
und Sizilien
Schlusswort
Zur Text- und Bildauswahl
Erläuterungen
Vollständige Liste aller Porträts in «De mulieribus claris»
Nachwort
Fußnoten
Hier beginnt das Buch «Von berühmten Frauen» von Giovanni Boccaccio aus Certaldo, gewidmet Andrea Acciaiuoli*[1] aus Florenz, Gräfin von Altavilla. Wohlan!
Bereits in der Antike verfassten einige Autoren kompendienartige Bücher über bekannte Männer. Auch in unserer Zeit schreibt der ausgezeichnete Mann und hervorragende Dichter Francesco Petrarca, mein Lehrer, ein solches Werk, wenngleich von größerem Umfang und sorgfältigerer Machart als seine Vorgänger – und das tut er mit gutem Recht. Denn Menschen, die mit voller Hingabe ihr ganzes Vermögen und, wenn es die Umstände verlangen, Leib und Leben aufs Spiel setzen, um andere durch ihre ruhmreichen Taten zu übertreffen, haben es sicherlich verdient, dass ihr Name für immer im Gedächtnis der Nachwelt bewahrt wird. Allerdings wundere ich mich darüber, dass Frauen von Schriftstellern dieses Genres so wenig beachtet wurden, dass ihnen noch nie die Gunst einer Verewigung in einer gesonderten Darstellung zuteilwurde, obwohl doch aus größeren Geschichtswerken nachweislich bekannt ist, dass einige von ihnen ebenso entschlossen und tapfer handelten. Wenn aber Männer zu preisen sind, die mit der ihnen angeborenen Stärke große Taten vollbringen, um wie viel mehr sind dann Frauen zu preisen, die doch fast alle von der Natur mit Weichheit, einem schwachen Körper und einem trägen Charakter ausgestattet worden sind, wenn sie sich zu männlicher Willenskraft aufschwingen und mit rühmlichem Geist und beachtlicher Tugend Taten wagen und vollbringen, die einem Mann überaus schwerfallen? Und deshalb, damit sie nicht um ihr Verdienst gebracht werden, kam es mir in den Sinn, all jene Frauen, deren Gedächtnis bis heute fortlebt, zur Verherrlichung ihres Ruhms in einem einzigen Werk zu versammeln. Diesen will ich noch all jene hinzufügen, die berühmt wurden durch ihre Tapferkeit, ihre Geisteskräfte und ihre Beharrlichkeit, ihre natürlichen Gaben, die Gunst des Schicksals oder ein erlittenes Unrecht. Darüber hinaus möchte ich auch einige wenige andere aufnehmen, die, wenn sie auch selbst nichts Erinnerungswürdiges geleistet haben, dennoch den Anlass zu überaus großen Taten boten. Auch soll es dem Leser nicht unangemessen erscheinen, wenn er hier eine Penelope, eine Lucretia und eine Sulpicia, äußerst tugendhafte Damen, in Gesellschaft einer Medea, einer Flora und einer Sempronia oder ähnlicher Frauen sieht, die über einen großen, aber gefährlichen Geist verfügten. Denn ich will das Wort «Berühmtheit» nicht in einem so engen Sinne verstehen, dass es lediglich Tugendhaftigkeit umfassen soll. Lieber will ich es – mit der Erlaubnis meiner Leser – in einem weiteren Sinne begreifen und all jene als berühmt ansehen, von denen ich weiß, dass sie in der Welt aufgrund welcher Tat auch immer Bekanntheit erlangt haben und dass über sie gesprochen wird. Erinnere ich mich doch, auch neben berühmten Männern wie Leonidas, Scipio, Cato und Fabricius oft die überaus streitsüchtigen Gracchen, den durchtriebenen Hannibal, den Verräter Jugurtha, die mit Bürgerblut befleckten Sulla und Marius, den ebenso reichen wie geizigen Crassus und andere von diesem Schlag gesehen zu haben. Erinnerungswürdiges lobend emporzuheben und Schändliches bisweilen zu tadeln wird nicht nur die Ehrbaren zum Ruhm führen und die Feiglinge ein wenig von ihrem unglückseligen Weg abbringen, sondern meinem Büchlein auch das zurückgeben, was ihm durch die Niedertracht einiger Frauen an Anmut genommen zu werden scheint. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, in die Geschichten bisweilen einige sanfte Ermahnungen zur Tugendhaftigkeit einzubauen und ihnen Anspornungen, Verbrechen zu vermeiden und zu verabscheuen, hinzuzufügen. So wird sich unbemerkt, zusammen mit der Freude an den Geschichten, auch ein heiliger Nutzen für die Gemüter meiner Leser ergeben. Und damit es nicht so aussieht, als würde ich, wie so oft üblich, viele Dinge nur oberflächlich berühren, halte ich es nicht nur für nützlich, sondern für angemessen, all jenes in längeren Geschichten auszuarbeiten, was ich aus vertrauenswürdigen Quellen in Erfahrung gebracht habe. Meiner Einschätzung nach werden sich nämlich Frauen nicht weniger als Männer an den Taten dieser Frauen erfreuen, und da sie viele dieser Geschichten vermutlich noch nicht kennen, wird eine ausführlichere Darstellung für sie nützlich und unterhaltsam zugleich sein.
Und dennoch – um darüber nicht einfach hinwegzugehen – erschien es mir besser, all diese beinahe ausschließlich heidnischen Frauen, mit Ausnahme der ersten Mutter Eva, nicht mit heiligen Jüdinnen und Christinnen zu vermischen, da sie nicht gut genug zusammenpassen und sich in unterschiedlichen Geschwindigkeiten zu bewegen scheinen. Um ewigen und wahren Ruhm zu erlangen, zwangen sich freilich auch Letztere oftmals dazu, Leiden gegen die menschliche Natur zu erdulden, in Nachahmung sowohl der Gebote als auch des Vorbilds des hochheiligsten Lehrers. Heidinnen hingegen erreichten dies durch ihre natürlichen Gaben oder ihren Instinkt, oder vielmehr angespornt von der Begierde nach jenem flüchtigen Ruhmesglanz, aber dennoch nicht ohne die Standhaftigkeit eines energischen Geistes. Und manchmal ertrugen auch sie Schlimmstes durch die Schläge des drängenden Schicksals. Außerdem leben Christinnen nicht nur glorreich in verdienter Ewigkeit in den Strahlen des wahren und unauslöschlichen Lichtes, sondern ihre Jungfräulichkeit, ihre Keuschheit, ihre Heiligkeit, ihre Tugend und ihre unbesiegbare Standhaftigkeit, sowohl fleischliche Begierden als auch die ihnen von Tyrannen zugefügten Qualen zu überwinden, werden bekanntermaßen – ganz so, wie es ihren Verdiensten angemessen ist – in eigenen Werken von frommen Männern beschrieben, die sich als Kenner der heiligen Schriften mit ehrwürdiger Autorität ausgezeichnet haben. Wir aber machen uns nun – gewissermaßen als eine Art Wiedergutmachung – ans Werk, auch das Verdienst der anderen Frauen zu beschreiben, das – wie bereits gesagt – noch nie in einer eigenen Veröffentlichung dargelegt wurde. Gott selbst, der Vater aller Dinge, möge diesem wahrhaft frommen Werk gnädig sein und als Beschützer dieser begonnenen Mühe gewähren, dass ich das, was ich schreiben werde, zu seinem Lob verfasse.
1 Mit Sternchen gekennzeichnete Namen und Begriffe werden am Ende des Buches erläutert.
Wenn nun davon zu schreiben ist, durch welche Ruhmestaten außergewöhnliche Frauen Berühmtheit erlangten, wird es nicht unangemessen erscheinen, mit der Mutter aller Menschen zu beginnen: Sie war in der Tat die älteste Mutter, und wie sie die erste war, so zeichnete sie sich durch besondere Vortrefflichkeit aus. Denn nicht wurde sie in diesem trübseligen Jammertal erschaffen, in dem wir anderen Sterblichen uns zu mühen geboren werden, noch wurde sie auch mit demselben Hammer und Amboss gefertigt oder trat heulend und die Schuld des Geborenwerdens beklagend oder schwach wie alle anderen ins Leben. Ja, ihr widerfuhr, was keinem anderen Menschen jemals wieder zuteilwerden sollte: Nachdem der höchste Schöpfer aller Dinge bereits Adam mit eigener Hand aus schlammiger Erde geformt hatte und ihn von dem Feld, dem später der Name «Damaszenisches» gegeben wurde, in den Garten der Genüsse gebracht und ihn in sanften Schlaf versetzt hatte, zog er sie mit nur ihm bekannter Kunstfertigkeit aus der Flanke des Schlafenden, ihrer selbst mächtig, bereit für den Mann, voller Freude über die Lieblichkeit des Ortes und den Anblick ihres Schöpfers, unsterblich, Herrin aller Dinge und Gefährtin des schon wachen Mannes, und von diesem wurde sie auch Eva genannt.
Was könnte einem bei seiner Geburt je Größeres oder Herrlicheres widerfahren? Außerdem können wir glauben, dass sie von bewundernswerter Schönheit war. Denn was wurde je von Gottes Finger erschaffen, das nicht alles andere an Schönheit überträfe? Und auch wenn diese Schönheit im Alter vergehen oder mitten in der Blüte des Lebens wegen des Ausbruchs einer Krankheit verwelken mag, ist es dennoch nicht unangemessen, sie jetzt und auf den folgenden Seiten als besonderen Glanzpunkt unter den Gründen für die Berühmtheit von Frauen anzuführen, da doch die Frauen selbst sie zu ihren besonderen Vorzügen zählen und ihretwegen, durch das unüberlegte Urteil der Sterblichen, schon unzählige Male Ruhm erlangten.
Während Eva, die außerdem zur Bürgerin des Paradieses gemacht wurde – durch ihre Abstammung ebenso dazu berechtigt wie durch ihren Aufenthalt dort –, von einem uns unbekannten Glanz umgeben mit ihrem Mann ausgiebig die Freuden des Ortes genoss, flößte ihr der Feind, der sie um ihr Glück beneidete, mit für sie schändlichen Ratschlägen den Gedanken ein, dass sie größeren Ruhm erlangen könne, wenn sie sich dem einzigen Gebot widersetzte, das ihr von Gott auferlegt worden war. Mit weiblichem Leichtsinn, mehr als ihr und uns zuträglich war, schenkte sie ihm Glauben und meinte törichterweise, sich zu Höherem aufschwingen zu können. Zuerst unterwarf sie ihren beeinflussbaren Mann mit schmeichelnden Einflüsterungen ihrem Willen, und gegen das Gebot kosteten sie dann die Früchte vom Baum von Gut und Böse und vertrieben durch dieses unüberlegte Wagnis sich und ihr ganzes künftiges Geschlecht aus Ruhe und Ewigkeit zu sorgenvollen Mühen und erbärmlichem Tod, aus der lieblichen Heimat zu Dornen, Äckern und Felsen. Denn als das schimmernde Licht, in dem sie wandelten, verlosch, tadelte sie ihr erzürnter Schöpfer und sie wurden aus dem Ort der Freuden ausgestoßen und kamen, nun mit Lendenschurzen umgürtet, als Verbannte zu den Feldern von Hebron. Dort erfand – wie einige glauben – die außergewöhnliche Frau, die durch diese Taten berühmt wurde, als Erste das Spinnen mit dem Spinnrocken, während ihr Mann die Erde mit der Hacke umgrub. Oftmals erfuhr sie die Schmerzen des Gebärens, und ähnlich Schlimmes durchlitt sie durch die Qualen, von denen das Gemüt beim Tod der eigenen Kinder oder Enkel geplagt wird. Ausgelaugt von den Strapazen der Arbeit – um von Kälte, Hitze und den anderen Beschwerlichkeiten ganz zu schweigen – erreichte sie ein hohes Alter, um schließlich zu sterben.
Semiramis war vor sehr langer Zeit eine berühmte Königin der Assyrer. Die Namen ihrer Eltern gingen im Lauf der vielen Jahre verloren, einige antike Autoren machten sie jedoch zur Tochter des Neptun, von dem wiederum sie in ihrer abwegigen Leichtgläubigkeit behaupteten, er sei ein Sohn des Saturn* und der Gott des Meeres. Auch wenn das nicht glaubwürdig ist, so ist es doch ein Hinweis darauf, dass sie aus vornehmem Hause stammte. Sie heiratete Ninos, den ruhmreichen König der Assyrer, und zeugte mit ihm Ninias, ihren einzigen Sohn. Als Ninos, der ganz Asien und zuletzt Baktrien* unterjocht hatte, durch einen Pfeilschuss getötet wurde, war sie noch eine junge Frau und ihr Sohn ein kleines Kind. Sie erachtete es als äußerst unvernünftig, die Zügel eines so großen neu geschaffenen Reiches einem Knaben von so zartem Alter anzuvertrauen, und besaß selbst ein so kühnes Gemüt, dass sie als Frau es wagte, mit Geschick und Verstand jene Völker zu regieren, die ein harter Mann mit Waffen unterworfen und mit Gewalt bezwungen hatte. Mit weiblicher List ersann sie eine gewaltige Täuschung und führte zuerst das Heer ihres verstorbenen Gatten hinters Licht. Semiramis sah nämlich ihrem Sohn von den Gesichtszügen her äußerst ähnlich, was nicht weiter verwunderlich ist: Beide hatten nackte Wangen, und die Stimme der Frau klang aufgrund seines Alters nicht anders als die des Knaben; auch unterschied sich ihre Körpergröße nicht oder nur geringfügig von der ihres Sohnes. Sie machte sich diese Ähnlichkeit zunutze, bedeckte ihr Haupt mit einem Turban und verhüllte ihre Arme und Beine mit Gewändern, damit ihr Betrug nicht entdeckt und sie bei ihrem Vorhaben nicht gehindert werde. Da dies bei den Assyrern bis dahin ungewöhnlich war, befahl sie, dass das ganze Volk ein ähnliches Gewand tragen sollte, damit sich ihre Untertanen nicht über die Neuartigkeit dieser Kleidung wunderten. So gab sich die ehemalige Gattin des Ninos als sein Sohn aus, die Frau als Knabe, übernahm mit erstaunlicher Umsicht die königliche Herrschaft und bewahrte diese ebenso wie die Disziplin im Heer. Sie verbarg ihr Geschlecht und vollbrachte viele große Taten, die auch den stärksten Männern zur Ehre gereicht hätten. Sie scheute keine Mühe und schreckte vor keiner Gefahr zurück, und nachdem sie durch ihre beispiellosen Taten die Missgunst aller zum Schweigen gebracht hatte, hegte sie keinerlei Bedenken mehr, zu enthüllen, wer sie sei und was sie mit weiblicher List vorgetäuscht hatte, als wollte sie allen vor Augen führen, dass es beim Herrschen nicht auf das Geschlecht, sondern auf den Charakter ankommt. Dies sorgte bei all jenen, die davon erfuhren, für ebenso viel Bewunderung, wie es das Ansehen und den Ruhm der Semiramis vermehrte.
Wir wollen uns nun ihre Taten ein wenig ausführlicher vor Augen führen: Nach ihrer glorreichen Täuschung griff sie mit männlichem Mut zu den Waffen und bewahrte nicht nur das Reich, das ihr Mann geschaffen hatte, sondern fügte ihm auch noch Äthiopien hinzu, das sie zu einem heftigen Krieg herausforderte und bezwang. Von dort richtete sie ihre gewaltigen Streitkräfte auch gegen Indien, wohin außer ihrem Mann noch nie jemand vorgedrungen war. Darüber hinaus baute sie Babylon wieder auf, jene uralte Gründung Nimrods* und einst eine riesige Stadt im Gebiet von Senaar*, und umgab es mit Mauern aus gebrannten Lehmziegeln, die durch eine Mischung aus Sand, Pech und Teer zusammengehalten wurden. Diese Mauern waren aufgrund ihrer Höhe, ihrer Dicke und ihres enorm langen Umfangs außerordentlich bewundernswert.
Um nun aus der Menge ihrer großen Taten eine besonders erinnerungswürdige hervorzuheben, die als gesicherte Tatsache dargestellt wird: Als sie sich einmal in Zeiten des Friedens und der ruhigen Muße in Gesellschaft ihrer Dienerinnen mit weiblicher Kunstfertigkeit die Haare frisierte und nach den Gepflogenheiten ihres Landes in Zöpfe flocht, geschah es, dass ihr während des Flechtens gemeldet wurde, dass Babylon zu ihrem Stiefsohn übergelaufen sei. Das erregte sie so sehr, dass sie den Kamm fortwarf, erzürnt von dieser Frauentätigkeit aufsprang, eilig zu den Waffen griff und mit ihren versammelten Truppen die starke Stadt belagerte. Und nicht eher brachte sie ihre halbfertige Frisur in Ordnung, als bis sie die überaus mächtige Stadt durch eine lange Belagerung zermürbt, sie zur Kapitulation gezwungen und mit Waffengewalt wieder unter ihre Herrschaft gebracht hatte. Von dieser hochgesinnten Tat zeugte noch lange eine riesige Bronzestatue, die in Babylon errichtet wurde und eine Frau darstellte, deren Haare auf einer Seite offen und auf der anderen zu Zöpfen geflochten waren. Sie gründete auch viele Städte und vollbrachte Großes, von dem jedoch das meiste im Laufe der Zeit unterging, sodass in Bezug auf ihre Verdienste beinahe nichts, außer das bereits Erwähnte, auf uns gekommen ist.
All diese wunderbaren, lobenswerten und der ewigen Erinnerung würdigen Dinge, die auch bei einem tatkräftigen Mann und umso mehr bei einer Frau zu rühmen sind, behaftete Semiramis jedoch mit dem Makel der schamlosen Verführung. Denn die Unglückliche brannte wie andere Frauen in beinahe permanenter Wollust, und man glaubt, dass sie mit vielen Männern Sex hatte. Zu diesen Ehebrechern zählte auch – was mehr tierisch als menschlich ist – ihr Sohn Ninias, ein Jüngling von herausragender Schönheit, der, als hätte er mit seiner Mutter das Geschlecht getauscht, untätig im Bett herumlungerte, während sie sich im Kampf gegen ihre Feinde abmühte. Oh, frevelhafte Tat! Von Friedenszeiten ganz zu schweigen regt die unheilvolle Wollust, ohne Rücksicht auf die Umstände, ihre Schwingen auch während sorgenvoller Regierungsgeschäfte, in grausamen Schlachten und, was wirklich ungeheuerlich ist, inmitten unter tränenvollen Klagen von Verbannten. Schleichend nistet sie sich in unvorsichtigen Gemütern ein, zieht sie an den Abgrund und besudelt jegliche Würde mit einem hässlichen Schandfleck. Auch Semiramis war davon gezeichnet, glaubte jedoch in ihrer Gerissenheit den Makel ihrer Liederlichkeit aus dem Weg räumen zu können, indem sie – wie erzählt wird – jenes berüchtigte Gesetz erließ, das ihren Untertanen erlaubte, in Liebesdingen alles zu tun, was ihnen beliebte. Aus Angst, ihre Dienerinnen könnten sie um den Beischlaf mit ihrem Sohn bringen, erfand sie einigen Autoren zufolge den Keuschheitsgürtel, mit dem sie alle Frauen am Hof unter Verschluss hielt. Einigen Berichten zufolge ist das bei den Ägyptern und Afrikanern immer noch üblich. Andere schreiben, dass sie in Verlangen nach ihrem Sohn entbrannte und ihn in ihre Arme locken wollte, als der schon etwas älter war, und dass sie von ihm umgebracht wurde, nachdem sie zweiunddreißig Jahre lang geherrscht hatte. Andere Autoren wiederum bestreiten dies und behaupten, sie habe Wollust und Grausamkeit in sich vereint und pflegte jene Männer, die sie zu sich rief, um ihr brennendes Verlangen zu stillen, unmittelbar nach dem Beischlaf töten zu lassen, um ihre Machenschaften zu verbergen. Bisweilen soll sie dabei jedoch schwanger geworden und ihre Unzucht bei der Geburt offenbar geworden sein. Um sich von jeglicher Schuld freizusprechen, soll sie dann jenes berühmte Gesetz erlassen haben, das zuvor erwähnt wurde. Auch wenn sie ihr abgeschmacktes Verbrechen so scheinbar ein wenig verschleierte, konnte sie den Zorn ihres Sohnes keineswegs besänftigen. Sei es nun, dass er es nicht ertrug zu sehen, wie andere Männer Anteil an ihrer Zuchtlosigkeit hatten, die er für sich allein beanspruchte, sei es, dass er sich für die Ausschweifungen seiner Mutter schämte oder dass er fürchtete, es könnte ein weiteres Kind als möglicher Thronfolger geboren werden – er beseitigte wütend die verführerische Königin.
Minerva – auch Pallas genannt – war eine Jungfrau von solch herausragendem Ruhm, dass die einfältigen Menschen dachten, sie könne nicht von sterblicher Abstammung sein. Man erzählt, dass sie in der Zeit von König Ogyges* beim Tritonischen See*, unweit der Bucht der Kleinen Syrte**