Kapitel 1
London im Frühling 1892
„Ich habe eine Entscheidung getroffen.“
Millicent Fairweather faltete die Hände vor ihrer Taille und wartete schweigend auf das, was ihr Boss ihr zu sagen hatte. Die Standuhr in der Ecke des nur schwach beleuchteten Arbeitszimmers tickte laut.
„Meine Töchter sind jetzt alt genug, um ihren Horizont zu erweitern. Eine Veränderung wird ihnen guttun. Deshalb habe ich einen neuen Platz für sie gefunden.“
„Einen neuen Platz?“ Fassungslos wiederholte Millicent seine letzten Worte. Ein kalter Angstschauer lief ihr über den Rücken. Mit acht und sechs Jahren waren Audrey und Fiona immer noch kleine Mädchen. Er meinte doch nicht etwa ...
„Ein Internat für junge Damen.“ Langsam ging er vor dem Bücherregal auf und ab. Edle chinesische Seidenteppiche verschluckten das Geräusch seiner Schritte, und ein großer mit Edelsteinen besetzter Globus zeugte von dem Reichtum, den Mr Eberhardt auf seinen vielen Reisen angehäuft hatte. Doch seine häufigen und langen Reisen machten ihn zu einem Fremden in seinem eigenen Haus. Er nickte bekräftigend. „Erziehung, Benehmen – für meine Töchter nur das Beste.“
Die Luft gefror Millicent in der Lunge. „Mr Eberhardt, Ihre Töchter sind immer noch sehr jung. Wenn sie vielleicht erst einmal ein bisschen Zeit mit ihnen verbringen könnten ...“
„Nein!“ Er wirbelte herum. „Meine Entscheidung steht fest. Ich habe Mrs Witherspoon angewiesen, ihre Sachen zu packen. Um fünf Uhr kommt die Kutsche.“
Um fünf? Millicent schaute auf ihre Uhr – es war viertel nach zwölf. Verzweifelt versuchte sie, ihre Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Schließlich räusperte sie sich und sagte leise: „Wir werden rechtzeitig fertig sein.“
Er winkte ab. „Ich habe jemanden engagiert, der die Mädchen begleiten wird. Ich werde Ihre Dienste dann nicht mehr benötigen. Ich habe ein Empfehlungsschreiben für Sie aufgesetzt. Alastair wird sich darum kümmern, dass Ihnen das Gehalt für zwei weitere Monate ausgezahlt wird. Bis dahin haben Sie bestimmt eine neue Stelle gefunden.“
Millicent atmete tief ein. Eine Gouvernante musste sich nach den Launen ihres Arbeitgebers richten. Sie hatte kein Recht, sich zu beschweren, aber wie konnte er das nur seinen Töchtern antun? „Fiona und Audrey wollen Sie sicher noch einmal sehen. Das Mittagessen –“
„Ich habe viel zu tun.“ Er zog ein Buch aus dem Regal und studierte das Buchcover.
„Vielleicht zum Tee?“
Ärgerlich schob er das Buch wieder ins Regal. „Nein. Bis um fünf können Sie mit den Mädchen machen, was Sie wollen. Das ist alles.“
Zitternd verließ Millicent das Arbeitszimmer.
Mrs Witherspoon stand mit rot geweinten Augen oben an der Treppe inmitten von unzähligen Koffern und Kisten. „So dürfen mich die Mädchen auf keinen Fall sehen.“
Millicent zog die Haushälterin in ihr eigenes Zimmer. „Es wird so hart für die beiden werden.“
Mrs Witherspoon drückte sich ein durchnässtes Taschentuch vors Gesicht. „Für die Mädchen sind wir doch die einzige Familie, die sie kennen. An ihre Mama können sie sich nicht mehr erinnern, und ich kann die Tage an einer Hand abzählen, die ihr Vater in den letzten fünf Jahren hier verbracht hat.“
So gern Millicent ihrem eigenen Ärger auch Luft gemacht hätte, widerstand sie diesem Drang. Stattdessen nahm sie das Bild in die Hand, das immer auf ihrem Nachttisch stand. Es war einen Tag vor dem Tod ihrer Eltern gemacht worden, und jedes Mal, wenn sie es betrachtete, kam die Erinnerung an einen unvergesslich schönen Tag zurück, so als wäre es erst gestern gewesen. Entschlossen richtete sich auf. Mr Eberhardt würde sie zwar trennen, aber trotzdem konnte Millicent den beiden Mädchen ihren letzten gemeinsamen Tag so schön wie möglich gestalten.
„Mrs Witherspoon, ich werde die beiden Mädchen nach dem Mittagessen mit auf einen Spaziergang nehmen, damit Sie in Ruhe packen können. Wären Sie so nett und sagen der Köchin Bescheid, dass sie mit dem Essen noch zehn Minuten warten soll?“ Als die Haushälterin nickte, stellte sie das Foto wieder ab. „Könnten Sie auch Alastair fragen, ob Billy für mich in die Stadt gehen kann? Ich hätte gerne, dass Mr Braston heute Nachmittag ein paar Fotos von uns macht. Er soll alles Nötige mitbringen, damit die Mädchen die Fotos schon heute haben können.“
„Oh, das ist eine wundervolle Idee.“
Bevor sie die Tür zum Kinderzimmer öffnete, atmete Millicent noch einmal tief ein. Herr, ich weiß nicht, wie ich die beiden Mädchen loslassen soll. All die Jahre hier waren sie fast wie eigene Kinder für mich. Bitte beschütze sie und lass sie immer jemanden finden, der sie liebt.
Sie hatte die Tür erst einen Spalt geöffnet, da waren das Dienstmädchen und die beiden Kinder schon bei ihr. „Was ist passiert?“, fragte das Dienstmädchen.
Millicent straffte die Schultern und lächelte. Die Muskeln in ihrem Gesicht fühlten sich seltsam steif an, aber sie kümmerte sich nicht weiter darum. Aber sie wollte auch nichts von ihrem Gespräch mit Mr Eberhardt erzählen. Er wollte seine Töchter nicht sehen, deshalb wollte sie ihnen auch nicht sagen, dass er zu Hause war. „Danke, dass Sie den Mädchen Gesellschaft geleistet haben. Jetzt gibt es gleich Mittagessen, deshalb sollten wir uns jetzt besser die Hände waschen gehen.“
Mit schmollender Miene verließ Jenny das Zimmer. Vom ersten Tag an hatte Millicent beobachtet, dass das Dienstmädchen gerne tratschte, und das wollte sie auf keinen Fall unterstützen.
Als die Tür ins Schloss fiel, wusste Millicent, dass sie jetzt jeden einzelnen Moment nutzen musste, um „ihre“ Mädchen vorzubereiten. Langsam ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und sagt: „Ich muss euch etwas erzählen. Ihr werdet nie erraten, was es ist.“
Fiona rannte zu ihr. „Wirklich? Was ist es denn?“
Audrey folgte ihr etwas langsamer. „Jenny hat gesagt, dass sie einen Hasen im Gemüsegarten gesehen hat. Wollten Sie uns das erzählen?“
Millicent legte ihren Arm um Audrey und zog sie näher zu sich heran. „Nein, aber das war schon ein guter Gedanke.“
„Dürfen wir raten?“ Fionas Gesicht leuchtete auf. „Ist es ein Pony? Ich will ein Pony. Ein weißes.“
„Nein, mein Liebling.“
Während Fiona noch traurig seufzte, rief Audrey: „Gehen wir in die Stadt? Und essen Eis?“
„Ihr fahrt noch viel weiter als in die Stadt. Ihr, meine beiden Lieblinge, macht eine richtige Reise. Ein netter Freund eures Vaters wird euch begleiten, und ihr werdet schon heute Abend losfahren!“
„Heute?! Wohin?“
„Ihr zwei seid so wunderbare Mädchen, dass euer Vater beschlossen hat, dass ihr auf eine ganz besondere Schule gehen dürft – eine Schule, auf der man lernt, wie man eine elegante junge Dame wird.“
Audrey runzelte die Stirn. „Aber das bringen Sie uns doch schon bei.“
„Ich habe gerade erst damit angefangen. Auf dieser Schule gibt es viele Lehrerinnen, aber das ist noch nicht alles. Dort gibt es auch ganz viele andere kleine Mädchen, mit denen ihr spielen könnt. Ihr habt euch doch immer Freundinnen gewünscht?! Dort werdet ihr sie finden.“
„Sie werden dann auch viele neue Freundinnen haben!“ Fiona grinste Millicent mit ihren großen Zahnlücken an.
„Das glaube ich schon“, erwiderte Millicent und versuchte fröhlich zu klingen, obwohl ihr Herz so schwer war wie ein Stein. „Ich werde dann auch viele neue Freundinnen finden. Aber ...“
Audreys kleine Hand klammerte sich plötzlich an Millicents Ärmel. „Sie kommen doch mit uns, oder? Sie müssen mitkommen! Ohne Sie will ich nicht weggehen.“
„Ich will auch, dass Sie mitkommen!“, stimmte Fiona mit ein.
Mit angstverzerrtem Gesicht plapperte Audrey immer weiter: „Wir werden viel Spaß zusammen haben. Das haben wir doch immer. Und Sie können unseren neuen Freundinnen auch beibringen, wie man eine elegante junge Dame wird, oder etwa nicht, Fiona?“
Fiona nickte heftig mit dem Kopf.
Millicent zog die beiden zitternden Mädchen in ihre Arme und drückte sie fest an sich. Dann schloss sie die Augen. Herr, es ist so schwer. Wie soll ich ihnen denn nur antworten, wenn mir selbst die Worte fehlen?
Audrey kuschelte sich an sie, sodass die Spitze an ihrem Kragen völlig zerknitterte. „Bitte, Miss Fairweather, schicken Sie mich nicht weg. Ich werde auch immer ganz brav sein. Ich verspreche es. Ich werde sogar noch braver sein als brav. Ich werde nie wieder meine Ellenbogen beim Essen auf den Tisch stützen. Ich werde nie wieder –“
Millicent riss erschrocken die Augen auf. „Ihr habt überhaupt nichts falsch gemacht, meine Süßen. Das ist doch keine Strafe – es ist ein ganz besonderes Geschenk!“
„Ein Geschenk?“ Fionas Gesicht hellte sich wieder auf.
„Ganz genau!“ Millicent legte ihre Stirn an Audreys. „Ich bin so stolz auf dich. Du bist ein wunderbares Mädchen.“ Audreys blaue Augen waren voller Tränen, und Millicent kämpfte hart gegen ihre eigenen an. Mit etwas unsicherer Stimme fügte sie hinzu: „In meinem Herzen werdet ihr mir immer ganz nahe sein, und ich werde an euch denken und für euch beten.“
„Sie weinen ja.“ Audreys Unterlippe zitterte.
„Das sind Freudentränen.“ Fiona versuchte Millicent und Audrey gleichzeitig zu umarmen, doch ihre Arme waren zu kurz. Deshalb drückte sie ihr weiches Gesicht an Millicents Schulter. „Wie damals, als wir die Karte für sie gemalt haben.“
Sofort versuchte Millicent das Gespräch weiter in diese Richtung zu lenken. „Oh, wie ich diese Karte liebe! Sie ist einer meiner größten Schätze. Denkt doch nur, wie glücklich ich sein werde, wenn ihr mir schreibt und erzählt, wie es euch in der Schule gefällt und wie viele Freundinnen ihr schon habt!“ Sie lächelte die beiden aufmunternd an.
Audrey verbarg ihr Gesicht an Millicents Schulter. „Schreiben Sie mir auch zurück?“
„Mir auch?“
„Natürlich schreibe ich euch auch!“ Jetzt klang Millicents Stimme wieder fest und zuversichtlich. Fiona war sichtlich aufgeregt und erwartungsvoll.
Audrey hob ihr Gesicht nur ein kleines bisschen. „Aber ich mache immer so hässliche Flecken auf dem Papier.“
„Das passiert mir auch manchmal. Wenn du nur etwas mehr übst, dann schreibst du bald ohne Flecken und mit vielen Schnörkeln wie eine elegante Dame. Außerdem werde ich so glücklich über jeden Brief von dir sein, dass ich die Flecken wahrscheinlich gar nicht bemerke.“
Schließlich musste auch Audrey lächeln.
„Doch bevor ihr fahrt, wollen wir den Nachmittag heute mal ganz anders als sonst verbringen. Heute soll ein ganz besonderer Tag werden. Würde euch das gefallen?“
„Was werden wir denn tun?“, fragte Fiona.
Eine schöne Erinnerung tauchte vor Millicents innerem Auge auf, und sie musste lächeln. „Zuallererst essen wir heute anders zu Mittag als sonst – ein ganz besonderes Mittagessen. Kommt mit zum Tisch, damit wir fertig sind, wenn das Essen kommt.“ Als die Köchin das Essen auftrug, saßen beide Kinder am Tisch – aber anstatt auf dem Stuhl zu sitzen wie es sich gehörte, hatten sie die Stühle herumgedreht und sich rittlings daraufgesetzt. Millicent versuchte erst gar nicht, sich so hinzusetzen. Stattdessen saß sie seitlich auf dem Stuhl. Die Mädchen schienen damit zufrieden zu sein. Flehend schaute Millicent die Köchin an. Sie wollte auf keinen Fall, dass die Stimmung traurig wurde. Deshalb verkündete sie jetzt: „Heute essen wir unser Mittagessen rückwärts. Wären Sie so nett – wir fangen mit dem Nachtisch an.“
Überrascht rissen die Mädchen die Augen auf.
Die Köchin brachte ein etwas schiefes, aber verständnisvolles Lächeln zustande. „Was für eine interessante Idee.“
Millicent lächelte Audrey zu. „Dann sind wir auch noch nicht zu satt, und der Nachtisch schmeckt noch besser als sonst.“
„Beten wir dann auch nicht?“, fragte Fiona.
„Natürlich werden wir beten.“ Millicent freute sich immer wieder darüber, wie gern die Mädchen beteten. „Aber da wir heute alles rückwärts machen, beten wir nach dem Essen.“
So verging das Essen, bis am Ende alle satt waren. Dann faltete Fiona ihre kleinen Hände und betete: „Alle guten Gaben, alles, was wir haben, kommt, oh Gott, von dir. Wir danken dir dafür. Amen.“
Danach betete Audrey: „Jesus, hilf mir, auf meiner neuen Schule mutig und stark zu sein. Amen.“
Schließlich war Millicent an der Reihe. „Und bitte lass die Kinder gut und sicher ankommen. Amen.“
Fiona fügte noch hinzu: „Und danke für die vielen neuen Freundinnen! Amen.“
Als sie vom Tisch aufstanden, wirbelten Millicents Gedanken durcheinander. Sicher würden die Kinder in ihrer neuen Schule die Gebete aus dem Gebetsbuch der anglikanischen Kirche lernen. Sie hatte den Kindern das Abendgebet beigebracht, das ihre Mutter schon mit ihr gebetet hatte. Außerdem gab es immer ein festes Gebet vor den Mahlzeiten, doch danach durften die Mädchen immer noch etwas frei hinzufügen. Vater, ich wollte immer, dass die Mädchen nicht nur Worte auswendig lernen, sondern mit dir reden. Alles wird sich für die Kinder jetzt ändern und ich habe Angst, dass ich sie nicht genug vorbereitet habe.
Es klopfte, und die Kinderzimmertür öffnete sich. Überrascht sah Millicent, dass der Butler im Türrahmen stand. „Miss Fairweather, Billy ist wieder zurück. Der Fotograf wird bald hier sein.“
„Vielen Dank, Alastair.“
Er räusperte sich. „Wenn es nicht zu viel Mühe macht, dann hätte ich selbst auch gerne ein Bild von den beiden Mädchen.“
„Natürlich.“
Zwanzig Minuten später standen die Kinder in der Mitte der versammelten Dienerschaft. Jeder stand da, frisch gekämmt und gewaschen, und blickte ernst in die Kamera. Poff! Der Blitz leuchtete auf, und Millicent musste kurz die Augen schließen. Als sie wieder etwas sehen konnte, schlich Mr Eberhardt gerade an der offenen Wohnzimmertür vorbei. Sie machte den Mund auf, um ihn zurückzurufen, doch dann brachte sie keinen Laut über die Lippen. Eine Dame erhebt nie ihre Stimme, und eine Angestellte ruft niemals ihren Vorgesetzen zu sich. Und schließlich hatte er selbst angeordnet, dass die Mädchen nicht erfahren sollten, dass er zu Hause war. Sie tröstete sich damit, dass die Kinder dann auch seine Ablehnung nicht zu spüren bekommen würden.
„Miss Fairweather?“
Sie drehte sich zu dem Fotografen um. „Ja, bitte?“
„Ich würde vorschlagen, dass Sie sich auf den Stuhl setzen, und ich stelle dann die Mädchen in einem guten Winkel neben Sie. Ich kann gerne zwei Abzüge von dem Bild machen. Dann können Sie das eine behalten, und die Mädchen bekommen das andere.“
„Vielen Dank, aber ich hätte gerne drei Abzüge davon, damit jedes der Mädchen sein eigenes Foto haben kann.“ Millicent setzte sich auf den Stuhl und wartete, bis der Fotograf Fionas Locken gezähmt und Audreys Schleife gerichtet hatte.
„Kinder, jetzt müsst ihr ganz stillstehen.“ Der Fotograf spähte durch die Linse und schaute Fiona ermahnend an. Dann fügte er noch hinzu. „Und nicht lächeln!“
Fiona und nicht lächeln? Undenkbar. Millicent liebte ihr sonniges Gemüt. „Fee, du musst ganz stillstehen“, flüsterte sie, „aber du darfst gerne lächeln.“
Audrey sah sie mit ihren ernsthaften Augen an. „Werden Sie lächeln, Miss Fairweather?“
„Lasst uns alle lächeln. Schließlich tun wir das fast immer. Dann sind wir immer froh und glücklich, wenn wir das Bild anschauen, denn es erinnert uns an die schöne Zeit, die wir zusammen verbracht haben.“
Während sich der Fotograf im oberen Bad einschloss, um die Bilder zu entwickeln, ging Millicent mit den beiden Mädchen spazieren. Ein kleiner Bach floss durch einen Teil des Gartens, und heute erlaubte Millicent den beiden Mädchen, darin zu waten. Sie versuchte sich die Bilder einzuprägen, um ja nichts von diesem wunderbaren Nachmittag zu vergessen – die glücklichen Gesichter der Mädchen und ihr Gekicher. Da sie kein Handtuch dabeihatten, sah sie sich kurz um, ob sie auch keiner beobachtete, und trocknete die Füße der Mädchen mit ihrem Unterrock ab.
Während Audrey zuschaute, wie Millicent die Schuhe ihrer Schwester wieder zuschnürte, fragte sie: „Was machen wir jetzt?“
„Warum pflücken wir nicht einen hübschen Blumenstrauß für Mrs Witherspoon?“
Fiona klatschte in die Hände. „Ich mache einen für Alastair!“
„Du bist ja dumm, Männer mögen doch keine Blumensträuße.“
Millicent richtete sich auf. „Aber warum denn? Es wäre doch nett, wenn wir für alle einen kleinen Strauß pflücken.“ Was machte es schon, wenn sie den ganzen Garten plünderten? Mr Eberhardt blieb bestimmt nicht lange genug, um den Garten zu genießen oder mit einer Dame darin einen Spaziergang zu machen.
Als sie endlich um jeden Strauß eine kleine Schleife gebunden und sie den Dienstboten ausgehändigt hatten, wies Mrs Witherspoon die Kutscherjungen auch schon an, die Kleiderkoffer der Kinder nach unten zu tragen.
Trauer traf Millicent bei diesem Anblick wie ein Schlag.
„Wo ist Flora?“ Fionas Stimme klang schrill vor Angst. Sie liebte die Stoffpuppe, die Millicent ihr gemacht hatte.
„Sie ist im Koffer.“ Mrs Witherspoons Fröhlichkeit klang etwas zu überschwänglich.
„Im Koffer!“ Fiona brach in Tränen aus.
„Mach dir keine Sorgen, Fiona.“ Millicent kniete sich neben das weinende Mädchen und nahm ihre kleinen Hände in ihre. „Flora hat bestimmt viel Spaß, wenn sie so die Treppen hinunterhoppelt.“
„Kann ich auch die Treppe hinunterfahren?“
Bevor sie recht wusste, was sie tat, sagte Millicent ja. Ein paar Minuten später stand Millicent am Fuß der Treppe. „Ganz langsam.“
„Nein, ganz schnell!“ Fiona hüpfte in die mit Decken ausgelegte hölzerne Box, die oben an der Treppe direkt vor der ersten Stufe stand. Die Kutscherjungen hoben die Kiste auf ein großes Stück Pappe, und Alastair hielt sie mit einer langen Wäscheleine, die sie an die Kiste geknotet hatten, fest, damit die Kiste nicht sofort die Treppe hinunterschoss.
„Whiiiieeee!“, schrie Fiona, als die Kiste die Treppe hinunterrutschte.
„Jetzt bin ich dran!“, rief Audrey oben über das Treppengeländer.
„Ich will aber noch mal!“ Fiona kletterte aus der Kiste und rannte die Treppe hoch.
„Millicent, Sie haben es geschafft, die Mädchen völlig von dem Abschied abzulenken.“ Mrs Witherspoon tupfte sich die Tränen aus den Augen. „Ich hätte es nicht gedacht, aber –“
„Die Pappe ist ziemlich hinüber“, sagte einer der Jungen und hielt wie zum Beweis das durchlöcherte Pappstück hoch.
„Ich bin sicher, dass es trotzdem noch für ein Mal hält.“ Millicent wollte auf keinen Fall, dass Audrey nicht mehr fahren durfte. Audrey war immer so ernst und sensibel, bat nie um irgendetwas und nahm sich alles sehr zu Herzen. Doch diesmal hatte sie gesagt, dass sie auch in der Kiste die Treppe hinuntersausen wollte.
Alastair warf einen prüfenden Blick auf die Pappe und schüttelte den Kopf. „Das geht nicht mehr. Nein, ich bin mir ganz sicher.“ Er schaute die Haushälterin am Fuß der Treppe an. „Mrs Witherspoon, ich glaube unsere großen Tabletts müssen mal wieder ordentlich poliert werden.“
Millicent traute ihren Ohren kaum. Trotz der Entfernung sah sie, wie sich der immer so ernste und nüchterne Mund des Butlers zu einem feinen Lächeln verzog.
„Welche meinen Sie denn?“, rief Mrs Witherspoon zurück.
Der Butler richtete sich zu seiner vollen Größe auf und erwiderte mit seiner würdevollsten Stimme: „Jedes einzelne, denke ich, Mrs Witherspoon.“
Während der nächsten halben Stunde sausten Audrey und Fiona auf runden, eckigen und ovalen Tabletts die Treppe hinunter. Da die Haushälterin Bedenken hatte, dass die Kiste Spuren auf den Tabletts hinterlassen könnte, band Alastair stattdessen einen Gürtel um die Taille der Mädchen und knotete die Wäscheleine daran fest. Alle anderen Dienstboten ließen ihre Arbeit Arbeit sein und kamen an die Treppe, um die Mädchen anzufeuern.
Millicent beobachtete, wie sich der Butler neben die Kinder kniete und ihnen etwas zuflüsterte. Schon vom ersten Tag an hatte Millicent den würdevollen, alten Mann gemocht. Er besaß eine natürliche innere Autorität und leitete das Haus mit Wärme, Feingefühl und Stärke. Als Millicent jetzt sah, dass er seine würdevolle Haltung den Mädchen gegenüber für kurze Zeit vergaß, sich neben sie hockte und sie angrinste, traten Millicent die Tränen in die Augen.
„Miss Fairweather.“ Er stand wieder auf und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. „Ich würde gerne mit Ihnen reden.“
Millicent hob ihre Röcke ein kleines Stück und stieg langsam die Treppe hoch. „Ja?“
Audrey reichte dem Butler ein Tablett. Jedenfalls versuchte sie das. Es war fast einen Meter lang. „Das hier?“
„Ich denke, damit wird es gehen, Miss Audrey.“ Alastair hob das Tablett etwas an, dann hob er die Nase und sagte in einem übertrieben diensteifrigen Ton: „Miss Fairweather, Miss Audrey und Miss Fiona haben festgestellt, dass Sie Ihren Teil der Arbeit noch nicht erledigt haben. Dieses silberne Tablett muss noch poliert werden.“
Ungläubig sah Millicent den Butler an, doch das Funkeln in den Augen des alten Mannes sagte ihr, dass sie ebenso hochtrabend antworten sollte, um das Spiel fortzuführen. „Die Mädchen haben recht, Alastair. Aber Gouvernanten ... nun, sie polieren nun mal kein Silber.“
„Ja, das gilt vielleicht für die durchschnittlichen Gouvernanten. Aber Sie sind eine ganz besondere Gouvernante.“
„Vielen Dank. Wie –“
„Ganz einfach“, unterbrach er sie, bevor sie ihren Satz beenden konnte. „Dieses Tablett hier ist lang genug für Sie und die Mädchen, um ... ähem ... zusammenzuarbeiten.“
Sofort wollte Millicent widersprechen, aber dann sah sie das stille Bitten in Audreys Kinderaugen. Entschlossen schob Millicent ihre Ärmel ein Stück höher und nickte. „Es soll niemand sagen können, dass ich mich vor der Arbeit drücke.“
Kurze Zeit später zog Alastair prüfend an dem Strick, den er um ihre Taille gebunden hatte. „Sitzt sicher und fest, Miss Fairweather. Ich bin sicher, das wird ein durchschlagender Erfolg.“
„Das ist ja nicht wirklich beruhigend“, murmelte sie vor sich hin. Erleichtert stellte sie fest, dass Alastair und die anderen Männer unter den Bediensteten sich umdrehten, als sie sich auf das Tablett setzte. Es gab nur eine Möglichkeit, wie sie ihr Kleid ordnen konnte, ohne dass es ihr völlig undamenhaft ins Gesicht flog. Sie musste ihren Reifrock eng an sich ziehen und die Beine spreizen. Mit den beiden Mädchen auf dem Schoß würde das wenigstens ... einigermaßen annehmbar aussehen. „Audrey ...“ Als sich das ältere Mädchen zwischen ihre Beine gesetzt hatte, winkte Millicent. „Fee.“
Mit den Kindern auf dem Schoß blickte Millicent auf ihre Stiefel, die vorne überstanden und nicht mehr auf das Tablett passten. „Ich glaube, das geht einfach nicht.“
„Ah doch, das schaffen wir schon.“ Alastair schob ein kleines silbernes Tablett unter ihre Absätze.
„Jetzt geht’s los!“ Einer der jungen Diener schob Millicent von hinten an. Millicent merkte, dass sie viel zu schnell waren. Alastair hält den Strick nicht mehr fest!
Bumpbumpbumpbump. Wie konnte etwas nur so holpern und rutschen und trotzdem so unglaublich schnell sein? Oh Gott, lass den Mädchen nichts geschehen. Vor lauter Panik verschlug es ihr den Atem, sodass sie nicht einmal schreien konnte. Doch in den wenigen Sekunden, die sie die Treppe hinunterflogen, betete Millicent ununterbrochen. Alles verschwamm vor ihren Augen, dann flogen auf einmal Rittersporn, Rosen und Farnblätter in alle Richtungen und das Tablett kam mitten in dem marmorverkleideten Foyer zum Stehen – direkt unter dem gewaltigen, ovalen Tisch im Zentrum.
„Kinder! Habt ihr euch wehgetan?“ Aus Millicents trockenem Mund hörten sich die Worte mehr wie ein Krächzen an.
Lachend schüttelte Fiona den Kopf, und Audrey konnte gar nicht mehr aufhören zu kichern. Da die Mädchen auf ihrem Kleid saßen, konnte Millicent sich nicht bewegen. Sie tastete sie ab und versuchte verzweifelt festzustellen, ob sie sich nicht doch irgendwo verletzt hatten.
Von der Wohnzimmertür her ertönte plötzlich eine drohende Stimme: „Was ist denn hier los?“