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Jörg Peltzer

1066

Der Kampf
um Englands Krone

C.H.BECK

ZUM BUCH

Als zu Beginn des Jahres 1066 Eduard der Bekenner, König der Angelsachsen, starb, war die Frage der Thronfolge ungeklärt. In dieser Situation beanspruchte der mächtigste Mann im englischen Königreich, Earl Harold Godwinson, die Krone. Seinen heimischen Rivalen Edgar Ætheling vermochte er in Schach zu halten. Doch im Nordwesten erhob sich mit dem Norwegerkönig Harald Hardrada ein weit gefährlicherer Herausforderer, und dies galt mehr noch für den Normannenherzog Wilhelm, der gar rechtliche Ansprüche auf die Krone geltend machte und keinen Zweifel daran ließ, dass er diese auch militärisch durchzusetzen bereit war. So bereiteten sich in England der neue König Harold und seine Gefolgsleute auf den unausweichlich gewordenen Krieg vor, während Harald Hardrada mit seinem Drachenboot an der Spitze der norwegischen Flotte in See stach – ausgerüstet mit allem, was er benötigte, um in England einzufallen – und Herzog Wilhelm sich jenseits des Ärmelkanals ebenfalls für die Invasion der Insel aufrüstete.

Wer aber waren diese Thronprätendenten, wie waren sie in ihre machtvollen Positionen gelangt und in welchem Verhältnis standen sie zueinander? Wie sah die Welt aus, in der sie versuchten, sich Recht zu schaffen – was letztlich doch nur das Recht des Siegers sein konnte? Und welche militärischen Mittel standen ihnen zu Gebote, um dieses Recht durchzusetzen?

Die Kämpfe, in denen sich im Herbst des Jahres 1066 ihr Schicksal und die Zukunft Englands entschied, erreichten wahrhaft epische Dimensionen. Auf der Grundlage einzigartiger Quellen – zu denen beispielsweise auch der Teppich von Bayeux und das Domesday Book gehören – hat einer der besten Kenner dieser Epoche der englischen Geschichte die Ereignisse selbst, aber auch ihre Vorgeschichte und ihre Folgen rekonstruiert und präsentiert sie in einer ebenso kundigen wie fesselnden Darstellung.

ÜBER DEN AUTOR

Jörg Peltzer lehrt als Professor für vergleichende Landesgeschichte in europäischer Perspektive in Heidelberg. Die Geschichte Englands im Mittelalter bildet einen seiner Forschungsschwerpunkte.

INHALT

KARTENVERZEICHNIS

VORWORT

1: EINLEITUNG

Eine Krone weckt Begehrlichkeiten

Die Quellen

1066 – ein Evergreen der Geschichtsschreibung

2: DER PREIS

England im Gefüge Nordwesteuropas um das Jahr 1000

England und Skandinavien

England und die Normandie

Der englische König und sein Reich

Geistliche und weltliche Herren: Bischöfe und Äbte, Earls und Thegns

Kriegertum und Heeresorganisation

3: HAROLD GODWINSON

Godwin und seine Söhne – Aufstieg einer Familie

Earl Harold

4: WILHELM DER EROBERER

Wilhelm – der Bastard

Die normannischen Vorfahren

Aufstieg in einer kriegerischen Welt

Die Eroberung Maines

Wilhelm und England

5: HAROLDS NORMANDIEREISE

Schiffbruch, Eid und Schwertleite: der Earl in der Schuld des Herzogs

Harolds Heimkehr oder die Grenzen symbolischer Kommunikation

6: HAROLD, TOSTIG UND DER ENGLISCHE THRON

Der Bruderzwist

Die Entmachtung Tostigs

Harold besteigt den Thron

7: WILHELMS AUFBRUCH

Propaganda

Bemühungen um päpstlichen Segen

Gefolgschaften und Truppenstärken

Das Lager am Meer

Rüstungen

Die riskante Überfahrt

8: HARALD HARDRADA

Werdegang eines Kriegers

In Diensten des Kaisers

Ein Doppelkönigtum

Alleinherrscher

Ein altes Ziel und neue Ambitionen

Nach England!

9: FULFORD GATE UND STAMFORD BRIDGE

Ein Zweckbündnis – Harald und Tostig

Der Tag der Invasoren

Der Tag der Verteidiger und Haralds Tod

Tostigs Ende

10: DIE SCHLACHT VON HASTINGS

Vor der Schlacht

Die Entscheidung

Der Sieger

11: DIE KRÖNUNG

Der Weg nach Westminster

Zwischen imperialen Prätentionen und herrschaftlichem Chaos

12: NACH DER SCHLACHT IST VOR DEM TERROR (1066–87)

England in den ersten Jahren nach der Krönung

Wilhelms zweiter Herrschaftsbeginn und das Ende des angelsächsischen Widerstands

Die Dänen und andere Probleme

Domesday: die Untersuchung und das Buch

Wilhelms Ende

13: DIE FOLGEN

Leute und Land

Die Kirche

Die neuen Herren sehen: Burgen und Kathedralen

Die Eroberung hören: die Sprache

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

ANMERKUNGEN

1 Einleitung

2 Der Preis

3 Harold Godwinson

4 Wilhelm der Eroberer

5 Harolds Normandiereise

6 Harold, Tostig und der englische Thron

7 Wilhelms Aufbruch

8 Harald Hardrada

9 Fulford Gate und Stamford Bridge

10 Die Schlacht von Hastings

11 Die Krönung

12 Nach der Schlacht ist vor dem Terror (1066–87)

13 Die Folgen

BIBLIOGRAPHIE

Quellen

Ungedruckte Quellen

Gedruckte Quellen

LITERATUR

Webseiten

STAMMTAFELN

BILDNACHWEIS

PERSONENREGISTER

ORTSREGISTER

Fußnoten

A. P. und E. W. P.

KARTENVERZEICHNIS

Karte 1: Der Nordseeraum 

Karte 2: Großbritannien um 1000 

Karte 3: Die Verteilung der Earldoms im Jahr 1045 

Karte 4: Die Verteilung der Earldoms zwischen circa 1062 und Oktober 1065 

Karte 5: Die Normandie 

Karte 6: Die Verteilung der Earldoms zwischen Oktober 1065 und Januar 1066 

Karte 7: Stationen Haralds 

Karte 8: Die Schlacht von Hastings 

Karte 9: England und Nordfrankreich 

VORWORT

Der Kampf um die englische Krone im Jahr 1066 war weichenstellend für die englische, ja europäische Geschichte. 2016 jähren sich die dramatischen Ereignisse jenes Jahres zum 950. Mal. Dies war Anlass für den Verlag C.H.Beck, dieses Buch in Auftrag zu geben, verbunden mit der Bitte, den Schlachten von Fulford Gate, Stamford Bridge und Hastings ausführlichen Raum in der Darstellung zu bieten. Für einen Historiker, der mehr an gesellschaftlichen Strukturen als an Schlachten interessiert ist, war diese Aufgabe Herausforderung und Chance zugleich. Wer waren die Männer, die 1066 ihr Leben für die englische Krone riskierten, was motivierte sie, in den Kampf zu ziehen? Welche Rolle spielten Schlachten im kriegerischen Alltag und welche Wertesysteme prägten das Handeln der Krieger? Welche Folgen hatten die Ereignisse von 1066 für England? Das sind nur einige Fragen, die sich bei dem Versuch aufdrängten, die Schlachten von 1066 in ihren weiteren gesellschaftlichen Kontext einzubetten.

Bei diesem Unterfangen habe ich sehr von John Gillingham profitiert, der so großzügig war, die einzelnen Kapitel unter großem Zeitdruck zu lesen und zu kommentieren. Er hat zur Schärfung der Argumentation wesentlich beigetragen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar. David Bates, dessen große Biographie über Wilhelm den Eroberer in Bälde erscheinen wird, Hugh Doherty, Frank G. Hirschmann und Nicholas Vincent schulde ich Dank für Diskussionen zu einzelnen Fragen. Anuschka Gäng, Angela Peltzer und Max Wetterauer halfen beim Korrekturlesen, Debora Pape erstellte die Karten, Max Wetterauer die Bibliographie und Gabriel Zeilinger überprüfte für mich in Kiel in letzter Sekunde einen schlampig notierten Verweis. Ihnen allen gebührt ein großes Dankeschön. Besonderen Dank schulde ich Stefan von der Lahr und seinem Team bei C.H.Beck, namentlich Andrea Morgan, für die professionelle, vertrauensvolle und verlässliche Zusammenarbeit. Herr von der Lahr hatte die Idee für dieses Buch, und sein gründliches Lektorat hat dem Text gutgetan. Wichtige Grundlagen für ‹1066› konnte ich während meiner Zeit als Visiting Fellow von Clare Hall, Cambridge, im Wintersemester 2014/15 legen. Für die Nominierung stehe ich in der Schuld von Rosamond McKitterick, für die Wahl und für die Möglichkeit, meine Familie, die ansonsten in den letzten beiden Jahren viel zu kurz kam, ebenfalls im College unterzubringen, bin ich dem Präsidenten und den Fellows von Clare Hall zu Dank verpflichtet. Gewidmet aber ist dieses Buch meinen Eltern, nicht nur weil sie manchen Bezugspunkt zum Thema haben, sondern auch weil sie während des Schreibens die Zielgruppe dieser Arbeit personifizierten, die berühmten ‹interessierten Laien›.

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EINLEITUNG

Eine Krone weckt Begehrlichkeiten

Am 4. oder 5. Januar 1066 starb Eduard, König von England, ohne dass eindeutig gewesen wäre, wer sein Erbe antreten sollte. Sein Tod eröffnete eines der berühmtesten Rennen der europäischen Geschichte um einen Thron. Nicht nur in England selbst, sondern im gesamten Nordseeraum brachten sich Männer in Stellung, die englische Krone zu erlangen. Am schnellsten reagierte der englische Earl Harold Godwinson, der sich am 6. Januar – dem Tag, an dem Eduard beigesetzt wurde – zum neuen König krönen ließ. In England fügte sich der letzte Abkömmling des alten Königshauses von Wessex, Edgar, dieser Machtergreifung, doch die Mitbewerber außerhalb Englands ließen sich nicht davon abschrecken, dass Harold Fakten geschaffen hatte. In Norwegen rüstete König Harald Hardrada für einen Eroberungszug, und in der Normandie tat es ihm Herzog Wilhelm gleich. Der Wettstreit erreichte seinen Höhepunkt zwischen dem 20. September und dem 14. Oktober 1066, als innerhalb von nicht einmal vier Wochen drei große Schlachten geschlagen wurden. Zwei Könige, Harald und Harold, sowie Abertausende von norwegischen, angelsächsischen und normannischen Kriegern ließen dabei ihr Leben.

Am Ende sollte der normannische Herzog Wilhelm das Rennen um die Krone für sich entscheiden. An Weihnachten 1066 wurde er zum englischen König gekrönt. Nie mehr danach wurde die englische Krone von einem landfremden Herrscher erobert. Dieser Erfolg trug Wilhelm den Beinamen ‹der Eroberer› ein und veränderte den Lauf der englischen Geschichte und damit des gesamten Nordseeraums maßgeblich. England wurde damals auf Jahrhunderte hinaus fest mit Frankreich verwoben, während sich die Verbindungen nach Skandinavien abschwächten. 1066 war wahrlich ein Schicksalsjahr der europäischen Geschichte.

Im Zentrum dieses Buchs stehen die dramatischen Ereignisse des Jahres 1066. Es geht darum, zu verstehen, warum der Kampf um die englische Krone nicht auf England begrenzt, sondern eine nordwesteuropäische Angelegenheit war, und nachzuvollziehen, warum Herrscher anderer Reiche ihr Leben und das Tausender ihrer Männer riskierten, um englischer König zu werden. Denn was 1066 so außergewöhnlich für seine Zeit macht, ist nicht so sehr die Tatsache, dass die Nachfolge König Eduards umstritten war, sondern wie der Streit geklärt wurde. Der Kampf bzw. die Bereitschaft zum Kämpfen gehörte zwar zum Alltag eines Adligen im 11. Jahrhundert und war gängiges Mittel, eigene Interessen durchzusetzen. Auch kam es gelegentlich zu größeren Schlachten, die auf eine Entscheidung angelegt waren, doch die gängige Strategie militärischer Konflikte zielte in der Regel auf die allmähliche Zermürbung des Gegners durch häufige Streifzüge, die vor allem gegen dessen materielle Ressourcen gerichtet waren. Die direkte Konfrontation wurde wegen der damit verbundenen Lebensgefahr nach Möglichkeit vermieden. Im Herbst 1066 aber geschah genau dies: Die Entscheidung um die englische Krone wurde in der Schlacht, im Kampf auf Leben und Tod gesucht. Die drei Schlachten von Fulford Gate, Stamford Bridge und Hastings waren deshalb auch für ihre Zeit außergewöhnlich dramatische Ereignisse.

Wer diese Ereignisse verstehen will, muss Vorgänge in Betracht ziehen, die sich lange vor 1066 zugetragen haben, und versuchen, die Lebenswelten und Ambitionen der Protagonisten der drei Schlachten zu begreifen. Diese Fokussierung auf die Akteure bedeutet dabei keineswegs die Rückkehr der ‹großen Männer, die Geschichte machten› durch die Hintertür auf die Bühne aktueller Geschichtsschreibung. Sie trägt vielmehr Ansätzen der jüngeren Forschung Rechnung, deren Vertreter danach fragen, welche Bedeutung die Demonstration persönlicher Fähigkeiten für den Rang der Akteure in ihren jeweiligen Gesellschaften hatte.[1] Im Kontext von 1066 kann man diese Frage auf den Stellenwert des Kämpfens für einen Adligen und insbesondere für einen Herrscher zuspitzen. Es geht mithin um ein besseres Verständnis des zeitgenössischen Wertesystems bzw. der Wertesysteme und um die Motive, die das Handeln der Männer leiteten, die bei Fulford Gate, bei Stamford Bridge und bei Hastings kämpften.[2] Die Ereignisse des Jahres 1066 bieten somit nicht nur Stoff für eine gute Geschichte, sondern öffnen gleichsam auch ein einzigartiges Fenster, durch das wir einen Blick auf die Werteordnung(en) der weltlichen Eliten Nordwesteuropas um die Mitte des 11. Jahrhunderts werfen können.

Die Quellen

Der Kampf um die englische Krone hinterließ nicht nur auf den Schlachtfeldern tiefe Spuren, sondern auch in der zeitgenössischen Berichterstattung. Zu keiner anderen Schlacht aus jenen Tagen liegen so viele Quellen vor wie zu Hastings. Selbst weit über den Kontinent verbreitete sich noch die Nachricht von Wilhelms Eroberung und wurde in verschiedenen Chroniken festgehalten.[3] Auch die Bandbreite der Überlieferungsformen ist beeindruckend: Von der Prosa dürrer Annalistik und opulenter Chronistik über die Poesie von Heldengesängen bis hin zur Verbildlichung auf dem Teppich von Bayeux reichen die Darstellungsweisen. Dieser enorme, seinesgleichen suchende Widerhall gründete zunächst auf der Bedeutung der Ereignisse. Geradezu geschockt hielt man in Niederaltaich fest, dass alleine auf Seiten der Sieger 12.000 Mann ums Leben gekommen, während die Verluste der Verlierer überhaupt nicht in Zahlen auszudrücken seien. Manche, so heißt es weiter, brachten dies mit dem zuvor am Himmel vorbeigezogenen Kometen in Verbindung.[4] Die Menschen verstanden, dass Besonderes geschehen war, und hielten die Geschichte fest. Darüber hinaus förderte die normannische Siegerpropaganda ganz wesentlich diesen Quellenreichtum. Wilhelm und seine Berater entwickelten ein ausgeprägtes Bedürfnis, die Eroberung zu legitimieren und die öffentliche Meinung in ihrem Sinne zu lenken. Ihre Version der Geschichte wurde von anderen Autoren, insbesondere der nächsten Generation anglo-normannischer Chronisten, verformt und zum Teil kritisch kommentiert. Dieser Quellenreichtum bedeutet auch, dass wir über die Schlacht von Hastings besser unterrichtet sind als über die Treffen von Fulford Gate und Stamford Bridge. Die Sieger dieser Schlachten erhielten keine Gelegenheit, ihre Heldentaten zu besingen. Gerade wegen der Vielfältigkeit der Quellen aber ist auch für die Ereignisse von Hastings und ihre Vorgeschichte keine präzise Rekonstruktion möglich. Schon Wilhelm von Malmesbury warnte zu Beginn des 12. Jahrhunderts seine Leser, dass er über den Verlauf seiner Erzählung der Eroberung Zweifel hege, weil die Tatsachen ungeklärt seien. Engländer wie Normannen hätten ihre eigene Version der Geschichte, und es seien diese unterschiedlichen Meinungen, die seine Erzählung gefährdeten, weil er nicht entscheiden könne, was die Wahrheit sei.[5] Den heutigen Historikern geht es kaum besser als Wilhelm von Malmesbury, aber im Unterschied zu ihm sehen sie den Wert ihrer Darstellungen dadurch nicht mehr gefährdet. Sie versuchen schon lange nicht mehr, in der Tradition Rankes «blos [zu] zeigen, wie es eigentlich gewesen»,[6] sondern haben gelernt, die Quellen und ihre Geschichten jeweils für sich ernst zu nehmen und unterschiedliche Wahrnehmungen zu respektieren. Es gilt die Schattierungen, Facetten, Eigenheiten und Zielsetzungen der durch die einzelnen Gewährsleute jeweils entworfenen Bilder herauszuarbeiten, um schließlich behutsam ein eigenes zu formen. Damit dieser Vorgang leichter nachzuvollziehen ist, werden die wichtigsten Quellen für die Geschichte von 1066 im Folgenden knapp vorgestellt. Der Fokus liegt dabei auf der narrativen Überlieferung, die wichtigste administrative Quelle der Zeit, das Domesday Book, wird im zwölften Kapitel im Kontext seiner Entstehung näher erläutert werden.

Die in altenglischer Sprache verfassten Angelsächsischen Chroniken sind die bedeutendsten narrativen Quellen zur englischen Geschichte bis zum Ende des 11. Jahrhunderts. Die Angelsächsischen Chroniken sind in sieben Handschriften und zwei Fragmenten überliefert, die von der Forschung durch die Buchstaben A bis I voneinander unterschieden werden. Sie gehen zurück auf einen gegen Ende des 9. Jahrhunderts in Wessex, vielleicht am Hof König Alfreds des Großen kompilierten Text, der dann in England zirkulierte. An verschiedenen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten wurde die Chronik fortgeführt, so dass wir es nicht mit einem, sondern mit mehreren Texten zu tun haben. Diese Varianten stehen wiederum in mitunter komplexen Beziehungen zueinander, sind also keine gänzlich unabhängig voneinander erstellten Fortsetzungen der ersten Chronik. Zum Teil schreiben die Autoren voneinander ab, zum Teil greifen sie ihrerseits wieder auf gemeinsame, heute aber verlorene Vorlagen zurück. Gleichwohl entwickeln sie jeweils ihre eigenen Perspektiven auf die Ereignisse und sind deshalb wichtige Gewährsmänner für unterschiedliche Wahrnehmungen politischer Entwicklungen.[7] Die wichtigsten Rezensionen der Angelsächsischen Chronik für die Geschichte des 11. Jahrhunderts sind C, D und E. Rezension C wurde wahrscheinlich in den frühen 1040er Jahren zusammengestellt, dann bis 1056 fortgeführt, ehe sie mit knappen Einträgen zu 1065 und 1066 mitten in der Erzählung der Schlacht von Stamford Bridge abbricht. Sie enthält verhältnismäßig viele Informationen zu den Earls von Mercien und erscheint ihnen gegenüber deutlich wohlwollender eingestellt als gegenüber Earl Godwin und seiner Familie, den ärgsten Konkurrenten der Earls von Mercien. Es wird deshalb vermutet, dass sie in Mercien verfasst wurde.[8] Die Einträge der Rezension D wurden für die Jahrzehnte um die Mitte des 11. Jahrhunderts sehr wahrscheinlich im Auftrag Ealdreds, Bischof von Worcester (1046–1062) und Erzbischof von York (1061–1069), verfasst und reichen bis ins Jahr 1079.[9] Rezension E wiederum wurde zwischen 1031 und 1121 in Canterbury fortgeführt, ehe sie nach Peterborough kam, wo sie bis 1154 weitergeschrieben wurde und in ihrer altenglischen Form wahrlich ein Relikt aus vergangenen Zeiten darstellte. Die in Canterbury formulierten Einträge zeichnen sich durch einen gegenüber Earl Godwin und seiner Familie freundlichen Zungenschlag aus. Sie bilden in dieser Hinsicht das Gegenstück zu C.[10]

Anders als die Angelsächsischen Chroniken ist die zwischen etwa 1124 und 1140 in Worcester von dem Mönch Johann verfasste Chronik auf Latein geschrieben. Doch ist sie inhaltlich eng mit ihnen verwandt. Eine der wichtigsten Vorlagen Johanns für seine Darstellung des 11. Jahrhunderts war nämlich eine heute verlorene Version der Angelsächsischen Chronik. Dies macht sein Werk trotz seines vergleichsweise späten Entstehungsdatums zu einer bedeutenden Quelle für die englische Geschichte jener Jahre.[11]

Neben den Angelsächsischen Chroniken stammen aus dem 11. Jahrhundert noch zwei gänzlich anders gestaltete Narrationen, die maßgeblich unser Bild von England in dieser Zeit prägen: das sogenannte «Loblied der Königin Emma» (Encomium Emmae Reginae) und das sogenannte «Leben König Edwards» (Vita Ædwardi Regis). Beide Texte wurden von englischen Königinnen in Auftrag gegeben und bieten einen einmaligen Einblick in deren Wahrnehmung der Dinge. Königin Emma, Witwe der englischen Könige Æthelred und Knut sowie Mutter des amtierenden Königs Hardaknut, ließ das Encomium 1041/42 wohl von einem Mönch des Klosters St. Bertin in St. Omer (Flandern) verfassen. Dieses «Loblied» präsentierte ihre Sicht auf die dänisch-englische Geschichte seit 1013 und zielte darauf ab, die Thronansprüche ihres Sohns Hardaknut zu stützen.[12] Hinter dem ein Vierteljahrhundert später verfassten «Leben König Eduards» stand Königin Edith, Eduards Frau und Schwester König Harolds. Sie erteilte den Auftrag dazu wahrscheinlich wieder einem Mönch aus St. Omer. Der Text wurde wohl in zwei Schritten verfasst – der erste Teil in den Jahren 1065/66, der zweite nach der Eroberung um etwa 1067. Der erste Abschnitt bietet eine Geschichte der Regierungszeit Eduards, in dem insbesondere Ediths Brüder Harold und Tostig gewürdigt werden. Der tragische Bruderzwist beschäftigte die Königin offensichtlich sehr. Der zweite Abschnitt konzentriert sich hingegen auf ihren Ehemann, König Eduard, und betont dessen hervorragende Eigenschaften. Er steht am Anfang der hagiographischen Verehrung des 1161 heiliggesprochenen Herrschers.[13] In ihrer Ausführlichkeit zeigt die Vita in eindrücklicher Weise, wie die mächtigste angelsächsische Familie, insbesondere die Königin, Eduards Regierungszeit wahrnahm und sich selbst darin verortete. Die Eroberung selbst aber wird nicht thematisiert. Sprachlos waren Edith und ihr Schreiber angesichts der Katastrophe, die ihre Familie heimgesucht hatte.

Vollmundig hingegen kündeten die normannischen Schreiber Wilhelm von Jumièges und Wilhelm von Poitiers vom Erfolg ihres Herzogs Wilhelm. Wilhelm, Mönch im normannischen Kloster Jumièges, verfasste seine «Taten der Herzöge der Normannen» in zwei Etappen. Eigentlich hatte er die in den frühen 1050er Jahren begonnene Arbeit bereits kurz vor 1060 abgeschlossen. Doch Herzog Wilhelms Eroberung der englischen Krone musste ihren Platz in seiner Geschichte finden, und so setzte er 1067, wahrscheinlich auf Bitten Wilhelms selbst, sein Werk fort. 1070 beendete Wilhelm von Jumièges die Arbeit an seiner Chronik endgültig. Gerade für die Phase zwischen dem Tod Herzog Richards II. und der Eroberung ist Wilhelms Darstellung die wichtigste Quelle für die normannische Geschichte.[14] Seine Parteilichkeit zugunsten der normannischen Herzöge ist eindeutig, erscheint aber im Vergleich zu Wilhelm von Poitiers geradezu zurückhaltend.

Wilhelm von Poitiers war zunächst Ritter bevor er die geistliche Laufbahn einschlug und Priester wurde. Er war Kaplan Herzog Wilhelms und versah in einem heute nicht mehr genau zu bestimmenden Zeitraum das Amt eines Erzdiakons von Lisieux. Anders als der Mönch von Jumièges verfasste Wilhelm von Poitiers sein zwischen 1071 und 1077 entstandenes Werk «Die Taten Wilhelms» ganz aus der Rückschau der Eroberung der englischen Krone. Unter reicher Verwendung von Autoren der Antike richtete er es völlig auf die Überhöhung seines Helden König Wilhelm und die Legitimität der Eroberung aus. In seiner Wortgewaltigkeit war Wilhelm von Poitiers das wirkmächtigste Sprachrohr der normannischen Propaganda.[15] So wie sich König Wilhelm mit den antiken Feldherren messen konnte, ja sie sogar übertraf, so sah Wilhelm der Kleriker sein Wirken in der Tradition der Autoren der Antike. John Gillingham bezeichnete sein Werk folglich als «widerlich kriecherisch» (nauseatingly sycophantic),[16] und in der Tat ermüden die hochtönenden Elogen den Leser gelegentlich. Dennoch ist es bedauerlich, dass der Schluss seines Werks nicht überliefert ist und wir nur aufgrund des später schreibenden Orderic Vitalis davon zumindest teilweise indirekt Kenntnis haben. Bei all ihrer Parteilichkeit sind Wilhelms «Taten» eine der wichtigsten Quellen für unser Thema. Wer wissen will, wie König Wilhelm seine Eroberung rechtfertigte, wer wissen will, was einen idealen Ritter ausmachte, und wer wissen will, was von einem Heerführer erwartet wurde, der findet bei Wilhelm von Poitiers reichlich Antworten. Jener griff bei seiner Arbeit nicht nur auf klassische Autoren, sondern auch auf ein unmittelbar nach der Schlacht verfasstes Werk zurück, das «Lied von der Schlacht von Hastings», wahrscheinlich verfasst von Guido, Bischof von Amiens (1058–1074/75). Guido gehörte zur Familie der Grafen von Ponthieu, Nachbarn der normannischen Herzöge und zumindest mit einem Familienmitglied am Eroberungszug beteiligt. Bischof Guido war ebenfalls von der Rechtmäßigkeit der Eroberung überzeugt, aber in seinen Augen war der Erfolg nicht das Ergebnis einer rein normannischen, sondern einer gemeinsamen nordfranzösischen Leistung. Wilhelm hatte seinen großen Erfolg, so Guidos Botschaft, mit Hilfe seiner Nachbarn errungen.[17] So eröffnet Guidos Lied eine weitere Perspektive auf die Ereignisse, zumal wir noch sehen werden, dass er hinsichtlich des Verhaltens der Krieger in der Schlacht andere Wertevorstellungen vertrat als Wilhelm von Poitiers.

Die berühmteste zeitgenössische Erzählung der Eroberung aber ist weder eine Chronik noch ein Heldenepos, sondern eine Wollstickerei: der Teppich von Bayeux. Wenn man von Bauwerken absieht, ist der Teppich das größte erhaltene Artefakt des Hochmittelalters, das auf uns gekommen ist. Dabei ist der Tuchstreifen, der heute knapp über 68 Meter Länge und etwa einen halben Meter Höhe misst, noch nicht einmal vollständig: Das Ende des Teppichs ist verlorengegangen; wir wissen deshalb nicht, wie diese Bildgeschichte ursprünglich einmal aufgehört hat. Schon für seine Zeit dürfte der Teppich außergewöhnlich groß gewesen sein; es muss von vornherein beabsichtigt gewesen sein, ihn im Inneren eines großen Gebäudes zu zeigen. Es sind aber nicht nur die Maße, die die Besonderheit des Teppichs ausmachen. Seine Bilder – man hat 627 Darstellungen von Menschen, 190 von Pferden und Maultieren, 37 von Bäumen, 35 von Hunden, 33 von Gebäuden und 32 von Schiffen gezählt[18] – verschaffen der Erzählung über Earl bzw. König Harold und Herzog Wilhelm sowie der Schlacht von Hastings eine ihresgleichen suchende Anschaulichkeit. Die große Bedeutung der Stickerei für gleich eine ganze Reihe von Wissenschaftsdisziplinen schlägt sich in einer entsprechend hohen Anzahl von Forschungsarbeiten nieder, und es gibt kaum einen Aspekt, der nicht kontrovers diskutiert würde. 2013 veröffentlichte Shirely Ann Brown eine über 1000 Titel umfassende Bibliographie zu den Publikationen über den Teppich – und ein Ende der Diskussionen ist nicht abzusehen.[19] Für den Teppich von Bayeux gilt somit ganz Ähnliches wie für das Thema der Eroberung von 1066 insgesamt: Eine eindeutige Lesart liegt nicht vor. Sehr wahrscheinlich wurde die Stickerei in der Abtei von St. Augustinus in Canterbury angefertigt und noch zu Lebzeiten König Wilhelms fertiggestellt. Die lange Zeit die Forschung dominierende Annahme, dass der Halbbruder des Königs, Odo, Bischof von Bayeux und Earl von Kent, der Auftraggeber des Werks war, ist in der jüngsten eingehenden Studie über den Teppich angezweifelt worden.[20] Elisabeth Pastan und Stephen White sprechen sich dafür aus, dass die Initiative von den Mönchen selbst ausging, und in der Tat könnte Odos vergleichsweise prominente Darstellung auf dem Teppich schlicht damit erklärt werden, dass er als Earl von Kent der mächtigste Mann der Region um Canterbury war. Pastan und White argumentieren schließlich, dass die bisherigen Lesarten des Teppichs fehlgehen, denen zufolge er entweder eine abgeschwächte Variante der normannischen Sichtweise auf die Eroberung oder eine Kombination aus der normannischen und einer englischen, die Legitimation von Harolds Königtum propagierenden Version präsentiert. Stattdessen hätten die Mönche ganz bewusst ihre Erzählung offen und doppeldeutig gehalten, hätten absichtlich die Frage unbeantwortet gelassen, ob Harold oder Wilhelm der rechtmäßige Nachfolger Eduards gewesen war. Diese Offenheit machte die Geschichte kompatibel mit den verschiedenen Vorstellungen möglicher Betrachter. Jeder konnte sich mit seinen Ideen darin wiederfinden. Das gilt allerdings auch für den modernen Historiker, und insofern dürfte auch mit den Vorschlägen von Pastan und White noch nicht das letzte Wort über den Teppich von Bayeux gesprochen worden sein.

Diese Zurückhaltung in der Interpretation der Ereignisse von 1066 kennzeichnet in unterschiedlichen Graden die anglo-normannische Geschichtsschreibung der nächsten Generation.[21] Der früheste Autor dieser Gruppe, Eadmer von Canterbury, wurde um 1064 geboren, war Mönch in Canterbury und ein enger Vertrauter des Erzbischofs von Canterbury, Anselm (1093–1109). Da Anselm zur Zeit der Eroberung Prior der normannischen Abtei von Bec gewesen war, hatte Eadmer seinen eigenen Informanten über die Ereignisse dieser Jahre für seine «Geschichte der Neuigkeiten».[22] Sein spielerischer, eigenständiger Umgang mit der normannischen Propaganda macht seine Darstellung besonders wertvoll. Jünger als Eadmer waren die beiden bedeutendsten Vertreter lateinischer Historiographie im England der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, Wilhelm von Malmesbury und Heinrich von Huntingdon. Wilhelm, Mönch in Malmesbury, war ein skrupulös arbeitender Historiker. Auf ausgedehnten Reisen suchte er in Gesprächen und in Bibliotheken nach Informationen und Materialien zu seiner um 1125 fertig gestellten «Geschichte der englischen Könige». Wir haben bereits gesehen, dass ihm all diese Mühen dennoch zu keiner eindeutigen Antwort auf seine Fragen zur Eroberung Englands verhalfen. Gleichwohl war er überzeugt davon, dass sie letztlich die Strafe Gottes für das sündige Verhalten des englischen Volks gewesen sei. Der Normanne Wilhelm war somit lediglich das Instrument göttlichen Willens.[23] Ähnlich betrachtete Heinrich, Erzdiakon von Huntingdon, in seiner in größtenteils zwischen 1123 und 1130 geschriebenen, dann noch bis in die Regierungszeit König Stephans (1135–1153) fortgesetzten «Geschichte des englischen Volks» die Eroberung als Gottesurteil über das englische Fehlverhalten. Auch Heinrich suchte nach Quellen für seine Darstellung, ließ mündlich tradierte Geschichten miteinfließen, und manches ist nur bei ihm überliefert.[24]

In der Normandie war der Benediktinermönch Orderic Vitalis der bedeutendste Autor der nächsten Generation. In England im Jahr 1075 geboren, wurde er alsbald Mönch des normannischen Klosters St. Evroul. Um etwa 1114 begann er mit der Abfassung seiner monumentalen «Kirchengeschichte», die in ihrer etwa dreißigjährigen Entstehungszeit zugleich eine Abhandlung der anglo-normannischen Geschichte wurde. Orderic beurteilte König Wilhelm grundsätzlich positiv, verhielt sich insgesamt aber zurückhaltender als Wilhelm von Poitiers in der Bewertung normannischer Größe. Orderic ist nicht nur für seine Zeit ein zentraler Autor, sondern bietet auch einiges von Interesse für das 11. Jahrhundert. Aus eigenen Quellen ergänzte er die knappen Angaben Wilhelms von Jumièges zu den Ereignissen in der Normandie vor der Eroberung und in seiner Kirchengeschichte verarbeitete er zumindest zum Teil den heute verlorenen Schluss der Erzählung von Wilhelm von Poitiers.[25] In den 1160er Jahren schließlich entstand in der Normandie das Versepos «Die Geschichte von Rollo», verfasst im Auftrag König Heinrichs II. von Wace, einem Kanoniker der Domkirche von Bayeux. Er griff dabei auf die gerade genannten normannischen Autoren zurück, suchte ihre Angaben aber ähnlich wie Heinrich von Huntingdon durch mündliche Traditionen zu ergänzen. Seinem Vater, zum Beispiel, verdankte er die Informationen über das Auslaufen der normannischen Flotte 1066. Trotz der erheblichen zeitlichen Entfernung gesteht ihm die Forschung deshalb dennoch einigen Quellenwert für die normannische Eroberung zu.[26]

Bei all dem Reichtum der normannischen, englischen und anglonormannischen Quellen tritt die karge skandinavische Überlieferung in den Hintergrund. Adam von Bremen, der in den 1070er Jahren seine «Taten der Bischöfe der Kirche von Hamburg» verfasst hat, ist noch der beste Informant zu den dänischen Verhältnissen der Zeit.[27] Aus Norwegen sind keine Erzählungen überliefert, die im 11. Jahrhundert niedergeschrieben worden wären. Gleiches gilt für administrative Quellen; am ehesten noch liefert die Archäologie belastbares Material aus dieser Zeit. Erst seit dem 12. Jahrhundert wurden die Sagas, das heißt die Erzählungen über die Taten der norwegischen Könige, zu Pergament gebracht. Die ausführliche Niederschrift der Heldengeschichten über König Harald sind schließlich isländischen Initiativen aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts geschuldet, zunächst der um 1220 entstandenen Morkinskinna, dann der kurz darauf verfassten Fagrskinna und schließlich der in den frühen 1230er Jahren abgeschlossenen Heimskringla.[28] Das Genre des Heldenepos und die späte Verschriftlichung machen es nicht einfach, die historischen Figuren scharf zu erfassen. Gleichwohl sind die Sagas als historische Quelle nicht nur für die Jahre ihrer Abfassung, sondern auch für frühere Zeiten brauchbar. Gerade der Abgleich mit anderen Quellen zu König Haralds Leben zeigt, dass die Sagas keine frei erfundenen, gleichsam als Passepartout jedem König überzustülpende Geschichten waren, sondern eine gewisse Historizität beanspruchen können.[29] Sie auszuwerten unterscheidet sich deshalb nicht wesentlich von der Arbeit mit dem Werk Wilhelms von Poitiers, nur dass dessen Werteordnung aus der Zeit der von ihm behandelten Protagonisten stammte, während bei den Sagas zunächst einmal von jenen Wertevorstellungen auszugehen ist, die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts galten.

1066 – ein Evergreen der Geschichtsschreibung

Diese insgesamt relativ gute Überlieferungslage und die zentrale Bedeutung der Ereignisse von 1066 für die europäische Geschichte machen das Thema zu einem Evergreen der Geschichtsschreibung – ganz gleich, ob sie in den Klöstern des 12. oder in den Universitäten des 21. Jahrhunderts betrieben wird. Wie waren die Ansprüche der Thronprätendenten von 1066 legitimiert, wie versuchten sie, ihre Ansprüche durchzusetzen? Warum endeten die Schlachten so und nicht anders? Welche Konsequenzen hatte die Eroberung für England? Auf welchen Feldern kam es zu radikalen Neuerungen und wo dominierten Kontinuitäten? Das sind nur einige der Fragen, die die Forschung seit jeher umtreiben. Die Antworten darauf sind kaum mehr zu überblicken, und es wäre abwegig, an dieser Stelle zu versuchen, einen adäquaten Überblick über die zahllosen Publikationen zu geben.[30] Dies wäre Gegenstand eines eigenen bzw. gar mehrerer Bücher.[31] Festzuhalten ist lediglich, dass es zu fast jedem Aspekt mindestens zwei verschiedene Meinungen gibt, und kein seriöser Mediävist würde behaupten, dass es die eine Meistererzählung der Ereignisse von 1066, ihrer Ursachen und Folgen gebe. Am intensivsten werden die Debatten traditionell in der englischsprachigen Forschung geführt. Berühmt-berüchtigt ist die Kontroverse zwischen Edward August Freeman und John Horace Round, die Ende des 19. Jahrhunderts im Anschluss an die Publikation von Freemans monumentalem Werk History of the Norman Conquest geführt wurde.[32] Im Ton sind die Auseinandersetzungen heute weniger scharf und persönlich, können aber nach wie vor sehr deutlich geführt werden.[33] 1066 lässt den Puls in der englischen Mediävistik immer noch schneller schlagen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Thema fest im Bewusstsein der englischen Bevölkerung verankert ist. In einer 2010 in England durchgeführten Umfrage lautete bezeichnenderweise die erste Frage nicht, ob die normannische Eroberung bekannt, sondern wie wichtig sie für die britische Geschichte sei. Die Antwort fiel eindeutig aus: Für 52 Prozent der befragten Engländer war sie sehr wichtig, für 31 Prozent immerhin noch wichtig. Nur ein Prozent fanden die Eroberung bedeutungslos.[34] Wer in England aufwächst, wächst mit 1066 auf – und mit jenen Bildern der Ereignisse, die Schule und Medien prägen. Die Folge ist ein vergleichsweise großes öffentliches Interesse an den wissenschaftlichen Diskussionen, die um dieses Thema kreisen. Im deutschsprachigen Raum ist das nicht der Fall. Hier dominiert, wenn überhaupt, der nur elf Jahre nach Hastings stattfindende Gang nach Canossa die Geschichtsbilder vom 11. Jahrhundert. Auf beiden Seiten des Ärmelkanals sind es nach wie vor die im 19. Jahrhundert gelegten Grundlinien nationaler Geschichtsschreibung, die bis heute ihre Wirkung entfalten. Hastings und Canossa sind aber weder national zu vereinnahmen, noch sind sie auf die Geschichten spezifischer Königreiche des 11. Jahrhunderts zu reduzieren. Sie sind stattdessen als Chiffren für Ereignisse und Veränderungen von europäischer Dimension zu begreifen.[35] Die Chiffre 1066 zumindest teilweise zu entziffern, ist Ziel dieses Buchs. Es ist dezidiert für Nichtspezialisten geschrieben, die berühmten ‹interessierten Laien›, und versteht sich mithin als Einführung in ein komplexes Thema.

Am Anfang einer jeden Abhandlung über 1066 muss die Frage stehen: Um was ging es damals eigentlich? Deshalb beginne ich meine Darstellung mit einer Verortung Englands im politischen Gefüge Nordwesteuropas in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und einer Skizze dessen, was es bedeutete, englischer König zu sein. Es folgen Kapitel zu Harold, Wilhelm und Harald. Diese Portraits setzen bereits in den ersten Jahrzehnten des 11. Jahrhunderts an, um die strukturellen Bedingungen besser fassen zu können, die mittel- und langfristig die Handlungsspielräume der drei Thronprätendenten beeinflussten. Ganz bewusst werden dabei Konflikte eingehend in den Blick genommen, welche die Protagonisten vor 1066 ausfochten. Zum einen eröffnet diese Vorgehensweise grundsätzliche Einblicke in Strategien zeitgenössischer Konfliktbewältigung und -führung. Zum anderen gewinnen wir einen Eindruck von der Beschaffenheit der Machtgefüge der jeweiligen politischen Landschaften, von Bündnissen und Rivalitäten. Gerade für England ist dieser Aspekt von einigem Interesse, bleibt es doch ein bemerkenswerter, wenngleich bis heute ungeklärter Umstand, dass mit den Brüdern Earl Edwin von Mercien und Earl Morkar von Northumbrien die führenden Köpfe der zweitmächtigsten angelsächsischen Familie nicht in Hastings kämpften. Schließlich eröffnet die detaillierte Analyse der ‹Konfliktkarriere› der Thronprätendenten die Möglichkeit, ihr Verhalten in politischen und zum Teil kriegerischen Auseinandersetzungen zu studieren und so ihr Vorgehen 1066 differenziert zu betrachten. Die Kapitel zu Harold, Wilhelm und Harald stellen folglich zumindest in Teilen die Geschichte des nordwesteuropäischen Raums für die Jahrzehnte zwischen 1030 und 1066 dar. Sie münden in den Kapiteln über die Schlachten von 1066 und Wilhelms Krönung. Da der Sieg von Hastings allerdings keinesfalls gleichbedeutend mit der Eroberung Englands war, die Konfliktlinien von 1066 noch einige Zeit weiter bestanden und Wilhelms Krone alles andere als sicher auf seinem Haupt saß, verfolge ich im nächsten Kapitel den Verlauf der Auseinandersetzungen bis zu Wilhelms Tod 1087 und damit die Phase der eigentlichen Eroberung. Das abschließende Kapitel ist einigen ausgewählten Bereichen der in der Forschung so oft und intensiv diskutierten Folgen der normannischen Herrschaftsübernahme gewidmet.